Ursula März: Tante Martl (2019)

Die Autorin und Literaturkritikerin Ursula März (*1957) hat ein hinreißendes Buch über ihre Patentante geschrieben. Die Eckdaten dieses Lebens werden uns gleich zu Beginn mitgeteilt, nachdem wir im Vorübergehen erfahren haben, wie Telefongespräche mit Tante Martl ablaufen und wie diese zu Thomas Gottschalk steht, den sie nur „de dumm Lackaff“ nennt.

Meine Tante war Lehrerin von Beruf. Sie heiratete nie und hatte keine Kinder. Außer ein paar Jahren während des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit verbrachte sie ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus in der westpfälzischen Kleinstadt Zweibrücken. Der einzige Wechsel ergab sich nach dem Tod ihrer Eltern, als meine Tante aus ihrer Wohnung im Erdgeschoss in das nun frei gewordene Obergeschoss zog. Danach verbrachte sie noch 38 Jahre allein in dem Haus, in dem sie an einem Junisonntag im Jahr 1925 geboren worden war. Sie war eine materiell unabhängige, interessierte und gebildete Frau, die schon in den Fünfzigerjahren ein eigenes Auto und immer ein eigenes Bankkonto besaß, die leidenschaftlich gern verreiste, mit kribbelnder Vorfreude ihre Touren in Mittelmeerländer, ins Gebirge und sogar ans Nordkap plante. Aber sie unternahm nie einen Versuch, sich vom Elternhaus zu lösen, zumal von einem Vater, der sie rücksichtslos spüren ließ, dass er sie nicht gewollt hatte. (S. 8/9)

Tante Martl war die jüngste von drei Schwestern (eine davon die Mutter der Autorin), von denen die zwei anderen immer wie selbstverständlich davon ausgingen, dass Martl eher so Dienstbotenstatus habe und und dass es Martl sei, die sich trotz ihrer Berufstätigkeit um die alten Eltern zu kümmern habe.

Selbst als die drei Schwestern schon ältere Frauen sind, wollen sie Martl nicht erlauben, sich von einer alten Wanduhr in ihrer Wohnung zu trennen, die schließlich schon immer im Elternhaus gestanden habe. So lebt Martl jahrelang mit einem Möbelmonstrum in ihrer Wohnung. Wie sie sich schließlich doch davon befreit, ist nur eine der unterhaltsamen und gleichzeitig anrührenden Geschichten in diesem Buch.

Abgesehen davon, dass schon allein die Bekanntschaft mit der keineswegs immer liebenswürdigen „Tante Martl“ für den Leser/die Leserin lohnt, war für mich eine weitere Besonderheit an diesem Buch, dass ich trotz aller Individualität, die jedes Leben ausmacht, doch viel über die Generation meiner Großeltern darin wiedergefunden habe. Die Frage, welche Schulbildung man seinen Töchtern zubilligt. Die Prägung durch ein autoritäres Elternhaus, in dem der Vater, der es unter Hitler bis zum Gefängnisdirektor bringt, sich unwidersprochen als Despot aufführen darf, sich in seiner Männerehre getroffen fühlt, als Martl die unverzeihliche Schuld auf sich lädt, nicht als Sohn auf die Welt zu kommen. So lässt er sie zunächst auf dem Standesamt als Martin eintragen, in der Hoffnung, dass sich das Universum seinen Wünschen vielleicht doch noch beugt.

Eine Kränkung, die Martl nie verwinden wird, und als sie im Alter langsam dement wird und sie so vieles schon vergessen hat, bricht sich die Traurigkeit darüber, nie vom Vater gewollt und anerkannt gewesen zu sein, noch einmal mit vielen Tränen Bahn.

Sie wird im Gegensatz zur Lieblingstochter füchterlich verprügelt, bis manchmal die Mutter mit den Worten dazwischengeht, er solle jetzt mal besser aufhören, sonst würde er sie noch totschlagen.

Vermutlich ist es ihm nie seltsam erschienen, dass es gerade Martl war, die sich später um ihn kümmerte, als er im Alter auf Pflege angewiesen war.

Die Irrationalität und Ungerechtigkeit im Umgang mit den Töchtern wirken sich natürlich auf deren weiteres Leben aus. Die Lieblingstochter Rosa ist später oft vom Leben überfordert und flüchtet sich lieber in Krankheiten und die Geschichten um den europäischen Adel in diversen Klatschmagazinen, schließlich ist sie auf nichts anderes vorbereitet worden.

Doch auch dieses Frauenschicksal ist nicht ohne den geschichtlichen Hintergrund zu sehen und zu verstehen. Rosa heiratete im Frühsommer 1944. Nach einer Woche Hochzeitsurlaub musste ihr Mann zurück zu seiner Einheit. Rosa erkrankte im Spätherbst 1944 an einer schweren Hepatitis. Als sie im Januar 1945 die Nachricht erhielt, dass er in Oberitalien bei einem Angriff eines Lazaretts – er war Arzt – ums Leben gekommen war, lag sie noch im Krankenhaus.

Ab dieser Zeit nahm sie die Position der überempfindlichen, von jedem Lüftchen bedrohten und kaum belastbaren Frau ein, die um Hilfe ruft, wenn eine große Bratpfanne von der Herdplatte gehoben werden muss. (S. 71)

Auch der Reinlichkeitswahn der ältesten Schwester Bärbel kommt vermutlich nicht von ungefähr. Als erwachsene Frau begeistert sie sich schließlich für das Desinfektionsmittel Sakrotan.

Sie kaufte Flaschen davon im Dutzend und fand im Desinfizieren des Haushalts große Befriedigung. Wenn ich bei ihr in Kaiserslautern zu Besuch war und mir vor dem Essen die Hände wusch, wartete sie ungeduldig, bis ich fertig war, sie einen Putzschwamm mit Sakrotan begießen und das Waschbecken ausreiben konnte. (S. 33)

März schafft es, uns diese Frauen nahezubringen, indem sie Geschichten, die in der Familie überliefert wurden, in Bezug setzt zu ihrer eigenen Beziehung zu Tante Martl und den vielen Gesprächen, die die beiden miteinander geführt haben. Dazu kommen zahlreiche, wunderbar ausgewählte und aussagekräftige Erinnerungen der Autorin, die auch die andauernden und oft nur unterschwellig ausgetragenen Familienkonflikte mit in den Blick nehmen und dem Ganzen eine große Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit verleihen.

Gleichzeitig bleibt das Buch durchlässig auf die Leerstellen und Widersprüchlichkeiten, die sich bei der Beschreibung dieses Lebens zeigen. Wer machte das wunderschöne Foto von ihrer ca. zwanzigjährigen Tante, auf dem sie wie auf keinem anderen glücklich und mit sich im Reinen in die Kamera schaut? Warum hat sie sich selbst als erwachsene Frau von ihren Schwestern den Wunsch nach einem Hund ausreden lassen, von dem sie doch ihr ganzes Leben geträumt hat?

Wie lassen sich die Unterwürfigkeit Tante Martls gegenüber der Familie und ihr Wunsch, in Restaurants immer auf den schlechtesten Plätzen zu sitzen, in Einklang bringen mit ihrer Emanzipation? Sie war die einzige der drei Schwestern, die eine überregionale Zeitung las, Auto fahren, einen Handwerker herbeibeordern und ihre Geldgeschäfte selbstständig regeln konnte. Und überhaupt: Eigentlich hieß sie Martina, wurde aber von allen immer nur als Tante, also in Relation zu ihrer Familie, bezeichnet.

Wie war die oft schroffe Frau als Lehrerin? Schließlich kommen zur Beerdigung viele ihrer ehemaligen HauptschülerInnen, von denen sich einer mit besonderer Dankbarkeit an sie erinnert.

Und manche der Szenen sind einfach unglaublich komisch und zeigen, zu welchen Absurditäten das ganz „normale“ Familienleben immer wieder führen kann.

Eine besonders schöne Stelle beschreibt, wie die Autorin als Kind mit ihrer ca. vierzigjährigen Tante auf einem Jahrmarkt unterwegs ist. Das Kind möchte so gern, dass Tante Martl einmal zusammen mit ihr mit dem Kettenkarussell fährt.

‚Isch will net‘, wehrte sie barsch ab, ‚isch bin doch ke Hanswurscht, wo sisch vor de Leut blamiert.‘ (S. 34)

Das Kind schafft es mit einem Trick, dass der Tante nichts anderes übrigbleibt, als in das Karussell zu steigen, andernfalls wären noch viel mehr Menschen auf das Gerangel der beiden aufmerksam geworden.

Es begann sich zu drehen, nach ein paar Metern schwebten wir über dem Boden, bei der nächsten Runde lag das Kirmesgelände schon weit unter uns. Ich schaute zu meiner Tante hinüber und hoffte, es würde ihr nicht schwindlig oder übel. Mit den Händen umklammerte sie ängstlich die seitlichen Metallgriffe des Sessels, aber in ihrem Gesicht sah ich den lachenden  Jubel, nach dessen Ausdruck ich mich gesehnt hatte. (S. 35)

Auf der Homepage des Deutschlandfunk gibt es ein Interview mit der Autorin.

Und Lena Riess hat das Buch ebenfalls gelesen.

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Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

9 Kommentare zu „Ursula März: Tante Martl (2019)“

  1. Schöne Besprechung!
    Im Buch, ich glaube auf der Seite 152, befindet sich ein Abschnitt über den Koch Vincent Klink, den die Tante so gern im Fernsehen schaute. Habe dem Herrn Klink diesen Abschnitt geschickt, woraufhin der sich sehr freute, die Autorin kontaktierte und sich das Buch gekauft hat.

    1. Danke dir. Hoffe, dass Herrn Klink das gesamte Buch so gut gefallen hat wie mir. Hat schon jemand Thomas Gottschalk kontaktiert? LG und einen schönen Restsonntag. Anna

  2. Ich werde sofort versuchen, Thomas Gottschalk das Buch zukommen zu lassen und meinen persönlichen Kommentar, der mit Tante Martl konform geht, beisteuern. Was für eine tolle Buchvorstellung, Anna! Ich gehe heute sofort in den Buchladen, die Tante Martl will ich haben – und ich weiß schon, wer die von mir zu Weihnachten bekommt.

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