Die Briefträgerin Eva Kluge steigt langsam die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch. Sie ist nicht etwa deshalb so langsam, weil sie ihr Bestellgang so sehr ermüdet hat, sondern weil einer jener Briefe in ihrer Tasche steckt, die abzugeben sie hasst, und jetzt gleich, zwei Treppen höher, muss sie ihn bei Quangels abgeben. Die Frau lauert sicher schon auf sie, seit über zwei Wochen schon lauert sie der Bestellerin auf, ob denn kein Feldpostbrief für sie dabei sei.
So beginnt
Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein (1947; ungekürzte Neuausgabe 2011)
Vorbemerkung
Fallada hieß eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen und lebte von 1893 bis 1947. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass dieser Roman erst 2009 ins Englische übersetzt und dann im englischsprachigen Raum zu einem phänomenalen Erfolg wurde? Dabei hatte schon Primo Levi das Buch als „the greatest book ever written about the German resistance to the Nazis“ bezeichnet.
Daraufhin kramte der Aufbau-Verlag mal etwas genauer in seinen Archiven und entdeckte das ursprüngliche Manuskript. So kam es 2011 zu einer Neuausgabe, diesmal ohne all die Veränderungen, die Falladas damaliger DDR-Lektor für angemessen hielt und gegen die der Autor ja nicht mehr hatte vorgehen können.
Zum Inhalt
Erzählt wird die Geschichte des Arbeiterehepaares Anna und Otto Quangel. Nachdem die beiden die Nachricht vom „Heldentod“ ihres Sohnes erhalten haben, kommen sie zu der Überzeugung, etwas gegen das herrschende Hitler-Regime tun zu müssen. Sie beschließen, Postkarten zu schreiben, in denen sie in einfachen Worten zum Protest aufrufen und die sie heimlich in öffentlich zugänglichen Geschäfts- und Wohnhäusern verteilen. Um sie herum gruppiert Fallada noch die Geschichten vieler anderer; von Mitläufern, Spitzeln, überzeugten Gestapo-Halunken, Kommissaren, Aufrechten, Gaunern, Opfern, Kommunisten oder Mitgliedern der Hitlerjugend.
Zur Entstehungsgeschichte
Das Buch ist oft genug bedrückend, wie Fallada selbst geradezu warnend in seinem Vorwort betont:
Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. […] Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.
Ja, Fallada war wirklich nicht begeistert, als Johannes R. Becher, Mitbegründer des „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und späterer Kulturminister der DDR, ihm vorschlug, die Geschichte des Berliner Ehepaares Hampel als Grundlage für einen Roman zu verwenden. Der Kulturbund hatte nämlich Prozessakten von Widerstandskämpfern erhalten und suchte nun Autoren, die darüber schreiben konnten. Hampels hatten von 1940 bis 1942 auf Karten und in Briefen gegen das Regime aufbegehrt. „Aber Fallada lehnte ab: Er selbst habe sich im großen Strom mittreiben lassen und wolle nicht besser erscheinen, als er gewesen war.“ (Nachwort von Almut Giesecke, S. 689 der Taschenbuchausgabe)
Jürgen Kaube schreibt am 18.03.2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Dann aber nimmt ihn ‚die völlige Trostlosigkeit des Stoffes‘, dem jede Aussicht auf die Zukunft fehle, doch gefangen: Soeben erst aus einer Entziehungskur und einem Nervenzusammenbruch wieder auftauchend, schreibt er gut achthundertfünfzig Manuskriptseiten in kaum vier Wochen, nach dem vorliegenden Druck sind das mehr als zwanzig Buchseiten pro Tag. Man fasst diese Leistung gar nicht, zumal der Roman gut erzählt ist. Keine drei Monate später stirbt Fallada, durch Morphium, Alkohol und Arbeit physisch ruiniert, an Herzversagen.“
Fazit
Das Buch ist in weiten Teilen sowohl bedrückend als auch schmerzhaft. Wenn mir schon als Leserin der fiktive Selbstmord einer zu Tode gehetzten Jüdin so nahegeht, dann bekommt man zumindest eine winzigkleine Ahnung von dem damals alltäglichen Leiden. Das finde ich für Literatur sehr, sehr viel. Das Buch lässt einen manchmal geradezu vergessen, dass es in großen Teilen eine literarische Fiktion ist.
Manchmal ist es aber sogar witzig, vor allem auch spannend, ein ganz kleines bisschen hoffnungsvoll und so unglaublich lebensnah. Man kann die Figuren sehen und förmlich mit Händen greifen. Es lässt einen vor allem auch besser verstehen und nachvollziehen, wie sich das ganz alltägliche Leben unter einer Terrorherrschaft verändert, wie übelste Triebe wie Machtgier, Grausamkeit und Habgier sich nun ungehindert austoben dürfen. Und wie das Denunziantentum wie ein Krebsgeschwür um sich greift, das daraus resultierende Misstrauen und das Emporheben und Ehren des Primitiven, des Brutalen und Dummen.
„Alle haben sie Angst!“, entschied das Braunhemd verächtlich. „Warum eigentlich? Es ist ihnen doch so leicht gemacht, sie brauchen nur zu tun, was wir ihnen sagen.“
„Das ist, weil die Leute das Denken nicht lassen können. Sie glauben immer, mit Denken kommen sie weiter.“
„Sie sollen bloß gehorchen. Das Denken besorgt der Führer.“ (S. 210)
Und so ist es kein Zufall, dass die Quangels auch folgende Karte schreiben:
Führer, befiehl, wir folgen! Ja, wir sind eine Herde Schafe geworden, die unser Führer auf jede Schlachtbank treiben darf. Wir haben das Denken aufgegeben… (S. 491)
Das Buch zeigt die Umwertung aller Werte, wenn unklar zu werden droht, was eigentlich falsch, was eigentlich richtig und recht ist: Der Anwalt setzt noch ein Gnadengesuch auf, in dem er auf „Irrsinn“ plädieren will:
Das Gnadengesuch wurde aufgesetzt, Irrsinn war der Anlass, der den Führer zur Gnade bestimmen sollte, aber der Anwalt wusste gut, dass sein Mandant nicht irrsinnig war. (S. 631)
Und es geht auch um die Frage, ob und wem der kleine private Widerstand überhaupt nutzt. Letztlich geht es um die Frage des Gewissens. Woher wissen wir, was gut und recht ist, und sind wir bereit, danach zu leben?
Helen Dunmore schreibt im Guardian am 7. Januar 2011: „Alone in Berlin, with its emphasis on the solitude in which moral choices are made, and the human loneliness of those who are persecuted, forces the reader back on very difficult questions. What, inside such a solitude and in such a society, would we do ourselves? Would we resemble the Quangels, or would we resemble those who type out their interrogation records? Fallada shows very clearly how terror, used as a matter of routine, rapidly corrupts individuals, neighbourhoods, cities and a whole nation.“
Eine sehr schöne und interessante Besprechung, auch dank der vielen Querverweise! Ich habe den Roman sehr gerne gelesen, auch wenn die Erinnerungen nach einem Jahr etwas verblasst sind. Am meisten beeindruckt hat mich dieser Widerstand im Kleinen, im Privaten und wie dieser von Fallada geschildert wird.
Es ist richtig, dass es sich hier um einen bedrückenden und schmerzhaften Roman handelt. Vielleicht gerade deshalb, weil die Figuren, wie in der Rezi geschildert, förmlich mit den Händen zu greifen sind.