‚Miss Royston war durchaus intelligent, das gebe ich zu; aber mir war schon immer klar, daß sie niemals das werden würde, was du hofftest. Ihre gesamte Freizeit widmete sie der Lektüre von Romanen. Wenn man sämtliche Romanschriftsteller erdrosseln und ins Meer werfen könnte, bestünde vielleicht eine gewisse Aussicht, die Frauen reformieren zu können. Das Mädchen triefte vor Sentimentalität, wie beinahe jede Frau, die intelligent genug ist, sogenannte ‚gute‘ Literatur zu lesen, aber nicht intelligent genug, zu durchschauen, was daran schädlich ist. Liebe – Liebe – Liebe; immer das gleiche eintönige, gewöhnliche Zeug. Gibt es etwas Gewöhnlicheres als das Ideal der Romanciers? Sie stellen das Leben nicht so dar, wie es wirklich ist; das wäre für ihre Leser zu langweilig. Wieviele Männer und Frauen verlieben sich im wirklichen Leben? Nicht mal einer von zehntausend, davon bin ich überzeugt. Nicht ein einziges von zehntausend Ehepaaren hat jemals füreinander empfunden, was zwei oder drei Paare in jedem Roman füreinander empfinden. Es gibt sehr wohl die geschlechtliche Anziehung, aber das ist etwas völlig anderes; darüber wagen die Romanschriftsteller nicht zu reden. Diese jämmerlichen Tröpfe wagen es nicht, jene eine Wahrheit auszusprechen, die von Nutzen wäre. Die Folge ist, daß eine Frau sich dann edel und großartig dünkt, wenn sie sich dem Tier am ähnlichsten verhält. Ich möchte wetten, daß diese Miss Royston irgendeine idiotische Romanheldin im Kopf hatte, als sie in ihr Verderben rannte.
So schimpft Rhoda Nunn, eine der emanzipierten Frauen in George Gissings (1857 – 1903) wichtigem Werk Die überzähligen Frauen.
Die Handlung spielt hauptsächlich im Jahre 1888, also während einer Zeit, wo die Versorgung alleinstehender Frauen nicht mehr von der Großfamilie übernommen werden konnte, aber die Frauen trotzdem noch nicht genügend auf ihre berufliche Selbstständigkeit vorbereitet waren.
Es geht um die Schicksale von fünf Frauen aus der Mittelschicht, von denen sich vier bereits seit Kindheitstagen kennen und deren Wege sich in London kreuzen. Alle fünf gehören zu den „odd women“, d. h. den überzähligen, ja geradezu überflüssigen Frauen, nämlich zu denen, die ihren Unterhalt selbst bestreiten müssen, da sie aus den verschiedensten Gründen unverheiratet geblieben sind.
Da gibt es dann die einen, die wie Rhoda Nunn und ihre Freundin Miss Barfoot nicht länger gewillt sind, die Ehelosigkeit als einen Makel zu sehen. Stattdessen betreiben sie eine Schule, an der junge Mädchen eine Büro-Ausbildung absolvieren können, um so nicht länger ausbeuterische, ungesunde und unzureichend bezahlte Tätigkeiten im Einzelhandel oder in den Fabriken annehmen zu müssen.
Gleichzeitig soll sich so das Spektrum der für Frauen zugänglichen Ausbildungsberufe erweitern, denn schließlich ist nicht jede Frau als Gouvernante oder Krankenschwester geeignet.
Aber wußten Sie, daß es in diesem unserem glücklichen Land eine halbe Million mehr Frauen als Männer gibt? […] So ungefähr schätzt man jedenfalls. So viele überzählige Frauen, die niemals einen Partner finden werden. Pessimisten halten ihr Dasein für nutzlos, vertan und vergeudet. Ich natürlich – die ich selbst eine von diesen Frauen bin – sehe das anders. Ich halte sie für eine große ‚Reserveeinheit‘. […] Zugegeben, sie sind noch nicht alle ausgebildet – davon sind wir noch weit entfernt. Ich möchte mithelfen … die Reserve auszubilden. (S. 50/51)
Im Gegensatz zu Rhoda und Miss Barfoot stehen die drei verarmten Schwestern der Madden-Familie. Monica, die jüngste und hübscheste der Schwestern, eine Ladenangestellte, sucht ihr Glück in der Heirat mit einem wohlhabenden älteren Mann, doch es dauert nicht lange, bis sie versteht, dass die finanzielle Absicherung sie kein bisschen glücklicher gemacht hat.
Die älteste, Alice, versucht mehr schlecht als recht, sich als Gouvernante über Wasser zu halten, was ihrer Gesundheit wenig zuträglich ist. Virginia hingegen sucht ihre Zuflucht in billigen Romanen und – von ihren Schwestern lange unbemerkt – in heimlicher Trinkerei.
Eigentlich hätten das spannende 400 Seiten über einen grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch werden können, aber ich wünschte, Gissing hätte für die Niederschrift mehr als sieben Wochen Zeit gehabt, damit er den Roman insgesamt noch einmal kräftig hätte überarbeiten können.
Zu sehr verkörpern die Frauen einzelne Ideen; besonders die selbstgerechte Rhoda Nunn neigt ganz schrecklich zu aufgeladenen kämpferischen Monologen, die sich besser als Flugblatt oder Zeitungsartikel geeignet hätten. Die Beschreibungen ihrer inneren Zerrissenheit, als sie sich unerwarteterweise verliebt, waren dann allerdings oft von großer psychologischer Feinheit.
Auch die Situation der gebildeten Männer, die oft genug keine geistig ebenbürtige Partnerin finden, wird thematisiert, wobei Rhoda Nunn nicht versäumt darauf hinzuweisen, dass es ja in der Macht der Männer läge, genau diesen bedauernswerten Umstand zu ändern.
Und bei der Schilderung von Monicas Schicksal rutscht Gissing dann – nach großartigen und glaubwürdigen Szenen – am Ende ganz ins Melodrama ab, was der Glaubwürdigkeit nicht gerade zuträglich ist.
Gissing schrieb am 4. Oktober 1892 in seinem Tagebuch:
Ich habe [den Roman] sehr schnell geschrieben, aber das Schreiben war ein schwerer Kampf, so wie immer. Nicht ein Tag ohne Zanken und Lärm unten in der Küche; nicht eine Stunde, in der ich wirklich meinen Seelenfrieden hatte. Ein bitterer Kampf. (aus dem Nachwort von Wulfhard Stahl der von Karina Of übersetzten Ausgabe des Insel Verlages 1997, S. 409)
Aber vielleicht wäre es jetzt interessant, mehr über Gissing und die autobiografischen Anleihen in seinem Roman zu erfahren. An einer Stelle bezeichnet eine der männlichen Hauptfiguren Mädchen aus der Arbeiterschicht als ungebildet und verachtenswert, als „nichts weiter als ein Klumpen menschlichen Fleisches“ (S. 130). Gissing selbst flog vom College, weil er aus Liebe zu der Prostituierten „Nell“, die er später auch heiraten sollte, Mitstudenten bestohlen hatte.
Und später verfällt Nell dem Alkohol, so wie Gissings Romanfigur Virginia Madden.
Mit dem Titel Die überzähligen Frauen bezieht sich Gissing vermutlich auf den Essay Why are Women redundant? von William Rathbone Greg.
Liebe Anna,
tut das unserer zart besaiteten weiblichen Seele gut, schon wieder einen Roman zu lesen? Sollten wir unsere Zeit nicht besser verbringen?
…das war natürlich ironisch gemeint… Ich muss vielleicht etwas an meinem Humor arbeiten! 🙂
Hallo Tanja,
don‘t worry. 🙂 Ich hatte dich schon verstanden und auch geantwortet, aber anscheinend den Antwort-Button nicht richtig erwischt. Passiert manchmal. Also: Das Zitat stammt ja von einer sehr selbstgerechten bzw. verhärteten Person. Wir können also beruhigt weiterlesen ….
LG, Anna
…da bin ich aber erleichtert… 🙂