Lukas Bärfuss: Koala (2014)

Man hatte mich in meine Heimatstadt geladen, damit ich einen Vortrag über einen deutschen Dichter halte, der zweihundert Jahre früher, an einem Tag im November, am Wannsee in Berlin eine Mulde gesucht und danach seiner Freundin Henriette Vogel ins Herz und schließlich sich selbst eine Kugel in den Rachen geschossen hatte.

Mit diesem Satz beginnt das Buch des bekannten Schweizer Dramatikers, das 2014 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand. Ein großes Dankeschön an Claudia vom Grauen Sofa und an den Wallstein Verlag, die mir ein Exemplar zur Verfügung stellten.

Der Inhalt ist rasch umrissen: Ungefähr sechs Monate nach der Lesung in seiner Heimatstadt erhält der Ich-Erzähler die Nachricht, dass sich sein Halbbruder umgebracht habe. Zu Lebzeiten des Bruders war der Kontakt zwischen den Brüdern – beide längst erwachsene Männer – bestenfalls sporadisch.

Wir hatten selten Gelegenheit, uns zu sehen; mein Bruder bewegte sich kaum aus jener Stadt heraus, die ich dreiundzwanzig Jahre früher nicht ganz freiwillig verlassen und seither gemieden hatte. Wir führten verschiedene Leben, außer der Mutter und einigen nicht ausschließlich angenehmen Kindheits- und Jugenderinnerungen teilten wir wenig, und gewöhnlich reichten uns zwei Stunden, um der still empfundenen Verpflichtung, sich als Brüder nicht ganz aus den Augen zu verlieren, Genüge zu tun. (S. 6)

Durch den Selbstmord – mit einer Überdosis Heroin – wird der Bruder auf einmal zum Thema im Leben des Erzählers, wie er es vorher wohl nie gewesen war. Das ist zunächst auch ein Ärgernis.

Man wurde mit einem Selbstmörder nicht fertig, niemals. Daran entzündete sich mein Zorn, ich war wütend, dass ich mich nicht mit den Kindern an den Gämsen erfreuen konnte, die hoch oben von Fels zu Fels sprangen, sondern stets von neuem in den Mahlgang der Gedanken gezwungen wurde. (S. 25)

Der Ich-Erzähler hofft, mit anderen ins Gespräch zu kommen, die auf ähnliche Weise einen Menschen verloren haben, dabei trifft er allerdings eher auf betretenes Schweigen. Auch der Blick in die Literatur hilft ihm bei der Suche nach den Gründen nicht weiter. Er kann im Suizid seines Bruders keinen heroischen Akt erkennen, in dem sich der freie Wille ausdrücke, sondern sieht darin zunächst eine Niederlage, ein Scheitern auf ganzer Linie.

Also begibt er sich selbst auf eine Art Spurensuche, die führt jedoch nicht, wie man vielleicht zunächst vermuten könnte, über Gespräche mit Freunden oder Familienmitgliedern des Verstorbenen oder über dessen frühere Heroinsucht, sondern über die Annäherung an den Spitznamen des Bruders, sein Totem, das ihm als Kind während einer – zumindest imaginiert der Ich-Erzähler das so – Angst einflößenden Initiationszeremonie bei den Pfadfindern zugesprochen wurde, dem Koala.

Und so spielen über 70 der insgesamt 182 Seiten gar nicht in der Schweiz. Stattdessen erleben wir im Zeitraffer die Unabhängigkeitsbestrebungen Amerikas, die Kolonialisierung Australiens und seine brutalen und energischen Anfänge als Sträflingskolonie mit, bis der Koala von den Weißen entdeckt und schließlich fast ausgerottet wird.

Ich mochte die klare, präzise Sprache, allerdings weniger den Manierismus, Orte und Menschen nicht zu benennen. Der Bruder bleibt namenlos, genauso wie Thun, die Heimatstadt der Brüder, der Dichter Kleist oder die Band, deren Lied bei der Trauerfeier gespielt wird.

Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich zerfällt das Buch. Der erste Teil, der sich mit den nur spärlich erläuterten Lebensumständen des Bruders und den Reaktionen, Erinnerungen und Deutungsversuchen des Erzählers beschäftigt, wirkt unterkühlt, fast teilnahmslos, berichtartig. Zwar heißt es, dass schon der Besuch in der alten Heimat dazu führe, dass die Sätze verklumpen und man alles vermeide, „was geschmeidig, anmutig oder gebildet erscheinen könnte.“ (S. 18) Doch warum muss der Leser das ausbaden?

Der rasante Ritt durch die bitteren Anfänge der Besiedlung Australiens durch die Engländer, bei dem wir in vielerlei Schicksale kurz, aber intensiv hineinblicken, hingegen war mitreißend prägnant formuliert. Selbst kurze Szenen wirkten lebendiger als die in der Gegenwart angesiedelte Handlungs- bzw. Reflexionsebene. Bärfuss hat für diesen geschichtlichen Part gründlich recherchiert und z. B. Tagebuchaufzeichnungen des Ralph Clark verwendet.

Doch die inhaltlichen Fäden, die diese beiden Teile miteinander verband, die fand ich zu dünn, nicht belastbar genug. Der Ich-Erzähler bleibt für mich den Nachweis schuldig, dass der Selbstmord seines Bruders sich mit der Metapher des Beuteltieres erklären lässt. Trotz der Parallelen, die er meint gefunden zu haben, z. B. in der Provokation, die die Verkörperung der Faulheit und die Abwesenheit jeglichen Ehrgeizes für den normalen Menschen darstelle.

Es leuchtet ein, wie wenig dieses Tier sich bewegen kann und dass es seinem Baum verbunden bleiben muss, weil das Material, mit dem es seinen Organismus in Gang zu halten versucht, Dreck ist. Mit dieser Nahrung lassen sich keine großen Sprünge machen, das Tier muss sesshaft und ruhig bleiben, den Metabolismus bis an die Grenzen des Stupors drosseln. (S. 158)

Der Tod des Halbbruders wird mit einer Bedeutung aufgeladen, die er vielleicht gar nicht hatte. Sie wird einfach behauptet. Kein Wort dazu, warum der Bruder früher heroinabhängig war oder seit wann er clean war. Die Brüder-Beziehung war problematisch. Die Schuld daran gibt der Erzähler vor allem seinem Bruder, der eben schwierig gewesen sei. Letztlich konnte er dessen Lebensentwurf – so denn von einem gesprochen werden kann – nie akzeptieren und regt sich noch nach dessen Tod auf, dass er von ihm einen wertlosen Haufen alter Comics geerbt hat.

Seinen Geschmack hielt er für unfehlbar, er gab vor, sich stets für das Beste zu entscheiden, was lächerlich und peinlich war, weil er sich nicht einmal das Zweit- oder Drittbeste leisten konnte. Seine Comics pflegte er mit einer Sorgfalt, als wären es nicht Billighefte vom Bahnhofskiosk, sondern Inkunabeln. […] Ausgerechnet die hatte er mir vermacht, eine schwere Kiste alberner Bildergeschichten, die einen höchstens schlichten Geschmack bewiesen. (S. 40)

Ich fand es unbefriedigend, dass der Erzähler die Möglichkeit, andere dem Bruder nahestehenden Menschen zuzuhören, so rasch verworfen hat. Da hat er sich die Spurensuche vielleicht doch ein bisschen einfach gemacht.

Natürlich hätte ich mich an seine Freunde, seine Familie wenden können, aber warum sollten sie sich nicht auch in den Anekdoten verlieren und beschönigende Erinnerungen kolportieren […] Ich hielt es nicht für möglich, dass jemand ehrlich mit sich war, aber ich machte niemandem einen Vorwurf. Jeder versuchte, sich von der Schuld zu entlasten, um weiterleben zu können. (S. 54)

War der Erzähler zunächst der Meinung, dass keine Moral aus dem Selbstmord des Bruders zu ziehen sei, so ändert sich das im Laufe der Geschichte. Ein bisschen verquast heißt es dann:

Ich fand einen Begriff für jenes Gefühl, das mich seit dem Tod des Bruders gefangen hielt, und ich nannte das Gefühl Einsamkeit. Ich fand sie bald in allem, nicht nur im Leben des Bruders, in jedem Leben, in meinem eigenen, in den Leben, die ich teilte und betrachtete. Ich erkannte in der Einsamkeit den Preis und die Strafe, ich sah, wie diese Einsamkeit zunahm unter meinen Freunden. Ich erkannte darin die Krankheit meiner Zeit, die Ursache des Unglücks, das jeder, der ein offenes Herz hatte, empfinden musste. Am Ende war jeder allein, das spürte ich, und ein Ende gab es alle Tage. (S. 37)

Später betrachtet der Erzähler den Selbstmord von einer gesellschaftskritischen Warte:

Die gängigen Tugenden, nach denen auch ich lebte, Fleiß, Strebsamkeit, Ehrgeiz, bewahrten jedenfalls nicht vor dem Unausweichlichen. […] wenn ich mir die Welt ansah, die durch diese Taten geformt war, dann fand ich nicht viele Argumente, die für den Ehrgeiz und den Fleiß sprachen, und ich konnte nicht ausschließen, dass diese Welt friedlicher gewesen wäre, wenn sich mehr Menschen an die Prinzipien meines Bruders gehalten hätten. Wenn sie sich berauscht und ohne Ambition ihre Tage hätten verstreichen lassen, für sich nur das Nötigste in Anspruch genommen hätten, einen Besitz, dessen Auflistung auf anderthalb Seiten Platz fand und in einer guten Stunde unter den Freunden verteilt war. (S. 55)

Ja, am Schluss wächst sich das Buch zu einer Deutung dessen aus, weshalb Arbeit in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert genießt. Doch am Ende weiß ich immer noch zu wenig über den namenlosen Bruder, der hier weniger als eigenständige Person wichtig ist, sondern eher als Grund herhalten muss, über den gesellschaftlichen Zusammenhang von Angst, Arbeit, Fleiß und Faulheit nachzudenken. Und allen Selbstmördern wird die Aufgabe der Gesellschaftskritik quasi im Nachhinein auferlegt.

Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß. […] Die Arbeit war keine Strafe mehr, sie war zur einzigen Tätigkeit geworden. Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder. […] Der Mensch hatte die Welt zu einem Arbeitsplatz gemacht. (S. 168)

Der Erzähler hingegen hat seine Antwort auf die Frage gefunden, „weshalb man es scheute, über den Selbstmord zu reden.“ Aber auch diese Antwort wird einfach behauptet, geglaubt habe ich ihr nicht.

Anmerkungen

Hier geht’s lang zur Besprechung von Sophie auf ihrem Blog Literaturen und das sagt Birgit von Sätze&Schätze.

Roman Bucheli formulierte in seiner Besprechung in der NZZ einen eher zwiespältigen Eindruck, während Ina Hartwig ihrem Unmut in der ZEIT freien Lauf ließ: „Zwischendrin verliert der englische König den Verstand – und der Leser den Überblick.“

Jens Bisky bemängelt in der Süddeutschen Zeitung vom 24. April besonders den dritten Teil des Werks, das er ohnehin nicht als Roman anerkennt:

Eine kulturkritische Sonntagspredigt zerstört das schöne Schweben zwischen Natur- und Zivilisationsgeschichte, bietet ein paar verrostete Schlüssel, um den Sinn der Episoden zu erschließen, obwohl der Autor doch weiß, dass all die Augenblicke keinen Sinn, keine Moral bereithalten.

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

14 Kommentare zu „Lukas Bärfuss: Koala (2014)“

  1. Es spaltet so ein bisschen die Gemüter dieses Buch. 😉 Ich kann deine Kritik verstehen und habe mich anfangs auch über diesen Sprung auf eine ganz andere Handlungsebene gewundert, mich aber relativ schnell gut darin zurechtgefunden. Auch wenn der Koala lange Zeit auch da ja nur eine Randfigur war. (wie der Bruder des Erzählers eben). Ich bin mir auch unschlüssig, ob der Selbstmord nun mit der Metapher des Koalas erklärt werden sollte, das glaube ich eigentlich nicht. Eher ist es ja so, dass es keinen richtig plausiblen Grund dafür gibt und niemand ihn geben kann, weder die Angehörigen noch das Tier. Die Natur hat es so widersinnig gemacht, eigentlich vollkommen unbeständig, rein theoretisch kaum lebensfähig. Ich glaube letztlich auch nicht, dass Selbstmord sich durch die Vergangenheit eines Menschen erklären lässt. Man kann Anhaltspunkte finden, die eine solche Entwicklung begünstigen, als Begründung hält das nicht stand, denn viele mit ähnlichen Lebensläufen entscheiden sich für das Leben. Vielleicht behandelt es Bärfuß auch deshalb nicht so ausführlich … aber du hast schon Recht: Es ist keine leichte Lektüre, insbesondere stilistisch und konzeptionell nicht.

    1. Wenn der Selbstmord nicht mit der Metapher des Koalas erklärt werden soll, wie würdest du dann den Koala erklären? Wenn er dazu da wäre, die „Widersinnigkeit“ der Natur zu illustrieren, dann würde das ja möglicherweise bedeuten, dass manche Menschen halt einfach nicht so richtig lebensfähig wären. Da der Erzähler ja hinterher so auf den Zusammenhang von Arbeit und Gesellschaft eingeht, passt so ein inaktives, „faules“ Tier doch ganz gut zu einem Menschen, der sich den Erwartungen der Gesellschaft entzieht. Aber ich stimme dir völlig zu, wenn du schreibst, dass Selbstmord sich nicht automatisch durch die Vergangenheit eines Menschen erklären lässt.

  2. Ist der Koala nicht nur ein Hilfskonstrukt, ein Erklärungsversuch, weil sich – und das deutet ja Bärfuss auch in Interviews und im Buch an – ein Selbstmord sowieso nicht erklären lässt. Ich finde das Buch auch deswegen gut, weil es keine Antworten liefert, weil es eigentlich in dieser eigenartigen Konstruktion ein Ausdruck der Fassungslosigkeit ist. So erkläre ich mir auch den distanzierten Ton. Bei dem Einstieg hat mich, was du Manierismus nennst, das zunächst bezüglich Kleist auch gestört – das fand ich eigenartig. Nicht aber bezüglich des Bruders – das kann ich jedoch nur gefühlsmäßig erklären. Im Vergleich: Bei David Wagners Leben fande auch gerade dies, dass der sein Kind immer „das Kind“ nennt, fürchterlich (ich neige dazu „mariniert“ zu schreiben, deshalb lass ich das). Jedenfalls spaltet dieses Buch die Gemüter, und das ist ja auch nicht schlecht…wenn alle immer dasselbe toll finden, wo kämen wir dahin?

    1. Wie schön, deinen letzten Satz finde ich wieder so klasse! Aber jetzt von vorn: Ich würde das auch so sehen, dass sich ein Selbstmord wohl nur selten „erklären“ lässt. (Emotionale) Fassungslosigkeit habe ich bei dem Buch nicht herausgespürt, dafür war mir das Ganze zu verkopft und auch die Beziehung der beiden zu distanziert. Es schien mir eher ein intellektuelles Fragen zu sein. Das ich aber auch wieder unbefriedigend fand, weil der Ich-Erzähler ja gar nicht versucht, auch andere (Verwandte, Freunde) zu befragen. Da schrieb er ja, dass er sich nichts von verspricht außer beschönigenden Anekdoten und Halbwahrheiten. Gleichzeitig stellt er das Konstrukt des Koala daneben, was für mich noch viel beliebiger ist, als es eine mosaikartige Sammlung verschiedener Stimmen gewesen wäre. Und gegen Ende lädt er die Koala-Metapher doch schon mit ziemlich viel Bedeutung auf, oder? So dieser Zusammenhang zwischen Arbeit und den eher „Faulen“ oder „Gemütlichen“, die es bei uns eher schwer haben. Insofern lese ich den Koala schon als Antwort auf seine Frage, wie es zu dem Selbstmord kommen konnte. Ach, mariniert, schön, das brauche ich heute Abend, die Woche war heftig 🙂

  3. Liebe Anna,
    entschuldige bitte, dass ich hier noch ein bisschen – thematisch völlig unangemessen – herumkichern muss, aber Birgit hat mich in dieser ernsthaften Diskussion mit ihrer Marinade völlig aus dem Konzept gebracht…
    Mir hat der knappe, distanzierte Erzählton zu Beginn des Roman sehr gut gefallen; er macht die Fassungslosigkeit sehr nachfühlbar. Mir hat auch sehr gut gefallen, wie der Erzähler den prozess des Auseinandersetzens berichtet, das Darüber-Sprechen-Wollen, das so gar nicht klappt, die Versuche, den Gründen nahezukommen, die Frage nach der eigenen Schuld und schließlich auch die Wut auf den Bruder. Auch der Bezug zum Koala, hier über den von den KIndern gefundenen Spitznamen, die Versuche, sich diesem Tier zu nähern, das uns ja tatsächlich vor allem putzig und puschelig erscheint, überzeugt mich in seinen Parallelen zu vielen Facetten des Lebenskonzeptes der Bruders. Die Besiedlungsgeschichte Australiens allerdings, die für sich auch sehr spannend beschrieben ist und mich sehr an Kehlmanns HUmboldt-Forschungen erinnert hat, holt zu weit aus. Auch wenn sie erklären soll, wie es dadurch zur Ausrottung des Koalas kommn konnte, sind die Bezüge zum Selbstmord des Bruders doch sehr weit.
    Insgesamt schließe ich mich wohl Anna mit einem etwas durchwachsenen Fazit an, finde aber aus diesem Grund Birgits Begeisterung umso beeindruckender, denn hier wird deutlich, wie Literatur jemanden tatsächlich packen kann. Und das ist doch ein toller Glücksfall.
    Viele Grüße, Claudia
    PS: Anna, wir müssen wohl doch endlich einmal Bartholomäus Grills „Um uns die Toten“ lesen
    – oder hast Du das schon getan?

    1. Hallo Claudia,
      also, ich war froh über die Marinade, das brauchte ich heute Abend! Deswegen ist dein Kichern hier sozusagen in guten Händen 🙂 Ich finde es ja höchst spannend, dass für euch die Sprache zu Beginn etwas von der Fassungslosigkeit vermittelt hat. Das würde ja auch viel besser passen. Bei mir hat’s leider nicht gefunkt. Vielleicht auch, weil da ohnehin keine enge Bindung oder Beziehung war … Und ich mich frage, ob der Ich-Erzähler dann wirklich so fassungslos war oder mehr vom Kopf her diesem Ärgernis, dieser Frage nach den möglichen Gründen, auf den Grund gehen wollte.
      Die Metapher des Koalas fand ich an sich genial (wenn auch viel zu weit hergeholt, sehe ich auch so), aber mir fehlten dann wieder die Details aus dem Leben des Bruders, die das untermauerten. Nur weil jemand keinen prestigeträchtigen und lukrativen Beruf ausübt, muss er noch lange kein – fast lebensunfähiger – Koala sein. Er könnte auch glücklich mit wenigem auskommen. Ich kannte jemanden, der noch weniger „arbeiten“ konnte und einer der ausgeglichensten und zufriedensten Menschen war, die ich je getroffen habe.
      Ja, ich finde es auch großartig, dass Birgit hier eine Lanze für das Buch bricht, und ich finde es jetzt schon bereichernd zu hören, dass ihr beispielsweise die Sprache zu Beginn anders wahrgenommen habt als ich. Auf „Fassungslosigkeit“ wäre ich da nie gekommen. Danke für diese Sichtweise.
      Ja, Claudia, der B. Grill liegt hier (ungelesen), aber ich habe ganz ungeschickt gerade etwas ganz anderes zu lesen begonnen und stelle jetzt fest, dass mich vielleicht doch der Kruso von der Shortlist noch reizen würde… Mal sehen. Aber es ist sehr reizvoll, ein Buch mit anderen zeitgleich zu lesen. Also, wenn du magst, könnten wir ja überlegen, ob wir den Grill zeitgleich lesen wollen.
      Ein gutes Wochenende.
      Anna

      1. Liebe Anna,
        ich möchte noch einmal auf die Koala-Metapher zurückkommen, die ich einerseits wirklich sehr stimmig finde für das unambitionierte Leben des Bruders. Der Koala hat es sich ja auch ganz gut in seiner fast lebensunmöglichen Nische gemacht und kommt darin lange gut zurecht. Bis eben der Mensch, gerne auch der christlich ambintionierte, sich die Erde untertan macht und dabei alles platt, was sich nicht wehrt. In dieser Lesart wäre der Bruder an den vielen ehrgeizigen, emsigen Menschen um sich herum gescheitert, die schräge Blicke auf ihn werfen und ihn nicht anerkennen. Das kann ich mir schon vorstelen – einerseits. Andererseits, und da stimme ich Dir völlig zu, muss es doch auch möglich sein, in unserer Gesellschaft auch „anders“ leben zu können, wenn es einem reicht, mit weniger zurecht zu kommen. Und dann sind da die psychologischen Fragen rund um den Selbstmord, die Frage nach Depressionen zum Beispiel (da bin ich ganz bei Köhlmeiers „Zwei Herren am Strand“, die sich mit diesem schwarzen Hund herumplagen). Die angedeutete KIndheitsgeschichte könnte da ja einen HInweis drauf geben. Das ist eine „Ermittlungsrichtung“, die mir im „Koala“ fehlt. Sie kann sich ja als falsch erweisen, das wäre ja völlig in Ordnung, sollte aber schon berücksichtigt werden. – Und zum Roman insgesamt: Er stiftet uns „wenigstens“ zu einer schönen Diskussion an – und das ganz virtuell im Internet. Das ist doch schon mal ein großer Verdienst des Romans.
        Grills Buch werde ich im Moment noch nicht lesen, ich stehe auch erst mal (nach den „Zwei Herren“) vor „Kruso“. Vielleicht können wir uns da gemeinsam drüber hermachen :-).
        Viele Grüße und ein ganz entspanntes Wochenende (nächste Woche wird alles schon viel besser, Du wirst sehen :-)!!!), Claudia

      2. Du bringst das so gut auf den Punkt: eine „Ermittlungsrichtung“, die sich ja als falsch erweisen könnte, aber dennoch berücksichtigt werden müsste. Finde ich auch. Und dass sich so angenehm mit dir und anderen über den Roman „reden“ lässt, ist köstlich. Ich merke dann immer wieder, wie wenige Menschen in meiner Umgebung Leser sind. Da ist das Internet schon eine richtig feine Sache! Ja, Kruso mehr oder weniger zeitgleich zu lesen, kann ich mir gut vorstellen. Ich habe meine Lektürepläne ohnehin umgeworfen, lese jetzt etwas „Flutschiges“ (Gruß an Birgit) und danach könnte Kruso gut passen. Ach, Köhlmeiers Buch werde ich wohl nicht lesen, aber im Urlaub fand ich die Autobiografie von Chaplin in einem Secondhand-Laden, wäre auch schön. Aber leider geht nicht alles gleichzeitig. Ja, das ist meine Hoffnung, dass ich mich nächste Woche nicht mehr so fühle, als sei ein Bagger über mich gefahren 🙂 Auch dir ein gutes Wochenende.
        LG; Anna

      3. Nein, Du kannst ganz unbesorgt sein, der Bagger ist nächste Woche schon abgezogen, auf jeden Fall übernächste Woche ! Ehrlich! (Bei mir hat es auf den Tag zwei Wochen gedauert, bis ich wieder gut in meinem Hamsterrädchen geklaufen bin, das braucht wohl von Jahr zu Jahr mehr Zeit.) Und jetzt ist alles ganz prima – und zum Lesen komme ich auch noch – neben dem ersten Klausurensatz. Und wenn wir es mit dem Kruso so in etwas zeitgleich hinbekommen, dann werde ich mich sehr freuen. Das hat wirklich etwas, so eine virtuelle Diskussion!
        Viele Grüße, Claudia

  4. Oh, vielen Dank, das ist eine schöne Ergänzung. Ja, es macht Spaß und erweitert die eigene Sicht, wenn man ein Buch zeitgleich mit anderen liest. Noch schöner wäre natürlich, wenn einen dann auch noch das Buch begeistern würde 🙂
    Liebe Grüße
    Anna

  5. ich habe das buch auch gelesen und war – wie einige andere wohl auch – nicht so ganz begeistert. natürlich kann man in den australienpart viel hinein interpretieren, für mich zerbricht jedoch das buch an dieser stelle. das bärfuss als betroffener sich an diesem thema aufhält – es lenkt ja auch gut von anderen fragen ab, sich mit sowas zu befassen – kann ich gut nachvollziehen. als bestandteil des buches hat es mich jedenfalls nicht überzeugt… und die geschilderte sprachlosigkeit seiner umwelt – das erschüttert natürlich und macht betroffen, mir tat der autor jedenfalls leid….

    leseeindruck also gemischt bei mir….

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