Werner Schneyder: Krebs (2008)

Werner Schneyder, österreichischer Kabarettist, Autor, Box-Kampfrichter, Freund und Kollege von Dieter Hildebrandt, war über 40 Jahre mit seiner ersten Frau Ilse verheiratet, als diese die Diagnose Krebs erhielt. Zwei Jahre später, 2004, starb sie an Blasenkrebs, den auch diverse schwerste Operationen und eine Chemotherapie nicht aufhalten konnten.

Krebs ist – wie schon der Untertitel nahelegt – eine Nacherzählung dieser schwierigen Monate zwischen Diagnose und Tod. Dabei geht es zum einen um die Stationen, die die Erkrankte durchlebt, den ersten Sommer nach der ersten großen Operation, den sie noch in ihrem Haus am See verbringen und durchaus genießen kann, daran anschließend um die weiteren Krankenhausetappen, den allmählichen körperlichen Abbau. Zum anderen geht es darum, wie Schneyder, der gemeinsame Sohn, die Verwandten, die Freunde mit der Erkankung umgehen. Soll Schneyder auf Tournee gehen oder lieber daheim bleiben? Was mutet man der Kranken und sich selbst an Wahrheit zu? Wie verändert sich das Zusammensein? Wie verändert sich die Erkrankte? Was macht man mit der Hilflosigkeit, die man als Laie gegenüber den ärztlichen Entscheidungen oder Empfehlungen hat?

Jeder Versuch einer fairen Wertung ist für den Laien nicht möglich. Er kann glauben oder nicht. Er kann Ärzte sympathischer oder vertrauenswürdiger finden oder nicht. Was er nicht kann: beweiskräftig urteilen. (S. 62)

Nach der Lektüre ziehe ich leise meinen Hut. Schneyder (1937 – 2019) ist ein besonderes Buch geglückt.

Sprachlich wunderbar, zurückgenommen, treffend, auf den Punkt, zärtlich, lakonisch.

Das Abspielen von CDs ist gefährlich. Da kommt es zu schrecklichen Stellen. (S. 84)

Doch darüberhinaus ist es eben nicht nur ein Sich-von-der-Seele-Schreiben. Vielleicht das sogar am allerwenigsten. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst, z. B. damit, dass man als der Gesunde Gedanken hat, derer man sich schämt, wenn man beispielsweise in „triefendem Selbstmitleid“ badet oder schon mal überlegt, wie man später die Möbel stellen wird. Schließlich wird nicht nur der unheilbar Kranke, sondern auch der, der diesen Prozess begleitet, in eine unbekannte Umlaufbahn geschleudert, auf die einen nichts vorbereitet hat.

Doch gleichzeitig werden Fragen, und das war wohl eine der Hauptmotivationen für das Schreiben, an die Ärzte und ihr Selbstverständnis gestellt: Wieso stimmen diese sich nicht miteinander ab, wieso passieren hanebüchene Fehler in der Kommunikation zwischen den verschiedenen Abteilungen? Wieso wird auf Teufel komm raus operiert, bestrahlt und untersucht, wenn der Zeitgewinn von vielleicht drei Monaten durch die Nebenwirkungen gänzlich zunichte gemacht wird? Und warum ist Würde, auch wenn sie sich für jeden etwas anders darstellt, keine medizinische Kategorie? Und wieso wird noch physiotherapiert und mobilisiert, wo nichts mehr zu mobilisieren ist? Warum werden nicht rechtzeitig und ausreichend Schmerzmittel gegeben?

Ich habe den Eindruck, hier äußert sich ein medizinisches Prinzip, das offenbar verbietet, nichts zu tun. Das geht mir aber nicht ins Hirn, wenn sich therapeutische Vorschläge keine Sekunde lang mit der Chance auf Genesung oder Erleichterung verbinden. (S. 81)

Schneyder weiß natürlich auch um die Frage, ob es überhaupt legitim sei, einen so persönlichen Einblick in den Leidensweg seiner Frau zu geben. Er selbst gibt darauf an einer der Schlüssselstellen des Buches eine deutliche Antwort, die vor allem an die Adresse der Ärzteschaft geht.

Ich selbst habe diese 157 Seiten an keiner Stelle als voyeuristisch empfunden. Zum einen, weil man bei bestimmten Sätzen zunächst einmal Mitleid empfindet und weil Schneyder klarstellt, dass diese Krankheit in Kombination mit dieser Art der Behandlung eben den Sinn für das, was ausschließlich privat ist, gröblich verletzt.

Außerdem lese ich seine Schilderungen, die tatsächlich manchmal sehr intim sind, als etwas, das jeden von uns treffen kann, und als eine Erinnerung nicht nur an die Fragwürdigkeit mancher medizinischer Ansichten, sondern ebenso als Erinnerung an unsere Kreatürlichkeit und Fragilität, die uns auch dankbar und demütig machen kann.

Ein trauriges, trotziges, kluges, zorniges, ehrliches und sehr zärtliches Buch. Und eine Liebeserklärung sondergleichen.

Zweieinhalb Jahre, nachdem ich Schneyders Buch gelesen habe, lese ich, was Raymond Chandler anlässlich der Krankenhausaufenthalte seiner Frau in einem Brief vom Januar 1953 geschrieben hat:

Zu diagnostischen Zwecken ist eine Klinik mit ihren Spezialisten ja vielleicht ideal […], aber was man sonst dort bekommt, ist hartgesottene Effizienz, einen derart ausgeprägten Sinn für Eile, daß man seinen Arzt praktisch am Ärmel festhalten muß, wenn man ihn etwas fragen will. Es gibt keine Wärme, nichts Persönliches, kein Entgegenkommen, kein Gefühl für den Patienten als Individuum; oder wenn es ein solches Gefühl gibt, wird es nicht gezeigt.

aus: Frank MacShane, Raymond Chandler – eine Biografie, Diogenes, 1984 S. 352

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Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

7 Kommentare zu „Werner Schneyder: Krebs (2008)“

  1. Das hort sich sehr bewegend an, liebe Anna.
    Trotz ähnlicher Erlebnisse vieler Leidenenden und Unverständnis über die Tendenz der Medizin, immer noch etwas Anderes zu probieren, ändert sich diese aggressive Vorgehensweise nur langsam, obwohl bewiesen ist, daß viele Ärzte für sich selbste einen anderen Weg wählen würden. Es ist extrem wichtig, daß sich jeder selbst Gedanken macht, was er will oder nicht. Aber es gehört viel Mut dazu, sich gegen die gängigen Therapien zu entscheiden.

    1. Hallo Tanja,
      ja, da hast du recht, dass man sich selbst diese Gedanken machen muss, das Harte daran ist, dass man in der Situation selbst dann vielleicht doch wieder anders handelt, als man sich das vorher in gesunden Zeiten vielleicht vorgenommen hatte. Und gerade dann bräuchte es Ärzte, die die Zeit und den Willen haben, den einzelnen Menschen vor sich zu sehen und individuell zu beraten. Das hat natürlich auch mit dem ganzen System zu tun und dem Widersinn, dass Krankenhäuser zumindest in Deutschland Gewinne erwirtschaften müssen.
      Liebe Grüße
      Anna

  2. Liebe Anna,
    vielen Dank für deinen feinen Text zu Werner Schneyders Buch über „Krebs“. Wenn man bedenkt, wie wenig Kommunikation – und dabei meine ich auch ZUHÖREN! – bei weniger dramatischen Erkrankungen passiert, wie wenig zugehört wird bei existentiellen Erkrankungen und wie oft nach „Schema F“ behandelt wird, dann ist wird klar, dass das Gesundheitssystem mit einfachen Mittel noch deutlich verbessert werden könnte.
    Viele Grüße, Claudia

    1. Hallo Claudia, danke dir für deine Rückmeldung. Und ja, leider, leider ist das so. Zuhören oft Fehlanzeige. Zeit fehlt, Betrieb zu groß, Massenabarbeitung, Überarbeitung. Personalmangel. Ausbildungsmängel. Und vermutlich könnte man noch einiges ergänzen. Liebe Grüße und eine erholsame Zeit! Anna

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