Wenn wir alles vergessen haben, zum Beispiel, dass man, wenn die Sonne scheint, sagt, es sei schönes Wetter, und dass man, wenn es regnet, sagt, es sei schlechtes Wetter; wenn wir vergessen habe, wie unser Ehepartner von uns gerufen wurde, der auf Fotos auf der Wand hängt und ob das überhaupt unser Ehepartner gewesen ist; wenn wir vergessen haben, wie unsere Kinder und Kindeskinder einmal von uns genannt wurden, die sich auf Stellbildern und allen Flächen um uns herum zeigen; wenn wir schließlich sogar vergessen haben, wie wir selber heißen, dann sind wir angekommen in der reinen Gegenwart. Es regnet heute in der reinen Gegenwart, aber wir behaupten, es sei schönes Wetter.
So beginnt eine schmale Erzählung von nur 117 Seiten, veröffentlicht im Rimbaud Verlag, in der Lioba Happel den Versuch unternimmt, sich den Gedanken einer demenzkranken älteren Frau anzunähern, sich in ihre Welt hineinzufühlen.
All die Jahre, die über uns hinweggegangen sind und wir, tief versunken in uns, wir halten es in unseren schmerzenden Körpern aus. Wir halten es aus auf dem Meer, bei Tag und bei Nacht, seekrank vor Erinnerung an die, die wir einmal gewesen sind und jetzt nicht mehr sind. (S. 105)
Dabei geht es um die Schreckmomente, in denen sich die alte Frau plötzlich in einem der Fotos von früher wiedererkennt, oder um den Besuch, der „nur mal eben“ hereinschauen wolle, um zu sehen, wie es ihr gehe, „um zu sehen, ob wir noch leben“, wie die Ich-Erzählerin trocken vermerkt. Um das unvermittelte Einschlafen tagsüber, um die Fragen des Besuchers, die man nicht so richtig deuten kann.
Ich habe es so empfunden: Die Geschichte zeigt keinen Kampf, keine Verzweiflung. Was für einen Sinn hätte es auch, gegen die Einsamkeit zu rebellieren. Im Großen und Ganzen liegt die Traurigkeit bereits hinter der Erzählerin. Das Auf-Sich-Zurückgeworfen-Sein wird leise angenommen.
In einer der Lyrik sehr nahen Sprache wird von einem allmählichen Loslassen erzählt, was beim Lesen auf mich trotz aller Wehmut wundersam ruhig und akzeptierend wirkte.
Gern gelesen.
Ihr habt „keine Zeit“ mehr, ihr sagt „wir müssen“.
„Was?“
„Wir müssen wirklich.“
„Wohin?“
„Eine Weltreise vorbereiten.“
Da zieht doch hinaus zu euren Abenteuern. Meldet euch gleich auch zur Fahrt
auf den Mond an. Hier bei uns, wenn ihr es eine Weile aushieltet, könntet ihr
einmal kopfüber durchs Weltall und quer wieder zurück. (S. 45)
Danke für die Empfehlung – interessante Perspektive.
Erinnerung an einen Besuch bei meiner Mutter:
„Und wie heißen Sie?“
„Ich bin Bernd und Dein jüngster Sohn. Du darfst gerne Du zu mir sagen.“
„Das ist aber nett von Ihnen!“
Danke für deine Erinnerung. Du hast so nett und liebevoll reagiert. Statt – wie ich es auch schon miterlebt habe – der Mutter Vorwürfe zu machen, weil sie einen nicht mehr mit Namen anzusprechen weiß.
Nun, ihre Antwort war ebenso liebenswürdig wie reizvoll, dass ich mich auch nach mehreren Jahren immer wieder mal daran erinnere, wenn das Thema auftaucht.
Spannend, diese Perspektive zu wählen. Werde ich mir auf jeden Fall notieren. Viele Grüße, Petra
Dann würde ich mich freuen, irgendwann von deinen Eindrücken zu lesen. LG, Anna