Lucien Deprijck: Ein letzter Tag Unendlichkeit (2015)

Die Dunkelheit wich. Ein Tag zog herauf. Wie ein jeder das Sinnbild aller Schöpfung. Zuerst war es nur eine Veränderung, welche die wenigsten Menschen in der Lage waren wahrzunehmen. Bevor noch irgendein Zeichen von Licht erkennbar wurde, verdichtete sich die Dunkelheit, zog ein Wind auf. Als ballte sich die Nacht in einem letzten Aufbäumen zusammen. So wie alles auf der Welt sich immer aufzulehnen scheint gegen etwas, was doch ganz unvermeidlich ist. Dann veränderte sich der Horizont im Osten, so allmählich, dass ein Anfang kaum zu bestimmen war.

So beginnt

Lucien Deprijck: Ein letzter Tag Unendlichkeit (2015)

Zum Inhalt

Der ist rasch umrissen: Die kulturelle Elite Zürichs ist begeistert, als der 26-jährige Dichter Klopstock der Einladung Johann Jakob Bodmers folgt und für einige Tage im Sommer 1750 zu Besuch kommt, eilt ihm doch der Ruf voraus, ein selten begnadeter Dichter zu sein. Ein Dichter, der alle Regeln der traditionellen Dichtkunst über den Haufen wirft und damit Gottsched den Fehdehandschuh hingeworfen habe. Nur zwei Jahre zuvor hatte der Dichter mit der Veröffentlichung der ersten Gesänge seines Messias unglaubliches Aufsehen erregt. Im Stillen hofft man zudem, Klopstock an Zürich zu binden, um so dem kulturellen Leben der Stadt weiteren Aufschwung zu verschaffen.

Klopstock logiert zwar bei Bodmer, doch fühlt er sich viel wohler unter Kulturbeflissenen – und vor allem Frauen – seines Alters, und so nimmt er gern die Einladung Hirzels an, mit 17 Verehrern seiner Dichtung an einer Bootsfahrt auf dem Zürchersee teilzunehmen. Mit Klopstocks Ode Der Zürchersee wird der Tag später in die deutschsprachige Literaturgeschichte eingehen.

Und von genau diesem warmen und sonnigen Sommertag in der Natur erzählt uns Deprijck in seinem Roman. Ein Tag, an dem man tändelt und flirtet (allen voran der eher unansehnliche Klopstock) und sich neckt. Man hat nun Zeit genug, sich seines bürgerlichen Glücks zu freuen und sich zu unterhalten (auch wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass man 1750 wirklich über die Geburt Goethes gesprochen hat…). Die älteste Teilnehmerin der Lustfahrt, die man ein als Garant für die Wohlanständigkeit der ganzen Veranstaltung eingeladen hat, macht sich so ihre Gedanken über das Älterwerden. Im Übrigen wird vorzüglich gespeist, man scherzt und genießt schon früh am Tag den ersten Wein. Alle sind hingerissen, ja tief bewegt, als der umschwärmte Dichter Proben seines Könnens gibt, und der ein oder andere sinniert, angeregt durch Klopstocks Vortrag, über seine Vergänglichkeit:

Auch Hirzel hatte die Szene ordentlich gepackt. Der frühe Wein, im Landhaus ein wenig zu reichlich genossen, mochte daran nicht ganz unschuldig sein. Während Klopstock die Bilder von Kindern und Eltern hatte erstehen lassen, die einander entrissen wurden, hatte er bestürzt die mit ihm Anwesenden und insbesondere seine strahlende Gattin betrachtet, und bei der Vorstellung, der Tod könnte sie eines Tages – gar früh – auseinanderreißen, ergriff ihn eine tiefe Wehmut. Verstorbene Freunde fielen ihm ein und dass der Tod einem jeden der noch Lebenden allerorts und zu jeder Zeit unbarmherzig drohe… (S. 78)

Indem die Paare für diesen Tag willkürlich zusammengestellt werden, setzt man sich für einen Tag über die strengen Sittenregeln Zürichs hinweg. Und die bezaubernde Anna Schinz, gerade einmal 17 Jahre alt und eigentlich einem anderen Begleiter zugeteilt, sieht sich auf einmal nicht nur dem verehrten Dichterstar gegenüber, nein, sie muss auch noch auf seine Avancen reagieren.

Fazit

Nach Sunset von Klaus Modick wollte ich keine Bücher mehr lesen, in denen sich einer vorstellt, wie eine tatsächlich stattgefundene Begebenheit hätte sein können. Biografien und Autobiografien mit Vergnügen, aber nie wieder dieses Nachempfundene. Und nun habe ich es doch getan – und bin sehr froh darum.

Deprijck macht keinen Hehl daraus, dass er sich auf Briefe und andere biografische Quellen bezieht, nur zwei Kapitel haben keinerlei Quellengrundlage. Dabei ist es etwas unglücklich, dass das eine dieser Kapitel zumindest nicht dringend notwendig gewesen wäre und dass Kapitel 18 uns in epischer Breite schildert, wie Klopstock sich irgendwann nicht anders zu helfen weiß und heimlich onaniert, in der Sprache des Buches „seinen Nektar in mehreren erquickenden Stößen hervorschießen“ lässt. Gewonnen ist damit nun wirklich nichts.

Doch davon abgesehen schafft der Autor einen so eigenständigen, wunderbar schwebenden Text, dass ich von nun an überzeugt bin, dass dieser Tag genau so abgelaufen ist und kein bisschen anders. Aber es ist auch ein Buch über einen besonderen Sommertag, der auf unsere Zeit hin durchlässig ist. Wer würde hier nicht an einen eigenen Sommertag denken oder die ein oder andere Äußerung nicht in die Gegenwart übertragen? Und das Ganze in einer hinreißenden Sprache, die sich dem Schreibstil der damaligen Zeit annähert und uns mit zarter Ironie und in feiner Beobachtungsgabe die Menschen von damals nahe bringt.

Ein Sommerbuch, das dem Begriff  „Sommerbuch“ eine ganz neue Bedeutung verleiht.

Die Menschen waren der Natur entwachsen, laut Gottes Plan und gemäß seiner unendlichen Weisheit, doch in ihren Schoß zurückzukehren war ein berauschendes Gefühl. Als stille man eine Sehnsucht, die lange unbemerkt Bestand gehabt, eine Art von Verlangen, das man erst erkannte, wenn man im Begriff stand, es zu erfüllen. Fast ein ganzes Leben in abgeschlossenen Räumen, in engen Straßen und Gassen, in Studierzimmern, Stuben und Kutschen. Und dann hier in freier Natur, in Sonnenschein, Hitze und Wind, speisen unter freiem Himmel, unter dem lichten Dach von Eichen, so schön, so angenehm berauscht vom Wein, Gefühle der Freundschaft und Hingabe im Herzen, welches der schönsten der Damen zuflog. Nur Schönes zu betrachten, nur Schönes zu empfinden, alle Lasten abzuwerfen und alles zu vergessen, was mühselig, betrüblich war. (S. 168)

Anmerkungen

Auf der Homepage des Domradio gibt es zwei hörenswerte Interviews mit dem Autor.

Die Zentralbibliothek Zürich verlinkt auf interessante Dokumente zu Klopstock und seinem Zürich-Aufenthalt, z. B. hier und hier.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs:

Interessanterweise hat Erich Schönebeck (1884-1982) schon 1969 im Union Verlag einen schmalen Band mit dem Titel Klopstock reist nach Zürich veröffentlicht.

Im Gegensatz zu Deprijck legt Schönebeck den Schwerpunkt stärker auf die Beziehung zwischen Bodmer und Klopstock und die Frage, inwieweit man einem „Genie“ ungehobeltes oder unhöfliches Verhalten nachsehen müsse. Schönebeck arbeitet häufiger mit Klopstock-Zitaten und macht mich doch neugierig auf diesen Dichterjüngling, auch wenn mir stilistisch das Buch nicht immer gefallen hat. Sehr viele empfindsame Adjektive schmücken das Werk, was heute doch ein wenig hausbacken klingt. Auch das Frauenbild, für das Anna Schinz steht und bei dem ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die junge Frau die Passive ist, die sich zu fügen hat, möchte ich gern in der Mottenkiste belassen, unabhängig davon, ob sich Anna bei den Aufmerksamkeiten des Dichters geschmeichelt gefühlt hat oder nicht:

Und er küßte sie abermals auf den Mund. Sie wurde bleich und rot. Sie wehrte sich nicht, sondern hielt still wie ein Opferlamm. (S. 65)

Still und stumm duldete sie seine Huldigungen. (S. 74)

P1090838

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

4 Kommentare zu „Lucien Deprijck: Ein letzter Tag Unendlichkeit (2015)“

  1. Liebe Anna,
    mir ging das eigentlich auch so: Romane dieser Art wollte ich eigentlich ausklammern. Aber Deine Besprechung klingt vielversprechend, zumal mir eine Annäherung an den „echten“ Klopstock noch gar nicht gelungen ist…vielleicht ein Einstieg.

    1. Hallo Birgit,
      nun wäre ich schon neugierig, ob dir das Buch gefallen könnte. Es passt wirklich wunderbar zum Sommer. Aber ob man Klopstock dadurch näherkommt, sei mal dahingestellt – aus heutiger Sicht ist mir das Wenige, das ich von ihm gelesen habe, zu schwülstig. Aber trotzdem insofern interessant, da er wohl verehrt wurde wie heutzutage ein Popstar. Vorreiter der Empfindsamkeit etc. Falls du den einen Link der Bibliothek Zürich angeklickt hast: ein Brief Klopstocks, in dem er seinen Gastgeber ausdrücklich darum bittet, ihm doch auch Damenbekanntschaften zu ermöglichen. LG, Anna

      1. Den Link habe ich mir für die Rubrik „Sie haben Post!“ vorgemerkt 🙂 Und Klopstock: Ich habe ein Reclam-Heftchen mit dem Messias seit Jahren hier, aber bin nie weit gekommen…sonst eben nur so im Vorbeigehen immer wieder den Namen gelesen. Mal sehen: Wenigstens wäre das eine Art Annäherung, den Deprijck zu lesen. Welches Motiv hatte er eigentlich für seinen Klopstock? Ist er ein Liebhaber dieser Literatur? oder hat ihn die Figur, die Zeit gereizt? (Die Interviews mit dem Autor habe ich mir nicht angehört, muss ich gestehen)

      2. Der Autor ist in einem privaten Lyrikkreis über Klopstock gestolpert. Die haben da wohl mal die Ode an den Züricher See gelesen, dazu einige Briefe der Beteiligten. Seine Neugier war geweckt und er hat dann nachgeforscht und gedacht, da könnte man doch vielleicht ein Buch drüber schreiben … Er selbst findet Klopstock auch sperrig, aber durchaus interessant. Aber so sind ja viele Themen, mit denen man sich erst einmal anfängt zu beschäftigen…

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