Wer kennt sie nicht, die Sätze, die zum Motto des Clubs der toten Dichter werden sollten? Doch das überbordend großartige Walden oder Leben in den Wäldern (1854) mit seinen fast 500 Seiten, aus dem das Zitat stammt, habe ich erst jetzt für mich entdeckt.
Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde. (S. 141)
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Walden, or, Life in the Woods. Die Ausgabe des Diogenes Verlages wurde von Emma Emmerich und Tatjana Fischer übersetzt.
Lesen wir zunächst, was Thoreau selbst auf den ersten Seiten zu seinem Werk sagt:
Als ich die folgenden Seiten, oder jedenfalls den größten Teil davon schrieb, wohnte ich eine Meile weit von meinem nächsten Nachbarn entfernt in einem Haus, das ich mir selbst am Ufer des Waldenteiches in Concord, Massachusetts, gebaut hatte, allein im Walde und verdiente meinen Lebensunterhalt einzig mit meiner Hände Arbeit. Dort lebte ich zwei Jahre und zwei Monate lang. Jetzt bin ich wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.
Ich würde meine Angelegenheiten der Aufmerksamkeit meiner Leser nicht aufdrängen, wenn nicht von meinen Mitbürgern über meine Lebensweise die genauesten Erkundigungen eingezogen worden wären, Erkundigungen so eingehender Art, daß man sie fast als unverschämt bezeichnen könnte, wenn nicht die Verhältnisse sie natürlich und angemessen erscheinen ließen. […]
Ich würde nicht soviel über mich reden, wenn ich irgend jemand anderen ebenso gut kennte. Leider bin ich durch die Beschränkung meiner Erfahrung auf dieses Thema angewiesen. […]
Ich möchte gern mancherlei sagen, weniger über die Sandwichinsulaner oder die Chinesen als über euch, die ihr diese Zeilen lest, die Bewohner von Neuengland; allerhand über eure Verhältnisse, besonders über eure äußeren Verhältnisse in dieser Welt, dieser Stadt; welcher Art sie sind, ob es notwendig ist, daß sie so schlecht sind, wie sie sind, und ob sie nicht ebenso leicht verbessert werden könnten.
Im März 1845 beginnt Thoreau sein Blockhaus im Wald zu zimmern, wo er für über zwei Jahre leben wird. Zwar macht er keinen Hehl daraus, dass er keineswegs zum Eremiten geworden ist: Fast täglich geht er ins ca. zwei Kilometer entfernte Örtchen, er erhält Besuch, die Eisenbahnlinie verläuft ganz in der Nähe und immer wieder kommt er mit Arbeitern, Baumfällern und Anglern ins Gespräch.
Und dass das Waldgrundstück, auf dem er da so vergnügt als Selbstversorger herumwerkelt, seinem Freund und Mentor Emerson gehört und dass er seine Wäsche im Ort waschen lässt, das verschweigt er den LeserInnen dann einfach. Im September 1847 verlässt er schließlich seine Waldeinsamkeit.
Ja, und so nimmt ein Buch seinen Anfang, das sich in seiner Collage- und Assoziationstechnik schwerlich zusammenfassen lässt. Die mehr als zwei Jahre Aufenthalt im Wald werden im Buch zu einem Jahr zusammengefasst. Überhaupt dauerte es mehrere Jahre und diverse Überarbeitungen, bis das Werk zu seiner endgültigen Gestalt gefunden hatte. Thoreaus Zeitgenossen waren von diesem gesellschafts- und konsumkritischen Buch, das zur Selbsterkenntnis aufrief, wenig begeistert. Seinen Siegeszug als amerikanischer Klassiker trat es erst nach dem Tod seines Autors an.
Eine herausfordernde, mäandernde, mal ausufernde, mal faszinierende Mischung, bestehend aus philosophischen Gedankenflügen, herablassender Weltverachtung, Einkaufslisten, kluger Gesellschafts- und Konsumkritik, Überheblichkeiten, Absurditäten, naturwissenschaftlichen Experimenten, Pathos, lyrischen Landschafts- und Tierschilderungen, Anleitungen zum Bohnenanbau oder zum Bau einer eigenen Blockhütte. Kaum ein Thema ist vor ihm sicher.
Dann wieder gibt es Ernährungs- und Lektürehinweise – ganz einfach nur das Beste lesen -, wir erfahren, wer ihn in seiner Einsiedelei besucht und wie wenig er materiell benötige, um zufrieden zu sein. Der Autor macht sich so seine Gedanken zur Bedeutung der Natur, zum Wohnen, zur Kleidung, zum richtigen Abstand zwischen zwei Gesprächspartnern, zur Einsamkeit und zum Erwachen am Morgen. Er kritisiert unsere Gier nach „Neuigkeiten“, misst den See aus (später wird Thoreau als Landvermesser arbeiten), sinniert über das Wesen der Gastfreundschaft und überlegt, wie ein sinnvolles Studium aussehen könnte.
… ich meine, sie sollten nicht bloß Leben spielen oder dieses bloß studieren, während der Staat sie bei diesem kostspieligen Spiel unterstützt, sondern es im Ernst leben vom Anfang bis zum Ende. Wie sollen junge Leute besser das Leben erlernen können, als indem sie sich sofort am Experiment des Lebens versuchen? […] Wenn ich zum Beispiel wünschte, daß ein Junge etwas von Kunst und Wissenschaft verstehen lernte, so würde ich nicht das allgemeine Verfahren einschlagen, welches darin besteht, ihn in die Nähe eines Professors zu schicken, wo alles mögliche doziert und geübt wird, nur keine Lebenskunst. Er lernt dort, die Welt durch ein Fernrohr oder durch ein Mikroskop, aber nie mit den natürlichen Augen zu betrachten; er studiert dort Chemie, ohne zu wissen, wie Brot gemacht wird, oder Mechanik, ohne zu wissen, wie man es verdient; er entdeckt neue Trabanten des Neptun, aber nicht den Schmutz in seinen eigenen Augen oder den Taugenichts, dessen Trabant er selber ist. (S. 87/88)
Wilde Metaphorik, Anklänge an die Bibel, Gedichtzeilen, Widersprüchlichkeiten und Zitate aus der von ihm verehrten indischen Literatur, dazu schwelgerisch ausgeführte Gedanken und Naturschilderungen gehen eine sprachmächtige Mischung ein, deren Sog man sich kaum entziehen kann.
Ein See ist der schönste und ausdrucksvollste Zug einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde. Wer hineinblickt, ermißt an ihm die Tiefe seiner eigenen Natur. Die Bäume dicht am Ufer, welche sein Wasser saugen und in ihm zerfließen, sind die schlanken Wimpern, die es umsäumen, und die waldigen Hügel und Felsen die Augenbrauen, die es überschatten. (S. 273)
Manchmal verliere ich den Faden, manchmal langweile ich mich, manchmal widerspreche ich, doch alles in allem: einzigartig, lesenswert, nachdenkenswert. Dabei trifft einen die jugendlich anmutende Arroganz, genau zu wissen, was denn richtiges Leben sei und was in der Gesellschaft falsch läuft, manchmal ganz ohne Vorwarnung und fröhlich zwingt Thoreau einen zur Selbstbefragung, wie man denn nun selbst das „Experiment“ des eigenen Lebens anzugehen gedenke.
Noch immer leben wir niedrig wie Ameisen, obgleich die Sage erzählt, wir seien schon vor langer Zeit in Menschen verwandelt worden. Wie Pygmäen kämpfen wir mit Kranichen; Irrtum häuft sich auf Irrtum und Flickwerk auf Flickwerk, und unsere besten Kräfte verwenden wir zu überflüssigen, vermeidbaren Jämmerlichkeiten. Unser Leben zersplittert sich in Kleinigkeiten. […] Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Laß deine Geschäfte zwei oder drei sein, sage ich dir, und nicht hundert oder tausend… (S. 142)
Hier geht’s lang zu einem lesenswerten Artikel von Gisa Funck auf der Seite des Deutschlandfunk. Denis Scheck hat Walden in seine Klassikerliste aufgenommen.
Einen wesentlich kritischeren Blick auf den misanthropischen Querdenker Thoreau wirft der längere Artikel von Kathryn Schulz im New Yorker.
Liebe Anna,
Du gibst genau wieder, was ich beim letzten (mühsamen) Lesen dieses Buches auch empfand: Es hat seine Stellen…manchmal sogar amüsante. Aber eben diese wilde Mischung aus Reflexionen, praktischen Tipps, Philosophiererei…kurz und gut: „Walden“ ist nicht so einfach in ein Genre zu pressen, nicht so schnell fassbar. Und vielleicht auch tatsächlich nur mit ungehemmter Begeisterung zu lesen, wenn man selbst in jungen Jahren ist (als ich 18 war, „musste“ man das kennen). Vieles von dem, was an Zivilisationskritik (auch wenn er selbst sich nicht immer an seine strengen Regeln hielt) drinsteckt, ist aber ebenso aktuell und bedenkenswert.
Von den amerikanischen Transzendenten – Emerson, Thoreau etc. – ist mir denn doch der pragmatische Hawthorne immer noch der liebste. Er hielt es ja auch nicht so lange aus in dieser Waldeinsamkeit. Letztes Jahr, als ich mich etwas mit Hawthorne beschäftigte, kam mir „Walden“ wieder in die Finger (Thoreau läuft dem jungen Ehepaar hier über den Weg: http://saetzeundschaetze.com/2014/05/18/hawthorne-paradies/ – mir scheint, als hätten die alle von Emerson gelebt 🙂 ) …und wieder mal der Gedanke, raus aus der Stadt, raus aufs Land zu ziehen.Eines ist dort sicher: In der ländlichen Ruhe kommt man mehr zu sich.
Und wo hast Du dieses tolle Spitzenbild gemacht?
LG, Birgit, stadtmüde.
Liebe stadtmüde Birgit,
Natur hilft wohl schon, zur Ruhe zu kommen, sich zu sortieren, langsamer zu werden, hinzuschauen… Ich habe mich bisher noch nicht näher mit den Emersons etc. beschäftigt – auch so eine Lücke. Es hatte mich geärgert, dass ich Walden noch nicht kannte, aber Tessons „In den Wäldern Sibiriens“ gelesen hatte. https://buchpost.wordpress.com/2014/04/01/sylvain-tesson-in-den-waldern-sibiriens-2014/ Da wollte ich endlich mal ans „Original“. Eigentlich habe ich es ganz gern gelesen. Es enthält so tolle Passagen, und was mir zu viel des Guten war oder mich langweilte, habe ich großzügig quergelesen. Ich fand es durchaus faszinierend, wie vieles man aus anderen Zusammenhängen kennt (minimalistischer Lebensstil, Entschleunigung, Hinterfragen des Konsumgedankens…) Ich werde euch noch mit ein paar weiteren Passagen traktieren 🙂
Das Foto ist übrigens ganz unspektakulär in der hessischen Provinz an einem Waldteich entstanden. Schön, dass es dir gefällt. Liebe Grüße, Anna (Wenn gar nix mehr hilft, machen wir Wohnungstausch, hier hat man ländliche Ruhe im Überfluss 😉
Als ich das Buch vor ein paar Jahren las, tat ich es, weil „man“ immer irgendwelche Zitate aus eben diesem Buche las. Zuerst war ich begeistert, dann immer mehr ernüchtert.
Für mich einmal mehr eines dieser Bücher, das „man“ gelesen haben sollte und dann wieder mal feststellt, dass ich einfach nicht „man“ bin… 🙂
Ach, wer ist beim Lesen schon „man“? Je älter ich werde, umso ausgeprägter wird wohl der eigene Lesegeschmack. Aber ich habe es ganz gern gelesen, es gab tolle Stellen darin, mit denen ich euch noch die nächsten Tage traktieren werde 🙂 Viel Freude mit Büchern, die dir gefallen, dir etwas geben. LG, Anna
Danke Dir, die werde ich haben (die Freude)… dann bin ich mal gespannt auf die tollen Stellen.. 😉
Manchmal liest man ja ein Buch bloss zur falschen Zeit.
LG Iwan
Kann mich Birgits Kommentar nur vollumfänglich anschließen. Ihr trefft genau was mir beim Lesen durch den Kopf ging. Und in der Tat – das Bild ist der Hammer 🙂
Es ist ganz schön, im vorgerückteren Alter Bücher für sich zu entdecken, die „jeder“ (?) kennt. Wie das so ist mit den Klassikern 🙂