Yaşar Kemal: Memed mein Falke (OA 1955; deutsche Erstausgabe 1965)

Die Hänge des Taurusgebirges steigen von der weiß schäumenden Mittelmeerküste ganz allmählich bis zu den Höhen der Taurusgipfel an. Über dem Mittelmeer kann man immer weiße Wolken sehen, die aufeinandergetürmt, dahintreiben. Das Küstenland ist so glatt und ebenmäßig, daß man glauben könnte, es sei mit einer Glanzschicht überzogen. Sein Lehmboden läßt einen an Fleisch denken. Auf Stunden ins Landesinnere hinein riecht es hier nach Meer, nach der Schärfe des Salzes. Hinter den flachen Äckern mit ihrem von Furchen durchzogenen Lehm beginnt das Röhricht der Cukurova, bedeckt mit unentrinnbar ineinander verfilztem Gestrüpp, mit Brombeeren, Wildreben und Schilf – eine dunkelgrüne Hölle, ohne Anfang und Ende, dunkler und wilder noch als Urwald.

Mit diesen Sätzen nähern wir uns behutsam der Landschaft im Süden der Türkei, wo am Fuße des Taurusgebirge die Geschichte Memed mein Falke von Yaşar Kemal ihren Ausgang nimmt, eine Erzählung, die mich nicht mehr losgelassen hat.

Das Original erschien 1955. Die Übersetzung von Horst Wilfrid Brands ins Deutsche erschien im Unionsverlag.

Memed, ein elfjähriger magerer Bauernsohn und Halbwaise, läuft von zu Hause fort, um den Demütigungen und der grausamen Arbeit auf den Feldern des Großgrundbesitzers Abdi Aga zu entgehen. Doch er wird aufgespürt und Abdi Aga lässt ihn und seine Mutter für diesen Fluchtversuch büßen. Sie müssen in Zukunft drei Viertel ihrer Ernte abgeben, die anderen Dorfbewohner „nur“ zwei Drittel. In den Wintern steht das halbe Dorf kurz vor dem Hungertod, und so sind die geschundenen, einfachen Menschen noch gezwungen dankbar zu sein, wenn der große Aga, der Besitzer von fünf Dörfern, ihnen Almosen gibt, um sie dann bei der nächsten Ernte um so stärker zu besteuern.

So zieht sich Abdi Aga einen unversöhnlichen Feind heran, der auch nicht gewillt ist, auf seine große Liebe zugunsten eines Neffen von Abdi Aga zu verzichten. Ein Kampf beginnt, bei dem keine der beiden Parteien gewinnen kann. Memed wird zum Rächer, zum Rebell, zum vogelfreien Bandit, aber auch zum Anstoß eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandels.

Das ist ein Buch von einer Wucht, die sich schwerlich in einer Besprechung einfangen lässt.

Ein kraftvolles Abenteuer, das man gar nicht aus der Hand legen mag. Und das Ganze wird erzählt mit einer so feinen Beobachtungsgabe, mit der nicht nur Memed, ein Held wider Willen, sondern auch der feige, brutale und skrupellose Despot geschildert wird. Dieser presst seinen Untertanen alles ab, bis sie vor Sorgen ums Überleben nicht mehr klar denken können und zum willfährigen Spielball des Tyrannen werden.

Darüber hinaus eine unvergessliche Liebesgeschichte. Und all die vielen Nebenfiguren, die mit ihren Stärken und menschlichen Schwächen so anrührend und dann wieder humorvoll gezeichnet werden, dass man meint, man sähe sie direkt vor sich.

Dazu Schilderungen der harschen, unzugänglichen und einzigartigen Berg- und Hügellandschaft. Man möchte sofort hinreisen und dort zusehen, wie die Sonne untergeht.

Es war Abend geworden. In den Strahlen der sinkenden Sonne glänzte die weite Ebene wie eine ungeheure Kupferplatte. Die Wolken leuchteten. Die Sonnenscheibe schien am anderen Ende des Flachlands unmittelbar über dem Boden zu schweben. (S. 214)

Geschrieben in einer malenden und musikalischen Sprache, wie aus den Tiefen der Jahrhunderte entstiegen. Angereichert mit Geschichten und Legenden, zu denen schließlich auch Memed in den Dörfern verklärt wird.

Mein Bild der Welt ist größer geworden durch dieses Buch.

Zum Autor

Yaşar Kemal (1923 – 2015) war kurdischer Abstammung und einer der wichtigsten Schriftsteller der Türkei. Sein Memed der Falke machte ihn international berühmt.

Durch die scharfe Sozialkritik machte das Buch auf die armseligen Verhältnisse in Anatolien aufmerksam und beeinflusste die oppositionellen Strömungen, die den Umsturz von 1960 in der Türkei auslösten. (Harenberg: Das Buch der 1000 Bücher, hrsg. von Joachim Kaiser, Harenberg 2002, S. 1174)

Insgesamt gibt es vier Memed-Bände:

  • Memed mein Falke
  • Die Disteln brennen
  • Das Reich der Vierzig Augen
  • Der letzte Flug des Falken

Auf der Seite des Unionsverlages gibt es einen aufschlussreichen Text von Kemal über die Entstehung seines berühmten Romans.

Und in einem Interview mit dem Guardian aus dem Jahr 2008 äußerte er sich zu seiner grundsätzlichen Intention:

Yes, there is rebellion in my novels, but it’s rebellion against mortality. As long as man goes from one darkness to another, he will create myths for himself. The only difference between me and others is that I write mine down.

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

13 Kommentare zu „Yaşar Kemal: Memed mein Falke (OA 1955; deutsche Erstausgabe 1965)“

  1. Ein Buch über eine Welt, die ganz eigenen Gesetzen folgt(e). Ja, auch mein Bild der Welt ist größer geworden durch dieses Buch, Anna. Das hast du schön gesagt.

    1. … die ganz eigenen Gesetzen folgt… Ja, und die „Gesetzeshüter“ sind korrupt, unfähig oder zu weit weg. Und gleichzeitig sind die Menschen in dieser nahezu archaischen Welt zutiefst menschlich und in ihrem Verhalten so nachvollziehbar… LG, Anna

  2. Der Satz über das erweiterte Weltbild fiel mir auch sofort ins Auge. Das ging mir mit Mehmed ebenso: Das ist eine Wucht von Roman, von Welt, von Bildern. Selten, dass einen ein Buch wirklich so packt – das zeigt seine Klasse. Ich hab dann die ganze Mehmed-Reihe gelesen, das war seinerzeit ein Leserausch…

    1. Das ist ja immer die Frage, ob man dann auch die anderen Bände der Reihe liest. Ich habe den ersten Band als rund, stimmig und abgeschlossen erlebt, so nach dem Motto, es kann ja gar nicht sein, dass mich die anderen Bücher ebenso begeistern. Aber dein Kommentar klingt, als wären auch die drei anderen Bücher lesenswert??? LG, Anna

  3. Das wollte ich immer mal lesen und hab es dann immer wieder vergessen. Wenn Deine Besprechung nun kein Grund dafür ist, dann weiß ich´s auch nicht 🙂 Schönes Wochenende, Sonja

    1. Hallo Sonja, dann würde ich mich freuen, von deinem Leseeindruck zu hören/zu lesen. Seit den Nachrufen auf den Autor hatte ich das Buch auf dem Radar und habe, wie man sieht, es nicht bereut 🙂 Auch dir ein schönes Wochenende. LG, Anna

    2. Mir geht es ähnlich. Kemal soll für einige Türken sogar über Pamuk eingeordnet werden, wie ich erfahren habe. Durch die Nachrufe ist er auch mir wieder ins Gedächtnis gerufen worden – deine äußerst positiv gestimmte Besprechung tut ihr Übriges: Bald werde ich auch mal ran müssen! 🙂

      Einen schönen Ostermontag noch!

      1. Ja, es waren die Nachrufe, die mich endlich dazu brachten, das Buch zu lesen. Und ich kann nur sagen: Wow! Toll, dass du das Buch noch vor dir hast. Bin gespannt, ob wir dann was bei dir dazu lesen werden 🙂 Auch dir noch einen schönen Ostermontagabend! LG, Anna

  4. Liebe Anna,
    vielen Dank für diese Besprechung. Ich habe schon lange eine kleine Vorliebe für Geschichten über Gebirgsvölker, der ich viel zu selten meine Zeit widme. darum freut mich dieser Lesetipp sehr.
    lg Anja

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