If you lived here, I’d know your name ist ein unvergleichliches Buch, das mir nicht nur die Stadt Haines in Alaska mit ihren ca. 2500 EinwohnerInnen auf die innere Landkarte geschrieben hat.
Lende, die ursprünglich aus New York stammt, aber mit ihrem Mann und zwei Hunden nach dem College irgendwie in Alaska hängengeblieben ist und seit 1984 in Haines lebt, hat in der dort einmal wöchentlich erscheinenden Lokalzeitung inzwischen über 400 Nachrufe geschrieben und war ebenfalls verantwortlich für die Duly Noted-Rubrik, wo so dies und das gesammelt wird, was in einer Kleinstadt des Erwähnens für wichtig erachtet wird. Beispiele dieser Duly Noted-Kurznachrichten finden sich zu Beginn eines jeden Kapitels.
Die Autorin hat mit ihrem Mann Chip fünf Kinder großgezogen, inzwischen vier Bücher geschrieben und in diversen Publikationen veröffentlicht. Und das, obwohl sie immer nur „around the edges of a busy life“ geschrieben hat. 2021 wurde sie zum Alaska State Writer Laureate ernannt.
Und nun zum Problem dieses hinreißenden Buches: Wie soll man den Inhalt beschreiben? Es geht in großen Kapiteln, die eher locker durch eine jeweilige Überschrift zusammengehalten werden, assoziativ, ziemlich unchronologisch und herrlich chaotisch mäandernd um das Leben in Haines, sehr nah dran an der eigenen Biografie, den Freunden und Nachbarn, aber auch an den Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, die die Autorin dann besucht, um die Nachrufe schreiben zu können.
Überhaupt ist das Leben in Alaska nicht ungefährlich, Menschen sterben auf der Straße, die kleinen Segelflugzeuge zerschellen am Berg; eine befreundete Familie ruft mitten in der Nacht an, das Fischerboot ihres Sohnes ist in einen Sturm geraten. Man möge bitte beten. Drei Menschen können gerettet werden, doch die Leiche des Sohnes wird nie gefunden. Der Weg durch die Trauer, den die Mutter des jungen Mannes geht, wird auf nur einer halben, aber sehr eindrücklichen Seite erzählt.
Es geht darum, wie man die politischen Querelen zwischen strammen Republikanern und Liberalen aushält, die auch vor einem kleinen Ort wie Haines nicht Halt machen, um Umweltzerstörung und die Frage, ob die Schule nach miesen Mobbingvorfällen einen Workshop zu Homosexualität abhalten sollte, genauso aber auch um die Wunden und Traumata des indigenen Volkes der Tlingit, ihre Bemühungen, ihre Kultur zu leben, sie manchmal sogar erst wieder zu lernen.
Paul tells me he’s learning the Tlingit language so he can believe the stories of his people, not just know the plots. When he was young, missionaries and the government prohibited Alaskan natives from speaking their language and living traditionally. They often took Tlingit children from their homes and families, placing them in boarding schools as far away as Washington and Oregon. Now Paul is a grandfather and is committed to relearning a way of living that he says is not lost but rather hiding, just below the skin. (S. 38)
Lende liebt ihre neue Heimat, die oft gefährliche und atemberaubend schöne Natur, das Joggen mit ihrem Hund, ihre Familie, das Räuchern der Fische, das Beerensammeln mit den anderen Frauen, bei dem man laute Musik spielt, um die Bären zu vertreiben, das Engagement von so vielen Menschen für das Gemeinwohl und unzählige Aktivitäten, die man hier vermutlich mit dem Etikett Ehrenamt versehen würde, dort aber wohl eher unter normaler Nachbarschaftshilfe verbucht. Sogar die Aufgaben des Bestatters werden von einem Ehepaar unentgeltlich übernommen. Man muss die beiden nur fragen.
Die Haustür wird nicht abgeschlossen, die Autoschlüssel bleiben stecken, die Tageszeitung ist nie aktuell, da sie erst eingeflogen werden muss. Eine Entbindungstation gibt es schon seit Jahren nicht mehr und ein entzündeter Blinddarm kann lebensbedrohlich sein, je nachdem, ob der Pass über die kanadische Grenze aufgrund der Schneefälle noch passiert werden kann.
Ihre zweite Tochter bekommt Lende während eines entsetzlichen Schneesturms. Die zukünftige Großmutter kommt extra angereist.
Mom had arrived from New York a few days earlier on a ferry coated with ice. The usual four-and-a-half-hour trip had taken nearly eight as northern gales kept the boat form moving at full speed. Mom was one of the few passengers who didn’t get sick. She also didn’t know it was dangerous at all. She’d never been on the ferry before and assumed it was always like that.
Nach nur fünf Stunden in der damaligen Krankenstation können Heather und Baby Sarah zurück nach Hause. Am nächsten Morgen moderieren Freunde von Heather eine Radiosendung.
… and they talked on air about the new Lende baby, telling listeners that her name was Sarah […] and her weight was eight pounds, two ounces. As for the state of the mother’s health: „I saw Heather shoveling the driveway today on my way to work,“ Steve said.
I thought my mother woud kill me. „He’s kidding, Mom,“ I told her. „It’s a joke.“ She was not amused. (S. 14)
Ebenso erfahren wir von Wohltätigkeitsbuffets, bei denen jeder mit Begeisterung viel mehr ausgibt, als er eigentlich wollte, um einer Familie finanziell unter die Arme zu greifen, die die teure medizinische Behandlung des Kindes nicht mehr allein stemmen kann. Und die Aufführungen der Laienspielgruppe, bei denen man wirklich alle Mitwirkenden kennt, bleiben Lende länger in Erinnerung als der Besuch des Musicals Cats in New York.
Lendes Arbeit als Verfasserin der Nachrufe, die auch mal zwei Zeitungsseiten lang sein können, bringt sie nicht nur mit den unterschiedlichsten Charakterern, Lebensentwürfen und Schicksalen zusammen, sondern konfrontiert sie natürlich auch mit Frage, wie Menschen auf den Verlust reagieren, worin sie Trost und Halt finden.
Aber genauso sinniert sie darüber, was es bedeutet, wenn ihr zehnjähriger Sohn zum ersten Mal mit seinem Vater auf die Jagd geht, und warum es ihr wichtig ist, dass ihre Töchter als Deckhands auf einem Fischerboot jobben, auch wenn sie weiß, dass das keine ungefährliche Aufgabe ist.
Das Besondere an diesem Buch ist neben der schieren Fülle an Geschichten aber vor allem der Blick der Erzählerin auf die Welt. Zurückgenommen, dezent selbstironisch und humorvoll. Warmherzig, dankbar, im Glauben geerdet, den Menschen zugewandt, bescheiden. Zupackend und hoffnungsvoll.
Da wird mit der gleichen Selbstverständlichkeit davon erzählt, dass man ein Roma-Waisenmädchen adoptiert, wie davon, dass es gar nicht so einfach ist, zu Hause mal in Ruhe ein schönes Ei-Sandwich zu essen, da einem ständig Anrufe, spontane Gespräche und Aufgaben dazwischenkommen.
Wer wissen will, was ein Drache mit einem Feuerlöscher, der mit 25 Kilo Mehl gefüllt ist, mit Weihnachtsstimmung zu tun hat, muss das Buch nun trotz meiner wie immer ausufernden Inhaltsangabe doch noch selbst lesen. Ich jedenfalls, am Ende der 281 Seiten angekommen, könnte gleich wieder von vorn beginnen. Eine Wundertüte von Buch, das sowohl Kritiker als auch LeserInnen beglückt hat und dazu einlädt, unter anderem darüber nachzudenken, wo sich unser Leben fundamental von dem der Einwohner Haines‘ unterscheidet. Vermutlich ist das bei uns oft viel zersplitterter, vereinzelter und ego-bezogener.
Lende hingegen ist sich sicher:
It’s as if we are all moving through this world on a big old ship, holding on to one another as we cruise up the generous river of life. The water that floats us is always new, yet it flows in the same direction, over the same old sand. (S. 44)
Oder wie es an anderer Stelle heißt, an der Lende die Schriftstellerin Annie Dillard zitiert:
How we spend our days, of course, is how we spend our lives. (S. 85)
Einzig das Cover fand ich etwas dürftig, aber gut, das sollte niemanden abhalten.
Wer noch ein bisschen weiterstöbern möchte, könnte beispielsweise dem Hinweis zu Elisabeth Peratrovich nachgehen oder sich gleich auf dem Blog Lendes festlesen.

Ein wunderschönes Photo. 😊
Danke dir, auch wenn es nicht in Alaska aufgenommen wurde 😎.
Naja, der Text war mir zu lang.
Zu den Nachrichten dieser Woche aus Kanada mit Blick auf die indigenen Kinder klingt dies recht gut. Einschließlich der Anmerkung zu nachbarschaftlichem und ehrenamtlichen Engagement.
Schönen Sonntag wünscht Bernd
Was diese kleine Stadt so alles auf die Beine stellt, hat mich wirklich beeindruckt. Auch wenn natürlich davon auszugehen ist, dass es da einen harten Kern an Menschen gibt, die das gesellschaftliche Leben tragen. Und möglicherweise hat die Autorin auch nicht alles an Negativem festgehalten, wichtiger sind ihr ohnehin der Blick auf das Gute und die Frage, wie wir mit Negativem umgehen. Dass das Buch Berührungspunkte mit der Gegenwart hat (Behandlung indigener Kinder) ist traurig, aber auch nicht wirklich überraschend. Siehe zum Beispiel meinen Artikel zu dem Buch Oranges and Sunshine (1994) von Margaret Humphreys.
Auch dir einen schönen Sonntag.
Anna
Ja, vielen Dank. Deinen Beitrag habe ich gerade nachlesen können. Es ist nicht zu fassen.
Ja, es ist bedrückend.
Das klingt nach einem wunderbaren Buch. Positiv, aufbauend und mit all den Dingen die das Leben so in petto hat. Danke dir.
Ja, das ist es. Aufbauend, obwohl das Traurige kein bisschen ausgeklammert wird. LG Anna
Es ist schon auf dem Weg in meine Bibliothek.
Herzliche Grüße
Sandra
Hui, dann wünsche ich dir viel Freude damit.
LG Anna
Das klingt nach einem tollen Buch und ich packe es direkt mal auf die Wunschliste 🙂 Ganz liebe Grüße, Sabine
Also, mir hat es sehr gefallen. Ich habe das so noch nie gelesen. Man möchte sich einfach sofort mit der Autorin zum Potluck dinner verabreden. LG Anna
Vielen Dank für die Vorstellung dieses Buches, zumal wir Bücher über den Norden sammeln. Wir kennen den Norden durch unsere Expeditionen nach NE Greenland und Svalbard und sind fasziniert von ihm, wohl auch da wir länger in der europäischen Arktis lebten.
Mit herzlichen Grüßen vom sonnigen Meer
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
Bücher über den Norden zu sammeln klingt nach einem interessanten Schwerpunkt, besonders wenn man vieles mit eigenen Erfahrungen abgleichen kann. Spontan könnte ich mir vorstellen, dass dir das Buch möglicherweise nicht komplex oder herausfordernd genug geschrieben sein könnte.
Mit frühsommerlichen Grüßen
Anna
Habe herzlichen Dank – auch für die Warnung.
Witzig gestern besuchte mich ein Verleger und früherer Übersetzer meiner Bücher, der auch ein großer Sammler von Bücher über den Norden ist. Er lebte ebenfalls länger im Norden und zwar auf den Shetland Inseln. Wir sprachen über diesen Teil unserer Bobliotheken und kamen zu dem Schluss wie viel Ramsch es auch zu diesem Thema gibt.
Mit sommerlichen Grüßen
Klausbernd 🙂
Ein wunderbares Buch, liebe Anna. Ich habe es vor (zu) vielen Jahren gelesen, als wir noch in Alaska wohnten. Jetzt bin ich sehr motiviert, es mir mal wieder anzuschauen. Danke für Deine Besprechung.
Lieben Gruß,
Tanja
Oh, dann hast du ja noch einmal einen ganz anderen Zugang zu dem Buch. Kannst du dich noch daran erinnern, wie es damals in Alaska aufgenommen wurde?
LG
Anna
Liebe Anna,
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich damals gute Rezensionen gelesen, denn so wurde ich auf das Buch aufmerksam.
Ich war sogar schon in Haines, wenn auch nur ein Wochenende lang. Außerdem habe ich etwas Zeit in anderen Orten im Südosten Alaskas verbracht, wie z.B. in Juneau oder Sitka, und konnte einige der Beschreibungen und Erfahrungen der Autorin gut nachvollziehen.
Jetzt habe ich wirklich Lust, es wieder zu lesen!
Herzliche Grüße,
Tanja
So verbinden Bücher die Welt 😎
Allerdings. 📚