Thomas Medicus: Heimat (2014)

Es war lange her, dass ich da gewesen war. Zwischen meinen früheren, spärlichen Besuchen waren meist Jahre vergangen. Dieses eine Mal, es war kurz vor Ostern, hatte mich mein Sohn überredet. Er wollte sehen, wo sein Vater geboren und aufgewachsen war, wollte das Grab seines Großvaters besuchen, den er nur aus Erzählungen kannte. ‚Aber lange bleiben wir nicht‘, hatte ich unwirsch geantwortet, als er unvermutet seinen Wunsch äußerte, ’nur ein paar Stunden, dann fahren wir weiter. Über Nacht bleiben wir da auf keinen Fall.‘

So beginnt die Spurensuche des 1953 geborenen Journalisten und Autors Thomas Medicus nach der Heimat.

Gleich zu Beginn macht der Autor deutlich, wie wenig ihn in seine Heimatstadt Gunzenhausen zieht, wie radikal er sich von dem Städtchen in Mittelfranken distanziert hatte.

Außer einigen toten Seelen, die auf dem Friedhof, […] ihren ewigen Schlaf schliefen, kannte ich dort niemanden mehr. Nein, das stimmte nicht, es lebten noch Freunde meiner Eltern da, Klassenkameraden, Leute, von denen ich die meisten seit meinem letzten Schultag nicht mehr gesehen hatte und auch nicht wiedersehen wollte. (S. 10/11)

Und beim Betrachten einer alten Schwarzweiß-Fotografie sinniert er düster vor sich hin:

Die Ansicht besitzt eine seltsame Atmosphäre, anheimelnd, aber auch erfüllt von einer furchtbaren Leere. Kein Mensch ist zu sehen, nicht einmal eine Katze, die träumend über die Kreuzung schleicht, kein Hund, der in der Morgensonne kauert, kein Auto, kein Fuhrwerk, nichts. Als ob bald etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden ist. (S. 15)

Dabei war seine Kindheit in der Provinz ganz ohne größere Schrecken oder familiäre Katastrophen verlaufen. Sowohl der Vater als auch der Großvater waren Ärzte gewesen. Über die nationalsozialistische Vergangenheit wurde, wie vermutlich überall in Deutschland, eher geschwiegen.

Es gab Vergangenheiten, an die man sich erinnerte und solche, an die man sich nicht erinnerte. (S. 31)

Über den Krieg wurde später sowohl gesprochen als auch nicht gesprochen, er hielt für Anekdoten her, das Beste am Krieg war, dass er vorbei war. In Belgien habe er viel Kuchen gegessen, erzählte der Vater einmal. (S. 31)

Dann kommt ein gewaltiger Zeitsprung. Einige Jahre nach der Wende liest Medicus Die Ausgewanderten von W. G. Sebald.

… als mich auf drei fast aufeinanderfolgenden Seiten der Name meines Geburtsortes ansprang wie ein bissiger Hund. Jäh wurde ein Zeitfenster aufgerissen, das den Blick auf etwas freigab, das wenig gemein hatte mit dem Netzhautbild meines uranfänglichen kindlichen Blicks. (S. 38/39)

So erfährt Medicus von einem der ersten Judenpogrome in Deutschland nach der sogenannten „Machtergreifung“. In Gunzenhausen kam es am 25. März 1934 zu gewalttätigen Übergriffen des Mobs auf jüdische Mitbürger.

Der Übergriff brachte die Stadt weltweit negativ in die Presse: New York Times, Manchester Guardian und das Neue Wiener Journal berichteten über die von mehreren hundert Gunzenhausenern begleiteten Gewaltakte der SA, welche die Ansbacher Richter im folgenden Prozess als „reinigendes Gewitter“ verharmlosten. Zwei jüdische Bewohner, der 65-jährige Privatier Max Rosenau und der 30-jährige Kaufmann Jakob Rosenfelder, kamen unter bis heute nicht geklärten Umständen ums Leben. 24 SA-Mitglieder, die sich an den Ausschreitungen beteiligt hatten, wurden von der NS-Justiz freigesprochen und später von der Bundesrepublik amnestiert. Der Hauptinitiator des Pogroms, SA-Obersturmführer Kurt Bär, erschoss im selben Jahr, bereits einen Monat nach seiner Verurteilung, einen jüdischen Gastwirt und verletzte dessen Sohn schwer. Beide hatten vor dem Landgericht Ansbach gegen ihn ausgesagt. Bär wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch bereits nach drei Jahren begnadigt. (Wikipedia-Eintrag, abgerufen am 3. September 2014)

Der zweite Anstoß für die Spurensuche in der Provinz ergibt sich, als der Autor aus einem seiner Bücher in der Gunzenhausener Stadtbibliothek liest. Er erfährt, dass sein Großvater als Gutachter in dem Prozess fungierte, der nach dem Pogrom stattfand. Zusammen mit einem Kollegen musste er die beiden jüdischen Männer obduzieren, die damals ums Leben gekommen waren. Man kann wohl davon ausgehen, dass den beiden Ärzten die „Diagnose“ Selbstmord nahegelegt worden war.

Doch der ausschlaggebende Impuls kommt 2009, als er erfährt, dass J. D. Salinger, der Autor von The Catcher in the Rye, als Soldat 1944 nach Europa gekommen ist. Er habe

an vorderster Front gekämpft, während der letzten Kriegsmonate auch in Bayern, sei dort an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau beteiligt gewesen und wenige Monate nach Kriegsende in einem Nürnberger Hospital aufgrund einer ‚Battle Fatigue‘, eines Nervenzusammenbruchs als Folge des Kriegs, ärztlich behandelt worden. Nach seiner Entlassung aus dem Hospital sei Salinger aus der Armee ausgeschieden, habe aber weiterhin für den sogenannten CIC [den Nachrichtendienst der US-Armee] als Zivilist gearbeitet. […] Als CIC-Agent sei er auch nach G. gekommen. Seine Aufgabe sei es gewesen, Entnazifizierungsmaßnahmen durchzuführen und untergetauchte Kriegsverbrecher aufzuspüren. (S. 85)

Das ist die Initialzündung: Medicus recherchiert zum einen die Kriegserlebnisse Salingers, seinen Aufenthalt in Gunzenhausen und seine kurze Ehe mit einer Deutschen und spekuliert darüber, inwieweit Salingers traumatische Erlebnisse während des Weltkrieges für seinen späteren Rückzug aus der Öffentlichkeit verantwortlich sein könnten.

Ohne ihn [gemeint ist Salinger], diesen vielfach gebrochenen Helden, hätte ich es nie gewagt, mich in das Labyrinth zu begeben, das mich noch Jahrzehnte, nachdem ich G. verlassen hatte, immer wieder im Traum heimsuchte. Salinger war meine Leitfigur, ich brauchte ihn, wie ein Sohn seinen Vater braucht. Unsere Kreise überschnitten sich, und der zeitliche Abstand betrug wenige Jahre. (S. 179)

Zum anderen widmet sich Medicus akribisch dem Verlauf der Enteignung, der Entrechtung und der Vernichtung der jüdischen Bürger in Gunzenhausen. Er zitiert aus Protokollen und Zeitungsberichten, Täter, Rädelsführer und Opfer bekommen ein Gesicht und einen Namen.

Trotz der akribischen Recherche – wobei völlig offen bleibt, was genau davon Medicus eigentlich selbst ans Licht befördert hat – habe ich mich über weite Strecken gelangweilt. Nicht nur, weil in den Abschnitten, in denen Medicus über sich und seine Familie redet, der Stil so hölzern ist. Alles sehr distanziert, „die Großmutter“, „der Vater“, manchmal bis zur völligen Unverständlichkeit.

Eines Tages war der Vater verschwunden. Ein Jahr nachdem er tot zurückgekehrt war. (S. 38)

Der Selbstmord des Vaters – würde der nicht auch in eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Heimatbegriff hineingehören? Die beklemmende Düsternis dieser Kindheitsprovinz wird zwar behauptet, doch nie anschaulich gemacht.

… bedeutungslose Dinge besaßen hier eine Bedeutung, von der ich damals nichts ahnte. Der Gitterzaun um die Synagoge, der sich in meine Netzhaut eingebrannt hat, weil ich jahrelang daran vorbeigelaufen bin, war nicht bloß ein Gitterzaun, der im Laufe der Kindheits- und Jugendjahre immer rostiger wurde. Er war das heimliche Symbol einer infamen Lokalgeschichte, von der ich nichts wusste, schon gar nicht, dass meine Familie in Gestalt meines Großvaters darin verwickelt war. In G. gab es keine Unschuld, nur die Vortäuschung der Unschuld. Die Nachkriegskinder gingen tagein, tagaus ahnungslos über einen doppelten Boden.

Erst mit der Zeit wurde mir klar, dass die kleine Stadt über Jahrzehnte hinweg ein großes, furchtbares, dunkles kollektives Geheimnis  geborgen hatte. (S. 82)

Da denke ich mir nur, ach, für welche Stadt in Deutschland hätte das denn nicht gegolten? Und gerade über diesen doppelten Boden hätte ich gern mehr gelesen. Was macht der mit den Tätern, den Mitläufern, den Kindern, den Enkeln?

Letztendlich fand ich Auseinandersetzung des Autors mit seiner Heimat banal und oberflächlich. Provinzielle Enge und das Verschweigen der nationalsozialistischen Vergangenheit waren für viele „normal“, doch zur literarischen Umsetzung hätte für mich mehr gehört, als die einfach festzustellen und zu behaupten..

Ich fand es eher melodramatisch, dass Medicus erst nach seinem Besuch in Cornish, dem Rückzugsort Salingers, „den Mut aufbrachte“, das Haus seiner Kindheit

an das ich mich zuvor nur im Schutz der Dunkelheit herangewagt hatte, am helllichten Tag in Augenschein zu nehmen. (S. 180)

Mein Haupteinwand: Ich konnte die Verbindungslinien zwischen Progrom, Salinger und der Familie des Autors nicht nachvollziehen, sie schienen mir künstlich herbeigeschrieben. Denn auch wenn Salinger ein halbes Jahr in Gunzenhausen tätig war, es bleibt völlig offen, ob und was er dort herausgefunden hat. Und dass die Großvätergeneration involviert war, ist nun keine wirklich bahnbrechende Erkenntnis.

Lesenswert hingegen fand ich die Kapitel, die sich mit Gunzenhausen während des Nationalsozialismus beschäftigen. Zeitlos wichtig. Bedrückend, beklemmend. Ein Stück Aufklärung, bei dem Täter und Opfer wieder ein Gesicht bekommen.

Zumindest für Medicus hat sich die Spurensuche gelohnt, für mich als Leserin wohl weniger.

Ich war kein Heimatgefangener mehr, wenigstens hoffte ich das. Immerhin war meine Flucht beendet. Ich war stehen geblieben. Wie weit ich auch fortgegangen war, unbemerkt von mir selbst war ich viel fester verwurzelt geblieben, als ich es mir je eingestanden hatte. Wer besinnungs- und haltlos auf der Flucht ist, bleibt erst recht an das gebunden, wovor er flüchtet. (S. 160)

Zu seiner großen Überraschung stellt er fest, dass Gunzenhausen gar keinen aktuellen Retter aus der  Geschichtsvergessenheit gebraucht hat. Die Aufklärung über und die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus hatten dort Mitte der achtziger Jahre begonnen, sodass Medicus von den hiesigen Rechercheergebnissen immens hat profitieren können. Die Provinz habe das Provinzielle – zumindest in diesem Fall – hinter sich gelassen.

Anmerkungen

Hier die Besprechung aus der TAZ und hier geht’s lang zur Würdigung in der ZEIT.

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

11 Kommentare zu „Thomas Medicus: Heimat (2014)“

  1. Liebe Anna,

    hab Dank für diese hochinteressante Besprechung, die ich gerne gelesen habe. Ich habe das Buch hier noch liegen und möchte es trotz deiner Einwände unbedingt lesen. Nun bin ich noch gespannter darauf, wie ich es empfinden werde.

    Liebe Grüße
    Mara

    1. Hallo Mara,
      dann freue ich mich auf deine Eindrücke. Es ist immer interessant zu sehen, wie ein Buch auf andere Leser wirkt. Momentan bin ich ganz ratlos, bin auf Seite 137 von Kruso und überlege ganz stark, die Lektüre abzubrechen. Es langweilt mich über alle Maßen und ich wünschte, der Erzähler käme endlich mal zu Potte. Vielleicht muss ich einfach mal in ein paar Monaten einen neuen Versuch starten…
      Liebe Grüße,
      Anna

      1. Liebe Anna,

        oh nein! Dabei hast du ja wegen meiner begeisterten Besprechung losgelegt mit der Lektüre, da fühle ich mich nun sehr verantwortlich. Bücher wirken natürlich immer anders auf Menschen, vielleicht solltest du Kruso einfach zu einer anderen Zeit noch einmal eine zweite Chance geben. 🙂

        Liebe Grüße
        Mara

      2. Liebe Mara,
        mach dir keine Sorgen, die Verantwortung für unser Lesen müssen wir ganz tapfer schon selbst tragen 🙂 Ich weiß selbst nicht genau, was mir so ein Unbehagen bereitet, vielleicht nervt es mich, wenn ich zum fünften Mal lese, wie indianisch würdevoll Kruso ist, die grauslichen Bedingungen im Abwasch, bei denen die erwachsenen Männer nicht auf die Idee kommen, einfach mal genügend Tellervorräte einzufordern, die Andeutungen, was mit G. passiert ist (ich kriege grüne Pickel bei diesen Abkürzungen) und dann das Gefühl, das ich auf S. 137 immer noch am Anfang herumwate… Aber wenn doch alle Leserinnen, deren Meinung ich schätze, so begeistert sind, bin ich durchaus geneigt, irgendwann einen zweiten Versuch zu starten. Ich hatte das Buch unter dem Aspekt „Buchpreis“ gelesen, vielleicht fahre ich doch besser mit meiner „Ich lese das, auf was ich gerade Lust habe-Methode“, denn eigentlich mag ich doch gern so ruhige Geschichten. Und alle sind vom Epilog begeistert. Würde es den Leseeindruck beeinträchtigen, wenn ich den einfach jetzt schon lese? Ratlose, aber hoffnungsvolle Grüßé, Anna

      3. Ich möchte mal kurz in Eure Unterhaltung grätschen, nicht zur „Heimat“, davon habe ich, ganz selektiv, einfach nur die kritischen Sätze gelesen und mich vergnügt und (kauf)entspannt zurückgelehnt, sondern zum „Kruso“. Mir gefällt der Roman total gut, das langsame Herantasten an die Gemeinschaft der Esskaas (oder wie das geschrieben wird) spiegelt – finde ich – ja sehr schön auch die Erfahrungen Eds, sich in dieser neuen Umgebung erst einmal heimisch zu machen. Über die offensichtlich geringe Anzahl vonTellern habe ich mir einfach mit die plan-wirtschaftlichen Verhältnisse erklärt. Und wenn es kein Material gibt, dann gibt es eben die Arbeitskraft, so hält man die Arbeitslosenzahl auch klein. Und dann, so etwas nach S. 136 :-), wird es ja sogar spannend, denn es gibt ja auch noch die schwarzen Räume auf der Insel und Krusos Konzept von Freiheit. Wenn Du also noch ein bisschen durchhältst (ich bin auch erst auf S. 176), dann entkommst Du dem Abwasch und lernst noch eine völlig neue Seite von Hiddensee und von Kruso kennen. – Aber, es wahrscheinlich so, dass man diese Erzählstimme gut finden muss, sonst wird einem der Roman schnell öde.
        Viele Grüße, Claudia

      4. Schön, dass du dazwischengrätschst 🙂 Also, ich habe jetzt beschlossen, dass ich das Buch noch einmal ganz in Ruhe anfange, und zwar in den Herbstferien, und auch nur, weil ich euren Leseeindrücken vertraue. Aber jetzt lese ich erst mal nach Lust und Laune, rein zur Entspannung, das scheint mir für mich und meine Beziehung zu Kruso das Beste zu sein. Auch dir ganz viele Grüße und ich würde sagen: Wer Kruso lesen kann, der kann auch anderen Dingen wie dem kommenden Montag oder Mittwoch ganz entspannt und kompetent entgegensehen. Also, all the best, ich drücke alle Daumen, die ich habe! LG, Anna

  2. Liebe Anna,
    Gunzenhausen, das ich aus eigener Anschauung kenne, W.G. Sebald, dessen Ausgewanderte ein sagenhaft gutes Buch ist und dann Salinger – da meldete sich sofort bei mir der Schnappreflex. Aber ich traue deinem Urteil inzwischen so sehr, dass ich jetzt erleichtert bin, nicht wegen einiger Reizworte wieder ein Buch kaufen zu müssen. Zumal die von Dir ausgewählten Zitate für sich sprechen (also gegen einen Kauf). Und, dass hatten wir ja neulich schon mal, dieser Manierismus (furchtbar mariniert), Figuren keinen Namen mehr zu geben, sondern nur von „der Vater“, „Das Kind“, etc. zu sprechen.
    Es grüßt „Die Leserin“.

    1. Liebe „Leserin“,
      schön, wie du Dinge immer so auf den Punkt bringen kannst, genau diese Verbindung der Reizworte „Salinger“, „Sebald“ und deutsche Geschichte sorgte auch bei mir für diesen „Schnappreflex“. Und mit der Marinade 🙂 ging es bei Lutz Seiler und seinem hoch, nein höchstgelobten Roman Kruso gleich weiter. Die verstorbene Freundin des Ich-Erzählers wird immer nur G. genannt. Aber Kruso ist dann auch wieder eine Geschichte für sich, bei der ich in die Begeisterungschöre auch nicht so einstimmen mag.
      Liebe Grüße von A.

  3. Mir wird bei der Schilderung zum Thema Salinger, über den ich auch schon gelesen haben wieder bewußt wie sehr Wir selbst die sind die etwas aus Jemanden machen und dieser Jemand viel weniger dazu beiträgt in seinem Sein als unsere Idee von Ihm…

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