Bist du da? Sie saß auf einem ovalen, rückenlosen Plüschmöbel. Es roch nach Staub wie nach altem Puder. An den Türen standen Aufseher in dunkler Uniform. Anna Michaelis sah zu der Wand mit den Bildern, auf die gedehnten Choreographien von Körpern, die sich an ihnen vorbeibewegten. Vom Hotel aus war sie gleich hierher gekommen.
Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Sie dreht sich um der 1957 in Karlsruhe geborenen Schriftstellerin Angelika Overath. Er lädt uns ein, genauer hinzusehen, ist geradezu eine Einübung ins Sehen und leider streckenweise auch ein wenig langweilig.
Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch erklärt Annas Ehemann ihr unvermittelt, dass er eine wesentlich jüngere Geliebte habe, die sich ein Kind von ihm wünsche. Doch statt Tränen und Szenen packt
Anna, Journalistin, fünfzig Jahre alt, frischverlassen, sich wie fünf fühlend (S. 19)
ein bisschen Handgepäck zusammen und reist einen Monat umher, denn:
Vieles ist möglich, was man nicht für möglich hält. […] Es ist möglich, verlassen zu werden, nach einem halben Leben. Es ist möglich, sehr schnell ein Handgepäck zusammenzusuchen, in ein Taxi zu steigen, in ein Flugzeug. Es ist möglich, in einer fremden Stadt zu landen, in der man noch nie war. Weil es ein Anfang sein soll. Wenigstens ein Anfang. Was bleibt einem am Ende sonst übrig. (S. 22)
Wie schon in Schul- und Studienzeiten sind auch diesmal Gemäldesammlungen für Anna die wesentlichen Anlaufpunkte in den fremden Städten.
Eine Stadt besichtigen hieß für sie, ihre Bilder zu sehen. Eine Stadt versäumt zu haben war identisch mit dem Versäumen ihrer Gemälde. (S. 23)
Diesmal haben es ihr vor allem Bilder von Frauen, besonders Rückenansichten, angetan, die anfangen, zu Anna zu sprechen, wenn sie nur ruhig und aufmerksam genug hinhört. Dies überrascht sie nicht wirklich.
Anna fragte sich, warum sie sich nicht mehr wunderte. Aber es ging ja nur ums Aushalten, irgendwie. Bei Geburten etwa produzierte der Körper schmerzstillende Stoffe. Damit die Trennung leichter gelang, betäubte er sich selbst. Vielleicht konnte die Seele das auch. (S. 20)
So gewinnen wir Einblick in verschiedenste Zeiten, Lebens- und Liebesformen und Bilder, die sich Männer – und seltener auch Künstlerinnen – eben von Frauen gemacht haben. Zusammen mit der Erzählerin sind wir in der National Gallery in Edinburgh und betrachten Gauguins Vision nach der Predigt oder Hammershøis Interieur mit junger fegender Frau von 1899, das in Kopenhagen zu sehen ist.
In Boston flaniert sie durch die Stadt und beschäftigt sich mit Gustave Caillebotte und mit Edward Hopper und dessen Ehefrau, die ihm immer wieder Modell gesessen hat. Weitere Stationen sind Bilder des Künstlers Jacobus Vrel oder von Giovanni Segantini, von dem sie eine Ausstellung in der Schweiz besucht, oder Die große Badende von Ingres. Auch den Skagen-Malern stattet sie einen Besuch ab.
Dazwischen nähert sich Anna allmählich dem Schrecken an, den der Treuebruch ihres Mannes für sie bedeutet. Sie begreift, dass sie selbst radikal in Frage gestellt wird.
Ich bin Anna, dachte sie, immer noch. Oder zumindest versuchte sie, so zu denken, als sei ihr Rufname ein Halt. Aber etwas war weggebrochen. Ein im Gedankenlosen eines Ehealltags gar nicht mehr bemerktes Geländer von Gewöhnung und Vertrauen. (S. 50)
Sie denkt über ihre lange Ehe nach, über ihre erwachsenen Kinder, ihren Beruf, der ihr Freude macht. Über die eigene Verführbarkeit.
Ihre Ehe war gescheitert. Aber konnte man wirklich so sagen? Kann man von Scheitern sprechen, wenn eine Gemeinschaft ein Vierteljahrhundert gehalten hat. Wenn zwei lebensbegabte Kinder daraus entwachsen waren. War Gelingen nur lebenslänglich zu haben? Und nur vom Ende her zu sehen? (S. 43)
Fazit
Ein ruhiges Buch mit wenigen Dialogen; eine Einladung zum Sehen, intelligent und manchmal ein wenig ermüdend.
Ich fand, da ich auch so gern Gemäldesammlungen besuche, die Zwiegespräche zwischen Anna und den Bildern schon sehr reizvoll, auch wenn das Hintergrundwissen, das uns die Erzählerin dabei en passant vermittelt, eben nicht spontan aus den imaginierten Ansprachen der gemalten Frauenfiguren entspringen kann. Doch nicht nur die Bilder und ihre Künstler haben hier einen großen Auftritt, auch dem Museumsbesuch wird ein feines Loblied gesungen:
Anna atmete durch wie in Höhenluft. Sie stand in einer der kathedralenhohen Haupthallen und hatte den Orientierungsfaltplan des Museums in der Hand. In unterschiedlichen Farben waren die Abteilungen auf den verzweigten Stockwerken verzeichnet; aber sie lief einfach immer weiter. Helle Flure, offene Treppen, gläserne Fluchten, von denen weitere Galerien abzweigten. Manchmal fragte sie einen der vielen Wärter, wo sie sich befand. Und war dann richtungsblind schon wieder unterwegs auf einem unsinnig seligen Weg. (S. 119)
Ich würde sofort mit Anna oder auch der Autorin in eine Galerie gehen und mich in der Kunst des behutsamen und sorgfältigen Hinschauens üben. Die Annäherung an die Bilder hat mich streckenweise stärker interessiert als die Frage nach Annas Ehe.
Wenn das Zusammenleben noch gut ist, weiß man es nicht. Man nimmt es einfach hin. Und streitet über liegengelassene Socken auf der Treppe oder ein verschwundenes Buch. Oder den Müll. Sitzt abends am Küchentisch, zeitunglesend, vor Korrekturen oder am Notebook. Gewöhnung macht blind. (S. 73)
Der Seitensprung des Ehemanns wird seltsam sachlich konstatiert. Auch das Ende hat mich nicht gänzlich überzeugt. Die Lage der porträtierten Frauen hat wenig mit der Lage Annas zu tun. Die Bilder wirken eher wie Spiegellabyrinth, das zeigt, dass Annas Leben eben nur einer von unzähligen möglichen Lebensentwürfen ist, denen Frauen im Laufe der Zeiten freiwillig oder unfreiwillig gefolgt sind.
Der größte Kritikpunkt ist für mich allerdings, dass ich mich immer dann gar gepflegt gelangweilt habe, wenn uns die Erzählerin seitenlang die Gemälde beschreibt, die ja nicht im Buch abgedruckt sind. Natürlich habe ich die Bilder gegoogelt. Zwar mag es reizvoll sein nachzuvollziehen, inwieweit Worte ein Bild fassen und erfassen können. Dennoch: Sprache hat mir da, egal wie präzise gewählt, nicht gereicht, genau wie mir die Beschreibung eines Musikstückes nicht ausreichen würde. Ich brauche den Anblick. Worte allein wecken hier keinerlei Emotionen – ganz im Gegensatz zum eigentlichen Kunstwerk.
Es gibt das glatte Weiß und das rauhe Weiß und ihre Schatten. Im Innern des Buttertellers ist das Weiß glatt, und auch der Schatten im porzellanenen Tellerrand ist von glattem Weiß. Aber der Teller wirft auch einen Schatten auf die weiße Leinendecke. Dieser Schatten ist rauh. Die Decke hat zwei Falten, die vom Zusammenlegen herrühren. Die linke dieser Liegefalten zeigt eine glänzende Linie der Erhebung gegen rechts und eine dunkle, weiße Schattenlinie gegen links. Die rechte Liegefalte scheint nicht ganz so hoch. Glanz und Schatten sind abgeschwächt. Auch die milchfettweiße Butter wirft eine schmelzende Schattenseite in sich. Wie ein Gebirge. Ein Tafelgebirge sozusagen. (S. 57)
Literarische Nachbarinnen
Es scheint gerade eine gute Zeit für Frauenfiguren in der deutschsprachigen Literatur zu sein, die sich aus unterschiedlichsten Gründen dafür entscheiden, aus allen Lebenszusammenhängen auszusteigen, um mit sich oder einer bestimmten Situation zurechtzukommen.
- Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling
- Gerbrand Bakker: Der Umweg
- Kuckart, Judith: Wünsche (mit Dank an Claudia vom Grauen Sofa)
- Kinsky, Esther: Am Fluss (Besprechung auf dem Grauen Sofa)
Klingt für mich sehr gut – auch für meine Museumsgänge. Danke, wäre mir sonst niemals in die Finger gekommen!
Immer wieder gern, liebe Birgit. Übrigens scheint es mir spätestens nach deiner Vorstellung von Steinbecks Buch mal wieder an der Zeit, dich daran zu erinnern, dass du zwischendurch auch mal Bücher besprechen wolltest mit Themen wie „Handgeklöppelte Bierkrüge“, „Origami für Einsteiger“, „Motorradfahren für Frauen“ und was dergleichen mehr ist…
Liebe Anna,
da hast Du mir ja viel Lust auf ein Buch gemacht, dass schon auf dem SUb liegt – nachdem ich doch Overaths „Alle Farben des Schnees“ so mochte. Ob ich mit den langen Museumsgängen so gut zurecht komme, das weiß ich ja noch nicht, mal schauen, aber vielleicht lerne ich dadurch ja Bilder noch einmal ganz anders betrachten. – Und zu Deiner Liste mit verwandften Büchern passt noch gut Judith Kuckarts Roman „Wünsche“, der im letzten Jahr auf der Longlist nominiert war: Eine Berufsschullehrerin (hihi), Mitte 40 und aus der bezaubernden Kleinstadt Schwelm (liegt direkt neben Wuppertal) beschließt Silvester beim üblichen Schwimmen im örtlichen Hallenbad (ja, bin ich auch schon gewesen) doch einfach mal abzuhauen und nach London zu reisen…
Viele Grüße, Claudia
Hallo Claudia,
da bin ich ja gespannt, ob du „Sie dreht sich um“ lesen wirst und wie es dir dann gefallen würde. „Alle Farben des Schnees“ geistert auch noch auf meiner Wunschliste herum. „Sie dreht sich um“ ist im Hinblick auf die versammelten Frauenleben schon interessant, aber empfehlen würde ich es nur, wenn du auch richtig gern in Gemäldesammlungen gehst 🙂 Vielen Dank für deinen Buchtipp, den ergänze ich gleich sehr gern. Und jetzt werde ich schnell mal schauen, ob du Kuckart besprochen hast. London scheint ja gerade sehr angesagt zu sein, ist ja auch eine faszinierende Stadt. Liebe Grüße aus dem herbstlichen Korrekturwald.
Anna
Kuckart liegt leider noch seit letztem Jahr auf dem Stapel – ungelesen. Ich habe mal über ene bebilderte Besprechung nachgedacht, weil ich ja BIlder vom Hallenbad, der Brauerei und der Wohngegend der Protagonisten beisteuerrn könnte. Du siehst, ich habe zwei Seiten gelesen. Sophie Literatouren hat es damals gelesen und sich nicht so begeistert geäußert. Und so ist es nach hinten gerutscht. Obwohl: Berufsschullehrer und London – das müsste doch etwas für uns sein, oder? 🙂
Ein schönes Wochenende wünscht Claudia
Dann werde ich mal bei Sophie schauen; fast hoffe ich, dass sie mich völlig ernüchtert. Ich habe mal wieder einen Bücherkaufstopp verhängt. Und wenn du das Buch schon nach zwei Seiten wieder weggelegt hast … LG, Anna
Dein Eindruck zu diesem Roman deckt sich in etwa mit dem meinen. Ich fand das Buch auch nicht unbedingt überzeugend.
LG buechermaniac
Ja, war schon etwas zwiespältig, aber ich gehe so gern in Gemäldegalerien, dass mich dann die vielen Infos zu den Bildern wieder ein bisschen versöhnt haben. LG, Anna