Niroz Malek (1946 in Aleppo geboren) hat bisher mehrere Bände mit Erzählungen und sechs Romane veröffentlicht. Wie schön es wäre, wenn es keinen Grund gegeben hätte, dieses verstörende und bewegende Werk zu schreiben.
Schon auf den ersten Seiten dieses Werks erklärt der Erzähler, weshalb er selbst, im Gegensatz zu Millionen anderen Syrerinnen und Syrern, sein Land und seine Stadt Aleppo nicht verlassen will.
‚Wie kann ich meine Wohnung verlassen, aus meinem Zimmer fortgehen?‘ […] ‚Warum? Um meinen Körper zu retten? Du solltest wissen daß das, was ich in diesem Raum zurücklasse, nicht nur Bücher und Antiquitäten und Photographien sind. Nein, ich lasse meine Seele zurück.‘ […] ‚Kann ein Körper ohne Seele leben? Aus diesem Grund werde ich meine Wohnung nicht verlassen: Weil ich meine Seele nicht in einen noch so großen Koffer stopfen kann. Meine Seele ist all das, was du in meinem Zimmer siehst … Tausende Bücher. Hunderte Schallplatten, Zeichnungen, Gemälde und Photographien.‘ (S. 6/7)
Malek konstatiert den Irrsinn, dass sich Liebespaare immer noch küssen, dass Frauen vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes warten, dass irgendwo Hochzeit gefeiert wird, während gleichzeitig ein kleiner Junge betrauert wird, der einem Scharfschützen zum Opfer gefallen ist.
Er trifft sich mit seinen verbliebenen Freunden im Café, flüchtet in Bücher und Gemälde von van Gogh und vermisst seine über die Welt verstreute Familie, seine Enkelkinder.
Ich weiß, daß meine Briefe Dich nicht erreichen. Dennoch schreibe ich Dir jeden Abend, um Dir zu sagen, wie sehr Du mir fehlst. Am nächsten Morgen lege ich den Brief wie ein wertvolles Pfand in die Hände des Briefträgers. (S. 8)
Gleichzeitig ist er erschüttert, dass die Kinder in Aleppo, die überhaupt noch in der Lage sind, etwas malen zu können, nur noch verkohlte Bäume und Leichenteile malen.
Und so enthält Der Spaziergänger von Aleppo 57 kurze Texte; Einblicke, Impressionen, surreale Geschichten und Reflexionen, in denen sich der Autor, der nach wie vor in Aleppo lebt, an früher erinnert und an geflohene Freunde, an Zurückgekehrte, an Ermordete und Trauernde.
Wir lesen seine Alpträume, in denen sich die Grenzen zwischen Lebenden und Toten vermischen, denn der Tod kann jede Minute in Form von Raketen, Heckenschützen oder verrohten Soldaten an den unzähligen Checkpoints zuschlagen. Nichts ist mehr sicher, geordnet oder verlässlich. Er schaut fern, sieht die Leichen im Mittelmeer.
Der Anblick war schrecklich. Ertrinkende Frauen und Kinder, mit denen die Wellen des Meers spielten. Eine Welle spülte sie ans Ufer, eine andere trieb sie aufs Meer, als lägen sie auf einem Wasserbett. (S. 27)
Das erzählt Malek in einer einfachen, ganz zurückgenommenen Sprache. Wenn alles implodiert, dann wird die Sprache schlicht, fast dokumentarisch.
Dass diese Texte nie länger als anderhalb Seiten sind, ergibt sich zwingend aus ihrem Inhalt. Im Irrsinn und Widersinn des Krieges gibt es keinen roten Faden mehr, nur noch Zersplitterung.
Ein Buch, das dennoch nicht leicht zu lesen ist, denn wir können jederzeit das Büchlein aus der Hand legen, den Opfern gewaltsamer Auseinandersetzungen, den Zivilisten jedoch steht keine Fluchtmöglichkeit offen und keine Atempause zu.
Anmerkungen
Dieser schmale Band von nur 139 Seiten wurde von Larissa Bender aus dem Arabischen übersetzt und im Weidle Verlag veröffentlicht. Die französische Ausgabe erschien bereits 2015.
Weitere Besprechungen gibt es bei: