David M. Wallace: The Little Brudders of Miséricorde (2022)

Was schreibt man zu dem wahnsinnig guten Romandebüt The Little Brudders of Miséricorde des Kanadiers David M. Wallace, wenn man ihm viele Leser*innen wünscht, aber gleichzeitig nur wenig zum Plot sagen will, weil man unbedingt selbst die Geschichte von Lyle Spencer nachlesen und mitverfolgen muss? Vielleicht dies: Es ist ein Buch, dessen Titel alles Notwendige über uns sagt – und in dem sicherlich viel von der Biografie des Autors steckt.

There are times when we drift peacefully through life, Spence thought, and times when the daily dread of life‘s hardships makes each moment feel unbearable. And there are times when lightning strikes. A single spark sets your world ablaze and the flames consume everything in their path. (S. 124)

Lyle Spencer, von allen nur Spence genannt, 62 und ehemaliger Schauspiellehrer, ist vor kurzem von Vancouver nach Montréal gezogen. Doch der Neuanfang dort fällt ihm schwer. Einmal die Woche gießt er die Pflanzen in der Wohnung seiner Tochter, die gerade mit ihrem Verlobten in Paris weilt. Seine Fortschritte im täglichen Französischkurs sind überschaubar und da die anderen Kursteilnehmer wesentlich jünger sind als er, findet er dort keinen Anschluss. Er geht hin und wieder zur Messe und bemüht sich, mit der französischen Ausgabe des Kleinen Prinzen seine Sprachkenntnisse zu verbessern. 

Perhaps we never understand other people, at all. We simply inspect the emblems of their lives – their clothes, the books on their shelves and the pictures on their walls. We drop clues for one another and pray we will be understood. Some days, even language seems like some elaborate deception. (S. 186)

Als er eines Tages lautstark eine Maus, die sich bei ihm in der Wohnung häuslich niedergelassen hat, beschuldigt, die Josephsfigur aus seiner Weihnachtskrippe gestohlen zu haben, zetert die zurück, dass ein bisschen Rücksichtnahme ja doch nett wäre, er habe sie aufgeweckt.

His name is Thierry. After my initial shock, I feel surprisingly calm. Almost relieved. […] I understand that no one is going to believe me. I know that. But perfectly sane people believe crazier things than this. Moses talked to a burning bush, after all. (S. 34)

Der zweite Erzählstrang nimmt uns mit in Spences Vergangenheit; seine Lebensgeschichte fügt sich allmählich wie ein Puzzle zusammen, und irgendwann erkennen wir den Kern und Urgrund seiner Isolation. Seine Kindheit, seine katastrophale Ehe, seine Arbeit als Lehrer, bei der er zwar versucht hat, seinen Schülerinnen und Schülern einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie sich entfalten und Verletzungen heilen konnten. Doch spätestens nach dem Suizid einer Schülerin weiß er, dass ihm das nicht bei allen gelungen ist. 

Spence had known Sam for five years. […] Since he had been Samantha. He had watched the boy slowly and confidently transform himself from Samantha into Sam until, now, he could not remember ever thinking of him as a girl. […] Many of the teenagers in the room had some similar story of transformation. Big or small. Not from the very beginning – and not all at once – Spence‘s studio had begun to gather in the misfits. The broken kids. The boys without fathers. The girls with stories they had been forbidden to tell. […] Spence smiled at Melody […] Last year she had written and performed a powerful monologue about dealing with her mental illness. Her honesty disabused the notion that self-harm was some new fad. No one mocked Amy‘s stutter here. Or told Craig to remove his mascara and eyeliner. (S. 27-28)

Manche dieser Rückblicke wirken streckenweise wie protokolliert und emotional eingefroren, während die Kapitel in der Gegenwart, in der ihm Thierry ein guter, wenn zunächst auch rüpelhafter, Haschisch rauchender, fluchender und kleinkrimineller Macho-Hausgenosse ist, viel unmittelbarer und farbiger erscheinen.

Thierry is on the kitchen counter having a bath. His first, as far as I am aware. He is reclining in a wide mouth coffee cup. The sort you might use for a latte. The soapy water splashes over the lip of the cup and into the saucer as I add a little more hot water from the kettle. ‚Take it easy, brudder! I jes wanna bath not a scuba lesson.‘ I hand him a Q-Tip and he uses it to scratch his back. (S. 174)

Dabei geht es weder um Klamauk, Unterhaltung oder Eskapismus, auch wenn ich bei der ein oder anderen Szene überlege, mit wem man das Buch am besten verfilmen sollte.

He [Thierry] points to the illustration [bei der man den kleinen Prinzen auf seinem Asteroiden sieht]. ‚C‘est impossible. I like de lil guy an‘ all. But dat planet-‘

‚Asteroid.‘

‚-dat asteroid no bigger den dis appartement. Dat not really believable, man. You sure dis book is famous?‘ […]

‚I agree. It‘s not a very plausible premise.‘ I put the book aside and go to the kitchen. Thierry is still on my shoulder. ‚Maintenant, mon petit bonhomme, what shall we have for dinner?‘ (S. 113)

Die Existenz Thierrys wird nicht hinterfragt, er ist irgendwann da, die beiden arrangieren sich. Thierry verbessert Spences Französisch und berichtet ihm, was sonst so im Haus passiert und was der üble Vermieter Nick auf dem Kerbholz hat, während Spence dafür sorgt, dass Thierry die Toilette benutzt und schließlich sogar Lesen lernt.

Alles andere muss die Leserin, der Leser selbst entdecken. Am Ende fügt sich in diesem feinen und leisen Roman alles stimmig ineinander und man verabschiedet sich schließlich nur ungern von Spence und Thierry mit seinem losen Mundwerk. Zu beanstanden wäre nur, dass der Erzähler Spence auf seinem Weg gar zu viele Katastrophen aufgebürdet hat. Da hätte es auch weniger getan. 

I suppose we all keep much of who we truly are hidden from ourselves. We bury gifts that we secretly fear are unworthy of being offered. Efface transgressions that we cannot confess; attenuate our own suffering.  Perhaps Thierry is right, though, when he observed we are all thieves. In every transgression there is a kind of theft. Truth goes missing. Trust disappears. Innocence is lost. (S. 111)

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

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