Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf (2021)

Der Filmemacher Andreas Fischer (*1961) geht in seinem ersten Roman Die Königin von Troisdorf – Wie der Endsieg ausblieb den Themen nach, die ihn auch schon in mehreren seiner Filmprojekte beschäftigt haben: Wie sind wir zu denen geworden, die wir heute sind? Wie sah eine Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus? Welche eigenen Traumata und Verkrüppelungen haben Eltern und Großeltern an die Kinder bzw. Enkel weitergegeben, die während der Wirtschaftswunderzeit aufgewachsen sind?

Das mag zunächst vielleicht nicht nach spannender Literatur klingen, doch ich habe dieses autobiografisch grundierte Buch regelrecht inhaliert. Es ist irritierend, dass Fischer keinen Verlag für dieses unfassbar gute Buch gefunden und es deshalb schließlich selbst verlegt hat.

Fischer schreibt nicht chronologisch, sondern reiht kurze Szenen in überraschenden Zeitsprüngen aneinander, die – wie in einem ungeordneten Kasten voller Fotos – ein Schlaglicht auf eine bestimmte Situation werfen. Und diese Form samt der unsentimentalen Sprache, die Fischer für seinen Inhalt gewählt hat, sorgen dafür, dass sich das Buch weit über das Niveau bloßer Erinnerungsbücher erhebt. Zeigt doch dieses Mosaik, dass immer alles in uns zeitgleich gegenwärtig ist, die kleinen, die großen, die hässlichen und die schönen Momente.

1969. Troisdorf. Ich bin 8 Jahre alt. 3. Schuljahr.

Viele andere Kinder haben Geschwister, Einzelkinder wie ich sind eher selten. Mich beginnt die Frage zu beschäftigen, warum ich keine Geschwister habe. Ich weiß nicht, ob ich es mir schön vorstellen soll. Müsste ich meine Spielsachen teilen? Stünde noch ein Bett für einen Bruder oder eine Schwester in meinem Zimmer? Hätte ich dann noch Platz, um mit meinen Matchboxautos auf dem Boden Zusammenstoß spielen zu können? An einem Abend frage ich meine Mutter, warum ich keine Geschwister habe. ‚Einer von deiner Sorte hat uns gereicht‘, sagt Mutter. (S. 37)

Der collagenartige Aufbau passt natürlich zu seinem familiären Hintergrund. Seine Eltern betrieben ein gut gehendes Fotogeschäft in Troisdorf. Sie arbeiteten so hart, dass der einzige Sohn da eher ein Störfaktor war und tagsüber viel Zeit bei seiner Tante Hilde und seinem Onkel verbringen musste. Die Großmutter mütterlicherseits, Oma Lena, lebte ebenfalls mit im elterlichen Haus und war, man kann es nicht anders sagen, von ausgesuchter Bösartigkeit. Die freundlichen Worte gegenüber ihrem Enkel dürften sich an einer Hand abzählen lassen.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank. (S. 117)

Sie hat vermutlich den Tod ihres einziges so überaus braven Sohnes nie verwunden, der sehr jung und voller Begeisterung für Hitler in den Krieg gezogen war. So schreibt der 19-jährige Günther an seine Eltern im Januar 1940 aus Königsberg, nachdem er und seine Kameraden bei 28 Grad unter Null bereits die ersten Erfrierungen davongetragen hatten:

Ich bin riesig stolz, in dieser großen Zeit Soldat sein zu dürfen. Keine Härte, keine Kälte, darf größer werden als mein Stolz. Nie werde ich klagen. (S. 99)

Also kein Zufall, wenn sich der Ich-Erzähler erinnert, wie seine Oma Lena über ihn irgendwann zu seiner Mutter gesagt hat:

‘Bei Günther hat die Saat meiner Erziehung gefruchtet. Bei dem Bengel ist alles hoffnungslos.‘ (S. 109)

Die Fischers im Troisdorf der sechziger und siebziger Jahre sind eine Familie, wie es damals unzählige gegeben haben muss, nach außen hin wird eine biedere, spießige Wohlanständigkeit mit üppiger Schrankwand, finanziellem Erfolg, Arbeitsethos und neuem Auto präsentiert; irgendwann konnten sich die Eltern sogar leisten, ein Mietshaus zu bauen, die Frauen der Familie streng katholisch.

Was jedoch nicht außen dringen durfte: Bei dieser Form des Katholizismus ging es nie um spirituelle Fragen. Der Sohn wurde auch mal zum Gottesdienst geprügelt, Hauptsache, die Fassade, die man den Nachbarn gegenüber zeigte, stimmte.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich … (S.246)

Dann der Rassismus: Man freute sich zwar über die Gastarbeiter, die gute Kunden im Fotogeschäft der Eltern waren, doch privat sah man auf sie herab. Nie hätten Mutter und Oma Lena später mal einen Gyros aus dem neu eröffneten griechischen Restaurant probiert.

Die abendliche Sauferei des Vaters, der den Untergang des Nazi-Reiches nie verwunden hat. Das Ableugnen der deutschen Verbrechen.

Das absolute Desinteresse an dem, was ihren Sohn interessiert, oder an dem, was er kann. Jahrzehnte später ist der Vater fassungslos, als er Andreas am Telefon Englisch sprechen hört. Er hat nicht einmal gewusst, dass Englisch einer der Leistungskurse seines Sohnes gewesen war. Doch genauso gibt es die Erinnerung an den Moment, als der Vater mit dem Dreizehnjährigen, der sich sehnlichst ein Jugendlexikon gewünscht hatte, in die große Buchhandlung geht und seinem Sohn dort die zwanzigbändige Ausgabe der Brockhaus Enzyklopädie zeigt.

Eine Woche später liefert uns der Inhaber der Buchhandlung persönlich die zwanzig Bände der Enzyklopädie ins Haus.

Vater hatte recht. Der Brockhaus wird mich die Schulzeit und das Studium hindurch begleiten, mir bei unzähligen Hausaufgaben und Referaten hilfreich sein. Ich habe den Brockhaus heute noch, im Zeitalter von Wikipedia und Google, ich bin zwölfmal mit ihm umgezogen, die blauen Schutzumschläge habe ich nie entfernt, alle Bände befinden sich noch in ihren Pappschubern, das sieht nicht so gut aus, aber so wertvoll sind sie mir. (S. 317)

Nie fuhr die Familie gemeinsam in Urlaub. Und nur in anderen Familien sieht der Junge, wie Familienleben auch gelebt hätte werden können. Und nur bei seiner Tante Hilde findet Andreas Anerkennung und Wärme.

1971. Ich bin 10 Jahre alt. 5. Schuljahr.

Am nächsten Tag gehe ich in das Juweliergeschäft und kaufe die Seepferdchenbrosche. Tante Hilde freut sich sehr. ‚Wie komme ich denn dazu?‘, fragt sie […] ‚Einfach so‘, sage ich. Tante Hilde gibt mir einen Kuss auf die Backe. Dann geht sie zur Garderobe, sie holt ihren feinen Pelzmantel und befestigt die Seepferdchenbrosche am Kragen. Während der nächsten vierzig Jahre trägt sie die Brosche, bis ich das Seepferdchen vorsichtig vom Kragen ihres letzten, dunklen Wintermantels ablöse und einstecke, bevor ich den Mantel in den großen Pappkarton packe, der für die Kleiderkammer der Caritas bestimmt ist. (S. 177/178)

Durch die mosaikartige Anlage des Buches bleibt man als Leserin die fast 500 Seiten anteilnehmend dabei, erkennt mit Schrecken Dinge aus der eigenen Familiengeschichte wieder und möchte wissen, wie und ob es Andreas gelingt, sich ohne gar zu schlimme Blessuren aus dieser ungesunden Familie zu befreien. Man freut sich bei den seltenen Momenten mit, wenn Andreas etwas Schönes mit seinem Vater unternehmen kann oder ausnahmsweise von ihm den Rücken gestärkt bekommt und wenn man spürt, dass hier einer mit wachem Blick beobachtet, sich die Werte der Familie nicht einfach zu eigen macht, sich eben nicht wie Onkel Günther in blindem Gehorsam anpasst, sondern trotz aller Verletzlichkeit rebelliert und kleine und irgendwann größere Fluchten wagt.

Gleichzeitig nimmt Fischer einen weiten Blick ein. Dadurch dass er den entscheidenden Momenten auch im Leben seiner Eltern und Großeltern nachgeht, z. B. aus alten Familienbriefen zitiert, begreifen die Leser*innen, wie beispielsweise enttäuschte Hoffnungen auf nationalsozialistische „Größe“ gekoppelt mit privater Trauer die vorangegangenen Generationen seelisch verkrüppelt haben. All die nie aufgearbeiteten Erfahrungen und verdrängte Schuld haben seine Großmutter und seine Eltern zu den oftmals unerträglichen Menschen gemacht, die selbst keine Verbindung mehr zu ihren eigenen Gefühlen hatten und wohl meist nicht anders konnten, als dem Sohn und Enkel mit Enttäuschung, Lieblosigkeit, Härte und Unverständnis zu begegnen.

Daneben ist dem Autor aber auch eine kleine Sittengeschichte der Sechzigerjahre gelungen. Es geht um Cola und Gyros, um Jeans und die Frage nach der Haarlänge bei den Jungen oder die zwiespältige Haltung zu Wehrdienstverweigerern. Genauso lesen wir aber auch von der noch nicht hinterfragten Rolle der katholischen Kirche, latentem Rassismus, dem Einzug moderner Luxusgüter in die bundesdeutschen Haushalte und den technischen Neuerungen wie dem Kassettenrekorder, mit dem man die Lieblingstitel aus dem Radio mitschnitt.

Hier ein kurzes Interview mit dem Autor.

Sebastian Schoepp schreibt im Dezember 2022 in der Süddeutschen Zeitung:

Andreas ist der mangelhafte Ersatz [für den gefallenen Günther], wie diese ganze verhasste Bundesrepublik, mit der man sich hatte zufriedengeben müssen, nachdem der Endsieg ausgeblieben und die kleinbürgerlich-spießigen Träume davon ausgeträumt waren, was alles aus einem hätte werden können in diesem Reich bis hinter dem Ural. Gesprochen wird darüber natürlich nicht. Die Verluste, die uneingestandene, verdrängte, in Arbeitswut erstickte Schuld schweben nur ständig über allem. In dieser Familie geschehen keine Brutalitäten, kein sexueller Missbrauch, keine Gewalt, es ist nur eine alltägliche Kette von Mikrograusamkeiten, wie eine Tropfenfolter. […] Jeder, der so was auch nur im Ansatz selbst erlebt hat, wird von Fischers so nüchterner wie wirkungsvoller Prosa tief in der Seele angefasst.

Usama Al Shahmani/Bernadette Conrad: Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister (2016)

Nachdem ich In der Fremde sprechen die Bäume arabisch gelesen hatte, wollte ich mehr von dem Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Usama Al Shahmani lesen. Und so geht es heute um den 2016 in Zusammenarbeit mit der Journalistin Bernadette Conrad (*1963) entstandenen Band Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister, der im Limmat Verlag veröffentlicht wurde. Das Buch handelt schwerpunktmäßig von den Erfahrungen und Erinnerungen Al Shahmanis, der 2002 in die Schweiz flüchtete und sich seitdem dort ein Leben und ein Zuhause aufgebaut hat, auch wenn Conrad ebenfalls einige Kapitel und Interviewfragen beisteuert.

Es ist wieder ein berührendes Buch und ein wichtiges Buch. Ganz zu Beginn zitiert Conrad einen Satz von Al Shahmani:

Und manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Dich durch meine Geschichten aus dem Irak traurig mache. (S. 8)

Conrad ist sich jedoch sicher:

Ich denke, dass nicht nur nichts verkehrt daran ist, dass wir uns von denen, die Krieg, Folter, Diktatur erlebt haben, traurig machen lassen, sondern dass dies im Gegenteil wichtig ist. Nicht nur, weil Entsetzen und Trauer die angemessenen Gefühle sind, um auf menschengemachtes Grauen zu reagieren. Diese Trauer zuzulassen ist auch eine Reverenz; ein Minimum, dass man als jemand, der von diesen Erfahrungen verschont geblieben ist, beitragen kann gegen eine Spaltung der Welt. (S. 8)

Al Shahmani schildert seine Kindheit und Jugend unter einem rigiden Vater und die brutalen Schulerfahrungen, die Angst, die eine ganze Gesellschaft zermürbt, lähmt und vergiftet. Die erste Flucht – noch im Irak – in die Literatur.

Ich war kaum zwanzig, als Frischs Roman ‚Mein Name sei Gantenbein‘ auf Arabisch veröffentlicht wurde, übersetzt von einem Ägypter. Ich hatte es von meinem alten Schulfreund Riad ausleihen können. (S. 131)

Dann erzählt Al Shahmani von seinem regimekritischen Theaterstück, das der Auslöser für seine lebensgefährliche Flucht war.

Die ersten keineswegs guten Jahre in der Schweiz, die Monotonie und Einsamkeit in den verschiedenen Flüchtlingsunterkünften, sein beharrliches Lernen der deutschen Sprache, Erinnerungen an Freunde und Studienkollegen, die kurzzeitige Hoffnung, nach dem Sturz Saddams wieder zurückkehren zu können. Familienangehörige, wie die Onkel und Bruder Ali, die Krieg und Diktatur zum Opfer fielen. Der gefolterte Freund, den er nach dessen Haftentlassung erst nicht erkennt.

Aber auch die Freude über das Kennenlernen seiner späteren Frau Nada, die Geburt ihrer beiden Kinder, das allmählich Heimischwerden in der Schweiz, neue Freundschaften und die Desorientierung, als er viele Jahre später zurück in den Irak reist, um seine Familie zu besuchen.

Es wäre müßig, hier noch viel zum Inhalt zu sagen. Ich möchte es so ausdrücken: Al Shahmani erzählt uns, verschont uns nicht. Er zeigt sowohl die widerwärtige Fratze des Saddam-Regimes und dessen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft, die allmählich verroht und abstumpft, als auch die Widersprüche und Brüche und Traumata eines Menschen, der die ersten 30 Jahre in Krieg und unter dieser Diktatur gelebt hat und der die seelischen Narben nicht mit dem Grenzübertritt nach Europa hinter sich gelassen hat.

Eines Tages zeigte das irakische Fernsehen einen Vater, der seinen Sohn der Sicherheitsbehörde eigenhändig auslieferte, weil er den Waffendienst an der Front ablehnte, um anschließend zu flüchten. Nachdem der Sohn von den Sicherheitskräften verfolgt wurde, um anschließend auf der Flucht erschossen zu werden, erschien dessen Vater im Fernsehen in Begleitung von Saddam. Saddam verlieh ihm zu Ehren eine Auszeichnung und nannte ihn ‚den wahrhaftigsten und rechtschaffensten irakischen Bürger.‘ (S. 112)

Die Einblicke in seine Herkunftskultur und seine irakische Familie, die Al Shahmani uns gestattet, helfen uns ebenfalls, ein wenig besser zu verstehen. Sehr vielsagend dabei die zwei Familienfotos, die Usama mit seinen Eltern einmal in den Siebzigerjahren und einmal 1998 zeigen. Ein kompletter gesellschaftlicher Wandel, illustriert mit nur zwei Bildern.

Dennoch strahlt auch dieses Buch eine zarte Hoffnung aus, ist es doch von einem geschrieben, der seine persönliche Antworten auf das Grauen in der Flucht, der Sprache und der Literatur gefunden hat. Er hat einen Weg gefunden, fremd und doch heimisch zu sein und seine Fremdheit als neuen Raum zu begreifen, den es zu gestalten gilt. Und der nun als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer seine Erfahrungen an andere Geflüchtete weitergibt.

Al Shahmani erzählt uns das so, als säße er bei uns in der Küche, er nimmt einen quasi an die Hand und schafft etwas ganz Seltenes: Er erweitert meine mentale Landkarte um ein Land namens Irak, dessen Leid ich mir bisher gut auf Abstand halten konnte. Ein Land, für das keine Hoffnung auf Besserung besteht, solange es unter der Fuchtel religiöser Hardliner bleibt.

Dass jeder Geflüchtete eine Geschichte mitbringt, ist eine Binsenweisheit, sollte aber dennoch nachdenklich machen, auch wenn sie kaum jemand so wie Al Shahmani wird erzählen können.

Für mich ist die Sprache die einzige Sache, die ich als meine absolute Heimat bezeichne. Ich habe meine Heimat nicht verloren, weil ich meine Muttersprache behielt. (S. 37)

Ich selbst habe mich erst dann willkommen gefühlt, als ich die Sprache konnte. Diese Tür muss man selbst öffnen. (S. 150)

Stefan Schwarz: Bis ins Mark – Wie ich Krebs bekam und mein Leben aufräumte (2022)

Ich bin kein Jürgen von der Lippe-Fan, aber sein Programm Lippes Leselust, das er zusammen mit Torsten Sträter auf die Bühne gebracht hat, war großes Kino (problemlos auf YouTube zu finden). Ich habe vor mich hin gekichert und – bitte nicht weitersagen – die Sendung am nächsten Tag gleich noch mal angeschaut. Im Anschluss habe ich unverzüglich eines der Bücher bestellt, die Sträter und von der Lippe vorgestellt haben, nämlich Bis ins Mark – Wie ich Krebs bekam und mein Leben aufräumte von Stefan Schwarz

Der Kolumnenautor Schwarz (*1965), Sohn eines Stasi-Generals, ehemaliger Mitarbeiter der TAZ, dann von dieser als ehemaliger Informeller Mitarbeiter enttarnt, erkrankte mit Mitte 50 unheilbar an Knochenmarkkrebs und hat darüber nun ein Buch geschrieben, von dem Schwarz in einem Interview selbst sagt:

Es ist keine fiktionale Geschichte, jedoch auch kein Tatsachenbericht. Knochenmarkkrebs ist nicht heilbar, aber am Horizont erscheinen Therapien, die eine sogenannte Chronifizierung ermöglichen, sodass man ein ordentliches Alter erreichen kann. Darüber schreiben wollte ich zunächst nicht, weil das mit einer Retraumatisierung einhergeht. Aber der Verlag hat mich ermutigt, ich könnte Humor und Verzweiflung an den richtigen Stellen einsetzen. Vielleicht wird es dadurch ja auch eine Handreichung für Menschen, die ebenfalls durch so was durch müssen. Man hat viel Zeit, über sein Leben nachzudenken, und mir tut es gut, mal draufzugucken, wie unentspannt ich durch mein Leben gegangen bin. Außerdem wollte ich, dass meine Kinder einen Vater haben, der da schließlich etwas buddhistischer rausgeht.

Ich finde, man wird diesem Buch nur gerecht, indem man es liest. Wie macht der Autor das bloß? Es ist so lebensvoll, lebendig. 

Ich bin ausgeschlossen aus dem Kreis der Gesunden, der nachlässig durch ihr Leben eilenden oder schlendernden Existenzen, die eine gefühlte Unendlichkeit vor sich herschieben. (S. 33)

Außerdem ist das Buch so allgemeingültig menschlich und ständig zog ich Querverbindungen zu meinem Leben, dabei haben unsere Lebenswege so gut wie nichts gemeinsam.

Das ist ja die schlimmste Nebenwirkung der Schriftstellerei, dass man sich beim Schreiben so unvermeidlich auf die Schliche kommt. […] Man schreibt sich auf und liest sich durch und lernt sich kennen, besser, als man sich je kennenlernen wollte. (S. 111)

Daneben ist es eine knallehrliche Bestandsaufnahme, ein Blick auf die Vergangenheit mit schmerzhaften Erinnerungen an Mutter und Vater, an Katastrophen, an den jahrelangen Sorgerechtsstreit mit seiner ehemaligen Frau und Fehler in der  Kindererziehung. Es geht um das Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit, um die Verluste, die das Älterwerden mit sich bringt. Und um unser aller Endlichkeit.

Genauso erlaubt das Werk aber auch ein Blick auf unser großartiges und dann wieder ganz gruseliges Gesundheitssystem und auf die Torturen und die Schmerzen bei der Chemotherapie und Stammzellenbehandlung, die Ängste, die Begrenzung des Raums und des Horizonts und die Verlangsamung, die die Krankheit einem aufnötigt.

‘Ihr Krebs ist unheilbar‘, sagt der Arzt. ‚Sie werden folglich daran sterben.‘ Gesprächseröffnung nach Dr. Doom. (S. 182)

Und jetzt, in diesem Moment vor diesem Arzt, bemerke ich gerade, dass ich von einer gewaltigen Aggressionswelle geflutet werde. Dass ich ganz neutral in mir Aggressionswellen bemerke, erkennt man bei mir übrigens daran, dass ich lächle. Sie werden auch an irgendwas sterben, denke ich lächelnd. Und weder Sie noch ich wissen, woran und wann. (S. 183)

Schließlich die Dankbarkeit, als er nach den vielen harten Krankenhauswochen zum ersten Mal wieder draußen für ein paar Minuten einfach in der Sonne sitzen kann. Prioritäten, die sich völlig verschieben.

Und uns, den Leserinnen und Lesern, wird gehörig die Brille geputzt. 

Wenn man gesund ist, weiß man ja alles besser. […] Krebs stopft einem das große Maul. (S. 132)

Das ist doch der ganze Sinn von Krebs. Dass man aufhört, sich und anderen was vorzumachen, dass man innehält und sich die Augen reibt. (S. 201)

Und vielleicht das Erstaunlichste daran: Das Werk ist alles andere als ein „Doom and Gloom“-Buch. Es ist berührend, aber nicht larmoyant, es ist bissig, sarkastisch und wütend, ein Kampf um Würde und darum, nicht zu verzweifeln – auch nicht im Angesicht hilfloser und manchmal auch komplett empathiefreier Kommentare seiner Mitmenschen.

‘Was haben Sie eigentlich für einen Krebs?‘, fragt mich ein Gartenfreund über den Zaun, der schon vorab Nachricht von meiner Frau bekommen hatte.    ‚Knochenmarkkrebs!‘    ‚Ach, das hatte ein Freund von mir auch. Vor zwei Jahren. Ist aber schon tot.‘    ‚Na, das ging ja schnell‘, sage ich freundlich. Der Gartenfreund lebt auf. Offenbar konnte er mein Interesse an diesem Fall wecken. (S. 259)

Dann wieder liest es sich liebevoll und tröstlich und an anderen Stellen auch sehr, sehr komisch, mit einem Blick fürs Absonderliche, Schräge und Allzumenschliche. Und der Begriff „Raumteiler“ ist ab sofort nicht nur für x-beliebige Regale reserviert…

Das enge Herz der Welt wird einmal weit, und blumigere Naturen als ich fragen sich an dieser Stelle, warum wir uns nicht immer wie Todgeweihte (was wir sind, ist nur eine Zeitfrage) behandeln. (S. 151)

Hier gibt es ein Interview mit dem Autor auf SWR2.

 

Ilse Helbich: Das Haus (2009)

Nach dem hinreißenden Ein Haus für einen Sommer von Axel Hacke schien mir  Das Haus von Ilse Helbich, der 1923 in Wien geborenen Publizistin, eine passende Folgelektüre.

Helbich kaufte 1985 nach ihrer Scheidung im österreichischen Schönberg auf Kamp die mehrere hundert Jahre alte, ehemalige Poststation und ließ sie nach und nach renovieren, wobei versucht wurde, den ursprünglichen Zustand behutsam wieder herzustellen.

Diesen Umbau und den Prozess des Sich-allmählich-daheim-Fühlens verarbeitet sie in dem autobiografisch gefärbten Buch Das Haus, das 2009 im Droschl Verlag erschienen ist.

Was sie sich wünscht, als sie jung war: Wäre ich ein Tischler, würde es mich reizen, die Anfertigung eines Tisches in allen Schritten zu beschreiben. Es würde sich um einen gewöhnlichen Esstisch handeln, einen soliden, mit einer Hartholzplatte, vielleicht aus Nussbaum, die Messerschnitte, Speck- und Rotweinflecke verträgt, natürlich mit einer Brotlade, und mit festen, ein wenig ausgestellten Tischbeinen, und vielleicht mit einer Querleiste für die müden Füße. Ein gewöhnlicher Esstisch für alle Tage, von dem ich hoffe, dass er noch Kindern und Kindeskindern dienen kann, wenn dann auch verbannt in ein Kellerstübchen oder eine Werkstatt. (S. 5)

Der schmale Band (140 Seiten) ließ mich allerdings insgesamt eher unbefriedigt zurück. Die einzelnen handwerklichen Schritte und Abschnitte bei der Renovierung des heruntergekommenen Gebäudekomplexes interessierten mich nur am Rande, zumal es im ganzen Buch keinerlei Fotos gibt.

Dazu kommt, dass die Erzählerin immer nur von sich in der Sie-Perspektive spricht, was zu einer Distanz führt, die ich oft als arg trocken empfunden habe. Persönliches, wie die Beziehungen zu Kindern und Enkeln, wird weitgehend ausgespart. Stattdessen werden eher die allmählichen Annäherungen an ihre neuen Nachbarn oder die Handwerker in den Blick genommen.

Was mich letztendlich bis zum Schluss bei der Stange gehalten hat, sind einzelne Sätze und Abschnitte gewesen, in der die Erzählerin etwas von ihrem Innenleben preisgibt, die schön und geerdet waren und eine Gelassenheit des Alters ausstrahlten, die mich sehr angesprochen hat.

Die Stunden rinnen, Minuten wie Tage. Die Ewigkeit eine Minute vorm Tod. Alle Schicksale, auch das ihre, nur eingeritzt in die Außenhaut eines Schweigeraumes. Was ist so anders geworden? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass die alte Hoffnungslosigkeit zergangen ist, die früher, wenn sie ein Herbstblatt zu Boden taumeln sah, sich eisern in ihr Herz grub und flüsterte: ‚Ende, Ende.‘ – Auch wenn dieses Sterben schön war.
Heute sieht sie lächelnd den Blättern zu, die vogelleicht dahinschweben in heiterem Lassen, und unter der neuen Spärlichkeit des Laubwerks der Himmel immer sichtbarer. (S. 136)

Hier gibt es ein lesenswertes Interview mit der Autorin (ab Seite 2).

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Mark Hodkinson: No one round here reads Tolstoy (2022)

Der Schriftsteller Mark Hodkinson, der Jahrzehnte für die Times und andere Zeitungen und Bücher zu Fußball(mannschaften) und Musik geschrieben hat, gründete den Pomona Verlag, in dem er nicht nur seinen eigenen Debütroman The Last Mad Surge of Youth (2009), sondern auch eine sehr gelobte Salinger-Biografie herausgebracht hat. Doch damit nicht genug, seit diesem Jahr liegt auch seine spannende Autobiografie mit dem vielsagenden Titel No one round here reads Tolstoy vor. 

The walls are closing in. They used to be over there, a few metres away. Now, if I lean over I can touch them. This is what happens when you collect books and store them on big shelves in a small house. The process occurs imperceptibly, similar to the passing of time, where you think little has changed but then see a picture of yourself from a decade ago and sigh, ‘Bloody Hell!‘ I had no idea that 3,500 books (and ever rising) was an especially large number. The same as I thought having one book in my childhood home wasn‘t particularly unusual either. (Vorwort)

Geboren Mitte der sechziger Jahre, wuchs Mark in Rochdale auf, einer Stadt ca. 16 Kilometer nordöstlich von Manchester, in einem Arbeiterhaushalt, in dem es genau ein Buch gab. Die Wahrscheinlichkeit, eines Tages Vielleser, Schriftsteller, Verleger und Besitzer von über 3500 Büchern zu sein, war also gering.

I had succumbed to what Americans call BABLE: Book Accumulation Beyond Life Expectancy. How did I get here? Asked this on a Friday night after a few pints and I‘m looking for a chair to stand on. Appealing for quiet, please. Amid the chest thuds, quiver in my voice, I‘m telling everyone (two pals and the barmaid) that it‘s because I‘m ambitious and hopeful and ever seeking and each new book bears witness to a restless desire, of wanting, needing more, always more. And, and if I were to divest myself of these books would I not be conceding that my time on earth is finite and that I‘m going to die without everything I own? Who of us can defer so meekly to mortality? (S. 13)

Diesen Weg vom Arbeiterkind aus einem Ein-Buch-Haushalt zum stolzen und manchmal trotzigen Besitzer Tausender von Büchern zeichnet Hodkinson nun in 351 Seiten nach. Am Rande sei erwähnt, dass er sicherheitshalber sogar psychologische Beratung in Anspruch nimmt, um herauszufinden, ob und was mit ihm angesichts seiner Sammelwut möglicherweise nicht stimmt. Lisa erklärt ihm:

On one hand, by having such a collection and planning to read all these books, you are making a fantastic statement of hope and revealing an investment in future self, […] Even if you recognise you probably won‘t have time to read them all, you are already forming a relationship with mortality which we all must do at some point in our lives. The snag is the frustration you say you feel that comes with this realisation. This is something you need to deal with and accept. (S. 313)

Marks Elternhaus ist ganz anders als das in Streulicht von Deniz Ohde, obwohl beide aus einem Arbeiterhaushalt kommen. Der Familienzusammenhalt bei den Hodkinsons ist stark, eher bodenständig mit klar verteilten Geschlechterrollen; Tante, Onkel, Großeltern wohnen um die Ecke.

Parenting wasn‘t a complex issue in the 1970s. They didn‘t fret or read self-help books. The definition of a good parent was feeding and clothing your children, keeping them warm, loving them – what more was there to worry about? (S. 19)

An seiner Gesamtschule gilt er manchen Mitschülern als feiner Pinkel, weil seine Eltern nicht getrennt sind. Niemand aus seinem Bekanntenkreis kommt aus einem Akademikerhaushalt oder arbeitet in einem Büro. Seine Eltern

seldom showed tactile affection but their love and loyalty  to me and my sister was constant, absolute. No one I knew owned or played a musical instrument. […] Outside of visiting cafés while on holiday, we never ate out as a family. At home, we had the same meals depending on the day of the week. […] The television was always on. No original artwork was on the walls. […] Dad went to the pub every night. Mum accompanied him to the pub at least once a week. (S. 17-18)

Our house was noisy, busy, messy, neighbours and family passing through (my uncle and aunty lived next door), doors banging, the dog barking, budgie whistling, Mum and Dad bickering, the telly blaring and Elvis crooning everlasting love (S. 27)

Schon als Kind sammelt er Fußballkarten, Kastanien, Bierdeckel, Briefmarken, eben alles, was er in die Hände bekommen kann.

… to this day, I cannot pass a conker (Kastanie) without picking it up and putting it in my pocket. Sunlight reflected in the deep reddish brown of a fresh-from-shell conker is a handful of heaven. (S. 22)

Seine Freunde am Lesen entwickelt Mark vermutlich, als er mehrere Wochen wegen beginnenden Asthmas die Schule versäumt. Seine Schulerfahrungen sind ohnehin eher trübe, Wissensdurst und die Freude am Lernen müssen getarnt werden, damit man nicht in eine Außenseiterrolle gemobbt wird. Die Lehrkräfte desillusioniert, wenig engagiert und wie selbstverständlich davon ausgehend, dass die Kinder allesamt in die Fußstapfen der Eltern treten werden.

Im Elternhaus wird Mark zunächst nicht unterstützt. Den Vater treibt massiv die Sorge um, dass ein Junge, der auch gern mal allein ist und dann noch ständig liest, vermutlich irgendwann schwul wird und folglich keine Freundin findet. Der Vater sieht Lesen vor allem als eine weibliche Beschäftigung an. Männer arbeiten mit den Händen, bauen ein Haus, reparieren Autos, gehen in die Kneipe, sind gesellig und heiraten jung und seine Mutter will ihm tatsächlich lange nicht glauben, dass er eine Brille braucht.

Besonders die Liebe Marks zu seinem Grandad – damit kriegt man mich immer – ist innig und auch deshalb etwas Besonderes, weil der Großvater zeitlebens zum Teil gravierende psychische Probleme hat. Die Spaziergänge mit ihm durch die öden Industrielandschaften gehören für den Enkel zu den wichtigsten Erinnerungen, wird er hier doch von seinem Großvater auf Augenhöhe angesprochen und erhält wichtige Lektionen fürs Leben. Leider kommt Gran, die Großmutter, in diesem Buch viel zu kurz. Die wenigen Szenen mit ihr machen Lust auf nähere Bekanntschaft mit dieser tapferen und loyalen Frau.

Allerdings haben trostlose Schule und sein bildungsfernes Elternhaus den unerwarteten Vorteil, dass Bücher und Musik (Sex Pistols, The Smiths) für den Teenager etwas Cooles und Erstrebenswertes werden, mit denen man – auch bei Gleichgesinnten – seine eigene Identität findet und definiert, eben weil man sie für sich selbst entdeckt, sich unbedarft, aber voller Neugier seine eigenen Pfade anlegen kann.

Nothing was handed down, from either pupils or teachers; I had to find it myself. Maybe, in a world where books, for example, were shared, recommended, deconstructed, they might have become an easy currency and soon felt ordinary, nothing special. Instead, books became crucial in reinforcing my outsider stance, getting me through and forming my personality. (S. 59)

So lehnt er, während er gerade den Punk für sich entdeckt, The Hobbit von Tolkien aus tiefstem Herzen ab, während  Catcher in the Rye von J. D. Salinger und A Kestrel for a Knave von Barry Hines zwei seiner Lebensbücher werden. 

I opened it [Catcher in the Rye] and read the first page. No book has had the same impact since. I was breathless; within the first few paragraphs it felt like reading a letter sent exclusively to me. I flicked through more pages, unable to believe that a novel could be so consistently truthful and personal. I was unsure at first whether I had enough money to buy it. I decided there and then: if I have to, I will steal this book. (S.81)

Hodkinson entdeckt als Jugendlicher Second-Hand-Läden, den Penguin Verlag, Somerset Maugham, D. H. Lawrence und die Leihbücherei. Von da an ist kein Halten mehr. Und irgendwann verblüfft er seinen Berufsberater mit seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden. Und seine zweite große Liebe, die Musik, wird ebenfalls immer wichtiger, vor allem, wenn sie auch noch mit filmischen oder literarischen Verweisen gespickt ist. Besonders Morrissey, ebenfalls aus einem Arbeiterhaushalt, wird sein Idol.

Selbst Familienurlaube, die man als Teenager ja nicht unbedingt immer begrüßt, sind für ihn eine Wonne, vorausgesetzt, es regnet.

I could think of nothing more blissful than seven days in a caravan, rain lashing on all sides and a pile of thirty-one books. (S. 125)

Hodkinson verschweigt nicht, dass eine solche Entwicklung auch bei ihm notgedrungen eine Distanzierung zu seinem Elternhaus bedeutete. Schon als Kind wusste er, dass er ein bisschen anders als seine übrige Familie tickt, doch als er als Siebzehnjähriger für seine Journalisten-Ausbildung am College von zu Hause wegziehen muss, ist das für die ganze Familie, ihn eingeschlossen, ein großer und schmerzhafter Schritt.

An Beziehungen gewinnen vor allem die zu seinem Großvater und zu seinem guten Freund Pete an Farbe. Man bekommt darüberhinaus einen Einblick in die massiven Veränderungen der britischen Gesellschaft unter Margaret Thatcher. Dazu gibt es manchmal etwas wahllos eingestreute Informationen und Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen, wie zu Klappentexten, dem Standesdünkel bei der Beurteilung von Literatur, zu Autorenfotos, zum Niedergang der Zeitungen, zur Rolle des Internets und zur Schließung zahlreicher Büchereien – in nur 10 Jahren wurden 20 % aller britischen Büchereien geschlossen. Die Entwicklung der verbleibenden Büchereien zu sogenannten „community hubs“, bei denen es um alles Mögliche geht, aber nicht ums Lesen, findet er übrigens grundfalsch.

Sehr schön fand ich seine Liste an Adjektiven auf S. 100, die ihm schon jeden Klappentext verleiden. Ich musste mich sehr zurückhalten, um die hier nicht auch noch zu zitieren. 

Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen und seine Auseinandersetzung mit einzelnen Büchern sowie mit den Angry Young Men fand ich besonders prägnant und gelungen. Die weiteren Stationen auf dem Weg zum Journalisten und Schriftsteller waren dann – für mich – nicht mehr ganz so wichtig.

Natürlich erfahren wir, welche SchriftstellerInnen – meist Männer – seine Lesebiografie geprägt haben – nicht ungefährlich, weil man sich dann gleich wieder einige Bücher auf die eigene Leseliste setzen möchte – und eine Antwort auf seine Ausgangsfrage gibt es auch. 

I knew it as a child, as I do an adult – why I collect. I wanted to store up sufficient stuff, my stuff, so that tomorrow, next week or at some point in the future, near or distant, I could surround myself with it, submerge myself, become it. I am suspicious of anyone who doesn‘t feel the same way. How can they live so much in the now with no regard to a better, quieter, reflective, rainy day tomorrow – which is what a collection guarantees.  (S. 23)

Nachdem Hodkinson spaßeshalber ausgerechnet hat, dass er anscheinend seit seinem 13. Lebensjahr durchschnittlich 1,5 Bücher pro Woche gekauft hat, was ja dann doch gar nicht so viel sei, ist er mit sich und der Welt wieder im Reinen.

In fact, I am mystified how anyone can go through life and manage not to bring home 1.5 books per week. (S. 270)

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Maria Wellershoff: Von Ort zu Ort – eine Jugend in Pommern (2010)

Meine Aufzeichnungen sollen nicht nur ein kleiner persönlicher Beitrag sein, in dem ich mich bemüht habe, das eigene Schicksal mit der Zeit- und Kriegsgeschichte zu vernetzen, sondern sie sind auch eine Liebeserklärung an die verlorene pommersche Heimat, an Trieglaff und Vahnerow. (S. 11)

Zunächst tat ich mich schwer mit der spröden, oft eher nüchternen Erzählweise der Kunsthistorikerin und Lektorin, die möglicherweise auch daher rührt, dass die Erinnerungen erst sechs Jahrzehnte nach den Geschehnissen festgehalten wurden (auch wenn unzählige Briefe – vor allem an das ehemalige Kindermädchen Inga – und tagebuchartige Einträge in ihren Taschenkalendern als Gedächtnisstütze vorhanden waren).

Es war, als ob sich auch Maria Wellershoff (1922 – 2021; geborene von Thadden) erst an ihre Geschichte hat herantasten müssen, indem sie die Gebäude und Funktion der verschiedenen Räume von Schloss und Gutshof beschreibt, in denen sich ein Großteil ihrer Kindheit abgespielt hat.

Man sollte sich also von den ersten Seiten nicht abschrecken lassen, denn irgendwann springt der Funke über, sind doch die Lebenserinnerungen der Maria Wellershoff an ihre Kindheit und Jugend wie ein Fernrohr in eine gänzlich andere Welt, die durch die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg endgültig verschwunden ist. Ehrlich geschrieben, diskret, manchmal selbstironisch, nie larmoyant, mit einer Reihe Fotos, einem hilfreichen Stammbaum und einer Landkarte zum Nachschlagen der Ortsnamen.

Maria Wellershoff war eines der Kinder von Adolf Gerhard Ludwig von Thadden-Trieglaff (1858 – 1932, alter pommerscher Adel) und seiner zweiten,  Jahrzehnte jüngeren Ehefrau, der Lehrerin Anna Barbara Blank (1895 – 1972).

Maria erzählt von ihrer eher spartanisch-sparsamen Kindheit auf dem Schloss in Trieglaff und später auf dem Gut in Vahnerow. Kleider wurden von Schwester zu Schwester weitergereicht, das Geld war durchaus knapp in der Familie des adligen Landrats. Der Vater spielte schon aufgrund seines Alters keine nennenswerte Rolle im Leben Marias. Er scheint vor allem erpicht darauf gewesen zu sein, dass sich die sechs Kinder aus der „zweiten Serie“ im Haus leise verhielten, damit er nicht von Kinderlärm gestört wurde, schließlich hatte er bereits fünf erwachsene Kinder aus erster Ehe. Diese waren – ebenso wie die weitere Verwandtschaft – nicht besonders glücklich über Tadden-Trieglaffs zweite Eheschließung mit der fast 40 Jahre jüngeren Frau gewesen, war Stiefmutter Barbara doch in ihrem Alter. Und dazu noch eine Bürgerliche.

Wir lesen, dass die Kinder frühestens ab sechs Jahren mit den Eltern zu Mittag essen durften, wenn man davon ausgehen konnte, dass sie über passable Tischmanieren verfügten. Sprechen war nur erlaubt, falls man sie etwas gefragt hatte. Es verwundert nicht, dass später unzählige Briefe Marias eher an das ehemalige Kindermädchen und die spätere Freundin der Familie, Irmgard (Inga) Meyer, gerichtet waren, die 1928 mit 18 Jahren als ausgebildete Kindergärtnerin in die Familie gekommen war.

Man lud zu geselligen literarischen Abenden ein, ging auf die Jagd und Jungen wurden ganz selbstverständlich bevorzugt. Ihr Bruder Adolf bekam mit sieben Jahren ein Reitpferd, wie sich das für den Sohn des Gutsbesitzers gehörte. Doch er war daran gar nicht interessiert. Und nur deshalb kam Maria in den Genuss, ein eigenes Pony zu haben.

Mit den „einfachen“ Arbeitern oder gar deren Kindern im Dorf hatte man keinen Kontakt und Adolf und Maria wurden von der Pfarrersfrau im Pfarrhaus unterrichtet. Eine Schultüte gab es nur für den Bruder. Als Maria den etwas älteren Bruder beim Lernen einholte, wurden sie dennoch weiterhin getrennt unterrichtet, es wäre sonst möglicherweise für den Jungen ein Gesichtsverlust gewesen, wenn die Schwester rascher gelernt hätte.

Kindliche Beschäftigungen, die traumatische Entfernung der Mandeln (die Betäubung hatte nicht ganz ausgereicht), Besuche auf den Nachbargütern, Schwimmen im See, Scharaden, Handarbeiten (ganz wichtig, vor allem wenn die Herren vorlasen), Urlaube an der Ostsee in Kolberger Deep. Der Zusammenhalt der Schwestern.

Es geht mit diversen – eher trostlosen – Schul- und Internatserfahrungen weiter. Nach der Untertertia am Greifenberger Gymnasium der Wechsel in das Internat, das Freiadlige Magdalenenstift in Altenburg in Thüringen, in dem die jüngste Schwester des Vaters von 1908 bis 1932 Pröpstin war. Dort erwirbt Maria den Realschulabschluss.

Der erste Blick in den großen, kahlen Schlafsaal war bestimmt schockierend: ein weiß gekalkter, schmuckloser Raum mit zwölf oder dreizehn schwarzen Eisenbetten, auf denen weißes Bettzeug lag. In einer Ecke war ein Holzverschlag, das sogenannte Kabuff, abgeteilt, olivgrün gestrichen, mit undurchsichtigen Glasfenstern: der karge Schlafplatz für eine Lehrerin, deren Aufgabe es war, für Ruhe zu sorgen, den Mädchen das leise Schwatzen zu verbieten. (S. 158)

Jede Schülerin hatte einen vielleicht eineinhalb Quadratmeter großen Platz, auf dem ein Tischchen mit Schubfach für die Waschutensilien stand, darauf eine Blechschüssel, darunter eine ovale Fußwanne. Einen Schemel hatte man auch. Man konnte, wenn man sich wusch, graue, an Eisenstangen befestigte Vorhänge zuziehen, man tat es aber nicht (außer man hatte „seine Tage“), damit gegenseitige Kontrolle möglich war. Wenn sich ein schamhafter Neuling vor fremden Blicken schützen wollte, wurden die Vorhänge rücksichtslos von älteren Schülerinnen zur Seite gezogen. (S. 159)

Auch wenn in Marias Internatsklasse von den 26 Schülerinnen „nur“ fünf oder sechs im BDM waren: Der Antisemitismus der Nationalsozialisten trat immer deutlicher zutage. Trotz der Hausschneiderin musste hin und wieder auch Kleidung gekauft werden:

Konfektion wurde im Kaufhaus Löwenberg gekauft, dem einzigen größeren Textilgeschäft in Greifenberg. Als vor dem Kaufhaus ein großes Schild stand mit der Aufschrift ‚Kauft nicht beim Juden‘ – das war im April 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nazis – kümmerte sich unsere Mutter nicht darum, sie nahm mich an die Hand und ging mit mir in das Geschäft. Niemand hätte es gewagt, sie, die Frau Landrat, daran zu hindern. (S. 108)

Marias politisch liberal eingestellte Mutter war in ihrer konsequenten Ablehnung des Antisemitismus und ihrer kritischen Haltung gegenüber den Nazis für sie ein Vorbild. 1938 stellt die Mutter das Geld einer ihr aus England zugedachten Erbschaft zwei jüdischen Ärzten und deren Frauen als Bürgschaft zur Verfügung. Ohne diese Bürgschaft hätten die zwei Ehepaare nicht in die USA einreisen dürfen.

Eine wichtige Rolle bei Marias Ablehnung des Nazi-Regimes spielte sicherlich auch ihre Halbschwester Elisabeth von Thadden (1890 – 1944). Diese stand ebenfalls der Bekennenden Kirche nahe, war im Widerstand aktiv und wurde nach regimekritischen Äußerungen von dem Gestapo-Spitzel Paul Reckzeh denunziert, anschließend verhaftet und durch Freisler 1944 zum Tod durch Enthaupten verurteilt. Erst Monate später erfährt Maria, dass nicht die Gefängnisverwaltung ihr ein letztes Treffen mit Elisabeth verboten, sondern Elisabeth selbst ihren Besuch abgelehnt hatte.

Sie wollte nicht, dass ich sie in diesem demütigenden Zustand sähe: mit kurzgeschorenen Haaren, im gestreiften Sträflingskleid, abgemagert, mit eiternden und blutigen, von den Eisenfesseln aufgescheuerten Handgelenken. So sollte ich sie nicht in Erinnerung behalten. Wie hätte ich, einundzwanzig Jahre alt, auf diesen Anblick, auf den ich nicht vorbereitet war, reagiert? (S. 370)

Zwischen den Zeilen klingt dann noch mehr von der komplizierten Familienstruktur an. Wenn es beispielsweise heißt „Ado [Spitzname ihres Bruders Adolf], der wenig ältere Bruder, hat sich dem mütterlichen Einfluss früh entzogen.“ (S. 146), so ist das sicherlich auch eine Anspielung darauf, dass Adolf von Thadden nach dem Krieg in diversen rechtsextremistischen Parteien aktiv war und schließlich Bundesvorsitzender der NPD wurde.

Ihr Halbbruder Reinold von Thadden (1891 – 1976) hingegen trat der Bekennenden Kirche bei und war Gründer des Evangelischen Kirchentages.

Als Kriegsgefangene und später auch Zwangsarbeiter aus der Ukraine auf dem heimischen Gut einquartiert wurden, hat Marias Mutter dieser Aufgabe versucht, gewissenhaft und menschlich nachzukommen. Sie sorgte dafür, dass zwei ukrainische Frauen ihre Babys verstecken konnten anstatt sie bei einer NS-Dienststelle abzugeben.

Beim Einmarsch der russischen Truppen Anfang März 1945 haben sich die Ukrainer schützend vor unsere Mutter, Baba [Schwester Barbara] und das Hauspersonal gestellt. Den unbeliebten Inspektor gaben sie sofort ‚zum Abschuss frei‘. (S. 237)

In Berlin bereitet sich Maria auf ihre Abiturprüfung vor, nimmt Reitstunden und genießt die nach wie vor geöffneten Theater, Kinos und die Oper. Nach dem Abitur beschließt sie Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie zu studieren, zunächst in Freiburg, dann Leipzig, unterbrochen von Arbeitseinsätzen beim Arbeitsdienst.

Noch 1944 genießt man auf den pommerschen Gutshöfen Tanztees und isst Kuchen mit den Soldaten auf Heimaturlaub. Besonders schön, wenn man dabei nicht nur auf das Grammophon angewiesen war, sondern sich ein Pianist fand, der

sich an den Flügel setzte, den es in jedem Gutshaus gab, und die Walzer, Tangos und Foxtrotts spielte, temperamentvoll und laut. (S. 346)

Marias letzter Studienort während des Krieges ist – und ich war ein bisschen verblüfft – Prag, wo die tschechischen StudentInnen schon nicht mehr studieren durften, was sie zwar ungerecht und verwerflich findet, sie aber nicht von Prag abbringen kann, das sie als sicher empfindet.

Bei einem ihrer Ausflüge zusammen mit einer Freundin kommen sie am Konzentrationslager Theresienstadt vorbei.

Am Ortseingang wies ein großes Schild darauf hin, dass die Mindestgeschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern bei der Durchfahrt eingehalten werden muss. Der Grund: Niemand sollte bei langsamem Fahren Gelegenheit haben, sich das KZ genau anzusehen. (S. 359)

Den Zug von traurigen Häftlingen, der ihnen auf der anderen Straßenseite entgegenkommt, hat sie ihr Leben lang nicht vergessen.

Einige der bizarrsten Szenen des Buches, die den Irrsinn und die Verblendung des Nationalsozialismus in dieser Lebensgeschichte wie in einem Brennglas einfangen, spielen in Tschechien. Ein Professor in Prag will seine Studentinnen vor unsinnigen und den Krieg möglicherweise noch verlängernden Einsätzen in der Rüstungsindustrie  bewahren. Dafür bietet er ihnen z. B. zügige Dissertationsmöglichkeiten an. Maria und eine gute Freundin bekommen eine andere Aufgabe: Im Auftrag einer SS-Dienststelle sollen sie in beschlagnahmten und enteigneten tschechischen Schlössern Kunstobjekte, Möbel, kostbares Geschirr, Gemälde und Teppiche, inventarisieren. Auf dass die Enteigneten nicht etwa noch etwas von ihrem Eigentum mitnahmen. Und das alles noch bis ins Jahr 1945 hinein, als der Krieg längst verloren war. In einem der beschlagnahmten Schlösser hatten sich Offiziere und Soldaten wohnlich eingerichtet und übten mit den edlen Pferden des rechtmäßigen Besitzers sogar die „komplizierten Schritte der Wiener Hofreitschule.“ (S. 390)

Als die Front näher rückt, kann ihr Bruder Ado sie gerade noch rechtzeitig unter dem Deckmantel eines angeblichen militärischen Auftrags aus Prag herausholen. Die beiden Geschwister kommen kurzzeitig in amerikanische Gefangenschaft und treffen schließlich einen Großteil der überwiegend ausgebombten Familienmitglieder in Göttingen. Als Ado versucht, Schwester Baba und die Mutter aus Pommern herauszuholen, gerät er in polnische Gefangenschaft, aus der er erst ein Jahr später entkommen kann. Baba und die Mutter werden 1946 aus Pommern ausgewiesen. Deren Hoffnung, die Heimat für ihre Kinder zu erhalten, war damit endgültig gescheitert.

Nach der Ermordung unseres Bruders Gerhard am 2. Oktober 1945 im Wald bei Hannoversch-Münden und dem allmählichen Begreifen, dass die pommersche Heimat endgültig verloren war, habe ich nichts mehr notiert, nie wieder einen Taschenkalender besessen. (S. 19)

Nach Kriegsende setzt Maria von Thadden ihr Studium in Göttingen fort und lernt dort ihren späteren Mann, den Literaturtheoretiker und Schriftsteller Dieter Wellershoff, kennen.

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Heather Lende: If you lived here, I’d know your name (2005)

If you lived here, I’d know your name ist ein unvergleichliches Buch, das mir nicht nur die Stadt Haines in Alaska mit ihren ca. 2500 EinwohnerInnen auf die innere Landkarte geschrieben hat.

Lende, die ursprünglich aus New York stammt, aber mit ihrem Mann und zwei Hunden nach dem College irgendwie in Alaska hängengeblieben ist und seit 1984 in Haines lebt, hat in der dort einmal wöchentlich erscheinenden Lokalzeitung inzwischen über 400 Nachrufe geschrieben und war ebenfalls verantwortlich für die Duly Noted-Rubrik, wo so dies und das gesammelt wird, was in einer Kleinstadt des Erwähnens für wichtig erachtet wird. Beispiele dieser Duly Noted-Kurznachrichten finden sich zu Beginn eines jeden Kapitels.

Die Autorin hat mit ihrem Mann Chip fünf Kinder großgezogen, inzwischen vier Bücher geschrieben und in diversen Publikationen veröffentlicht. Und das, obwohl sie immer nur „around the edges of a busy life“ geschrieben hat. 2021 wurde sie zum Alaska State Writer Laureate ernannt.

Und nun zum Problem dieses hinreißenden Buches: Wie soll man den Inhalt beschreiben? Es geht in großen Kapiteln, die eher locker durch eine jeweilige Überschrift zusammengehalten werden, assoziativ, ziemlich unchronologisch und herrlich chaotisch mäandernd um das Leben in Haines, sehr nah dran an der eigenen Biografie, den Freunden und Nachbarn, aber auch an den Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, die die Autorin dann besucht, um die Nachrufe schreiben zu können.

Überhaupt ist das Leben in Alaska nicht ungefährlich, Menschen sterben auf der Straße, die kleinen Segelflugzeuge zerschellen am Berg; eine befreundete Familie ruft mitten in der Nacht an, das Fischerboot ihres Sohnes ist in einen Sturm geraten. Man möge bitte beten. Drei Menschen können gerettet werden, doch die Leiche des Sohnes wird nie gefunden.  Der Weg durch die Trauer, den die Mutter des jungen Mannes geht, wird auf nur einer halben, aber sehr eindrücklichen Seite erzählt.

Es geht darum, wie man die politischen Querelen zwischen strammen Republikanern und Liberalen aushält, die auch vor einem kleinen Ort wie Haines nicht Halt machen, um Umweltzerstörung und die Frage, ob die Schule nach miesen Mobbingvorfällen einen Workshop zu Homosexualität abhalten sollte, genauso aber auch um die Wunden und Traumata des indigenen Volkes der Tlingit, ihre Bemühungen, ihre Kultur zu leben, sie manchmal sogar erst wieder zu lernen.

Paul tells me he’s learning the Tlingit language so he can believe the stories of his people, not just know the plots. When he was young, missionaries and the government prohibited Alaskan natives from speaking their language and living traditionally. They often took Tlingit children from their homes and families, placing them in boarding schools as far away as Washington and Oregon. Now Paul is a grandfather and is committed to relearning  a way of living that he says is not lost but rather hiding, just below the skin. (S. 38)

Lende liebt ihre neue Heimat, die oft gefährliche und atemberaubend schöne Natur, das Joggen mit ihrem Hund, ihre Familie, das Räuchern der Fische, das Beerensammeln mit den anderen Frauen, bei dem man laute Musik spielt, um die Bären zu vertreiben, das Engagement von so vielen Menschen für das Gemeinwohl und unzählige Aktivitäten, die man hier vermutlich mit dem Etikett Ehrenamt versehen würde, dort aber wohl eher unter normaler Nachbarschaftshilfe verbucht. Sogar die Aufgaben des Bestatters werden von einem Ehepaar unentgeltlich übernommen. Man muss die beiden nur fragen.

Die Haustür wird nicht abgeschlossen, die Autoschlüssel bleiben stecken, die Tageszeitung ist nie aktuell, da sie erst eingeflogen werden muss. Eine Entbindungstation gibt es schon seit Jahren nicht mehr und ein entzündeter Blinddarm kann lebensbedrohlich sein, je nachdem, ob der Pass über die kanadische Grenze aufgrund der Schneefälle noch passiert werden kann.

Ihre zweite Tochter bekommt Lende während eines entsetzlichen Schneesturms. Die zukünftige Großmutter kommt extra angereist.

Mom had arrived from New York a few days earlier on a ferry coated with ice. The usual four-and-a-half-hour trip had taken nearly eight as northern gales kept the boat form moving at full speed. Mom was one of the few passengers who didn’t get sick. She also didn’t know it was dangerous at all. She’d never been on the ferry before and assumed it was always like that.

Nach nur fünf Stunden in der damaligen Krankenstation können Heather und Baby Sarah zurück nach Hause. Am nächsten Morgen moderieren Freunde von Heather eine Radiosendung.

… and they talked on air about the new Lende baby, telling listeners that her name was Sarah […] and her weight was eight pounds, two ounces. As for the state of the mother’s health: „I saw Heather shoveling the driveway today on my way to work,“ Steve said.

I thought my mother woud kill me. „He’s kidding, Mom,“ I told her. „It’s a joke.“ She was not amused. (S. 14)

Ebenso erfahren wir von Wohltätigkeitsbuffets, bei denen jeder mit Begeisterung viel mehr ausgibt, als er eigentlich wollte, um einer Familie finanziell unter die Arme zu greifen, die die teure medizinische Behandlung des Kindes nicht mehr allein stemmen kann. Und die Aufführungen der Laienspielgruppe, bei denen man wirklich alle Mitwirkenden kennt, bleiben Lende länger in Erinnerung als der Besuch des Musicals Cats in New York.

Lendes Arbeit als Verfasserin der Nachrufe, die auch mal zwei Zeitungsseiten lang sein können, bringt sie nicht nur mit den unterschiedlichsten Charakterern, Lebensentwürfen und Schicksalen zusammen, sondern konfrontiert sie natürlich auch mit Frage, wie Menschen auf den Verlust reagieren, worin sie Trost und Halt finden.

Aber genauso sinniert sie darüber, was es bedeutet, wenn ihr zehnjähriger Sohn zum ersten Mal mit seinem Vater auf die Jagd geht, und warum es ihr wichtig ist, dass ihre Töchter als Deckhands auf einem Fischerboot jobben, auch wenn sie weiß, dass das keine ungefährliche Aufgabe ist.

Das Besondere an diesem Buch ist neben der schieren Fülle an Geschichten aber vor allem der Blick der Erzählerin auf die Welt. Zurückgenommen, dezent selbstironisch und humorvoll. Warmherzig, dankbar, im Glauben geerdet, den Menschen zugewandt, bescheiden.  Zupackend und hoffnungsvoll.

Da wird mit der gleichen Selbstverständlichkeit davon erzählt, dass man ein Roma-Waisenmädchen adoptiert, wie davon, dass es gar nicht so einfach ist, zu Hause mal in Ruhe ein schönes Ei-Sandwich zu essen, da einem ständig Anrufe, spontane Gespräche und Aufgaben dazwischenkommen.

Wer wissen will, was ein Drache mit einem Feuerlöscher, der mit 25 Kilo Mehl gefüllt ist, mit Weihnachtsstimmung zu tun hat, muss das Buch nun trotz meiner wie immer ausufernden Inhaltsangabe doch noch selbst lesen. Ich jedenfalls, am Ende der 281 Seiten angekommen, könnte gleich wieder von vorn beginnen. Eine Wundertüte von Buch, das sowohl Kritiker als auch LeserInnen beglückt hat und dazu einlädt, unter anderem darüber nachzudenken, wo sich unser Leben fundamental von dem der Einwohner Haines‘ unterscheidet. Vermutlich ist das bei uns oft viel zersplitterter, vereinzelter und ego-bezogener.

Lende hingegen ist sich sicher:

It’s as if we are all moving through this world on a big old ship, holding on to one another as we cruise up the generous river of life. The water that floats us is always new, yet it flows in the same direction, over the same old sand. (S. 44)

Oder wie es an anderer Stelle heißt, an der Lende die Schriftstellerin Annie Dillard zitiert:

How we spend our days, of course, is how we spend our lives. (S. 85)

Einzig das Cover fand ich etwas dürftig, aber gut, das sollte niemanden abhalten.

Wer noch ein bisschen weiterstöbern möchte, könnte beispielsweise dem Hinweis zu Elisabeth Peratrovich nachgehen oder sich gleich auf dem Blog Lendes festlesen.

Geheime Welten: Deutsche Tagebücher aus den Jahren 1939-1947 (1999)

Der Filmregisseur und Autor Heinrich Breloer (*1942) hat in dem Band 281 aus der Reihe Die Andere Bibliothek Ausschnitte aus zwölf Tagebüchern zusammengestellt, die allesamt aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Wochen und Monaten des Kriegsendes.

Es ist eine intensive und auch spannende Geschichtsstunde, die uns hier vermittelt wird. Da steht die hellsichtige Abneigung eines jungen Schülers gegen den Nationalsozialismus neben den Fronterfahrungen des Soldaten und der Fanatismus einer gläubigen Hitleranhängerin neben der Sehnsucht einer jungen Frau aus sozialdemokratischer Familie nach dem baldigen Untergang des Terrorregimes. Gleichzeitig werden Kinoabende genossen, sich Sorgen um die Familie gemacht, es geht um die Bombardierung Hamburgs, die große Liebe, nervenaufreibende Jahre in heimlichen Verstecken, um nicht in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten, um Aufenthalte im Luftschutzbunker sowie um Fluchterfahrungen der Vertriebenen. Daneben Szenen unfassbarer Dämlichkeit und Grausamkeit; noch im allierten Gefangenenlager werden Deutsche von ihren Kameraden totgeschlagen, weil sie nicht mehr an den Endsieg glauben.

Die Tagebücher zeigen: Für viele war Hiter die legitimierte Lichtgestalt, solange die Siegesmeldungen kamen. Alle Propaganda-Begründungen für Krieg und Unrecht hatte man verinnerlicht. Erst die Niederlagen und der endgültige Zusammenbruch des Regimes erschüttern den Glauben vieler Deutscher an die Rechtmäßigkeit des Hitlerterrors. Ausgeblendet wurde alles, was den Kreis des eigenen Lebens überstieg.  So sagt sich manch einer innerlich in dem Moment vom „Führer“ los, als auch die eigene Familie in Deutschland vom Bombenhagel der Allierten getroffen werden konnte.

Wenn der Krieg in dieser Weise verlorengeht und wenn meine Familie dabei leidet, dann hasse ich Hitler von ganzer Seele, denn er hat das große Unglück in dieser Weise heraufbeschworen. (Kurt, S., in seinem Versteck in den Karpaten, S. 209)

Manch einer jammert dann noch über den unfairen Feind und die Unbelehrbaren fantasieren währenddessen bereits von einer neuen Dolchstoßlegende, vom schmählichen Verrat am tapferen deutschen Soldaten.

Die Meldung im Radio vom 1. Mai 1945 zum Tode Hitlers war mehreren der Tagebuch-Schreibenden eine Eintragung wert:

‚Der Führer Adolf Hitler ist heute nachmittag auf seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzuge kämpfend, für Deutschland gefallen.‘ Tot also. Schade. Er sollte doch noch arbeiten und wenigstens einige der Qualen ausstehen, die er Millionen von Menschen bereitet hat. (Erika S., aus sozialdemokratischem Elternhaus, S. 122)

Eine andere junge Frau, die ganz beglückt war, als das Attentat auf Hitler misslang, hält diesen Moment so fest:

Unser Führer, der uns soviel versprochen hat, hat erreicht, was noch kein deutscher Machthaber fertigbekommen hat, er hat ein völlig zerstörtes Deutschland hinterlassen, alle Menschen um Haus und Hof gebracht, aus ihrer Heimat vertrieben, Millionen sterben lassen, kurz ein entsetzliches Chaos erzielt. Und wieder müssen wir, das arme Volk, die Suppe auslöffeln. (S. 141)

Charlotte L., die noch am 22. April fest an den Endsieg glaubt, schreibt am 5. Mai 1945:

In diesen schwierigen Tagen hat sich unendlich Schweres für Deutschland zugetragen. Unser Führer war in Berlin und kämpfte selbst gegen den größten Feind der Deutschen, den Bolschewismus. Er fiel am 1. Mai für sein Volk. Ich wollte es nicht glauben. Unser geliebter Führer, der alles für uns, für Deutschland getan hat. Werden wir jemals ihm all die Jahren danken können! Wie wenige aber sind ihm noch treu auch über den Tod hinaus. Was ist der Deutsche nur für ein Mensch, daß er so unbeständig in seiner Meinung ist. Mir will es das Herz zerreißen, wenn ich sehe, wie die Menschen die Weltanschauung wechseln.

Hannelore S. schreibt am 30. Mai 1945:

Das Leben ist zu grausam. War all das Beten u. Bangen, das Bitten u. Hoffen, all die Opfer umsonst? […] Kann es einen Gott geben, der das alles so mit ansieht? Gott ist gerecht. Aber ist es gerecht, daß ein Volk, das alles geopfert hat, um zu leben, nur um zu leben und sauber bleiben zu dürfen, auf diese Weise untergehen muß? Es ist schwer, weiter Idealist zu sein u. nicht schlecht zu werden. (S. 269)

Es war aufschlussreich zu lesen, wie die Zivilbevölkerung auf das nahende Kriegsende blickte. Bei der Lektüre wird einem wieder bewusst, welche Illusionen, welch ideologische Verblendung und welcher Größenwahn damit zusammenbrachen, welche Ressentiments nach Kriegsende wohl weiterschwelten, welche Verrohung sich nun nicht mehr austoben durfte, aber auch welches Leid, welche Verluste und Alpträume noch traumatisch in der Generation meiner Großeltern weitergewirkt haben müssen.

Ich dachte im Bette darüber nach, daß ich wirklich nicht mehr leben möchte, wenn dieser Hitler mit seiner mörderischen Bande von Nationalsozialisten  endgültiger Sieger in diesem Ringen bleiben sollte. Ich möchte lieber sterben, als das erleben! (Heinrich S, 9. April 1941)

Am Ende wird aber auch deutlich, dass die schönen Worte aus dem Vorwort nicht stimmen. Auch Tagebuch-Schreibende sind verführbar, standhaft, feige, verblendet, fanatisch, hellsichtig, opferbereit, lernfähig und zur Reue fähig. So wie alle anderen Menschen auch.

Dennoch, wer seine verborgenen Gedanken aufschreibt, der ist für die große Anpassung ungeeignet. (S. 8)

Die große Frage bleibt: Was schützt den Menschen vor Ideologie, Verschwörungsmythen, Größenwahn?

Und Viktor Klemperer müsste man auch dringend mal wieder lesen…

Werner Schneyder: Krebs (2008)

Werner Schneyder, österreichischer Kabarettist, Autor, Box-Kampfrichter, Freund und Kollege von Dieter Hildebrandt, war über 40 Jahre mit seiner ersten Frau Ilse verheiratet, als diese die Diagnose Krebs erhielt. Zwei Jahre später, 2004, starb sie an Blasenkrebs, den auch diverse schwerste Operationen und eine Chemotherapie nicht aufhalten konnten.

Krebs ist – wie schon der Untertitel nahelegt – eine Nacherzählung dieser schwierigen Monate zwischen Diagnose und Tod. Dabei geht es zum einen um die Stationen, die die Erkrankte durchlebt, den ersten Sommer nach der ersten großen Operation, den sie noch in ihrem Haus am See verbringen und durchaus genießen kann, daran anschließend um die weiteren Krankenhausetappen, den allmählichen körperlichen Abbau. Zum anderen geht es darum, wie Schneyder, der gemeinsame Sohn, die Verwandten, die Freunde mit der Erkankung umgehen. Soll Schneyder auf Tournee gehen oder lieber daheim bleiben? Was mutet man der Kranken und sich selbst an Wahrheit zu? Wie verändert sich das Zusammensein? Wie verändert sich die Erkrankte? Was macht man mit der Hilflosigkeit, die man als Laie gegenüber den ärztlichen Entscheidungen oder Empfehlungen hat?

Jeder Versuch einer fairen Wertung ist für den Laien nicht möglich. Er kann glauben oder nicht. Er kann Ärzte sympathischer oder vertrauenswürdiger finden oder nicht. Was er nicht kann: beweiskräftig urteilen. (S. 62)

Nach der Lektüre ziehe ich leise meinen Hut. Schneyder (1937 – 2019) ist ein besonderes Buch geglückt.

Sprachlich wunderbar, zurückgenommen, treffend, auf den Punkt, zärtlich, lakonisch.

Das Abspielen von CDs ist gefährlich. Da kommt es zu schrecklichen Stellen. (S. 84)

Doch darüberhinaus ist es eben nicht nur ein Sich-von-der-Seele-Schreiben. Vielleicht das sogar am allerwenigsten. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst, z. B. damit, dass man als der Gesunde Gedanken hat, derer man sich schämt, wenn man beispielsweise in „triefendem Selbstmitleid“ badet oder schon mal überlegt, wie man später die Möbel stellen wird. Schließlich wird nicht nur der unheilbar Kranke, sondern auch der, der diesen Prozess begleitet, in eine unbekannte Umlaufbahn geschleudert, auf die einen nichts vorbereitet hat.

Doch gleichzeitig werden Fragen, und das war wohl eine der Hauptmotivationen für das Schreiben, an die Ärzte und ihr Selbstverständnis gestellt: Wieso stimmen diese sich nicht miteinander ab, wieso passieren hanebüchene Fehler in der Kommunikation zwischen den verschiedenen Abteilungen? Wieso wird auf Teufel komm raus operiert, bestrahlt und untersucht, wenn der Zeitgewinn von vielleicht drei Monaten durch die Nebenwirkungen gänzlich zunichte gemacht wird? Und warum ist Würde, auch wenn sie sich für jeden etwas anders darstellt, keine medizinische Kategorie? Und wieso wird noch physiotherapiert und mobilisiert, wo nichts mehr zu mobilisieren ist? Warum werden nicht rechtzeitig und ausreichend Schmerzmittel gegeben?

Ich habe den Eindruck, hier äußert sich ein medizinisches Prinzip, das offenbar verbietet, nichts zu tun. Das geht mir aber nicht ins Hirn, wenn sich therapeutische Vorschläge keine Sekunde lang mit der Chance auf Genesung oder Erleichterung verbinden. (S. 81)

Schneyder weiß natürlich auch um die Frage, ob es überhaupt legitim sei, einen so persönlichen Einblick in den Leidensweg seiner Frau zu geben. Er selbst gibt darauf an einer der Schlüssselstellen des Buches eine deutliche Antwort, die vor allem an die Adresse der Ärzteschaft geht.

Ich selbst habe diese 157 Seiten an keiner Stelle als voyeuristisch empfunden. Zum einen, weil man bei bestimmten Sätzen zunächst einmal Mitleid empfindet und weil Schneyder klarstellt, dass diese Krankheit in Kombination mit dieser Art der Behandlung eben den Sinn für das, was ausschließlich privat ist, gröblich verletzt.

Außerdem lese ich seine Schilderungen, die tatsächlich manchmal sehr intim sind, als etwas, das jeden von uns treffen kann, und als eine Erinnerung nicht nur an die Fragwürdigkeit mancher medizinischer Ansichten, sondern ebenso als Erinnerung an unsere Kreatürlichkeit und Fragilität, die uns auch dankbar und demütig machen kann.

Ein trauriges, trotziges, kluges, zorniges, ehrliches und sehr zärtliches Buch. Und eine Liebeserklärung sondergleichen.

Zweieinhalb Jahre, nachdem ich Schneyders Buch gelesen habe, lese ich, was Raymond Chandler anlässlich der Krankenhausaufenthalte seiner Frau in einem Brief vom Januar 1953 geschrieben hat:

Zu diagnostischen Zwecken ist eine Klinik mit ihren Spezialisten ja vielleicht ideal […], aber was man sonst dort bekommt, ist hartgesottene Effizienz, einen derart ausgeprägten Sinn für Eile, daß man seinen Arzt praktisch am Ärmel festhalten muß, wenn man ihn etwas fragen will. Es gibt keine Wärme, nichts Persönliches, kein Entgegenkommen, kein Gefühl für den Patienten als Individuum; oder wenn es ein solches Gefühl gibt, wird es nicht gezeigt.

aus: Frank MacShane, Raymond Chandler – eine Biografie, Diogenes, 1984 S. 352

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Maria Gräfin von Maltzan: Schlage die Trommel und fürchte dich nicht (1986)

Die Lebenserinnerungen der Maria Helene Françoise Izabel Gräfin von Maltzan, Freiin zu Wartenberg und Penzlin (*1909 in Schlesien; † 1997 in Berlin) sind eine hinreißende Lektüre.

Die herbe Maria Gräfin von Maltzan, auf Fotos meist mit einem Zigarillo in der Hand,  erzählt ihre oft abenteuerlich anmutenden Erinnerungen, ihre vielen Geschichten, ihre Erfolge und ihre Abstürze, so anschaulich, schnoddrig und  unsentimental, als säße sie mit uns am Tisch.

Was für eine Spannbreite gesellschaftlicher Erfahrungen sich hier in einer Person vereint: Kindheit als umsorgtes Komptesschen, bohemehaftes Studentenleben der Tiermedizin, Stationen in München, Afrikareise, Berlin, Widerstandskämpferin während der Zeit des Nationalsozialismus, Medikamentenabhängigkeit, Entzug der Approbation, mehrmalige Einweisung in die Psychiatrie, Sozialhilfe, Suizidversuch, nach Wiedererlangung der Approbation Tierärztin in Zirkussen, Zoos oder als Urlaubsvertretung, schließlich wieder in Berlin, wo sie die Hunde der Punks behandelt.

Ihre privilegierte Kindheit verbringt Maria Gräfin von Maltzan auf dem elterlichen Schloss Militsch in Schlesien, zu dem 12 Güter gehörten. Sie und ihre sechs älteren Geschwister werden selbstverständlich in gesellschaftliche Konventionen des Adels und Fertigkeiten wie Fremdsprachen, Fechten und Reiten (das erste Pferd bekam sie mit fünf Jahren) eingeführt. Sogar mit einer Waffe verstand sie umzugehen.

Auf Militsch war es Sitte, daß alle Kinder ab vier an der Familientafel aßen. Als ich dies dann auch endlich durfte, genoß ich es sehr, die Mahlzeiten mit den Erwachsenen einnehmen zu dürfen. Nur hatte die Sache einen Haken, unter dem ich zu leiden hatte. Es wurde nämlich bei uns – wie am kaiserlichen Hof in Berlin, wohin meine Eltern oft eingeladen wurden, sehr schnell serviert, und sobald Vater und Mutter das Besteck niederlegten, wurden sofort sämtliche Teller abgeräumt und der nächste Gang aufgetragen. Da ich die Jüngste war, wurde mir das Essen natürlich ganz zuletzt gereicht, wodurch ich immer zu kurz kam und bei dem Serviertempo nie richtig satt wurde. Eines Tages ertappte mich mein Vater dabei, wie ich noch nach Tisch stark vor mich hinkaute. Er zog mich in eine Fensternische und beförderte wortlos acht Scheiben Rehbraten aus meinen Backentaschen. (S. 13)

Ihren Vater liebt Maria sehr, dieser stirbt allerdings bereits 1921, damit endet die Zeit der behüteten Kindheit. Das Verhältnis zu ihrer Mutter wird immer auf gegenseitigem Unverständnis beruhen und schließlich in offene Ablehnung münden. Die Mutter empfindet ihre unkonventionelle Tochter, die sich schon früh für alle möglichen Tiere interessiert und gar Tierärztin werden will, als eher peinlich und aufmüpfig. Dass ihre Tochter auf diversen Internaten todunglücklich ist, kümmert sie wenig.

Bestimmte Werte, zu denen sie erzogen wurde, gelten für Maria ein Leben lang.

Mein zehnter Geburtstag brachte eine einschneidende Wende, denn von diesem Zeitpunkt an wurde ich mit „Sie“ angeredet, hatte dafür aber die Pflicht, wie meine älteren Geschwister, soziale Aufgaben wahrzunehmen. […] Für unsere Angestellten und Arbeiter gab es ein eigenes Altersheim, ein eigenes Siechenheim. Die Spielschule war ein Geschenk meiner Mutter nach einer Erbschaft, die auch für die Kosten der Kindergärtnerin aufkam. […] Mein Vater war jedenfalls ein sehr sozial denkender Mensch und erzog seine Kinder entsprechend. […] Zu den Selbstverständlichkeiten in den großen Herrschaften gehörte es auch, daß für begabte Kinder der Angestellten die gesamten Ausbildungskosten für eine höhere Laufbahn bezahlt wurden. Das ging soweit, daß jemand auf Kosten eines jüdischen Landbesitzers katholische Religion studieren konnte.

Wenn einer von unseren Leuten krank wurde, erfuhren wir dies durch den jeweiligen Inspektor, und dann war es Sache der Kinder, sich um die Betreffenden zu kümmern. Mit unseren Pferden und Wagen fuhren wir sie zum Arzt oder gegebenenfalls ins Krankenhaus, wo es eine bestimmte Zahl von  Betten gab, die uns gehörten. (S. 33)

Als der Vater beispielsweise von Maria erfährt, dass der Hof der Eltern eines Kindermädchens durch eigene Schuld in Brand geraten ist und die Versicherung den Schaden nicht übernehmen wird, fragt er seine Tochter, wie viel sie auf der Bank habe.

„Die zweihundert Mark holst du ab und gibst sie Bertha, die jahrelang deinen Dreck weggemacht hat. Man steht für seine Leute gerade.“ (S. 33)

Trotzdem zeigt sich schon in der Kindheit, dass sie und ihr einziger Bruder Carlos unterschiedliche Wertvorstellungen haben, was dann während der Zeit des Nationalsozialismus dazu führt, dass sie auf politisch entgegengesetzten Seiten stehen.

Von Anfang an reagiert sie allergisch auf die Rattenfänger der Nazis. Ostern 1933 reist sie deprimiert nach Hause.

Nach meiner Ankunft im Schloß ging ich sogleich in den Grünen Salon, wo wir nachmittags alle gemeinsam Tee zu trinken pflegten. Mein Bruder saß dort in Nazi-Uniform. ‚Du bist wohl vom Fasching übriggeblieben‘, sagte ich zu ihm und nahm an, er würde dies mit Humor auffassen. Doch weit gefehlt! Wie von der Tarantel gestochen, schoß Carlos wütend hoch und machte mir eine entsetzliche Szene.

Es kommt zum Bruch zwischen den Geschwistern,  er verweigert die weitere finanzielle Unterstützung seiner Schwester, die daraufhin beginnt, in München journalistisch tätig zu werden und so erste Kontakte zum Widerstand knüpft. Um ihre klammen Finanzen aufzubessern, arbeitet sie außerdem als Reitdouble beim Film und kümmert sich um die Pferde reicher Leute.

1933 promoviert sie in Naturwissenschaften, doch da ihre regimefeindliche Haltung, ihre Kontakte zu Kommunisten und Juden kein Geheimnis sind, kann sie nicht auf eine Festanstellung hoffen. Sie wird mehrmals von der Gestapo vorgeladen und als das Pflaster ein wenig zu heiß wird, begibt sie sich im Januar 1934 auf eine sechsmonatige Afrikareise.

Sie heiratet, geht mit ihrem Mann, dem Kabarettisten Walter Hillbring nach Berlin, die Ehe scheitert schon kurze Zeit später. Auch in  Berlin hat sie Kontakte zu  Widerstandsgruppen der katholischen und schwedischen Kirche. Immer wieder versteckt sie Untergetauchte, seien es Kommunisten oder Juden, in ihrer kleinen Wohnung, organisiert Dokumente, einmal wird sie sogar beordert, eine ältere jüdische Dame schwimmend über den Bodensee zu geleiten, sodass diese in der Schweiz untertauchen kann.

Am Morgen ihres Geburtstages im März 1939 erschienen bei Lulu [ihrer Freundin] zwei SS-Leute mit einem Paket und überreichten es ihr mit den Worten: ‚Das ist von Ihrem Mann.‘ Erfreut nahm sie es in Empfang. Als sie es öffnete, hielt sie seine Urne in den Händen. (S. 126)

Im Frühjahr 1944 versucht sie bei ihrem letzten Aufenthalt in Militsch ihre seit 1940 verwitwete Schwägerin davon zu überzeugen, wenigstens die Kunstschätze des Schlosses in Sicherheit zu bringen. Die empörte Schwägerin wirft ihr Defätismus vor.

Den Verlust meiner Heimat habe ich nie verwunden. Ich hing mit jeder Faser meines Wesens an Militsch. Ich liebte das Land, das Schloß und alles, was dazugehörte. Obwohl mir in späteren Jahren vielfach die Gelegenheit geboten wurde, Militsch wiederzusehen, habe ich darauf verzichtet. Mein Zuhause in Schlesien trage ich lieber als unberührte Erinnerung tief in meinem Herzen. (S. 219)

Ihre Aktivitäten im Untergrund nehmen zu, sie hilft dabei, Untergetauchte aus der Stadt zu bereitstehenden Fluchtwaggons zu bringen. Zum Glück liebt sie Hunde und ihre Bullterrier retten ihr vermutlich mehr als einmal das Leben. Man geht davon aus, dass sie ca. 60 Menschen das Leben gerettet hat.

Sie heiratet noch zweimal, und zwar den jüdischen Literaten Hans Hirschel, den sie während des Krieges in ihrer kleinen Wohnung versteckt hält. Diese erste Ehe hält nur zwei Jahre. 1972 heiraten die beiden erneut. Auch die Kapitel über die unmittelbare Nachkriegszeit sind überaus spannend und ziemlich bunt.

Was mir allerdings zu kurz kam, waren die Beziehungen zu ihrer Familie. Und über ihre Talkshow-Auftritte nach dem Erscheinen ihrer Erinnerungen habe ich leider auch nichts weiter gefunden. Ihr Buch diente zwar als Vorlage für einen Film, doch schon ein Foto der Schauspielerbesetzung erstickte jegliches eventuelles Interesse meinerseits. Abschließend stellt sich nur die Frage, warum es denn in alles in der Welt keine Biografie zu dieser Frau gibt. So ein Leben hat weit mehr als diese – lesenswerten – 277 Seiten verdient.

Der Titel ihrer Erinnerungen ist übrigens der ersten Zeile des Gedichts Doktrin von Heinrich Heine entnommen.

Hier noch ein Artikel zu der Gräfin vom Deutschlandfunk.

Eva Sternheim-Peters: Habe ich denn allein gejubelt? (1987/2015)

Diese 780 Seiten verlangen dem Leser, der Leserin nicht nur einiges in Bezug auf den Umfang des Buches ab, sondern auch inhaltlich. Doch diese Geschichtsstunde lohnt sich.

Die 1925 in Paderborn geborene Lehrerin, Dozentin und Autorin Eva Sternheim-Peters veröffentlichte bereits 1987 Die Zeit der großen Täuschungen. Mädchenleben im Faschismus. Doch niemand interessierte sich so recht dafür. 2015 erschien im Europa Verlag die um zwei Kapitel erweiterte und überarbeitete Neuauflage unter dem Titel Habe ich denn allein gejubelt? Eine Jugend im Nationalsozialismus, die wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhielt. Der Anspruch:

Habe ich denn allein gejubelt? ist keine Autobiografie, sondern ein subjektives Geschichtsbuch, in dem zwei Jahrzehnte deutscher Innen- und Außenpolitik mit Erinnerungen, Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen eines Kindes, einer Heranwachsenden und ihrer Umwelt belegt, politische und menschliche Verhaltensweisen damaliger Zeitgenossen weder gerechtfertigt noch entschuldigt, sondern nachvollziehbar dargestellt werden. (S. 16)

Die in einem Beamtenhaushalt aufgewachsene Sternheim-Peters umkreist ihre ersten zwanzig Lebensjahre und versucht sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie es sein konnte, dass sie und Millionen anderer mit Liebe und kritikloser Hingabe an Volk, Führer, Vaterland und Partei glaubten, ohne dabei je den Eindruck gehabt zu haben, einer Diktatur anzuhängen. Selbst der „Heldentod“ der zwei geliebten Brüder im Krieg,  der dem so friedliebenden Deutschland ja nur aufgezwungen worden sei, brachte das ideologische Kartenhaus zunächst nicht zum Einsturz.

Für diesen Jahrgang [1925] und für wenige benachbarte Jahrgänge waren die zwölf Jahre des ‚Tausendjährigen Reiches‘ besonders lang, da sie erlebnisstarke Kindheits- und Jugendeindrücke prägten, die sich nicht ohne Identitätsverlust von der Person abtrennen und auf den Müllhaufen der Geschichte werfen lassen. (S. 17)

Und so schreibt hier eine, die weder bereit ist, ihre Jugendjahre als begeisterte und gläubige Jungmädelführerin von sich „abzutrennen“, noch die Augen verschließt vor dem, was sie nun als erwachsene Frau über den Nationalsozialismus, seine grauenhaften Verbrechen und nicht zu zählenden Opfer gelernt und verstanden hat. Sowohl die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit als auch das Sich-noch-rasch-zum-Widerstandskämpfer-Stilisieren vieler ihrer Zeitgenossen nach dem Kriegsende widern sie an.

Sie jedoch will verstehen, wie es dazu kommen konnte.

Ich bin nicht mitgelaufen. Ich bin begeistert mitgestürmt.

Und das Traurige: Auch der Leser/die Leserin kann es nach der Lektüre in großen Teilen nachvollziehen und verstehen. Bedrückend, wie schon die frisch Eingeschulte den Abscheu vor „Juden“ verinnerlicht hat, obwohl eine ihrer Tanten sogar einen jüdischen Mann geheiratet hatte.  Wie lange sich die Illusion der Autorin gehalten hat, dass Deutsche grundanständig seien und charakterlich und kulturell himmelweit über anderen Völkern stünden. Beklommen liest man:

Große, unvergessliche Erlebnisse der Heranwachsenden sind nicht von der Hitlerjugend zu trennen: der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald in Colmar, das Straßburger Münster, die Wartburg bei Eisenach, das Goethe-Haus in Weimar, der Schleswiger Dom, der Hamburger Hafen, die Brunnen im Oberelsass und die bunten Fachwerkdörfer des Thüringer Waldes, der Gletscherfirn der bayrischen Alpen und die rot glühend vor den kieferbewachsenen Kreidefelsen der Ostsee im Meer versinkende Sonne. (S. 274)

Damit man in der Stofffülle nicht den Überblick verliert, beginnt jedes Kapitel in der Kindheit und geht von dort chronologisch bis zum Kriegsende oder auch darüber hinaus.

Die Kapitelüberschriften lauten

  1. Zwischen den Kriegen
  2. Volksgemeinschaft
  3. Hitlerjugend
  4. Frauen
  5. Antisemitismus
  6. Eugenik – Euthanasie – Rassismus
  7. Terror und Widerstand
  8. Freunde und Feinde [Sicht auf die anderen Länder]
  9. Front und Heimatfront [Kriegsjahre]

Darüberhinaus ist das Buch natürlich doch auch ein Geschichtsbuch: Man bekommt noch einmal eine nachdrückliche Nachhilfestunde darin, wie geschickt die Nationalsozialisten darin waren, weiten Bevölkerungskreisen genau das zu geben und zu sagen, was diese haben und hören wollten. Und wie unproblematisch sie an bereits bestehende Ressentiments gegenüber Juden und Kommunisten anknüpfen konnten, im streng katholischen Paderborn damit zum Teil weit offene Türen einrannten.

Gebet für den Führer

Herrgott, steh dem Führer bei, daß sein Werk das Deine sei.

Daß Dein Werk das Seine sei, Herrgott, steh dem Führer bei!

Herrgott, steh uns allen bei. (Hermann Claudius)

E. lernte das ‚Gebet für den Führer‘ als 15-Jährige auf einem Singeleiterlehrgang der Obergauführerinnenschule und auch, dass der Text von Hermann Claudius, dem Urenkel des ‚Wandsbeker Boten‘, stammte. Matthias Claudius galt mit seinem ‚Der Mond ist aufgegangen‘ als ein Vetreter der deutschen Innerlichkeit und des deutschen Gemüts. Dass sein Urenkel sich nun ‚zum Führer bekannte‘, erschien der Heranwachsenden ein weiterer Beweis dafür, dass die deutsche Kultur bei der NS-Regierung in besten Händen war. (S. 217)

Aber auch das ist die Wahrheit: Schon die Achtjährige litt schmerzlich darunter, dass der Führer so durchschnittlich, ja eigentlich dämlich aussah. […] Natürlich vertraute sie niemandem an, dass der Führer eigentlich dämlich aussah. Nicht aus Angst! Sie schämte sich dieses Eindrucks. Liebe und Verehrung durften sich doch nicht an Äußerlichkeiten stören! Es kam schließlich auf den Wert des Menschen an. (S. 218/219)

Das Buch hätte – Umfang hin oder her – einen ausführlichen Anmerkungsapparat verdient; beim Recherchieren, wozu einen dieser Wälzer immer wieder verleitet, bin ich auf einige Ungenauigkeiten gestoßen. So wird beispielsweise versäumt anzumerken, dass der Vers in dem ohnehin ziemlich kriegslüsternen Gedicht „Heilig Vaterland“ (1914) von Alexander Rudolf Schröder ursprünglich lautete: ‚Der Kaiser hat gerufen.‘ Die Umdichtung zu ‚Der Führer hat gerufen‘ stammt nicht von Schröder, sondern von Heinrich Spitta (1936).

Auch nennt die Autorin einen in Paderborn aufgewachsenen Kriegsverbrecher Anton Kleer, der eigenhändig „circa 20.000 Menschen mit einer Phenolspritze“ getötet habe. Doch Hinweise auf einen Anton Kleer habe ich bis jetzt nicht gefunden, aber auf einen Josef Klehr.

Aber dieses Manko fällt angesichts der unglaublichen Materialfülle an zeitgenössischen Zitaten, Zeitungsausschnitten und Schilderungen des ganz „normalen“ Alltags nicht wirklich ins Gewicht. Dazu kommen Liedtexte, Hitler-Gedichte, Bekanntmachungen, Familienereignisse, Anekdoten, Kinofilme, Reflexionen und Analysen (denen man nicht immer zustimmen muss) sowie eine schier unfassliche und überaus anschauliche Erinnerungsarbeit der Autorin.

Die Leserin sieht, dass man, wenn man vergnügt und überzeugt wie ein Fisch im Wasser im großen Strom mitschwimmen konnte, alles Unliebsame – war war mit den Kindern des jüdischen Waisenhauses eigentlich passiert? – einfach ausblenden konnte, ja es überhaupt nicht einmal wahrnahm.

Ausnutzung des jugendlichen Idealismus, spürbare materielle Verbesserungen durch Abnahme der Arbeitslosigkeit, Führergläubigkeit, Opferbegeisterung, schöne Reisen, Fahrten, Gesang und organisierte Freitzeitbeschäftigungen und das künstlich erzeugte Bewusstsein, einer auserwählten Gruppe, einem auserwählten Land anzugehören sowie fehlende Gegeninformationen gingen eine nicht mehr aufzulösende Verbindung ein, bis zum bitteren Ende. Dazu kam die Tatsache, dass eben auch alle relevanten Autoritäten im Hause Peters, die Eltern, die Schulbücher, Lehrer, die Priester, Bischöfe und Schriftsteller dem System seinen Segen gaben.

Das Buch hat mir wesentliche Aspekte dieser Zeit erklärt, nachvollziehbar gemacht, dabei nichts entschuldigt, nichts oder nur wenig beschönigt, auch wenn man an der ein oder anderen Stelle gern mit der Autorin in ein Gespräch eingetreten wäre. Letztlich ist hier eine Gratwanderung gelungen, die nur durch die radikale Selbstbefragung und Ehrlichkeit der Autorin möglich geworden ist. Diese hat sich im Grunde selbst „entnazifiziert“.

Es hilft wenig…

Es hilft nichts …

Es ist geschehen, im Namen des deutschen Volkes.

Es ist geschehen, im Auftrag des Mannes, den E. verehrt und geliebt hat.

Es ist geschehen, im Namen einer Weltanschauung,

mit der sie sich alle Jahre ihrer Kindheit und Jugend im Einklang fühlte.

Es ist geschehen in ihrem Namen. (S. 279)

Hätte ich dieses Buch vor 30 oder 35 Jahren gelesen, dann wären die Gespräche mit meiner Großmutter, in denen ich sie nach ihrem Erleben der Nazi-Diktatur befragte, vermutlich fruchtbringender gewesen. Dafür ist es jetzt leider zu spät. Doch das Buch Sternheim-Peters bringt in gewisser Weise auch meine Großmutter noch einmal zum Reden. Ich beginne zu ahnen, was sich hinter ihren trotzigen Abwehrreaktionen, ihrem Schweigen, ihrem Sich-Zurückziehen, dem irgendetwas von Autobahnen-Bauen-Stammeln verborgen haben mag. Und ich verstehe, dass ich mit meiner Überheblichkeit und Rechthaberei, die ja oft auch nur dem Nichtbegreifen, der Fassungslosigkeit angesichts des Grauen geschuldet waren, genau jenes Gespräch verunmöglicht habe …

Hier noch ein Artikel, der zeigt, wie sehr dieses Buch von der Öffentlichkeit vernachlässigt und ignoriert wurde. Ich halte es, wenn man versucht, diese Zeit zu verstehen, für genauso wichtig wie die Tagebücher Victor Klemperers.

Dieser Artikel beschreibt, dass der Erfolg der Neuauflage zumindest noch zu Lebzeiten der Autorin stattfindet, auch wenn diese sich den Erfolg 30 Jahre früher gewünscht hätte, denn dann hätte sie noch eine große Lesereise unternehmen können.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Thomas Mann, welches Habe ich denn allein gejubelt? vorangestellt ist:

Man soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, dass der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren Investierung von Glauben und Begeisterung war.

Tagebucheintrag von Thomas Mann, 17. Juli 1944 (aus: Thomas Mann, Tagebücher 1944-1966, S. Fischer, 2003)

Dieter Wellershoff: Der Ernstfall (1995)

Ursprünglich nur zur Hand genommen, um zu überprüfen, ob das Buch, das jahrelang im Regal der ungelesenen Bücher geschlummert hat, nun das Haus in Richtung öffentlicher Bücherschrank verlassen sollte, habe ich mich doch festgelesen in den autobiografischen Kriegserinnerungen von Dieter Wellershoff, die 1995 unter dem Titel Der Ernstfall: Innenansichten des Krieges veröffentlicht wurden.

Warum wieder zurückblicken nach fast einem halben Jahrhundert? Was suchte ich? Was erwartete ich zu finden, als ich mich Ende März 1994 auf den Weg nach Bad Reichenhall machte, wo ich den Kriegswinter 1944/45 im Lazarett verbracht hatte? Meine chronisch erkrankten Nasennebenhöhlen zu kurieren, war das praktische Ziel meiner Reise. Doch zugleich und vielleicht sogar vor allem war es für mich eine Reise in die Vergangenheit. (S. 11)

Obwohl zum Zeitpunkt des Schreibens die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges schon Jahrzehnte zurückliegt, gelingt es Wellershoff über weite Strecken die Leser mitzunehmen in seine Erinnerungen und Reflexionen. Formuliert in seiner präzisen, manchmal ein wenig spröden Sprache.

Vieles, was heute schwer verständlich ist und deshalb oft rasche, schematische Urteile herausfordert, bedarf genauerer Beschreibung. Zum Beispiel die Tatsache, daß ich, wie die meisten meiner Klassenkameraden, mit siebzehn Jahren als Freiwilliger in den Krieg zog, obwohl, trotz der Schönfärberei der Wehrmachtsberichte, sich seit Stalingrad immer deutlicher abzeichnete, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Kriegsbegeisterung, wie ich sie noch in den ersten Kriegsjahren als Schüler empfunden hatte, war das nicht. Auch keine fanatische Opferbereitschaft, sondern eher eine noch fortbestehende patriotische Konvention, gegen die man, da das zu gefährlich war, auch im Gespräch unter Freunden keine Argumente entwickelt hatte. Man tat es, weil es üblich war, konnte aber die heimlichen Befürchtungen und fatalistischen Perspektiven vor sich selbst nicht mehr dauerhaft verdecken. Ich zog in diesen Krieg mangels einer Alternative und ohne Illusionen, aber mit einem vagen Pflichtgefühl, das im Grunde eine Solidarität gegenüber all jenen war, die es auch getan hatten, und gegenüber den vielen, die gefallen waren. Dieses Zugehörigkeitsgefühl war brüchig. Aber es war noch nicht ganz aufgelöst. Beigemischt war dieser Haltung auch ein jugendliches Bedürfnis nach Bewährung und ein wachsender Überdruß an der Schule, die uns vor dem Hintergrund des Krieges als ein unauthentischer Ort erschien, an dem man nicht erwachsen werden konnte. (S. 22)

So lesen wir nicht nur von Erschießungskommandos in Tegel, für die sich die Soldaten freiwillig meldeten, und dem grauenvollen Alltag und Verrecken der Soldaten an der russischen Front, sondern erfahren auch, wie Wellershoff im Nachhinein das Informationsvakuum einschätzt, in dem sich die deutschen Soldaten befanden.

Als Görings Vorschlag, den militärischen Gruß durch den Hitlergruß zu ersetzen, von Hitler gebilligt und verbindlich angeordnet wurde, fanden das viele Berufsoffiziere ganz schrecklich (als ob es darauf noch angekommen wäre) und der Oberleutnant

machte diesen Gruß in einer Weise vor, als wolle er damit die Bedeutung ausdrücken, die dem Nazigruß im Volksmund untergeschoben wurde: ‚So hoch liegt der Schutt in Berlin.‘

Besonders interessant fand ich die Ausschnitte aus zeitgenössischen Quellen, aus denen Wellershoff zitiert.

Als Walter Schellenberg, damals Chef des deutschen Geheimdienstes, Göring 1942 ein Dossier über die Produktionskapazität der amerikanischen Stahlerzeugung und der amerikanischen Rüstungsindustrie […] vorlegte, gab ihm Göring das Papier mit der Bemerkung zurück: ‚Alles, was Sie da geschrieben haben, ist Quatsch. Sie lassen sich am besten auf Ihren Geisteszustand untersuchen.‘ […] Der gleiche Vorgang wiederholte sich Anfang April 1945, als General Gehlen […] einen Bericht über die sowjetische Rüstungsindustrie vorlegte. Hitler nannte die ermittelten Produktionszahlen ‚übertrieben, defaitistisch, ja idiotisch‘ und ließ Gehlen ablösen. (S. 149)

Hübsch fand ich auch die Anmerkung, dass

ein von Himmler beauftragter Astrologe für das Jahr 1945 eine deutliche Besserung der militärischen Lage Deutschlands vorausgesagt [hatte]… (S. 151)

Gegen Ende des Buches macht Wellershoff sich Gedanken darüber, wie man, wenn überhaupt, aus der Geschichte lernen kann. Selbstgerechte Schuldzuweisungen von moralisch einwandfreier Warte, bei denen man von vornherein unreflektiert davon ausgeht, dass man selbst nie auf Hitler oder irgendwelche anderen mörderischen Ideologien hereingefallen wäre oder hereinfallen würde, gehen laut Wellershoff am Kern der Sache vorbei und sind ihm eher ein Zeichen unbewusster Abwehr.

Nicht jeder ist sicher genug, um sich ungeschützt den Schwindelgefühlen abgründiger Erkenntnisse über die Wirrnisse und Schrecken des Menschenmöglichen auszusetzen.

Heute denke ich, daß es notwendig ist, immer wieder zum Individuellen vorzudringen. Man muß nach den lebensgeschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Verhaltens fragen. ‚Wovon bist du ausgegangen? Was hast du gewußt und was hast du gedacht? Was hast du getan und was für Folgen hat es gehabt? (S. 272)

Den Krieg hat Wellershoff als für sein ganzes späteres Leben als prägend erfahren, u. a. dahingehend, dass ihm kollektive Identitäten von nun an suspekt waren, da sie sich doch immer wieder als mörderische Wahngebilde entpuppen. Die daraus resultierende „weltanschauliche Obdachlosigkeit“ habe er als Glück, als „geschenkte Freiheit“ erlebt.

Außerdem verdanke er dem Krieg

die Einsicht in die Zufälligkeit meiner Existenz. (S. 289)

Darüber hinaus blieb eine gewisse Skepsis, was die menschliche Natur angeht:

Ich will daraus nicht ableiten, daß man mit Menschen alles machen kann. Aber ihr Sinn- und Glaubensbedürfnis, ihr Wunsch nach Anerkennung und Zusammengehörigkeit und vor allem ihr Angewiesensein auf den Schutz der Gesellschaft macht sie zu einem extrem formbaren Material. Nicht nur die vergangenen Kriege, auch die terroristischen Fanatismen unserer Tage beweisen es. (S. 280)

Und drittens blieb für Wellershoff, der 2018 in Köln verstarb, eine

unaufhebbare Fassungslosigkeit über das sechs Jahre dauernde Massenschlachten und seinen finstersten und innersten Bereich: die Todesfabriken der deutschen Konzentrationslager.

Der Autor, für den Literatur immer ein Simulationsraum war, in dem die LeserInnen Erfahrungen machen können, ohne sich dabei selbst in Gefahr zu begeben, wurde zwar 1925 geboren und damit 21 Jahre nach meinem Großvater, dennoch habe ich die Erinnerungen Wellershoffs auch ein bisschen als Ersatz für die nicht stattgefundenen Gespräche in meiner Familie lesen können.

Lesenswert sind auch die Erinnerungen seiner Frau Maria Wellershoff (1922-1921), die 2010 unter dem Titel Von Ort zu Ort – eine Jugend in Pommern erschienen sind.

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Ahmet Toprak: Auch Alis werden Professor (2017)

Von Ahmet Toprak, einem Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund, stammt der autobiografische Rückblick Auch Alis werden Professor: Vom Gastarbeiterkind zum Hochschullehrer (2017).

Abgesehen von einem unendlich drögen Cover, das mich beinahe vom Kauf abgehalten hätte, fing das schmale Buch sehr vielversprechend an.

Mein Vater meldet sich 1967 in Ankara in einem Anwerbebüro und wird medizinisch untersucht. Es ist damals üblich, dass die Arbeitswilligen von deutschen Ärzten und Krankenschwestern […] auf Herz und Nieren gecheckt werden. (S. 16)

Topraks Eltern stammen aus einem zentralanatolischen Dorf.

Im Winter ist das Dorf mit 150 bis 200 Einwohnern für mehrere Monate von der Außenwelt abgeschnitten. In den Häusern gibt es weder fließendes Wasser oder Strom. […] Zum Kartenspielen und Einkaufen müssen die Bewohner in die fünf Kilometer entfernte Kreisstadt laufen. Autos oder Busverbindung gibt es damals nicht. Viele im Dorf sind miteinander verwandt oder verschwägert. Alle kennen sich, alle helfen sich. Aber auch die soziale Kontrolle ist enorm.

Als der Vater sich zu einem Gastarbeiterdasein in Deutschland entscheidet, hat er bereits vier Kinder. Der Autor und ein weiterer Bruder werden erst später geboren. Der Vater findet Arbeit bei den Ford-Werken in Köln. Niemand erwartet dort von den Türken, dass sie Deutsch lernen. Selbst als man nicht mehr davon ausgeht, dass die türkischen Arbeiter in ihre Heimat zurückgehen – es hat sich als viel zu uneffektiv erwiesen, die meist ungebildeten Arbeiter im Rotationssystem immer wieder neu einzuarbeiten -, ist es für die Firma einfacher (und günstiger), einem Vorarbeiter genügend Türkisch beizubringen als der ganzen Hallenbelegschaft Deutsch.

Leider spielen die Eltern danach nur noch eine sehr vage Rolle. Irgendwann lässt der Vater seine Frau nachkommen, doch der Sohn Ahmet wird erst mit 10 Jahren nach Deutschland geholt. Das Brüderchen, das inzwischen in Deutschland geboren wurde, bekommt den Spitznamen „Made in Germany“ verpasst.

Ahmets erste Erfahrung in Deutschland ist ein freilaufender Hund, der in einem Park auf ihn zustürmt. Der Besitzer versteht die Angst des Kindes nicht und wiederholt immer nur den Satz „Der will nur spielen.“

Es folgen positive und negative Schulerfahrungen. Als es darum geht, was Ahmet nach der Hauptschule anfangen soll, plädiert der Vater für eine solide Schlosserlehre. Doch Ahmet kann sich nichts Schlimmerers vorstellen und ringt seinem Vater einen Deal ab. Er geht zurück in die Türkei. Sollte er dort das Abitur nicht schaffen, käme er zurück und würde sogar eine Dachdeckerlehre machen, was ihnen als Inbegriff unattraktiver Arbeit erschien.

Er lernt neu das autoritäre Schulsystem in der Türkei kennen, in dem kritisches Diskutieren und einem Lehrer zu widersprechen, als unerhört galten.

Er schafft das Abitur, beginnt ein Studium in Ankara, wird irgendwann wieder zurück nach Deutschland beordert, das er durchaus vermisst hat, und nach einigen Irrungen und Wirrungen findet er seinen Platz im Pädagogikstudium.

2001 erfolgt die Promotion und 2007 schließlich die Ernennung zum Professor.

Das Buch krankt für mich an der Kürze (168 sehr großzügig gesetzte Seiten). Dass die Schwester gegen ihren Willen irgendwann wieder in die Türkei geschickt wird, wird zwar damit kommentiert, dass die Schwester sehr „niedergeschlagen“ gewesen sei, doch innerhalb des Buches gibt es keine Auseinandersetzung mit dem Erziehungsstil oder dem Frauenbild der Familie.

Auch dass die eigenen Eltern nicht an seinen Bildungsaufstieg glauben, wird nur sehr am Rand abgehandelt. Sie halten es für für pure Überheblichkeit, als er sich auf eine Professur bewirbt.

Der bewundernswerte Werdegang Ahmet Topraks ist sicherlich auch insofern ungewöhnlich, da er nach der Hauptschule zunächst in die Türkei zurückkehrt, um dort sein Abitur abzulegen. Ob das auch im deutschen Schulsystem mit seiner latenten Benachteiligung von (Gast-)Arbeiterkindern so ohne Weiteres möglich gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln.

Die miesen Anwürfe und Diskriminierung, die der Autor in vielerlei Situationen (Fahrscheinkontrolle, Einbürgerung, Wohnungssuche) erfahren hat, zeigen, wie weit weg wir noch von einem selbstverständlichen Zusammenleben verschiedener Ethnien sind. Der Autor nimmt’s oft mit Humor, manchmal mit Wut oder konfrontiert den anderen mit seinen rassistischen oder zumindest sehr stereotypen Aussagen. Dazu gehört viel Kraft und der Wille, sich nicht in einer Opferrolle einzukuscheln.

Und nicht jeder kann dann den Weg gehen, der ihm jetzt möglich ist. Als potentielle Vermieter sich plötzlich nicht mehr von seiner Herkunft abschrecken lassen, weil sie unglaublich gern einen Professor als Mieter hätten, kommentiert der Autor diese Erfahrungen ganz trocken mit: „Professor schlägt Türken“.

Fazit: Auf der einen Seite fand ich das Buch immer unbefriedigender, da wesentliche Faktoren im Dunkeln bleiben. Oft kam mir das Innenleben der Personen zu kurz und auch, wenn man die Familie nicht über Gebühr mit in die Öffentlichkeit eines Buches zerren will, letztendlich gehören Eltern und Geschwister ebenfalls zu der Frage, wie ein Gastarbeiterkind zum Professor werden kann. Da war mir der – berechtigte – Hinweis auf die beeindruckende Lebensleistung der Mutter, die als Analphabetin 33 Jahre in einer deutschen Firma gearbeitet und sechs Kinder (vier davon Akademiker) großgezogen hat, zu wenig.

Über weite Strecken habe ich das Werk auch als die Schilderung einer verwunderten Selbstvergewisserung gelesen, wohin man aus eigener Kraft gekommen ist und dass man nun sogar einen eigenen Eintrag in Wikipedia hat.

Und dennoch habe ich es gern gelesen, es macht Lust auf weitere Literatur aus dem thematischen Bereich der Gastarbeiter. Die Stärke des Buches sind die vielen kurzen Szenen, die einem auch nach dem Lesen noch nachgehen. Wo Toprak, als er einen Vortrag halten soll, für den Techniker gehalten wird, der sich doch bitte beeilen möge, den Beamer zum Laufen zu bringen, denn schließlich müsse der Professor jeden Moment erscheinen.

Die Erfahrungen, die die Gastarbeiter und ihre Kinder gemacht haben und noch täglich machen, ihre Geschichten, ihre Erinnerungen, mal peinlich, mal witzig, mal berührend, mal – für Deutschland – beschämend, sind ganz offensichtlich ein großer Schatz. Falls da jemand gute Erzählungen, Romane oder Biografien kennt, lasst einen Kommentar da.

 

Benjamin Zephaniah: The Life and Rhymes of Benjamin Zephaniah (2018)

Der Guardian hat ihn einmal einen der größten britischen Dichter der letzten Jahre genannt, die Times nahm ihn 2008 in die Liste der 50 wichtigsten Schriftsteller Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg auf.

Die Rede ist von dem Rastafari und Kämpfer gegen Rassismus und Unterdrückung: Benjamin Zephaniah, der sich selbst als Dichter für die Leute bezeichnet, die keine Dichter lesen, und der ziemlich säuerlich reagierte, als man ihm noch unter Tony Blair den Order of the British Empire verleihen wollte. (Die Begründung seiner Ablehung kann man hier nachlesen.)

2018 erschien nun seine Autobiografie und die ist so richtig klasse. Wunderte ich mich zunächst, dass der Autor das Buch sich selbst gewidmet hat, so erscheint das nach der Lektüre als absolut passend und mehr als gerechtfertigt.

Dedicated to me.
And why not?
There was a time when I thought
I wouldn’t live to see thirty.
I doubled that, and now I’m sixty.
Well done, Rastaman, you’re a survivor.
A black survivor.

Das Ganze geht schon damit los, dass Zephaniah im ersten Satz erklärt, dass er Autobiografien hasse,

They’re so fake. The ones I hate the most are those written by individuals who have spent their lives deceiving people and then, when they see their careers (or their lives) coming to an and, they decide it’s time to be honest. […] And don’t get me started on the people who write autobiographies a couple of years after they’re born: the eighteen-year-old pop star who feels life has been such a struggle that it can only help others if he lets the world know how he made it.

Da hängt einer die Meßlatte hoch, ehrlich soll’s werden und man soll was zu sagen haben; Zephaniah löst das alles ein, in einem ans Mündliche angelehnten Stil, humorvoll, bissig, böse, abgrundtief traurig, aufregend. Und man lernt mehr über Großbritannien und seinen oft so zynischen Umgang mit Einwanderen, als einem für die eigene Gemütsruhe manchmal lieb ist.

Vorausschicken möchte ich, dass diese Autobiografie so gar nichts mit den sogenannten Misery Memoirs zu tun hat, obwohl diese Gefahr gerade bei den Kindheitserinnerungen naheliegend gewesen wäre. Aber hier schreibt einer mit so viel Menschenfreundlichkeit und einer energischen Lebensfreude, die im wahrsten Sinne des Wortes kaum totzukriegen ist.

Seine Mutter kommt aus Jamaika und arbeitet als Krankenschwester, sein Vater stammt aus Barbados. Zephaniah wird, wie auch seine Geschwister, in Birmingham geboren. Schon als Kind wird er aufgrund seiner Hautfarbe ausgegrenzt, mit Backsteinen angegriffen, selbst die Schule ist kein sicherer Raum. Die Mutter kann nicht helfen und will die Anfeindungen nicht wahrhaben, es gibt die ersten Erfahrungen mit rassistischen Nachbarn, später die Straßenschlachten mit Anhängern der tiefbraunen National Front.

Dazu kommen familiäre Gewalterfahrungen: Der Vater prügelt Mutter und alle sieben Kinder, bis Mutter und Benjamin flüchten. Das Frauenhaus verweigert ihre Aufnahme, da eine verprügelte jamaikanische Frau nicht so gut zu britischen verprügelten Frauen passe.

Als die beiden schließlich im Haushalt des geschiedenen Pastors Burris ein neues Zuhause finden, gibt es zum ersten Mal so etwas wie eine Vaterfigur für Benjamin, doch auch dort ist das Geld und der Platz für so viele Menschen begrenzt.

We slept three or four to a bed: two up and two down, or two up and one down if you were lucky. Different kids had different kinds of smelly feet, so there were always tough negotiations over who would sleep where. (S. 66)

Er fliegt aus mehreren Schulen, seine Legasthenie wird nicht erkannt, schließlich landet er in einer der berüchtigten Borstals (Erziehungsanstalten), dann im Knast. Eine Karriere als Krimineller oder als Opfer einer Straßenschlacht oder in einer Gefängniszelle scheint vorgrammiert. Doch neben all dem Elend gibt es noch (mündliche) Gedichte, Musik, Sound Systems, noch mehr Musik und Freunde.

Wie nun aus dem Kind aus kaputtem Elternhaus, dem Schulabrecher, der kaum lesen und schreiben kann, dem geschickten Dieb und Hehler im Laufe der Jahre ein gefeierter Dichter, Autor, begeisterter Leser, Besitzer eines netten Anwesens auf dem Lande und weitgereister Aktivist gegen Rassismus, Polizeiwillkür und Unterdrückung wird, dem mehrere Ehrendoktorwürden zuteil werden, erzählt Benjamin Zephaniah auf über 300 Seiten so mitreißend, vollgepackt mit Geschichten, spannend und energiegeladen, dass ich nur staune und bewundere.

Markiert habe ich mir über 60 Stellen, müsst ihr also alle selbst lesen.

Dass sich Zephaniah in seiner humanen Einstellung selbst von den jetzt wieder aus ihren Löchern kommenden Rassisten nicht irremachen lässt – seit den Brexit-Kampagnen sieht auch er sich wieder verstärkt rassistischen Pöbeleien und widerlicher Post im Briefkasten ausgesetzt – zeugt von großer Stärke. Seine Hoffnung, dass er sich aufgrund gesellschaftlicher Verbesserungen langsam als Rastafari-Komiker zur Ruhe setzen könne, habe sich allerdings in Luft aufgelöst. Er müsse wohl noch eine Weile der zornige schwarze Dichter bleiben.

Ein Vorbild also, auch den Ausgegrenzten, den Gewalterfahrenen, den Jugendlichen, von denen die Gesellschaft nur Negatives erwartet, denen mit der „anderen“ Hautfarbe und dann wieder allen, die sich für eine gerechtere und menschenfreundlichere Welt einsetzen.

Well done, Rastaman. Wie wahr.

Hier schreibt Zephaniah über seine Legasthenie und miserablen Schulerfahrungen und hier geht’s zu seiner Homepage.

Bleibt nur die Frage, wann das Buch ins Deutsche übersetzt wird.

 

Inge Jens: Unvollständige Erinnerungen (2009)

Inge Jens (*1927): Studium, Promotion, Lehraufträge, Mitarbeit bei Verlagen und Rundfunk, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin ihres Mannes, Herausgeberin der Tagebücher Thomas Manns und dessen Briefwechsels mit Ernst Bertram, intensive Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Wahlheimat und deren Universität Tübingen, Edition der Aufzeichnungen und Briefe der Geschwister Scholl. Gemeinsame Arbeit mit ihrem Mann Walter Jens (1923 – 2013) an Frau Thomas Mann und Katias Mutter. 

2013 wird Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt veröffentlicht und 2016 erscheint Langsames Entschwinden, das ihre Erfahrungen im Leben mit ihrem an Demenz erkrankten Ehemann zum Thema hat.

2009 schließlich veröffentlicht sie ihre autobiografischen Erinnerungen, die von vornherein nicht auf Vollständigkeit oder gar zu intime Einblicke in ihr Privatleben angelegt sind.

Schon das Vorwort ihrer Unvollständigen Erinnerungen ist typisch für die Autorin.

Es zeigt Inge Jens als reflektiert, nüchtern, rational, präzise, fast ein wenig distanziert, diskret. Zunächst einmal versucht Inge Jens, sich darüber Rechenschaft abzulegen, warum sie dieses Buch, das zunächst eher als ein Zeitvertreib gedacht gewesen sei, geschrieben hat.

Weil ich merkte, dass es mir Spaß machte, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Das war eine unerwartete Erfahrung. Ich bin immerhin 82 Jahre alt und habe mich, soweit ich weiß, noch nie sehr intensiv für mich interessiert. (S. 9)

Bei so einem Lebensrückblick gehe es Menschen darum,

zu versuchen, sich am Ende ihres Daseins der Erlebnisse und Erfahrungen zu erinnern, die sie prägten und die es ihnen wert schienen, aufbewahrt und weitergegeben zu werden. (S. 9)

Ein Auslöser seien außerdem die Diskussionen bei und nach öffentlichen Veranstaltungen gewesen, die oft dazu geführt hätten, dass sie gebeten wurde, das, was sie persönlich erlebt habe, doch auch aufzuschreiben.

Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Nach 57 Jahren nie abreißender Gespräche bin ich allein – ohne den Menschen, mit dem sich über alles auszutauschen mir so selbstverständlich war wie essen und trinken oder atmen. Mein Mann ist seit langer Zeit schwer krank. Seit gut zwei Jahren kann er weder lesen noch schreiben. Eine Unterhaltung mit ihm ist nicht mehr möglich. (S. 11).

Doch dieses Zurückblicken habe erstaunlicherweise Kräfte freigesetzt, die auch ihren Blick auf die Gegenwart verändert hätten.

Die Rückschau auf mein Leben verbietet mir, mit dem Heute zu hadern. Auf die Frage: ‚Warum muss das sein, warum trifft es gerade uns?‘, wüsste ich zwar auch jetzt noch keine Antwort zu geben. Aber – und das wurde mir schlagartig bewusst – diese Frage zöge unweigerlich eine zweite mit sich, die ich ebenso wenig wie die erste beantworten könnte. Denn sie müsste lauten: Warum denn ist es gerade mir – uns – so lange so ungeheuer gut ergangen? Warum war es gerade uns vergönnt, ein so interessantes, erfülltes und – trotz mancher Schwierigkeiten – glückliches Leben zu führen? (S. 12)

Inge und Walter Jens, die beide aus Hamburg stammten, hatten sich während des Studium in Tübingen kennengelernt.

In diesem Dokument der Zeitgeschichte erfahren wir nicht nur, wie Inge Jens den Krieg und die Indoktrination der Nationalsozialisten erlebte. Als sie nach dem Krieg von Konzentrationslagern hört, kann sie das im ersten Moment nur als Feindpropaganda abtun.

Dann die Begeisterung der Studentin, die sich zwar von ihrem Traum eines Medizinstudiums verabschiedet, aber letztendlich völlig in der ihr bisher unbekannten

Vielfalt menschlicher Denk- und Lebensmöglichkeiten [aufgeht und] Vergnügen an dem Versuch [hatte], anderes, teilweise auch Fremdes, zu verstehen und in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. (S. 55)

Genauso erinnert sie sich auch daran, wie sich später die Proteste der Studentenbewegung in Tübingen äußerten und wie die einzelnen Professoren damit umgingen.

Inge und Walter Jens teilten ihre pazifistische Grundeinstellung, die bei Inge Jens auf ihre Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges zurückging. Beide waren später in der Friedensbewegung (Stichwort Mutlangen) aktiv und pflegten viele Kontakte in die ehemalige DDR.

Die Fehler, die dann bei der Wiedervereinigung gemacht wurden, konnte man schon erkennen, als Walter Jens nach seiner Emeritierung 1989 die Stelle als Präsident der Akademie der Künste zu Berlin annahm und das Ehepaar aufregende und kulturell bereichernde Jahre in Berlin verlebte.

Ich habe diese Erinnerungen mit Respekt vor der Belesenheit und Ebenbürtigkeit der Ehepartner und ihrer Jahrzehnte langen gegenseitigen Inspiration gelesen. Und auch wenn Inge Jens angeberisches Name Dropping sicherlich zuwider ist, schimmert natürlich durch, dass kluge Menschen eben wieder andere kluge Menschen kennenlernen, sei es durch die Arbeit an den verschiedensten Projekten, sei es durch Walter Jens‘ Kontakte zur Gruppe 47 oder durch das politische Engagement. Stellvertretend und völlig willkürlich seien hier nur Hans Mayer, Ernst Rowohlt, Vicco von Bülow, Dietrich Fischer-Dieskau oder Golo Mann genannt.

Wie ich am Anfang schon schrieb, dies ist ein diskretes Buch, persönliche Katastrophen wie zwei verstorbene Kinder werden kurz erwähnt, reflektiert und dann geht es bereits weiter mit eher beruflich bedingten Fragestellungen. Das ist zum einen sicherlich dem Interesse an der eigenen Arbeit geschuldet, zum anderen scheint Inge Jens nicht das Bedürfnis zu haben, sich unentwegt in den Mittelpunkt stellen zu müssen. Allerdings wirkt das Buch dadurch manchmal ein wenig unpersönlich.

Dennoch hat mich dieser Gang durch über ein halbes Jahrhundert deutsche Geschichte fasziniert. Und mit dem letzten Kapitel, in dem sie über die Erkrankung ihres Mannes schreibt, hat Inge Jens mich dann endgültig für sich und ihr Buch eingenommen. Ehrlich und anrührend.

Ach, und Lust auf nähere oder erneute Beschäftigung mit Katia Mann oder Hans und Sophie Scholl und auf einen Tübingen-Besuch macht das Buch natürlich auch.

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Alec Guinness: My Name Escapes Me (1996)

Was für ein süchtig machendes Buch.

Der Ausnahmeschauspieler Alec Guinness (1914-2000) veröffentlichte den zweiten Teil seiner autobiografischen Schriften My Name Escapes Me: The Diary of a Retiring Actor 1996. Auf Deutsch erschien dieses Tagebuch unter dem Titel Adel verpflichtet: Tagebuch eines noblen Schauspielers.

Irgendwo war ich über die Empfehlung dieses Buchs gestolpert, und was soll ich sagen: Obwohl die Aufzeichnungen des über Achtzigjährigen vom 1. Januar 1995 bis zum 6. Juni 1996 von Anfang an zur Veröffentlichung gedacht waren und dementsprechend der Kontrolle und bewussten Auswahl des Künstlers unterlagen, habe ich das nirgendwo als störend empfunden.

Da mischen sich Erinnerungen an seine Karriere, an Filmaufnahmen und verstorbene Freunde mit kurzen Urlaubsschilderungen aus Südeuropa oder mit Einträgen zu Verabredungen zum Essen mit noch lebenden Freunden und Bekannten – gutes Essen ist ihm ein Bedürfnis. Da wird munter parliert, da wird ins Theater oder in Kunstausstellungen gegangen.

Nancy Cunard’s long long elegant feet in the painting by Alvaro Guevara, 1919, look like transatlantic liners. (S.5)

Überall schimmert ein großes Berufsethos durch. So wollte er später am liebsten auch gar nicht mehr auf seine Rolle als Obi-Wan Kenobi in Star Wars angesprochen werden. Die törichten Dialoge taten ihm einfach zu weh und beinahe hätte er einem Jungen ein Autogramm verweigert, als der ihm anvertraute, die Filme schon Dutzende Mal gesehen zu haben. Das wiederum sorgte für eine empörte Mutter.

Oder er schaut abends mit seiner Frau Merula fern, völlig entgeistert, falls man dabei zufällig in vulgäre Trash-Shows hineingerät. Bei Filmen oder Krimis, die Gnade vor seinen Augen finden, werden anschließend die Schauspieler einer fachmännischen Bewertung unterzogen. Selbst seine Lektüre – Montaignes Essays wären sein Buch für die einsame Insel – ist noch davon geprägt, dass er es nicht lassen kann, sich die Dialoge in Büchern wie Theaterstücke vorzusprechen, „with significant pauses and all“. Dummerweise sorgt das immer dafür, dass er so schrecklich lange für ein Buch braucht.

Er, der 1957 für seine Rolle in The Bridge on the River Kwai den Oscar gewann, ist sich völlig im Klaren über die Zufälligkeit, mit der es sich entscheidet, ob man einen Oscar oder eine beliebige andere Auszeichnung zugesprochen bekommt.

A race or a fight or a game can be won but to call something ‚the best‘ in the arts is absurd. I wouldn’t mind betting Dickens would fail to win the Booker Prize (too readable and too funny) and Turner the Turner Prize and poor Keats wouldn’t even be considered for any poetry prize. (S. 16)

Zwischendurch kommt er – dezent – auf sein Alter zu sprechen. Die Trauer, wenn man wieder zu einer Beerdigung eines liebgewordenen Weggefährten muss. Der Schreck, als er in den Straßen Londons stürzt und sich danach nur noch mit Stock aus dem Haus traut. Das Nachlassen seiner Kräfte, Augenprobleme, die nachlassende Konzentration, die ihm nicht mehr erlaubt,  längere Texte auswendig zu lernen. Die Sorge um seine Frau, die noch sechs Monate nach ihrer Hüftoperation nicht richtig laufen kann. Und selbst jetzt noch muss er sich mit unliebsames Stalkern herumärgern, die sich nicht scheuen, plötzlich bei ihnen im Garten zu stehen.

The new armchair has arrived […] It is very comfortable but a touch of effort is needed to get out of it. (S. 86)

Ein wacher Geist, ein Katholik, der so manche gesellschaftliche Entwicklung kritisch und auch besorgt beäugt, der traurig zu Bett geht, nachdem er am 13. März 1996 von dem Schulmassaker in Dunblane erfahren hat.

Turning on TV News at Ten we were appalled to hear of the ghastly, outrageous shooting of small children in the school at Dunblane, Perthshire. It is a numbing horror and the mind goes blank. Sympathy, comfort, love, tears – no words suffice. M and I went to bed silent and miserable. (S. 128)

Ein Mann, der seinem inneren Kompass treu bleibt, dem schlechter Geschmack oder grobe Umgangsformen ein Graus sind und der sich manchmal auch nur kurz angebunden über seine Frau Merula, eine Malerin, äußert, mit der er seit 58 Jahren verheiratet ist. Überhaupt hätte ich gern mehr über sie und den gemeinsamen Sohn Max gelesen. Doch dann erwähnt er wie im Vorübergehen, dass sie ihm jede Woche einen kleinen Blumenstrauß auf seinen Schreibtisch stellt.

Die Selbstverständlichkeit fasziniert, mit der die beiden Ehepartner jeweils die gleichen Bücher lasen, dieselben Filme schauten, im Radio abends Konzerte oder Musik-CDs hörten, um sich daran zu erfreuen, in der Kunst Trost zu finden oder um sich darüber auszutauschen.

Hier schreibt einer sehr menschlich, manchmal melancholisch, ein wenig wehmütig, sich der Endlichkeit bewusst, aber auch trocken, selbstironisch, witzig, boshaft in einem herrlich flüssigen, mühelos wirkenden Stil.

Today I have picked up a very good notice in an American film trade paper for a performance I have never given in a film I have never heard of. It says that I am ‚almost unrecognizable‘ in the film. I like the ‚almost‘. (S. 10)

Kurzum, das Buch mit dem Vorwort seines Freundes John le Carré ist, da man nie weiß, was als nächstes kommt, eine unterhaltsame, aber nie banale Wundertüte. Und ich brauche unbedingt den nächsten Band.

Claire Tomalin: A Life of My Own (2017)

Was haben Charles Dickens, Thomas Hardy, Samuel Pepys, Jane Austen, Katherine Mansfield und Mary Wollstonecraft gemeinsam? Nun, zu jedem und zu jeder dieser AutorInnen hat die mit diversen Preisen ausgezeichnete Literaturkritikerin Claire Tomalin (*1933) eine Biografie geschrieben.

Doch in ihrem 2017 erschienenen Werk A Life of My Own macht die Autorin ihr eigenes Leben zum Thema. Und ein interessantes Leben ist das, ganz ohne Frage.

Writing about myself has not been easy. I have tried to be as truthful as possible, which has meant moving between the trivial and the tragic in a way that could seem callous. But that is how life is. Even when you are at the worst moments and would like to give all your attention to grief, you still have to clean the house and pay the bills; you may even enjoy your lunch. (S. IX)

Tomalin beginnt mit der Ehe ihrer Eltern, die sich früh haben scheiden lassen. Zunächst geht es um die – gelinde gesagt – komplizierte Beziehung zu ihrem französischen Vater Émile Delavenay, der keine nennenswerten Gefühle für seine Tochter entwickeln konnte.

Ihre Mutter Muriel Herbert, eigentlich eine begabte Komponistin und Pianistin, verdient den Lebensunterhalt für sich und ihre zwei Töchter und umgibt diese mit großer Liebe, sie bringt ihnen Schwimmen und Fahrradfahren bei, fährt mit ihnen sogar in Urlaub. Und das spärliche Taschengeld wird von Claire gleich wieder in Bücher umgesetzt.

At home we cooked, ate and did our homework on one table. In the bedroom each of us had a window next to our bed, and I used my window ledge for my books. Over the months the pile grew and gradually blocked out more and more of the window. I read under the bedclothes when I was supposed to be asleep. (S. 49)

Gelesen wird so ziemlich alles, was das Kind in die Hände bekommt; seien es nun Gedichte von Keats oder eine Biografie über Queen Elizabeth; zum elften Geburtstag schenkt ihr die Mutter die gesammelten Werke von Shakespeare. Und es dauert nicht lange, bis Claire selbst beginnt, Sonnette zu schreiben.

Soon I was turning out sonnets by the dozen. (S. 49)

Zu ihrem 13. Geburtstag wünscht sie sich das zweibändige Shorter Oxford Dictionary.

Mit 15 fliegt sie zu ihrem Vater nach New York in den Urlaub, der dort inzwischen bei den Vereinten Nationen arbeitet.

My mother was badly upset. She wept and told me she would put her head in the gas oven and kill herself if I went. I thought about this too, and decided that she would not carry out her threat. But it was difficult, because I loved her and felt entirely loyal to her. (S. 68)

Amerika ist für das junge Mädchen eine überwältigende Erfahrung, die Lebensmittel dort sind nicht mehr rationiert, neue Kleider, die Hochhäuser, die Autos, die Werbung. Vor allem aber versteht sie sich gut mit der neuen Partnerin ihres Vaters.

I also saw for the first time in my life beggars in rags, asking for money in the streets of Manhattan. I had led such a sheltered life that I thought beggars were strictly historical figures and had disappeared from the world in the twentieth century. (S. 69)

Dem Luxus, den Reisen und den neuen Erfahrungen, die der Vater bieten kann, können die Schwestern nicht widerstehen, obwohl sie sich immer auf der Seite der Mutter sehen. Als der Vater sein Domizil wieder in der Nähe von Paris aufschlägt, verbringt Claire dort viele Monate. Das Land, dessen Sprache sie bald perfekt beherrscht, wird zu einer zweiten Heimat.

Dem Studium am Newnham College in Cambridge kann sie allerdings wenig abgewinnen. Zu deutlich ist noch die Erwartungshaltung, dass die Frauen, die dort Literatur studieren, nicht selbst denken wollen und sollen, sondern sich vor allem sagen lassen sollen, was sie zu bestimmten Themen zu denken haben. Schließlich würden sie das in ihrem späteren Lehrerinnenleben benötigen.

… but I believed we had come to university to be encouraged to think for ourselves, not to be told what to think. I gave up going to the lectures. […] and I spent more time in libraries than in lecture halls. Now I regret not having explored further afield by going to lectures on other subjects, history, anthropology, archeology, geography – I could have learned a great deal. (S. 92)

Schon damals lehnt sie die Ansichten von Francis Raymond Leavis, des von vielen verehrten Dozenten in Cambridge ab, der Jahre lang erklärte, dass Charles Dickens nur einen nennenswerten Roman geschrieben habe und ansonsten ein reiner Unterhaltungsschriftsteller gewesen sei.

Als sie das Studium mit ausgezeichneten Noten abschließt, hat sie keine klaren Berufspläne. Also beschließt ihr Vater, dass sie in London erst einmal Stenografie und Maschineschreiben lernen soll. Im Rückblick hört man schon eine gewisse Wehmut und die Frage heraus, wie wohl ihr Leben verlaufen wäre, hätte sie eine akademische Tätigkeit angestrebt.

1955 heiratet sie den charmanten Nicholas Tomalin, der später zu einem bekannten Journalisten werden sollte. Die Ehe ist stürmisch, manchmal katastrophal und sie bleiben – auch wegen der Kinder – viel länger zusammen, als sie das selbst vielleicht wollten.

Im gleichen Jahr bewirbt sie sich bei der BBC, nur um sich sagen zu lassen, dass die BBC grundsätzlich keine weiblichen Auszubildenden annehme. Als sie sich auf Rat ihres Vaters beim Heinemann Verlag bewirbt, bekommt sie zwar den Job, doch nur, wie sich später herausstellt, weil ihr Äußeres gerade noch als hübsch genug eingestuft worden war. Als Lektorin arbeitet sie schließlich auch für weitere Verlage.

Claire und Nick arbeiten an ihren jeweiligen Karrieren, haben Liebschaften, fühlen sich in London pudelwohl, feiern Partys, pflegen Freundschaften und lernen nach und nach die entscheidenden Leute im Kulturbetrieb der Sechziger kennen, seien das nun Jim Ballard, Zeitungsverleger, Buchverleger, Schriftsteller, Künstler oder auch berühmte Menschen wie Leonard Woolf. Daneben wuppt Claire noch die Erziehung der drei Töchter und des schwer körperbehinderten Sohnes Tom. Ein weiterer Sohn verstirbt kurz nach der Geburt.

Über die Mitte der Sechziger sagt Claire:

As to my inner life: it was calm in spite of all the parties […] I had a steady and pleasant job […] Nick’s career flourished […] and in 1965 he moved to reporting and was often away in Europe, Africa and further afield. Our family life was good, better than our life as a couple. I lived without any plan for the future beyond the bringing up of our daughters, whose education and happiness mattered more to me than anything else. (S. 158)

Auch mit ihnen wird die Tradition der Familienurlaube in Frankreich fortgesetzt.

Um Beruf und Familienleben miteinander vereinbaren zu können, schreibt sie immer mehr Kritiken, z. B. für The Times Literary Supplement, den Observer u. a., oder nimmt teil an literarischen Quizsendungen.

Reviewing is an education in itself. You learn from the books, and you have to order and condense your thoughts and capture the reader’s attention. (S. 162)

Claires Ehe ist chaotisch und schmerzhaft, da Nick der Meinung ist, dass sich alle seinen Verliebtheiten unterzuordnen haben. Manchmal sehen die Kinder ihren Vater Monate lang nicht, dann verlangt er plötzlich, als ob nichts wäre, wieder bei ihnen und Claire einzuziehen.

1971 schreibt Claire einen längeren Zeitungsartikel zu Mary Wollstonecraft. Zu ihrer Überraschung schlagen ihr daraufhin verschiedene Verlage vor, doch eine Biografie Wollstonecrafts zu schreiben. Das Buch erscheint 1974 und läutet den Beginn ihrer Karriere als Biografin ein. Darüber hinaus wird ihr der Whitbread Book Award in der Debütkategorie verliehen.

1973 stirbt ihr Mann Nick bei einem Attentat auf den Golanhöhen. Wie sie den Eltern Nicks und ihren Kindern Jo (fast 17), Susanna (15) und Emily (12) diese Nachricht beibringen muss, gehört sicherlich zu den bewegendsten Stellen im Buch. Fast sachlich wird berichtet, wie die Töchter sich in den nächsten Tagen Kleidungsstücke des Vaters zusammensuchen und nachts mit ins Bett nehmen; und doch schimmern Schock, Entsetzen und Fassungslosigkeit durch jede Zeile.

Die Sunday Times, in deren Auftrag Nick unterwegs war, möchte die Kosten einer Überführung sparen und Claire überreden, ihren Mann in Israel beisetzen zu lassen. Ein Ansinnen, das sie entschieden verweigert.

I also sat beside it [the coffin] alone, and thought about Nick: how gifted he was, and generous; how delightfully unpredictable and wretchedly unreliable; how much he loved his own children and how good he was with other people’s; what happy times we had shared. Whatever the failings of both of us in our marriage, it felt now as though the sun had been eclipsed. (S. 204)

Claire unternimmt im Februar 1975 noch eine letzte Reise mit ihrer damals bereits krebskranken Schwiegermutter Beth, die zu ihr sagt:

‚You can’t believe in your own death. You may know intellectually that you are going to die soon, but is has no meaning for you, the person alive thinking about it.‘ She was a remarkable woman, brave and truthful, and I learnt from her courage and clear-headedness. (S. 212)

Da für Claire Tomalin ihre Arbeit immer etwas ganz Entscheidendes und Erfüllendes gewesen ist, nimmt diese in einzelnen Kapiteln natürlich auch viel Raum ein: Was hat sie für welche Zeitung geschrieben, wo war sie Literaturchefin, mit wem hat sie zusammengearbeitet, wen hat sie kennengelernt, was waren ihre Ansprüche, welche Bücher wurden besprochen?

Ich gebe zu, da habe ich manchmal ein bisschen schneller gelesen. Allerdings ist es ganz unfasslich, dass Tomalin dieses Pensum in 24 Stunden untergebracht hat. Denn wie gesagt, sie hat ja auch vier Kinder großgezogen, und zwar, wie es den Anschein hat, mit viel Liebe und Engagement.

Als ihr auf den Rollstuhl angewiesener Sohn Tom in eine Förderschule kommt, ist sie entsetzt, dass man dort das handschriftliche Schreiben für überflüssig erklärt. Selbstverständlich muss er es dann doch lernen. Lesen bekommt er von seiner Mutter beigebracht, die ganz untröstlich ist, als er ihr später gesteht, deshalb nicht so gern zu lesen, weil zu Hause einfach immer zu viele Bücher herumlagen.

I was seen as an odd mother, but kindly tolerated. I asked the school not to give Tom sweets, which they handed out frequently and freely to all the children. One day when I happened to be there I heard a teacher say, ‚ Now there will be a sweetie for everyone except Tom Tomalin, whose mother does not allow them.‘ He did not seem to mind at all, and he has never needed a filling in his teeth. (S. 222)

Doch die Schikanen, denen Tom später, als einziger Rollstuhlfahrer an der weiterführenden Schule, ausgesetzt ist, sind unglaublich.

He was always eager to go to school, although he was bullied, had his medical equipment stolen from his bag, chewing gum pushed into his hair and regularly kicked. (S. 319)

Im Laufe der Zeit bessert sich die Situation. Als seine Mutter ihn Jahre später fragt, ob diese Schule ein Fehler gewesen sei, antwortet er trocken:

no because at least nothing could ever be so bad again. (S. 319)

In den Siebzigern hat Claire eine kurze Affäre mit Martin Amis, der 15 Jahre jünger ist als sie.

We had no quarrels, but after a time I began to realize what I thought of as a love-affair was more like membership of a club. Martin was attractive to many young women, and he was ready to enjoy the situation. That did not work for me. (S. 226)

Als Tomalin immer bekannter wird, sie schreibt u. a. für die New York Review of Books oder für Punch, wird sie Jurorin beim Booker Prize und beim Whitbread Book Award. Sie tritt Komitees bei, wie dem Royal Literary Fund, der sich für in Not geratene Schriftsteller oder deren Hinterbliebene kümmert. Dessen finanziell notorisch angespannte Lage bessert sich erst in den Neunzigern, als A. A. Milne der Organisation eine beträchtliche Erbschaft zukommen lässt.

Ihre zweite Tätigkeit, auf die sie stolz ist, ist ihre Mitarbeit beim Silver Jubilee Committee on Access for the Disabled, gegründet 1977.

1979 wird  sie Literaturredakteurin der Sunday Times und Julian Barnes wird ihr Stellvertreter. Dort erlebt sie mit, wie der neue Besitzer Rupert Murdoch moderne Druckverfahren einführt und damit einen fast ein Jahr andauernden Streik der Drucker auslöst, von denen viele ihre Arbeit verlieren. Auch die Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher beutelt das Ansehen der renommierten Zeitung.

Doch 1980 erlebt sie eine weitere familiäre Katastrophe. Ihre einst so lebenslustige Tochter Susanna bringt sich um, trotz Therapie, trotz aller Unterstützung, trotz aller Liebe. Kein Tag vergeht, ohne dass ihre Mutter an sie denkt und glaubt, sie im Stich gelassen zu haben, nicht hart genug um sie gekämpft zu haben.

Grief has to be set aside, but it does not go away. It arrives each morning as you wake, lies in wait in the familiar routines of the day, takes you by surprise. You may not lose the power to enjoy the pleasures offered by the world but you stand in a different relation to them, in some ways more intense because you know now how fragile they are. The best things I saw, heard, read, felt, often brought me to tears because they came with the knowledge that my daughter was never going to share them. (S. 254)

1986 verlässt Tomalin die Times, nachdem Murdoch den Umzug der Zeitung nach Wapping veranlasst (siehe auch den Beitrag in der englischen Wikipedia zum Wapping Dispute) und unzählige Kündigungen ausgesprochen hat.

I could not stomach Murdoch’s mixture of bullying and bribery, which has not in the long run been good for the press. I also knew that I was lucky to be able to face losing my job, because I had ideas for books I wanted to write and a publisher ready to pay me advances. (S. 280)

Eines dieser Ideen ist das Buch über Katherine Mansfield, für das sie Mansfields engste Freundin Ida Baker besucht, die schon nahe der neunzig ist, als Tomalin sie kennenlernt.

1993 heiratet Claire ihren langjährigen Freund Michael Frayn, der ebenfalls Schriftsteller ist und ihretwegen seine Frau verlässt. 2002 sind die beiden sogar Konkurrenten bei der Verleihung des Whitbread Awards, was wiederum die Journalisten entzückt, die am liebsten Fotos hätten, auf denen sich die beiden ihre Bücher um die Ohren hauen.

Letztlich bietet uns Claire Tomalin hier einen Einblick in ein Leben, in dem sie sich männlichen Rollenerwartungen nicht gebeugt, sondern mit unglaublich viel Power eine große Familie, Arbeit und Liebe miteinander verbunden hat, mit allen Höhen und Traurigkeiten, die dazu gehören. Dem Abschied von Kindern, dem ersten Ehemann, den Eltern. Dazu Karriere in einer von Männen dominierten Berufswelt. Anerkennung. Freunde. Freude am Schreiben, an der Recherche, am Lesen, am Reisen, an Musik, an der Familie.

Bescheiden, manchmal witzig, manchmal fast zu diskret, politisch wach, manchmal wehmütig, leicht, im Sinne von sich selbst nicht so unendlich wichtig nehmend. Und was für ein hübsches Fazit:

Until now my books have ended with the death of the main character. This one has to be different. I have reached eighty-four, longer than any of my subjects except Thomas Hardy, who got to eighty-seven. He went on writing to the end, and I intend to take a lesson from him and begin on another book if possible when this one is finished. (S. 329)

Anthony Ray Hinton: The Sun Does Shine (2018)

Bevor sich alle fragen, ob Buchpost nun zu einem reinen Fotoblog mutiert, wird es Zeit, die Sommerpause für beendet zu erklären und für eine Besprechung, doch wie soll man dieser Autobiografie gerecht werden? Rasch und ungeplant in einer Flughafenbuchhandlung erstanden und dann nach dem Lesen Bestürzung und Bewunderung. Doch von vorne:

1985 wurden zwei Mitarbeiter von Fastfood-Restaurants bei Raubüberfällen in Alabama erschossen, ein drittes Opfer überlebte und identifizierte den Afroamerikaner Anthony Ray Hinton (*1956) anhand von Fotos als den Täter. Indizien oder Zeugen gab es nicht. Eine Zeugenaussage war gelogen, das Foto bei der Identifizierung durch das Opfer bereits als Täterfoto markiert.

Hinton bekommt einen schlecht bezahlten und unfähigen Pflichtverteidiger an die Seite gestellt, dem es gleichgültig ist, ob Hinton schuldig ist oder nicht. Der vom Verteidiger bestellte Gutachter, der beurteilen soll, ob es sich bei der alten Waffe von Hintons Mutter um die Tatwaffe handelt, ist auf einem Auge blind und kann das Mikroskop nicht richtig bedienen. Eine Katastrophe, die der Staatsanwalt im Prozess weidlich auskostet.

Trotz seines Alibis, er war zur fraglichen Zeit des dritten Überfalls an der Arbeit, bei der man ein- und auschecken musste, wird Hinton zur Todesstrafe verurteilt, da es sich bei der Waffe seiner Mutter definitiv um die Tatwaffe handele. Er verbringt die nächsten 29 Jahre in der Todeszelle im Gefängnis William C. Holman Correctional Facility.

Obwohl Anwälte der Equal Justice Initiative 2002 schließlich nachweisen können, dass Hinton unschuldig ist, FBI-Experten zweifelsfrei nachweisen, dass die Schüsse aus einer anderen Waffe abgefeuert wurden und sein erster Prozess eine einzige Abfolge von Fehlern der Verteidigung war, weigert sich der Staat Alabama, den neuen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen, da dies den Steuerzahler nur unnötig Geld kosten würde.

Noch in einem 2009 veröffentlichten Buch faselt der inzwischen verstorbene Staatsanwalt McGregor davon, wie sehr Hinton „just radiated guilt and pure evil“.

Erst 2015, nachdem Bryan Stevenson und sein Team von der EJI 16 Jahre dafür gearbeitet haben, Hintons Unschuld zu beweisen, gelangt der Fall vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Hinton kann nach fast 30 Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen.

Dabei verschweigt er nicht, dass das Leben im Knast ihn gezeichnet hat. Noch lange nach seiner Entlassung wacht er morgens um drei Uhr auf, weil man dann im Gefängnis Frühstück bekam. Er fühlt sich anfangs in Räumen, die größer als seine Zelle sind, unwohl. Und jeden Tag ruft er mehrmals Freunde an, sammelt Quittungen, verschafft sich sozusagen Alibis, denn die Furcht, grundlos von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben gerissen zu werden, hat sich tief in ihn eingegraben. Diejenigen, die ihn 1985 sterben lassen wollten, sind natürlich über seine Freilassung unglücklich und halten sie für grundfalsch. Von den an dem Fehlurteil Beteiligten hat sich niemand je bei ihm entschuldigt. Eine finanzielle Entschädigung hat er bis jetzt nicht bekommen.

In diesem Buch, das er zusammen mit Lara Love Hardin geschrieben hat, erzählt er auf hinreißende Weise von seiner Jugend, der engen Beziehung zu seiner Mutter und deren christlichem Glauben und von seinem besten Kumpel Lester, der ihn schließlich fast dreißig Jahre lang jeden Monat im Gefängnis besuchen wird und der sich um Hintons Mutter kümmern wird, als wäre es seine eigene.

Wir lesen, wie eklatante Unfähigkeit und Rassismus sich auch strukturell in der Rechtsprechung austoben dürfen, wie ihm Anklagevertreter ganz unverhohlen sagen, dass es ihnen egal sei, ob er schuldig ist oder nicht, Hauptsache, es gäbe wieder einen N… weniger auf Alabamas Straßen. Einer droht ihm, ihn im Falle einer Freilassung persönlich am Gefängniseingang abzuknallen.

Und Hinton erzählt vom Leben im Gefängnis, von den Demütigungen und Schikanen einzelner Wächter, den seltsamen Freundschaften, die sich bilden, z. B. mit dem ehemaligen KKK-Mitglied Henry Hays, den im Sommer unerträglich heißen Zellen, von seiner Idee eines Buchklubs und dem Geruch von Menschenfleisch, wenn alle riechen können, dass wieder einer auf dem elektrischen Stuhl gestorben ist. Und auf welche Art und Weise die Männer einander das Beileid aussprechen, wenn einer von ihnen einen Angehörigen verloren hat. Und von der Sehnsucht nach seiner Mutter.

Dabei verhehlt er nicht, dass viele der Männer grauenhafte Verbrechen begangen haben, manche sind Psychopathen und andere wiederum geistig behindert.

Natürlich schildert das Buch auch den juristischen Kampf um seine Unschuld, ohne die Organisation von Bryan Stevenson hätte er Holman niemals lebend verlassen, wobei für den juristischen Laien vielleicht ein paar Hintergrundinformationen hilfreich gewesen wären.

Doch vor allem erzählt Hinton von seinem täglichen Kampf darum, im Gefängnis nicht innerlich zu sterben und der Verlockung des Selbstmords nicht zu erliegen. Mehrere Jahre dauert es, bis er zu der Einsicht kommt, dass er selbst in seiner engen und widerlichen Zelle Wahlmöglichkeiten hat.

I was on death row not by my own choice, but I had made the choice to spend the last three years thinking about killing McGregor and thinking about killing myself. Despair was a choice. Hatred was a choice. Anger was a choice. I still had choices, and that knowledge rocked me. I may not have had as many as Lester had, but I still had some choices. I could choose to give up or to hang on. Hope was a choice. Faith was a choice. And more than anything, love was a choice. Compassion was a choice. (S. 115)

Das ist die Nacht, in der er anfängt, Anteil am Leben der anderen Insassen und Wärter zu nehmen, Empathie, Humor und Mitgefühl zu zeigen. Er kann wieder – manchmal auch unter Tränen – Witze machen und darf schließlich sogar den Wärtern öfter was Leckeres kochen.

Und so verrückt das klingt, es ist ein verstörendes Buch, aber von großer Wärme, Stärke und manchmal auch Witz durchzogen. Eine Liebeserklärung an seine Mutter, die Frau mit den klaren Ansagen, die ihm gezeigt hat, was es bedeutet, bedingungslos geliebt zu werden, und an seinen besten Freund Lester, seinen Verteidiger und späteren Freund Bryan Stevenson und – falls man das überhaupt noch erwähnen muss – natürlich ein Plädoyer gegen die Todesstrafe und eine Geschichte, die uns viel über den Rassismus in Amerika erzählt.

Hinton ist laut Wikipedia der 152. Mensch, der seit 1973 in Amerika nachweislich unschuldig zum Tode verurteilt worden ist.

Er hat sich entschlossen, denjenigen, die ihm 30 Jahre seines Lebens gestohlen haben, zu vergeben.

Hier gibt es noch einen Bericht im Guardian.

 

Fundstück von Agota Kristof

Wenn wir die Eltern meiner Mutter besuchen, die in einem nahe gelegenen Dorf wohnen, in einem Haus mit Licht und Wasser, nimmt mich mein Großvater an der Hand, und wir machen zusammen einen Rundgang durch die Nachbarschaft. Großvater holt eine Zeitung aus der großen Tasche seines Gehrocks und sagt zu den Nachbarn: ‚Seht her! Hört zu!‘ Und zu mir: ‚Lies.‘

Und ich lese. Fließend, fehlerlos, so schnell, wie man es verlangt.

Abgesehen von diesem großväterlichen Stolz, wird mir meine Lesekrankheit eher Vorwürfe und Verachtung einbringen:

‘Sie tut nichts. Sie liest die ganze Zeit.‘

‘Sie kann sonst nichts.‘

‘Das ist die bequemste Beschäftigung, die es gibt.‘

‘Das ist Faulheit.‘

Und vor allem: ‚Sie liest, anstatt…‘

Anstatt was?

‘Es gibt so viel Nützlicheres, nicht wahr?‘

aus: Agota Kristof: Die Analphabetin, Ammann Verlag 2005, S. 11

Die Originalausgabe erschien 2004.

Fred Uhlman: The Making of an Englishman (1960)

Ich weiß sehr wenig über die Herkunft meiner Familie, die aus Freudental, einem kleinen Dorf in der Nähe von Stuttgart, stammte. Vor dem 18. Jahrhundert hatten die deutschen Juden, soweit ich weiß, keine Nachnamen. Es gab nur ungefähr fünfhundert Juden in ganz Württemberg, und sie hatten alle kein Wohnrecht in den größeren Städten.

So, zunächst ein bisschen trocken, beginnt das Buch, das auf Deutsch in folgenden Ausgaben erschienen ist:

  • Erinnerungen eines Stuttgarter Juden (1992)
  • The Making of an Englishman: Erinnerungen eines deutschen Juden, Diogenes Verlag (1998)

Manche Bücher sind eine unerwartete Entdeckung und die Autobiografie des jüdischen Rechtsanwalts Fred Uhlman ist so eine. Er musste 1933 Hals über Kopf Stuttgart verlassen, da er als engagiertes SPD-Mitglied in Schutzhaft genommen werden sollte, aber gerade noch rechtzeitig von einem NSDAP-Mitglied gewarnt worden war. Über Frankreich gelangte er schließlich nach Großbritannien. Den Rest seines Lebens verbrachte er als Maler und Schriftsteller in Paris, Spanien und England. 1985 starb er in London.

Warum das lesenswerte Buch erst 1992 ins Deutsche übersetzt wurde, ist mir ein Rätsel.

Am meisten hat mich vielleicht überrascht, dass das Buch ab und zu auch unglaublich komisch ist. Das entlarvt meine falsche Brille: als ob alle Juden in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Trauermine still und schattenhaft einer ihnen bereits bekannten Katastrophe entgegengingen.  Zum vollen Menschsein gehört natürlich der Humor. Und verfolgt und umgebracht wurden später keine Schatten, sondern Menschen.

Die Schilderungen burschenschaftlicher Trinkgelage, die er während seiner Studententage in den zwanziger Jahren mehr halbherzig denn aus Überzeugung mitmacht, lassen mich möglicherweise das Verhalten mancher meiner Schüler etwas entspannter sehen.

Vier Liter an einem Abend waren eher die Regel als die Ausnahme […] Lange nach Mitternacht gingen wir heim. Die weniger Betrunkenen halfen den ganz Betrunkenen. Auf dem Nachhauseweg flogen Fenster auf, und die Einwohner, die aus dem Schlaf gerissen wurden, schrien Beleidigungen. Oft gab es Streit. Ich erinnere mich an K., der auf einem Briefkasten lag und seine volle Blase in ihn entleerte und an Z., der so betrunken war, daß wir ihn, als wir ihn endlich nach Hause gebracht hatten, entkleiden und an sein Bett fesseln mußten, da er drohte, die Möbel kurz und klein zu schlagen. Ein anderer, der glaubte, er sei bereits im Bett, wurde von der Polizei schlafend und splitternackt unter einer Straßenlaterne gefunden, die Kleider waren sauber auf einem Haufen neben ihm zusammengelegt. (S. 81-82)

Und von wegen, dass ausschließlich mittelalterliche Unterschichtjungs ausrasten, weil man angeblich ihre Mutter oder Schwester beleidigt habe. Uhlman erklärt z. B. das studentische Duell:

Das Duell war eine ernstere Angelegenheit. Es gab verschiedene Abstufungen, die von der Schwere der Beleidigung abhingen. Wenn man zum Beispiel einen Corpsstudenten einen ‚alten Esel‘ nannte, reichte ein Duell auf leichten Säbeln; aber wenn man seinen Vater einen Schwarzhändler nannte, seine Mutter eine Hure oder an der Tugendhaftigkeit seiner Schwester zweifelte, dann konnte die Ehre nur durch ein Duell auf schweren Säbeln wiederhergestellt werden. (S. 81)

Wer Näheres zu Uhlmanns Leben und dem seiner jüdischen Angehörigen wissen möchte, dem empfehle ich den Artikel aus der Stuttgarter Zeitung von Susanne Stephan aus dem Jahre 2013.

Alma M. Karlin: Ein Mensch wird (1931)

Obwohl Alma Maximiliana Karlin in den zwanziger und dreißiger Jahren eine der bekanntesten deutschsprachigen Reiseschriftstellerinnen war, war sie mir bis zu diesem Buch unbekannt.

1889 wurde sie im damaligen Österreich-Ungarn, dem heutigen Slowenien, geboren. Nach einem bewegten Leben geriet sie in ihrer Heimat, vermutlich aufgrund der Vorbehalte gegenüber ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum, nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit. 1950 starb sie verarmt und vergessen in ihrer Heimat.

Dass eine Wiederentdeckung lohnt, zeigen schon die ersten Seiten ihrer Autobiografie, auf denen Karlin einen ganz eigenen Klang entfaltet. So schreibt sie über ihre ersten Lebenstage:

Ich schlug die Augen nur selten auf, wohl aus dem richtigen Gefühl heraus, daß es für mich auf Erden noch genug Unangenehmes zu schauen geben würde, und so vergingen volle sechs Wochen, ehe meine Eltern wahrnahmen, daß ich die Augen unrichtig eingehängt hatte. Meine Mutter war trostlos darüber, weil es ein Schönheitsfehler, eine weitere Handhabe zu bösartigem Spott war, aber mein Vater sagte sich, daß an einem Zwetschkenbaum keine Pfirsiche hängen und von sehr alten Eltern keine körperlich bervorzugten Kinder kommen konnten, und deshalb erklärte er mir, als ich in die Jahre des Verstehens gekommen war, daß ich ihm so, wie ich eben ausgefallen war, ganz gut paßte. Diese seine Einstellung freute mich um so mehr, als er darin vereinsamt dastand, denn nicht einmal von mir selbst dürfte ich Gleiches behaupten. Ein Menschenleben hat nicht genügt, mich mit meinem Äußeren zu versöhnen. (S. 9)

Die ersten Jahre sind für die kleine Alma im Großen und Ganzen noch eine unbeschwerte Zeit. Die Eltern sind wohlhabend und die Liebe ihres bereits 60-jährigen Vaters schützt sie vor der unnachsichtigen, überängstlichen und nur auf den äußeren Schein bedachten Mutter, der es ein ewiger Stein des Anstoßes war, dass das angeblich so unhübsche und linksseitig leicht gelähmte Mädchen sich nicht zu einem fügsamen Modepüppchen entwickeln wollte. Und damit möglichst niemand den Sehfehler ihrer Tochter bemerkt, stülpt sie ihr, sobald man das Haus verlässt, „schwammartige Hüte“ über den Kopf.

Mit ihrem Vater unternimmt sie lange Spaziergänge, auf denen sie auch mal mitsamt dem neuen Mantel in die Pfütze fällt, weil sie nicht weit genug gesprungen ist, während die Spaziergänge mit ihrer Mutter der reinste Graus sind.

Bis ich genug  gewaschen und geputzt und belehrt und bedroht worden war, bis die Handschuhe saßen und ich artig die Hand zum Halten gegeben hatte, waren schon Bäche von Tränen geflossen und dann, im Park, wo der liebe Gott alle unangenehmen Frauen der Welt versammelt zu haben schien, jagte man mich von einer zu anderen und bei jeder hieß es: ‚Engerl, mach einen Knicks.‘ […] Außerdem regnete es törichte Fragen. ‚Schatzerle, wen hast du lieber – deinen Vater oder deine Mutter?‘ Und ich prompt darauf: ‚Meinen Vater!‘ Sofort die weisen Lehrer: ‚Seine Mutter muß man mehr lieben!‘ Im Allgemeinen konnte man von Glück reden, wenn ich mich als Antwort nur in Schweigen hüllte. (S. 16)

Doch ihr geliebter Vater stirbt, als Alma sechs Jahre alt ist. Danach ist das Mädchen dem Perfektionismus ihrer Mutter und deren Mantra „Das schickt sich nicht.“ schutzlos ausgeliefert.

So verwundert es nicht, dass sich die Beziehung zur Mutter stetig verschlechtert. Und noch Jahrzehnte später ist Karlins Meinung zur berufstätigen Frau geprägt von ihren eigenen Erfahrungen mit ihrer lieblosen und wenig empathischen Mutter, die ihre Tätigkeit als Lehrerin trotz Ehe und Mutterschaft nicht aufgegeben hat. Sie ist sich sicher, dass

… Frauen, die einen Beruf haben, nicht Mütter sein können, deshalb geht heute die Ehe zugrunde, erlischt so viel Schönes schon in der aufwachsenden Jugend. […] Warum? Weil eine Frau, die im Beruf steht, ihre Interessen außer Haus verankert hat; weil sie – nach Erfüllung bezahlter Pflichten – müde und abgespannt heimkehrt und da wirklich Unterhaltung braucht, nicht solche noch zu bieten vermag; weil sie den erschöpften Geist nicht nochmals anstrengen kann und weil ihr, die tagsüber vom Heim weg war, der innere Zusammenhang mit den darin befindlichen Personen und Sachen fehlt. Sie ist bei sich selbst zu Gast. (S. 19)

Dazu kommt, dass das Mädchen nur Umgang mit Gleichaltrigen pflegen darf, wenn diese aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht und zudem aus dem deutschsprachigen Milieu kommen. Ihr Vater hatte sich immer als österreichischer General verstanden, der über der Nationalitätenfrage stand. So pflegte die Familie „nur Verkehr in Kreisen, die sich keiner politischen Partei anschlossen.“ Damit fallen aber viele gesellschaftliche Veranstaltungen von vornherein aus.

Das Lavieren der Mutter zwischen Deutschen und Slowenen – welche Fahne soll an den jeweiligen Feiertagen herausgehängt werden? – sorgt denn dann auch regelmäßig für Probleme:

Nach einem Fest auf der Festwiese grüßten uns die Deutschen nicht und nach einem Slawenfest die Slawen nicht. (S. 45)

Aus der insgesamt eher unerfreulichen Außenwelt flüchtet sich Alma immer stärker in die Welt der Bücher, der Fantasie, des Sprachenlernens und der Bildung.

Dieses Vermögen, mir eine eigene Welt zu schaffen, in der alle Leute immer nur das taten, was ich am meisten wünschte oder anstrebte, entzog mich sehr dem Wirklichen, half mir wunderbar über die Düsterheit des Daseins hinweg, entfremdete mich indessen sicherlich meiner Umwelt und machte mich seltsam unabhängig von ihr. In den Entwicklungsjahren haftete diesen Träumereien etwas Ungesundes an, doch in späteren Jahren war ich in meinem Traumreich so, wie ich mir wünschte, es in Wirklichkeit zu sein – weiser, besser, gütiger – und so wuchs ich an diesem Ideal, bis ich eine Anzahl leidiger Schwächen abgestreift hatte. So bleibt selbstredend  noch immer viel zu wünschen übrig. Wie auch nicht? (S. 57)

Doch die eigentliche Katastrophe beginnt, als Almas Mutter eines Tages auffällt, dass eine Schulter ihrer Tochter höher als die andere ist. Alma ist sich sicher, dass die extreme Reaktion ihrer Mutter eher der verletzten Eitelkeit einer schönen Frau geschuldet ist als der Sorge um das Wohlergehen ihrer Tochter.

In dieser kurzen Stunde hatte eine Feindschaft begonnen, die nichts im Leben mehr zu verwischen imstande war, denn an diesem Nachmittag begann der Kreuzweg, der meine ganze Mädchenzeit in ein Fegefeuer verwandelte… (S. 67)

Und tatsächlich bestimmen nun Qualen und Quälerei die nächsten Jahre. Nachdem Alma von diversen Orthopäden untersucht worden ist, muss sie täglich stundenlange Übungen absolvieren, kopfüber in irgendwelchen Seilen hängen und darf keinesfalls irgendwo mal ruhig sitzen, lesen oder sich ausruhen. Dazu zwingt ihre Mutter sie, mehrere Stunden am Tag ein Mieder zu tragen, auf dass das Kind wenigstens eine Wespentaille bekomme.

Um ununterbrochenen Szenen zu entgehen, legte ich es täglich  auf einige Stunden an und wenn ich nicht die Innenorgane zusammengepreßt hatte, so sah ich Sterne der Arme wegen. Um mich nämlich immer ganz gerade zu halten zu müssen, trug ich einen sehr breiten Gummigurt, der um die Schultern und um eine Hüfte lief und der so stark einschnitt, daß ich vom vierzehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr stets geschwollene und oft eiternde Striemen um den Oberarm und die Achselhöhlen hatte und sich die eine Brust durch den ununterbrochenen Druck nicht so gut entwickelte wie die andere. Es gab Tage, an denen ich mich freute, ins Bett gehen zu dürfen, nur um endlich jeden Druck los zu sein, obschon das Bett hart, kissenlos und unbequem war. (S. 89)

Da Alma unter der ganzen Schinderei, die mehr als einmal ihre Schulbildung unterbricht, immer stiller, ernster und verschlossener wird, sinnt ihr Kindermädchen Mimi auf Abhilfe. Zusammen mit anderen fingiert sie Liebesbriefe eines jungen Adeligen, der heimlich in Alma verliebt sei. Tatsächlich fällt Alma auf den Betrug herein und jahrelang ist dieser Traum vom strahlenden Ritter, der sie irgendwann retten und auf sein Schloss holen wird, ihr ein Halt und ein Trost. Doch als dann nach fünf Jahren die Fiktion auffliegt, geht durch diesen Vertrauensmissbrauch etwas in dem jungen Mädchen unwiderruflich zu Bruch.

Wenn ich mich an jene Trugliebe erinnere, muß ich an einen Obstbaum denken, den man im Februar zur Blüte bringt und den der Reif vernichtet. Er geht nicht ein, er steht immer noch am Wegrand, aber er blüht nicht und trägt keine Früchte und lädt niemanden ein, in seinem Schatten zu ruhen, denn er hat nichts zu geben. Er ist kahl. In sich geschlossen, blüht er höchstens in sich hinein. … Auch das ist Schicksal. (S. 77)

Wie sich Alma Karlin aus dieser freudlosen Jugendzeit und den einengenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die eigentlich nur eine „standesgemäße“ Heirat zuließen, dank eines schier unglaublichen Kampfeswillen und ihres Sprachenlernens herauswindet und es bereits als junge Frau bis nach Paris, Norwegen, Schweden und nach London schafft, erfährt der Leser in den zwei weiteren Dritteln des Buches. Es bleibt also trotz meines langen Beitrags noch viel zu entdecken.

Und ich bin beeindruckt von einer Autorin, deren glasklarer, leicht spöttischer Stil mir ausnehmend gut gefallen hat und die uns einen Einblick in eine vergangene Zeit ermöglicht, auch wenn der in ihren anderen Büchern wohl nicht immer frei von theosophischen und manchmal auch rassistisch geprägten Sichtweisen ist.

Wir erleben die Jugend eines Mädchens aus „den besseren Kreisen“ mit, das über weite Strecken auf sich allein gestellt war und kaum Ermutigung und Zuwendung erfahren hat. Aber vielleicht hat Alma M. Karlin genau daraus ihre Kraft und ihre Stärke gezogen, die sie später befähigt haben, durch die Welt zu reisen und ein selbstbestimmtes Leben zu leben.

Ihr Buch Einsame Weltreise mit dem Untertitel Erlebnisse und Abenteuer einer Frau im Reich der Inkas und im Fernen Osten (1928) liegt hier jedenfalls schon bereit.

Bleibt mir noch, dem Aviva Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Besprechungsexemplar zu danken, das durch ein informatives Nachwort der Karlin-Biografin Jerneja Jezernik abgerundet wird.

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Herrad Schenk: Das Haus, das Glück und der Tod (1998)

Selten ein so kluges und schönes Buch über die Liebe und über das Trauern gelesen. Und tröstlich ist es auch, aber das nicht billig und wohlfeil, sondern eher in der emphatischen Erkenntnis, dass man nach dem Tod des geliebten Menschen ein anderer sein wird, dass eine Veränderung stattfinden wird, auf die man überhaupt nicht vorbereitet ist, die wie eine Naturkatastrophe über einen hereinbricht und die einen ganz und gar überfordert, die aber der Ich-Erzählerin letztlich doch möglich ist.

Die Nacht hier ist so dunkel, wie sich das wohl niemand von den Freunden in der Stadt vorstellen kann. […] Ich verschließe für die Nacht die Kellertür und die Tür zur Brennkammer, das ist ein Abendritual noch aus guten Zeiten, und sehe zum Mond auf. […] Um mich herum ist eine große gesammelte Stille, in der sogar der Wind den Atem anhält. Die Schleiereule kommt erst später, zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens – und da fällt mir auf, daß ich sie schon einige Zeit nicht mehr gehört habe. Es mag daran liegen, daß ich jetzt wieder besser schlafe, aber vielleicht hat sie auch den Winter nicht überlebt.

Bereits auf den ersten zwei Seiten des Romans, den die Sozialwissenschaftlerin und Autorin auf ihrer Homepage einen autobiografischen Bericht nennt, klingen die Bestandteile des Titels an. Es geht um ein Jahrhunderte altes, unter Denkmalschutz stehendes Haus in Pfaffenweiler, das die Ich-Erzählerin zusammen mit ihrem Mann gekauft und renoviert hat.

Es geht um das Glück einer Jahrzehnte dauernden Beziehung, das mit dem Einzug in das alte Haus noch einmal vertieft und besonders genossen wird. Und um den Tod, denn der geliebte Mann, der im Buch immer nur W. genannt wird, stirbt schon zwei Jahre später an plötzlichem Herzversagen.

Das wird nicht streng chronologisch erzählt, stattdessen springen wir mit der Erzählerin vor und zurück, blicken auf die kleineren und größeren Katastrophen, die sich ergeben, wenn man arg- und ahnungslos beschließt, mit eher begrenzten finanziellen Mitteln einen renovierungsbedürften Hof zu erwerben, bei dem man sich noch mit einem ungeeigneten Architekten herumärgern muss und mehr als einmal vor dem finanziellen Kollaps steht.

Im Frühsommer begannen wir schlecht zu schlafen, wälzten uns nebeneinander im Bett und lagen stundenlang grübelnd wach. Da war der Bauantrag, der zwischen dem Denkmalamt und dem Landratsamt hin und her wanderte und bei jeder Nachfrage an einer neuen Behördenklippe hing. Herr X. war in Urlaub, Frau Y. konnte ohne Herrn Z. nichts unternehmen, der aber auf unbestimmte Zeit krank war, und die Vertretung, Frau A., kannte sich mit dem Computer nicht aus, stellte aber nach geraumer Zeit mit Hilfe von Frau B. fest, daß da ja überhaupt noch ein entscheidender Zusatzplan in unseren Antragsunterlagen fehlte. Den sollten wir erst einmal nachliefern, und dann würde man weitersehen. (S. 34)

Und da schimmert auch eine große Liebe und Wertschätzung zu diesem alten, geschichtssatten Haus durch, das nach und nach seine rauhe Schönheit entfalten kann. Durch die Geschichten über die ehemaligen Bewohner und die Funde, die man bei der Renovierung macht – seien es kleine Apotheker-Glasfläschen, Grabsteine oder altes Kochgeschirr – ist  das Haus im Ort verwurzelt und gibt den neuen Bewohnern einen Halt und eine Geborgenheit, wie das moderne Häuser wohl nur schwerlich vermögen.

Dazwischen gibt es immer wieder Passagen über die Trauer, die ersten Monate nach dem Tod des Mannes; all die unterschiedlichsten Phasen und Gefühle, die die Trauernde durchlebt, sind anrührend und nachvollziehbar beschrieben.

Wenige Wochen nach W.’s Tod beende ich einen Spaziergang beim Friedhof. Ein sonniger Vorfrühlingstag geht zu Ende, ich habe unterwegs geweint, ich bücke mich am Grab über Unkraut, das nicht da ist, damit man meine Augen nicht sehen kann. Meistens gehe ich ganz früh oder ganz spät, wenn sonst niemand da ist, und ich hatte auch jetzt gehofft, daß ich allein dort sein würde im letzten Licht des Abends. Aber das Wetter hat noch andere Gestalten herausgelockt. Zwischen Tränenschleiern  nehme ich im weiteren Umkreis drei Frauen und einen Mann wahr, alle alt, alle über siebzig, registriere ich plötzlich, und ich denke erschauernd: Das hier ist nicht wirklich. Es kann gar nicht sein, daß ich hier stehe, und mein Liebstes liegt unter diesem Erdhaufen. Ich kann doch nicht mit einem Schlage so alt sein wie diese da und mein Leben ist vorbei; das geschieht nicht in Wirklichkeit, es ist nur eine alptraumhafte Vision von dem, was irgendwann einmal sein wird. – Aber ich stand hier und es war jetzt. (S. 46)

Und da hinein verwoben die Erinnerungen an die anstrengende Zeit der Renovierung und an das Glück, das das Paar in den letzten zwei Jahren erlebt hat. Untermalt von Festen, Besuchen von Familie und Freunden sowie Spaziergängen und Wanderungen in der schönen Landschaft. Dadurch wird das Buch geerdet, die Ich-Erzählerin gönnt uns auch helle und fröhliche Passagen, da wird auch mal geschimpft, genossen, gearbeitet und es geht handfest zur Sache.

Meine beiden Legehennen sind Italienerinnen […] Erdmuthe ist die Chefin, resolut und bodenständig; Bilhildis dagegen ist ein romantisches Huhn. Am Anfang schien mir, sie werde eher Gedichte schreiben als Eier legen; denn sie wanderte oft noch in der Dämmerung allein durch den Regen, wenn die anderen sich schon zu einem großen plustrig-warmen Federhaufen auf der Stallfensterbank lagerten… (S. 78)

Nur mit dem Schutzumschlag des Buches aus dem Jahr 1998 habe ich gehadert. Aber das wäre dann wieder eine andere Geschichte.

Fazit: Sehr gerne gelesen.

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J. D. Vance: Hillbilly-Elegie (OA 2016)

Ich heiße J. D. Vance, und ich denke, ich sollte mit einem Geständnis beginnen: Ich finde die Tatsache, dass es dieses Buch gibt, das Sie in Händen halten, einigermaßen absurd.

So beginnt das von Gregor Hens aus dem Amerikanischen übersetzte Buch, das von der Süddeutschen als das wichtigste politische Buch des Jahres bezeichnet worden ist.

Das Absurde an dem Buch ist laut Vance, dass er eigentlich gar nichts Besonderes zuwege gebracht habe, jedenfalls nichts, was rechtfertigen würde, dass Fremde Geld für die Lebensgeschichte eines gerade einmal Einundreißigjährigen ausgeben. Er habe bloß erfolgreich an der Yale University Jura studiert, sei glücklich verheiratet und habe eine gute Stelle und zwei Hunde. Das sei alles – aber das ist es eben nur fast.

Denn da gibt es durchaus noch etwas, was Vance von nahezu allen anderen erfolgreichen Menschen in Amerika unterscheidet: Er kommt aus dem Hillbilly-Milieu, einer ziemlich weit unten angesiedelten sozialen Schicht, die auch schon mal als White Trash bezeichnet wird und in der aufgrund Drogensucht, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Gewalt und fehlender familiärer Strukturen die Aufstiegschancen gleich Null sind.

Ich identifiziere mich eher mit den Millionen von weißen Arbeitern ulster-schottischer Herkunft, für die ein Studium nie in Frage kam. Für diese Menschen ist Armut Familientradition. Ihre Vorfahren waren Tagelöhner in der Sklavenhaltergesellschaft der Südstaaten, dann Farmpächter, dann Bergarbeiter, und schließlich arbeiteten sie als Maschinisten oder im Sägewerk. Amerikaner nennen sie Hillbillys, Rednecks oder White Trash. Ich nenne sie Nachbarn, Freunde und Verwandte. (S. 9)

Vance ist sich natürlich im Klaren darüber, dass die Schließung von Firmen katastrophale Auswirkungen auf die Arbeiterschicht hat, aber ihm geht es um noch etwas anderes:

Was passiert eigentlich im Leben wirklicher Menschen, wenn es mit der Industrie bergab geht? Es geht darum, dass diese Menschen auf die schlimmen Bedingungen denkbar schlecht reagieren. Es geht um eine Kultur, die den sozialen Verfall in zunehmendem Maße befördert, statt ihm entgegenzuwirken. (S. 14)

Als er jobbt, lernt er junge Männer kennen, die oft gar keinen Arbeitsplatz mehr halten können, weil sie notorisch unpünktlich, unzuverlässig und verlottert sind. Wird ihnen dann gekündigt, jammern sie, tun sich leid und geben ausschließlich anderen die Schuld.

Doch dann steigt Vance in seine eigene Lebensgeschichte ein und schildert diese so anschaulich – geradezu filmreif -, dass man als Leser manchmal nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Ein Trinker als Großvater, der zumindest in seinen späteren Jahren ein wunderbarer Opa für den kleinen J. D. ist, eine schießfreudige Großmutter mit ordinärem Mundwerk und einem Herzen aus Gold, eine drogensüchtige und deshalb oft gemeingefährlich durchgeknallte Mutter mit ständig wechselnden Partnern und eine wenig lernförderliche Umgebung.

Das Männlichkeitsgehabe – wehe, du beleidigst meine Familie – wirkt wie auf dem Schulhof oder aus einem Film, wird aber bitterernst gelebt. Da lernt der kleine Vance von seiner Großmutter, die von allen nur Mamaw genannt wird, die besten Tricks und den Ehrenkodex für Prügeleien: Fange nie zuerst an, aber wenn jemand deine Familie beleidigt, dann gehe als Sieger vom Platz.

J. D. Vance und seine Schwester Lindsay sind in dieser chaotischen und oft auch gefährlichen Kindheit hauptsächlich mit Überleben beschäftigt. Auf gute Noten legt in der Familie niemand Wert, aber J. D. hat am Ende des Schultages Angst vor der Glocke, weil er nicht weiß, in welchem Zustand er seine Mutter vorfinden wird, wenn er nach Hause kommt.

Der emotionale Halt kommt ausschließlich von seinen Großeltern, die er über alles liebt und auf die er sich – obwohl sie selbst sich oft eher asozial verhalten und noch nicht einmal zu einer Beerdigung ohne ihre Waffen fahren – hundertprozentig verlassen kann.

Doch auch wenn es Vance durch alle Krisen hindurch ja offensichtlich bis nach Yale geschafft hat, ist sein mühsamer Weg nicht zu Ende. Er stellt fest, dass die erlittenen Traumata sich auf Beziehungen und seine Fähigkeit, Konflikte friedlich zu lösen, langfristig auswirken.

Ich versuchte es mit einer Therapie, aber das fand ich dann doch zu bizarr. […] Stattdessen ging ich in die Bibliothek, und da lernte ich, dass ein Verhalten, wie ich es für ganz normal gehalten hatte, von Wissenschaftlern sehr intensiv erforscht und diskutiert wurde. (S. 260)

Darüber hinaus geht der gesellschaftliche Aufstieg einher mit einem anstrengenden kulturellen Wechsel: Plötzlich ist es verpönt, in Fastfood-Restaurants zu essen, und man weiß, wie französische Weißweine ausgesprochen werden. Man schreit sich nicht dauernd an und prügelt sich nicht. Dazu kommt, dass man als Arbeiterkind über nahezu null soziales Kapital verfügt, das man an der Universität und spätestens bei den Bewerbungen aber dringend benötigt.

In seiner eindrücklichen Schilderung bezieht Vance immer wieder auch Studien und Dokumentationen, z. B. zur Armutsverteilung, zu Patchworkfamilien und zu Gesundheits- oder Ernährungsfragen ein, um seine Geschichte in einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Er hat nicht auf alles eine Antwort, aber er zeigt, welche Fragen man stellen müsste und dass Regelungen von zwar wohlmeinenden, aber ahnungslosen Politikern manchmal eher kontraproduktiv sind.

Es ist ein großartiges Buch, es spricht nämlich nicht von oben herab über eine Schicht, die mir fremd und in diversen Verhaltensweisen durchaus suspekt ist, sondern zeigt unverwechselbare Menschen mit einer persönlichen Geschichte, die letztlich auch auf der Suche sind nach einem guten Leben, nach Liebe, nach einem gelingenden Familienleben, selbst wenn sie sich dabei mit katastrophalen Fehlentscheidungen dauerhaft ins Aus manövrieren.

Dadurch gibt Vance Menschen, die gedankenlos als White Trash abgewertet und aussortiert werden, ihre Würde zurück, da er sie nicht ausschließlich über ihre Opferrolle im Kapitalismus definiert, sondern auch auf die blinden Flecken in der Selbstwahrnehmung dieser Menschen hinweist und damit auf ihre Eigenverantwortung. Gleichzeitig mahnt er an, wie wichtig Erfahrungen von Selbstwirksamkeit sind. Das Gefühl, als er während seiner Zeit bei den US-Marines zum ersten Mal Geld verdient und damit seine Großmutter unterstützen kann, ist für ihn schier unbeschreiblich.

Gleichzeitig ist es auch ein beängstigendes Buch, denn die Folgen dieser Verelendung und Verwahrlosung ganzer Stadtteile und Landstriche sind ja noch gar nicht abzusehen.

Ach, und versteht man danach besser, warum manche dieser Hillbillys Trump so toll finden? Ja, natürlich, auch das. Vance zieht an einer Stelle das Resümee:

Was die Erfolgreichen von den Gescheiterten [aus seinem sozialen Umfeld] unterscheidet, sind die Erwartungen, die sie an ihr eigenes Leben gestellt haben. Aber was sie immer öfter von der politischen Rechten zu hören bekommen, ist: Es ist nicht deine Schuld, dass du ein Versager bist. Es ist die Schuld der Regierung. (S. 224)

Und ich denke, seine ordinäre, loyale Großmutter, die zusammen mit ihrem Mann mal eine Drogerie kurz und klein geschlagen hat, weil der Verkäufer nicht nett genug zu ihrem kleinen Sohn war, und die für ihren Enkel vermutlich ohne mit der Wimper zu zucken  gemordet hätte, wird mir lange im Gedächtnis bleiben.

Nachtrag

Ich hatte den Autor nach der Lektüre aus den Augen verloren und seine Laufbahn nicht weiter verfolgt. Jetzt, 2022, bin ich fassungslos über den kompletten Kurswechsel, den Vance vollzogen hat. Als ehemals scharfer Trump-Kritiker ist er zum stockkonservativen Republikaner mutiert, der all die gängigen Verschwörungsmythen teilt, grundsätzlich und ohne Ausnahme gegen Abtreibung ist, die Übel der Welt den Linken und den unmoralischen wilden Sechzigern in die Schuhe schiebt und Immigration auf einmal für „dirty“ hält. Ab 2023 wird er Ohio im Senat vertreten. Sein Wahlkampf wurde übrigens massiv von Peter Thiel finanziert. Wer noch weitere unerfreuliche Informationen zu ihm haben möchte, wird bereits in der englischsprachigen Wikipedia fündig.

Margaret Humphreys: Oranges and Sunshine (1994)

The truth which makes men free is, for the most part, the truth which men prefer not to hear. (Herbert Agar, S. 200)

Anlässlich Peggys Artikel Von Strafkolonien und Völkermord auf ihrem Blog Entdecke England möchte ich noch einmal eine eindrückliche Geschichtsstunde von Margaret Humphreys aus dem Jahr 1994 aus meinem Archiv holen.

So fing alles an

Margaret Humphreys, 1944 in Nottingham geboren, arbeitete als Sozialarbeiterin und war zuständig für Familien, die damit überfordert waren, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern.

1975 sorgte eine Gesetzesänderung dafür, dass erwachsene Adoptivkinder Zugang zu ihren Geburtsurkunden bekommen konnten. Daraufhin gründete Humphreys 1984 eine Selbsthilfegruppe, damit diese Erwachsenen sich über die Probleme, Ängste und Identitätsfragen austauschen konnten, die durch die Suche nach den leiblichen Eltern ausgelöst wurden.

Eine Australierin, 1986 zufällig auf Besuch in Nottingham, erfährt von dieser Gruppe und berichtet ihrer Freundin Madeleine in Australien davon. Kurze Zeit später bittet Madeleine Margaret in einem Brief um Hilfe bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern, denn Madeleine war als englisches Waisenkind mit vier Jahren nach Australien verschickt worden.

Margaret kann das nicht so ganz glauben, doch auch eine ihrer Klientinnen in der Selbsthilfegruppe behauptet, dass ihr Bruder als kleiner Junge nach Australien verschickt worden sei. Sie beginnt nachzuforschen und bringt für sich und andere eine Lawine ins Rollen, die die LeserInnen nun beeindruckt und entsetzt über die nächsten sieben Jahre mitverfolgen.

So geht es weiter

Humphreys schildert, wie sie, zunächst selbst völlig arg- und ahnungslos, mit Unterstützung ihres Mannes immer mehr Details über das sogenannte „child migration scheme“ in Erfahrung bringt: Die britische Regierung hatte schon im frühen 17. Jahrhundert Kinder nach Virginia verschickt, um die Kolonialisierung voranzutreiben (siehe auch den Wikipedia-Artikel zu Home Children). Doch noch im 20. Jahrhundert erfreute sich die Idee, missliebige Kinder aus Kinderheimen, die dem Steuerzahler ja ohnehin nur auf der Tasche lagen, in Gebiete des ehemaligen Empire zu schicken, großer Beliebtheit.

Between 1900 and the Depression of the 1930s, children were primarily sent to Canada, but after the Second World War the charities and agencies began to concentrate on Australia and, to a much lesser extent, Rhodesia and New Zealand. (S. 79)

Margaret kann das Interesse des Observer gewinnen und hat so die Möglichkeit, die Journalistin Annabel Ferriman auf der ersten Recherchereise nach Australien zu begleiten. Da wissen sie bereits, dass vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ganze Schiffsladungen mit Kindern aus England nach Australien gebracht wurden. Beteiligt waren u. a. folgende Organisationen: die Heilsarmee, National Children’s Home, Children’s Society, die Church of England, die Presbyterian Church, die Church of Scotland, die Fairbridge Society, Dr Barnardo’s und der ebenfalls katholische Orden der sogenannten Christian Brothers.

Die Kinder kamen dann in (vorwiegend katholische) Kinderheime in Australien und mussten dort z. T. Sklavenarbeit verrichten. Viele begingen Diebstähle, weil sie nicht genug zu essen bekamen. In den überwiegend von Männern geführten Institutionen gab es keine Liebe, keine Fürsorge. Bettnässer wurden bestraft und gedemütigt, die Bettdecken waren zu dünn, die Matratzen schmutzig. Vor allem bei den Christian Brothers gab es zahlreiche Fälle von grauenhafter sexueller Gewalt. Doch auch in den von Nonnen geführten Mädchenheimen haben sich einzelne Sadistinnen oder völlig von ihrer Aufgabe überforderte Frauen ausgetobt.

Einige der Zöglinge waren anschließend für ihr Leben gezeichnet und nie wieder in der Lage, irgendjemandem zu vertrauen. Es gab zwar Angebote aus der australischen Bevölkerung, Kinder zu adoptieren, doch das wurde von der katholischen Kirche normalerweise verweigert. Die Kinder mussten in den Institutionen bleiben, denn sie waren nicht nur billige Arbeitskräfte, sondern auch eine gute Einnahmequelle, da sich die britische und die australische Regierung die Kosten pro Kind bis zum 14. Lebensjahr teilten.

Humphreys zeigt, dass es eine in vielen Fällen geradezu aberwitzige Verdrehung der Tatsachen ist, wenn behauptet wurde, dass den Waisenkindern in Australien tolle Möglichkeiten geboten wurden, die sie in Großbritannien nie gehabt hätten.

Es kommt aber noch schlimmer: Selbst die Kinder, die in ihrer neuen Heimat erträgliche Bedingungen vorfanden, sind um einen wesentlichen Teil ihrer Identität betrogen worden. Humphreys findet heraus, dass es sich bei den angeblichen Waisenkindern gar nicht um Waisenkinder gehandelt hat. Nahezu alle haben oder hatten in Großbritannien Mütter, Geschwister oder Verwandte, die sie nun – Jahrzehnte später – mit der von Humphreys gegründeten Stiftung „Child Migrants Trust“ versuchen, ausfindig zu machen. Doch Kinder, denen man erzählt hatte, dass sie Vollwaisen seien, waren natürlich leichter beeinflussbar und eher bereit, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, ohne unbequeme Fragen zu stellen.

Den Müttern, die, oft aus einer Notlage heraus, ihre Kinder ins Heim gegeben hatten, hat man, wenn sie ihre Kinder wieder zu sich nehmen wollten, erzählt, dass ihre Kinder tot seien. Eine andere Variante lautete, sie würden inzwischen bei liebevollen englischen Adoptiveltern aufwachsen oder sie seien halt inzwischen in Australien. Dies sogar dann, wenn Mütter ausdrücklich eine Adoption verweigert hatten, weil sie immer vorhatten, ihr Kind irgendwann zurückzuholen.

Humphreys geht dabei auch der Frage nach, wie es politisch und juristisch überhaupt möglich war, Kinder einfach in ein anderes Land abzuschieben. Großbritannien hat lange jegliche Verantwortung für diese Zwangsverschickung abgestritten, obwohl die Dokumente in den Archiven eine andere Sprache sprechen. Die historischen Quellen belegen außerdem, dass Australien ein enormes Interesse an britischen Kindern hatte, weil die der „richtigen“ Rasse angehörten, noch formbar waren, finanziell günstiger waren als erwachsene Einwanderer und als Verstärkung gegen eine befürchtete asiatische Invasion die Bevölkerungsdichte nach oben treiben sollten. 1945 beispielsweise rief der australische Premierminister eine entsprechende Konferenz ein, um für die massenhafte Einwanderung von Kindern zu werben. Er dachte an mindestens 50.000 Kinder.

Das weitere Schicksal der Kinder hing dann auch davon ab, in welches Land sie verschickt wurden. Diejenigen, die nach Neuseeland kamen, wurden zwar überwiegend in Pflegefamilien gebracht, doch denen ging es vorrangig um billige Arbeitskräfte auf den Farmen. Die Kinder, die nach Simbabwe – damals Rhodesien – verschickt wurden, haben ihre Kindheit meist in guter Erinnerung. Ihre Auswanderung war oft die Entscheidung der gesamten Familie, die – zu Recht – vermutete, dass dem Kind als Mitglied der weißen „Herrenrasse“ in Afrika Möglichkeiten offen stehen würden, die in Großbritannien völlig illusorisch gewesen wären. Einige der ehemaligen child migrants sehen das selbst heute noch völlig unkritisch und bedauern höchstens, dass der Einfluss der Weißen schwindet. Humphreys befragt z. B. einen wohlhabenden weißen Anwalt, der als Kind nach Simbabwe gekommen war, nach den Lebensbedingungen seines Kochs:

  • ‚He lives at the end of the garden.‘
  • ‚And is he married?‘
  • ‚Oh yes – and he’s got children.‘
  • ‚Does his wife live here?‘
  • ‚No, we let him go and see her once a year.‘ (S. 153)

Humphreys schildet aber nicht nur die Einzelheiten des lange totgeschwiegenen child migration scheme, sondern zeigt auch die politischen und kirchlichen Reaktionen auf die Enthüllungen.

Die offiziellen Reaktionen der katholischen Kirche waren alles andere als christlich: Die Kirche versuchte lange, sich als Opfer einer medialen Hetzkampagne zu inszenieren und selbst Jahrzehnte später nur eine Pseudo-Aufarbeitung durch eigene Ordensleute zuzulassen. Dr Barry Coldrey, selbst ein Angehöriger der Christian Brothers und von der katholischen Kirche beauftragt, den Anschuldigungen nachzugehen, entblödete sich nicht, noch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Kindern die Schuld an den sexuellen Übergriffen ihrer Priester zu geben.

Brother Gerald Faulkner verteidigte die in den fünfziger Jahren gängige Praxis, pädophile Priester einfach in ein anderes Jungenheim zu versetzen, da man es halt nicht besser gewusst habe.

People assumed that a new start in life at a new place would bring about a different sort of life. (S. 325)

Die ersten Forschungsarbeiten zu dem Thema gingen davon aus, dass ca. 20 % der Jungen in den Heimen der Christian Brothers missbraucht oder vergewaltigt wurden.

Auch die anderen Organisationen waren zunächst weder zu einer Aufarbeitung dieses Kapitels noch zu einer (finanziellen) Unterstützung des Child Migrants Trust bereit. Manche weigerten sich, Akteneinsicht zu gewähren.

Als der öffentliche Druck zu groß wurde, schickte z. B. die Fairbridge Society brisante Unterlagen den Betroffenen einfach per Post, die dann sehen konnten, wie sie damit zurechtkamen, auf einmal den Namen ihrer Mutter, ein anderes Geburtsdatum und vielleicht einen anderen Taufnamen schwarz auf weiß vor sich zu haben, obwohl sie bis dahin geglaubt hatten, Vollwaisen zu sein.

Als Leser ist man beschämt, wenn man von den Schwierigkeiten liest, genügend Geld für die Arbeit des Child Migrants Trust zusammenzubetteln, und man fragt sich, wer wohl hinter den Morddrohungen und dem nächtlichen Überfall in Australien gegen Margaret gesteckt hat, nach dem sie jahrelang Schlafprobleme hatte.

Fazit

Ein spannendes, informatives Buch mit vielen Zitaten aus historischen Dokumenten, Briefen und Gesprächen, das es einem nicht einfach macht, denn es zeigt, dass das „Böse“ oft ein kaum noch zu entwirrendes Gemisch aus Rassismus, Zeitgeist, guten Absichten, Bürokratie, Fanatismus, Heuchelei, fehlender Kontrolle, Selbstgerechtigkeit und banaler Ignoranz ist.

Als Humphreys sich irgendwann fragt, wie sie bloß in all das hineingeraten ist, lächelt ihr Mann sie an und meint:

It’s that well-known mixture of the right person, in the right place, at the right time, with a smashing family. (S. 329)

Sie hat persönliche Opfer für diese Arbeit gebracht, ihren Mann und ihre zwei Kinder oft über Wochen, manchmal Monate, allein gelassen und selbst gesundheitliche Beeinträchtigungen in Kauf genommen, nur um ihrem Ziel näher zu kommen: so viele child migrants wie möglich noch mit ihren Müttern in Großbritannien zusammenzubringen, bevor der Tod das unmöglich macht.

Sie erzählt ihre Geschichte mit sanftem Humor, Wehmut und einer nicht versiegenden Menschlichkeit.

No matter how many stories of abuse I hear, I am always shocked. You can’t be prepared. I’m not shocked by the knowledge that brothers or priests or others are capable of such brutality. It’s the total devastation of the victim that stuns me; the fact that he has held on to his pain for all these years. It humbles me. […] It’s no good sitting there saying I don’t want it. You take their baggage because you know it’s too heavy for one person to carry through a lifetime. (S. 298)

Die letzten Kinder wurden übrigens 1967 verschickt.

Sowohl die australische als auch die britische Regierung haben sich inzwischen offiziell bei den ehemaligen child migrants entschuldigt und Humphreys ist vielfach für ihr Engagement ausgezeichnet worden.

Anmerkungen

Das Buch zeigt, wie hilfreich die Medien sein können. Ohne die Arbeit engagierter Journalisten und Filmemacher wäre die Arbeit von Humphreys und ihren Mitstreitern wahrscheinlich im Sande verlaufen. Nur mit der Hilfe von Zeitungsartikeln, Radiointerviews und Dokumentationen konnte die nötige Breitenwirkung erreicht werden, die notwendig war, um politischen Druck auszuüben, Beratungsstellen in Großbritannien und Australien aufzubauen, die Frage nach finanzieller Entschädigung anzustoßen und die Suche nach vermissten Familienangehörigen zu finanzieren.

Folgende Dokumentationen und Filme haben besonders dazu beigetragen, dass das Thema öffentlich wahrgenommen und diskutiert wurde. Die Filme sorgten außerdem dafür, dass sich Tausende ehemaliger child migrants an die jeweils geschalteten Hotlines wendeten, ihre Geschichten erzählten und sich ebenfalls auf die Suche nach ihren Müttern begaben, von denen sie Jahrzehnte lang geglaubt hatten, dass sie tot seien.

Auf die Ähnlichkeiten mit dem Schicksal der australischen „Stolen Generation“ kann hier nur hingewiesen werden.

Übrigens ist auch Frankreich in der Vergangenheit ähnlich vorgegangen und hat von 1963 bis 1982 über 1600 Waisenkinder aus Réunion nach Frankreich gebracht, um der zahlenmäßig schwächelnden Landbevölkerung aufzuhelfen. Siehe dazu den Artikel im Guardian vom Februar 2014.

Trauriger Nachtrag: Noch immer werden unzählige Aborigenes-Kinder zwangsweise von ihren Familien getrennt. Siehe den Artikel im Guardian vom März 2014.

Margaret Powell: Below Stairs (1968)

I was born in 1907 in Hove, the second child of a family of seven. My earliest recollection is that other children seemed to be better off than we were. But our parents cared so much for us. One particular thing that I always remember was that every Sunday morning my father used to bring us a comic and a bag of sweets. […] Sometimes now when I look back at it, I wonder how he managed to do it when he was out of work and there was no money at all coming in.

Mit diesen Sätzen beginnt der autobiografische Rückblick der britischen Autorin Margaret Powell auf ihre Jugend und die anschließende Zeit als „kitchen maid“ in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

In den ersten leider völlig uninspiriert heruntergeschriebenen Kapiteln schildert Powell die Armut und die ständigen Geldsorgen ihrer Familie. Der Vater war als Anstreicher oft arbeitslos, die Mutter arbeitete den ganzen Tag als Putzfrau. Staatliche Unterstützung gab es nicht und dennoch war es der Mutter zuwider, Almosen ihrer Arbeitgeber anzunehmen. Besonders schwierig war die finanzielle Lage während des Ersten Weltkrieges, als Margarets Mutter sämtliche Regale und Teile der Treppe verfeuerte, um wenigstens ein bisschen Wärme zu haben.

Margaret und ihre Geschwister müssen schon früh Aufgaben übernehmen, sind ständig hungrig und doch auch findig, wenn es beispielsweise darum geht, das Geld für eine Stummfilmvorführung aufzutreiben. Sie schildert nicht nur die Spiele der Kinder, den nachhaltigen Eindruck, den ein Zirkusbesuch auf sie machte, sondern auch die Beengtheit der Arbeiterwohnungen, in denen die Eltern immer dann miteinander schliefen, wenn die Kinder in der Sonntagsschule waren.

Als Margaret 13 Jahre alt ist, gewinnt sie ein Stipendium fürs Gymnasium; ihr Traum ist, später Lehrerin zu werden. Doch ihr ist völlig klar, dass sie trotzdem die Schule verlassen muss, um ihren Eltern nicht länger finanziell zur Last zu fallen. Zwei Jahre arbeitet sie in einer Wäscherei, bevor sie dann mit 15 ihre erste Stelle als „kitchen maid“ antritt.

Ab diesem Moment liegt die geschichtliche Bedeutsamkeit dieser Memoiren auf der Hand. Die Arbeitsbedingungen, unter denen Margaret nun viele Jahren arbeiten muss, sind atemberaubend grässlich. Und wer schon einmal eines der prächtigen Herrenhäuser in Großbritannien besichtigt und sich gewundert hat, wieso man bei derlei Besichtigungen so wenig über das Heer der Hausangestellten erfährt, weiß spätestens nach diesem Buch den Grund dafür. Sie waren für die meisten Herrschaften buchstäblich unsichtbar, einfach extrem billige Arbeitskräfte, denen man jegliche „gehobenen“ Bedürfnisse nach Bildung, Büchern oder schlicht einem nett eingerichteten Zimmer absprach.

Als „kitchen maid“ ist Margaret in der Hierarchie der Hausangestellten auf der untersten Stufe angesiedelt. Sie wird den anderen nicht einmal vorgestellt:

… don’t think I was introduced to them. No one bothers to introduce a kitchen maid. You’re just looked at as if you’re something the cat brought in. (S. 46 der Taschenbuchausgabe)

Moderne Hilfsmittel wie effektive Reinigungsmittel, Staubsauger, Handschuhe etc. gibt es nicht, die Arbeitszeiten sind katastrophal. Während des Frühjahrsputzes arbeitet sie von morgens kurz nach fünf Uhr bis abends um acht. Die Haushalte der gehobenen Schicht oder des Adels waren groß, täglich mussten Treppenstufen, Türen, Schränke, Geschirr und eine Unzahl an Töpfen gereinigt werden, oft waren ihre Hände aufgesprungen oder blutig. Freie Tage waren selten und man hatte kaum Gelegenheit, andere junge Menschen oder gar Männer kennenzulernen. Selbst wenn die Arbeit erledigt war, durfte man abends nicht mehr das Haus verlassen.

Die Ausbeutung, denen die Hausangestellten ausgesetzt waren, erinnert teilweise an Leibeigenschaft. Im Winter friert das Waschwasser in Margarets spartanisch eingerichtetem Zimmer ein, das sie sich mit einer weiteren Hausangestellten teilen muss. An ihrer ersten Stelle muss sie beispielsweise die Schnürsenkel in sämtlichen Schuhen bügeln, während der Enkelin des Hauses, die nur zwei Jahre jünger ist als Margaret, sogar die Zahncreme auf die Zahnbürste aufgetragen wird. Gleichzeitig wird den Dienstboten immer wieder suggeriert, dass sie auf einer völlig anderen Stufe stehen und dies auch fraglos, ja dankbar hinzunehmen hätten.

Eines Morgens will sie gerade die Zeitungen auf den Tisch in der Eingangshalle legen, als ihre Arbeitgeberin die Treppe hinunterkommt.

I went to hand her the papers. She looked at me as if I were something subhuman. She didn’t speak a word, she just stood there looking at me as though she could hardly believe that someone like me could be walking and breathing. […] I couldn’t think what was wrong. Then at last she spoke. She said, ‚Langley, never, never on any occasion ever hand anything to me in your bare hands, always use a silver salver. Surely you know better than that. Your mother was in service, didn’t she teach you anything?‘ (S. 74)

Die Demütigungen, die harte und schmutzige Arbeit, die Heuchelei ihrer Arbeitgeber und die Kränkung, ihre Schullaufbahn nicht fortsetzen zu können, führen zu Aggressionen und Minderwertigkeitsgefühlen, die ihr noch Jahrzehnte später, als sie gar nicht mehr als Hausangestellte arbeitet, schwer zu schaffen machen.

Diese Verbitterung spiegelt sich auch in ihren Erinnerungen. Es kostet sie sichtlich Mühe, allen Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Oft findet sich ein Schwarzweiß-Denken, ‚die da oben‘ sind automatisch die Feinde. Ihr Schreibstil ist weder subtil noch an psychologischen Nuancen interessiert, aber vielleicht erklärt gerade das die Wucht ihrer Schilderungen.

We always called them ‚Them‘. ‚Them‘ was the enemy. ‚Them‘ overworked us, and ‚Them‘ underpaid us, and to ‚Them‘ servants were a race apart, a necessary evil. (S. 94)

Wer allerdings könnte ihr ihren Zorn über die Heuchelei verdenken, den sie doch hinunterschlucken muss, wenn sie immer wieder beobachtet, wie ihre Arbeitgeber so besorgt um das Seelenheil und die moralische Integrität ihrer Bediensteten sind, sich aber einen feuchten Kehricht darum scheren, ob die Arbeits- und Schlafbedingungen eigentlich zumutbar oder gar dem Wohlbefinden förderlich sind.

Auch vor Nachstellungen und sexuellen Belästigungen sind die Hausangestellten nie hundertprozentig sicher. Die vornehmen Damen hingegen engagieren sich mit Begeisterung in diversen Wohltätigkeitsvereinen, z. B. für „fallen women“, doch sobald ein eigenes Zimmermädchen schwanger wird, wird ihm sofort gekündigt. Die Doppelmoral der herrschenden Schicht zeigt sich auch in den ‚love nests‘, die viele der vornehmen Herren irgendwo für ihre Geliebte eingerichtet haben.

Irgendwann erreicht sie ihr Ziel: Durch die Heirat kann sie dem ungeliebten Beruf enfliehen. Sie und ihr Mann Albert bekommen drei Söhne, für deren Schulbildung sie alles tut. Diesem Lebensabschnitt widmet sie gegen Ende des Buches nur wenige Seiten. Nach dem Zeiten Weltkrieg fängt Margaret an, Kurse zu besuchen und dem lange unterdrückten Wunsch nach Bildung Raum zu geben. Mit 58 besteht sie ihre ‚O-levels‘ und 1969 legt sie in Englisch ihre ‚A-levels‘ ab, was dem Buch dann noch eine versöhnlichere Note verleiht.

Und nach dem Erfolg ihres Buches geht es dann noch einmal richtig los:

… older people were clearly disturbed by the book’s anger. In the follow-up volume, published the next year, Powell explains how her memoir had prompted a storm of hurt letters from readers who had grown up in well-heeled households. They wrote to tell Powell that they knew for a fact that their parents had always tried hard to treat their servants as human beings. Some even went into detail about the bedrooms in which their maids had slept, anxious to prove how much effort had gone in to providing a comfortable home from home for the working-class girls in their care. Powell, though, was having none of it: while acknowledging that individual employers could be kind, the fundamental point remained that ’servants were not real people with minds and feelings. They were possessions.‘ (Kathryn Hughes, The Guardian, 19. August 2011)

Sie schrieb einige Romane und weitere Bücher über ihre Erfahrungen als „domestic worker“, z. B. Climbing the Stairs (1970).  Powell wurde ein gern gesehener Gast im Fernsehen. Bei ihrem Tod 1984 hinterließ sie ein Vermögen von 77.000 Pfund und ihre Bücher haben Serienklassiker wie „Das Haus am Eaton Place“ (auf Englisch „Upstairs, Downstairs“) inspiriert.

Also eine überaus interessante Lektüre, weil sie einen Einblick in eine Welt bietet, die spätestens im Zweiten Weltkrieg weitgehend untergegangen ist. Außerdem veranschaulicht das Buch sehr deutlich das Fazit, das Powell in der Einleitung zu ihrem zweiten Buch gezogen hat: Diese grenzenlose Ausbeutung war genau so lange möglich, wie den Heerscharen schlecht ausgebildeter Mädchen andere Verdienstmöglichkeiten gar nicht offen standen.

Hier geht’s lang zu einem (architektonischen) Blick auf die Arbeitsbedingungen der britischen Hausangestellten im 19. Jahrhundert.

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Charles Chaplin: My Autobiography (1964)

I was  born on 16 April 1889, at eight o’clock at night, in East Lane, Walworth. Soon after, we moved to West Square, St George’s Road, Lambeth. According to Mother my world was a happy one. Our circumstances were moderately comfortable; we lived in three tastefully furnished rooms. One of my early recollections was that each night before Mother went to the theatre Sydney and I were lovingly tucked up in a comfortable bed and left in the care of the housemaid. In my world of three and a half years, all things were possible; if Sydney, who was four years older than I, could perform legerdemain and swallow a coin and make it come out through the back of his head, I could do the same; so I swallowed a halfpenny and Mother was obliged to send for a doctor.

So beginnt der britische Ausnahmekünstler Charles Chaplin seine Autobiografie, die auf Deutsch unter dem Titel Die Geschichte meines Lebens erschien.

Nach zunächst bescheidenem Wohlstand rutscht die kleine Familie – Chaplins Vater hatte sich da schon längst aus dem Staub gemacht, trank und dachte nicht daran, seine Frau und die zwei Söhne finanziell zu unterstützen – immer tiefer in Armut ab.

Die Mutter Chaplins versucht alles, um ihre zwei Kinder mit ihren Auftritten in Music Halls und Näharbeiten über Wasser zu halten. Als Charles fünf ist, verliert seine Mutter ihre Stimme. Ein Jahr später muss die Familie zum ersten Mal ins Armenhaus. Zwar erhalten die Jungen dort eine rudimentäre Schulbildung und müssen nicht hungern, doch die Bestrafungen sind so brutal, dass die Zöglinge danach ärztlich versorgt werden müssen, und die Atmosphäre bedrückend.

Schließlich geht es der Mutter so schlecht, dass die Ärzte vermuten, dass chronische Unterernährung schuld an ihren Wahnvorstellungen ist, die sie schließlich für lange Zeit ins Irrenhaus bringen. Deshalb entscheiden die Behörden, dass sich nun der Vater um die beiden Jungen zu kümmern habe. Dessen Lebensgefährtin ist wenig erfreut darüber und sperrt die Kinder über Nacht auch schon mal aus, sodass sie dann von der Polizei aufgegriffen werden. Mit 37 Jahren stirbt der Vater an den Folgen seiner Alkoholsucht.

It was difficult for vaudevillians not to drink in those days, for alcohol was sold in all theatres, and after a performer’s act he was expected to go to the theatre bar and drink with the customers. Some theatres made more profit from the bar than from the box office, and a number of stars were paid large salaries not alone for their talent but because they spent most of their money at the theatre bar. Thus many an artist was ruined by drink – my father was one of them. (S. 15/16)

Aber die rabiate Kindheit legt auch den Keim zu Chaplins Talent, denn durch seine Mutter kommt er schon als Fünfjähriger in Kontakt mit der Bühne und lernt schließlich Unterhaltungsensembles kennen, mit denen er auf Tournee geht, als knapp Dreizehnjähriger z. B. mit Sherlock Holmes-Stücken. Und während seiner zweiten Amerika-Tournee beschließt er, in den USA zu bleiben.

The further west we went the better I liked it. Looking out of the train at the vast stretches of wild land, though it was drear and sombre, filled me with promise. Space is good for the soul. It is broadening. My outlook was larger. (S. 127)

Sein Aufstieg in den USA ist unaufhaltsam, er wird einer der wichtigsten und erfolgreichsten Männer der „Traumfabrik“ Hollywood.

Seine Figur, der Tramp, wird zu einer Ikone.

You know this fellow is many-sided, a tramp, a gentleman, a poet, a dreamer, a lonely fellow, always hopeful of romance and adventure. He would have you  believe he is a scientist, a musician, a duke, a polo-player. However, he is not above picking up cigarette-butts or robbing a baby of its candy. And, of course, if the occasion warrants it, he will kick a lady in the rear – but only in extreme anger! (S. 146)

Seine Filme stellen immer neue Einspielrekorde auf und während seiner Reisen in Amerika und Europa wird er schon früh  wie ein Popstar von Tausenden begeisterter Fans bejubelt.

The large railroad station in Kansas City was packed solidly with people. The police were having difficulty controlling further crowds accumulating outside. A ladder was placed against the train to enable me to mount it and show myself on the roof. […] More telegrams awaited me: would I visit schools and institutions? I stuffed them in my suitcase, to be answered in New York. From Kansas City to Chicago people were again standing at railroad junctions and in fields, waving as the train swept by. I wanted to enjoy it all without reservation, but I kept thinking the world had gone crazy! (S. 177)

Fazit

Es lohnt, diese Autobiografie zu lesen, auch wenn sie später an einigen Stellen auseinanderbricht, nämlich da wo sie nur Anekdoten und Begegnungen aneinanderreiht.

Chaplins Kindheitserinnerungen nehmen einen großen Raum ein; kein Wunder, Chaplin hat nie vergessen, aus welch erdrückender Armut er kam. Sein Leben lang war er dankbar für den späteren Reichtum und die persönlichen Freiheiten, die für ihn daraus resultierten.

Berührend beispielsweise die Stelle, wo er als ganz junger Mann nach Monaten harter Arbeit mehr oder weniger aus Verzweiflung beschließt, das gesparte Geld auf den Kopf zu hauen, und ein paar Tage so zu leben, wie die Reichen leben. Also kauft er sich einen unglaublich teuren Koffer und quartiert sich im Astor in New York ein. Dabei weiß er gar nicht, wie das so funktioniert, reich zu sein. Im Hotelrestaurant ist er viel zu nervös, als dass er das Essen wirklich genießen könnte.

The splendour of the lobby and the confidence of the people strutting about it made me tremble slightly as I registered at the desk. (S. 135)

Und später wehrt er sich gegen jegliche Verklärung seiner bitterarmen Kindheit, wie sie ihm beispielsweise Somerset Maugham unterstellen möchte:

I found poverty neither attractive nor edifying. It taught me nothing but a distortion of values, an over-rating of the virtues and graces of the rich and the so-called better classes. Wealth and celebrity, on the contrary, taught me to view the world in proper perspective, to discover that men of eminence, when I came close to them, were as deficient in their way as the rest of us. […] to know that intelligence is not necessarily a result of education or a knowledge of the classics. (S. 267)

Seine Vorliebe für sehr junge hübsche Frauen endet immer wieder desaströs. Und überhaupt:

I suppose a dissertation on one’s libido is expected in an autobiography, although I do not know why. To me it contributes little to the understanding or revealing of character. Unlike Freud, I do not believe sex is the most important element in the complexity of behaviour. Cold, hunger and the shame of poverty are more likely to affect one’s psychology. (S. 206)

Erst mit seiner vierten Ehefrau Oona, mit der er acht Kinder hat und die 36 Jahre jünger ist als er, wird er dauerhaft glücklich.

Man erfährt nicht nur ganz viel über das Kino in seinen Anfängen, über seine (Stumm-)Filme und Chaplins anfängliche Skepsis dem Tonfilm gegenüber.

Chaplin ist monatelang gereist – in Japan stand er im Fokus einer Verschwörung und sollte umgebracht werden – und hat so viele interessante, berühmte und wichtige Menschen kennengelernt (viele Adlige, Politiker, den Prinzen von Wales, Churchill,  Horowitz, Igor Stravinsky, Aldous Huxley, den Tänzer Nijinsky, Einstein, Schauspieler natürlich, Somerset Maugham, H. G. Wells, Brecht, Feuchtwanger, Truman Capote, Ghandi, Sartre, Picasso und und und), dass das allein schon das Lesen lohne würde.

Doch vor allem ist sein Leben auch ein Spiegel des 20. Jahrhunderts in Amerika, er verkörpert wie nur wenige den Traum „from rags to riches“ und den Aufstieg der Traumfabrik Hollywood. Er sieht, wie einige seiner Kollegen ihren Reichtum doch auf sehr merkwürdig anmutende Art zur Schau stellen. Das gilt auch für den Medienmogul Hearst.

Und die Macht der Zeitungen bekommt Chaplin, als es um eine Vaterschaftsklage geht, selbst hautnah zu spüren.

Der Schauspieler rennt nie den Massen und dem gerade angesagten Zeitgeist hinterher. Öffentlich plädiert Chaplin für den Kriegseintritt der USA während des Zweiten Weltkrieges und wird dafür als Kommunist beschimpft und verdächtigt. Die hysterische Stimmungsmache der Medien, die Kommunistenhetze und die Feindschaft J. Edgar Hoovers, des jahrzehntelangen FBI-Chefs, sorgen dafür, dass er sich schließlich, nach vier Jahrzehnten des Erfolgs, vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe rechtfertigen muss.

Man wirft ihm nun auf einmal vor, dass er sich nie um die amerikanische Staatsbürgerschaft bemüht habe. Und teilt ihm mit, dass er nach einem Europa-Urlaub damit rechnen müsse, wegen seiner politischen Umtriebe und Unzuverlässigkeiten strengstens befragt zu werden. So verbringt er seine letzten Jahrzehnte zusammen mit seiner Familie ganz luxuriös auf seinem Schweizer Anwesen.

Was aber bleibt von diesem Ausnahmekünstler?

In other words, through humour we see in what seems rational, the irrational; in what seems important, the unimportant. It also heigthens our sense of survival and preserves our sanity. Because of humour we are less overwhelmed by the vicissitudes of life. It activates our sense of proportion and reveals to us that in an over-statement of seriousness lurks the absurd. (S. 210)

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Heinz Hilpert: So wird alles Schwere entweder leicht oder Leben (2011)

26. Juni 1944

Mir schien alles trübe und traurig, weil ich von Dir fortging. Fortging, zwar in die tiefe Glaubensgewißheit, Dich wiederzusehen – aber auch mit der harten Gewißheit, dich lange entbehren zu müssen! Das entbehren zu müssen, was der liebe Gott zu meiner innigsten Ergänzung auf die Welt geschickt hat.

Nie noch habe ich die unbedingte Zusammengehörigkeit zu einem Menschen so hinreißend und grundsätzlich gespürt – als zu Dir. […]

Jeder Berg, jeder Baum, jeder Bach, jeder Schlaf, jedes Erwachen in Sonne oder Regen […] – alles lebte nur auf Dich bezogen und in mir, süß und zwingend, zu Dir hin. Manchmal irrte ich ab, zu dieser oder jener Frau, in Gedanken, leise und ganz tierhaft, und dennoch spürte ich – alles warst Du. Aus und mit Dir lebe und sterbe ich, ich will Dich ganz bei mir haben. Ich wünsche mir, zum erstenmal in Leben, ein Kind von Dir – ich und Du. Ich will nur Dich. In Dir vollendet sich mein Leben und mein Wirkenkönnen. Gott soll uns segnen und zusammenfügen. Ich will nur Dich – nicht „weil“, sondern ohne alle Gründe, weil Du bist und weil Du so bist, wie Dich eben Gott geschaffen hat. Mir und vielen zur Freude – aber mir zur letzten, einzigen Heimat. […]

Ich habe Dich lieber als mein Leben, lieber als Sonne und Mond, lieber als alle bestirnten Nächte, als alle Bäume und Tiere, die ich kenne und liebgewonnen habe, lieber, als mir je ein Mensch war, lieber als mein Leben, meine Hoffnung, meine Einsamkeit und die Summe meiner ganzen Arbeit und aller Seligkeiten, die mich auf meinem kurzen Gang durch die Dämmerung beglückt haben.

Aus den Tagebuchaufzeichnungen Heinz Hilperts (1890 – 1967) vom 26. Juni 1944

Zum Hintergrund

Heinz Hilpert, Regisseur und Intendant des Deutschen Theaters, hat seine große Liebe und spätere Ehefrau Annelies „Nuschka“ Heuser (1902 – 1963) Ende der zwanziger Jahre kennengelernt. Sie war Jüdin, ihre  Familie emigrierte, doch Annelies blieb in Deutschland.

Gerade noch rechtzeitig kann Nuschka im Juli 1943 in die Schweiz fliehen. Hilpert reist danach mehrere Male in die Schweiz. „Das vorerst letzte Mal sehen sich Heinz  und Nuschka Anfang Juli 1944 in Zürich. Kurz bevor er das Tagebuch beginnt.“ (S. 8)

Heinz Hilpert wird schließlich jede weitere Reise in die Schweiz untersagt. Er musste vorsichtig sein, war er den nationalsozialistischen Herrschers doch bereits unangenehm aufgefallen. Und Joseph Goebbels wird der drohende Satz zugeschrieben, dass Hilperts Theater nicht anderes seien als KZs auf Urlaub.

Bis Juni 1945 schreibt nun Hilpert dieses „Tagebuch für Nuschka“, das von Michael Dillmann und Andrea Rolz herausgegeben wurde und unter dem Titel So wird alles Schwere entweder leicht oder Leben 2011 im Weidle Verlag erschienen ist.

Wir erfahren, wie das Wetter und seine jeweilige Stimmung ist, ob die Vögel singen, wie viel er an heißen Tagen trinkt und wie sehr er die sommerliche Wärme genießt, bis in den letzten Kriegsmonaten die Einträge verzweifelter werden.

Doch vor allem enthält das schmale Büchlein wunderschöne Liebesworte, auch wenn die sprachliche Vergötterung Nuschkas, der „Gebenedeiten“, die er um Segen bittet, für mich an manchen Stellen etwas schwer verdaulich war. Die geliebte Frau ist „seine Brücke“ zu Gott.

Könnte ich Dir nur einmal ganz sanft über Deine geschlossenen Lider streicheln, Deinen Haaransatz ganz, ganz leise mit meinen Lippen berühren und Dich noch ein wenig fester zudecken, damit Du nicht nachtkalt hast. Aber so bleibt mir nichts, als Dich ganz innig in  mein Gebet einzuschließen und Dich der Gnade dessen anheimzustellen, der uns zusammen auf diese wunderschöne Erde kommen ließ. (S. 21)

In poetischer Sprache umkreist Hilpert immer wieder die Fragen, wie sich diese Liebe auf ihn auswirkt, wie sie ihn verwandelt und unverwundbar macht.

Die Begriffe „sicher“ und „unsicher“ hören auf einzig und allein im Hoheitsgebiet der Liebe. Hier lebt der Mensch im Glauben, und der Glaube macht unversehrbar – man „sichert“ nicht mehr. […] und in der vollkommenen Liebe zu Dir, Nuschka, bin ich ganz unversehrbar, kann ich kämpfen, ohne mich umzusehen, kann ruhen, ohne mich zu schützen, kann schwerelos sein, ohne mich ekstatisch aufzuschwingen, kann kreisen, ohne schwindelig zu werden, kann verweilen, ohne zu versäumen. „Nichts mehr versäumen“ ist das tiefe, tiefste Lebensgefühl, was sich dem Liebenden erschließt. Er rennt und jagt nicht mehr, er bangt und flieht nicht mehr. Er hält inne und ist heiter, er geht still fort und fort und ist selig. Das Wissen und die Weisheit, die für ihn taugt, schmiegt sich still in sein Herz. (S. 24)

Geliebt werden ist schön – es entwickelt und differenziert aber nicht. Lieben – mit aller Fragwürdigkeit des Widergeliebtwerdens – ist eben eine Kraftvergeudung, die ständig verjüngt, ist eine Auslieferung, die einem sich selbst zurückbringt, ist ein Schmerzempfinden, das in Lust umschlägt. (S. 60)

Und ähnlich wie auch Bonhoeffer in seinen Brautbriefen ringt auch Hilpert darum, die lange Trennungszeit sinnvoll werden zu lassen:

Und dann baute sich immer wieder aus Sehnsucht und Liebe eine Brücke, die gerade in Dein liebes Herz hineinmündete. Und ich ging darauf und dachte, warum ist Liebe, die sich bescheiden muß und sich nicht stillen kann, weil die Geliebte fern ist, so viel inniger und zarter und verbundener, verflochtener, unauflösbarer als die, die genießt? Weil sie schmerzhafter ist? Schenkt uns der Schmerz diese ganz besonderen Innigkeiten? Warum werden Menschen erst im Entbehren wesentlich? Und ganz nahe? (S. 63)

In den letzten Kriegsmonaten werden die Briefe aus Berlin dunkler, die Verzweiflung und Sehnsucht riesengroß, aber selbst die Gedanken an den Tod sind aufgehoben in dieser großen Liebe:

Die Welt wird immer dunkler. Die Angriffe immer grauenhafter. Wir müssen’s dulden! Meine Unversehrtheit liegt ganz bei Dir und meinem Gefühl zu Dir. Was auch kommt – ich bin immer nur auf dem Wege zu Dir. Immer Richtung Nuschka. Auch wenn ich sterben muß, ist mein letzter Herzschlag für dich. Sei geküßt und gesegnet. (S. 97)

Eine weitere Besprechung findet sich auf lustauflesen.de.

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Jeanette Winterson: Why be happy when you could be normal (2011)

When my mother was angry with me, which was often, she said, ‘The Devil led us to the wrong crib.’ The image of Satan taking time off from the Cold War and McCarthyism to visit Manchester in 1960 – purpose of visit: to deceive Mrs Winterson – has a flamboyant theatricality to it. She was a flamboyant depressive; a woman who kept a revolver in the duster drawer, and the bullets in a tin of Pledge. A woman who stayed up all night baking cakes to avoid sleeping in the same bed as my father.

So beginnt Why be happy when you could be normal, die autobiografische Lebensrückschau der bekannten britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson.

Monika Schmalz übersetzte Warum glücklich statt einfach nur normal? ins Deutsche. Winterson hatte schon in ihrem preisgekröntem Erstlingswerk Oranges are not the only Fruit (1985) ihre bizarre Kindheit und Jugend zum Thema gemacht: Sie war 1960 von einem armen Freikirchler-Ehepaar im Norden Englands adoptiert worden, doch waren die Wintersons denkbar ungeeignet, einem Kind Geborgenheit zu geben. Doch jetzt, ca. zehn Romane, einige Jugendbücher und Jahrzehnte später, bezeichnet Winterson ihren ersten Roman nur  noch als ‚cover version‘:

And I suppose that the saddest thing for me, thinking about the cover version that is Oranges, is that I wrote a story I could live with. The other one was too painful. I could not survive it. (S. 6)

Why be happy when you could be normal? ist nun der Versuch, sich noch einmal mit ihrer schmerzhaften Vergangenheit und den daraus resultierenden Narben auseinanderzusetzen. Diesmal soll es keine ‚cover version‘ werden. Winterson selbst bezeichnet das Buch als „experiment with experience“ und die Frage, wie viel in einem Werk streng autobiografisch sei, findet sie irrelevant. Entscheidend sei die Echtheit, die „authenticity“.  Und authentisch ist ihr neues Werk ohne Frage.

Immer stärker hat sie das Gefühl, dem Alptraum ihrer Kindheit trotz ihres berufliches Erfolges hilflos ausgeliefert zu sein: Ihre Liebesbeziehungen sind allesamt gescheitert – Winterson ist lesbisch, was dazu führte, dass sie mit 16 von ihrer Adoptivmutter rausgeworfen wurde und sie plötzlich auf der Straße stand -, sie ist nicht in der Lage, mit einem anderen Menschen unter einem Dach zu leben, sie fühlt sich zutiefst unliebenswert, wird depressiv und unternimmt im Februar 2008 einen Selbstmordversuch.

Das Buch ist nun auf mehreren Ebenen zu lesen. Wir kehren noch einmal nach Accrington zurück, wo Jeanette ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, und erfahren noch einmal im Detail, was Mrs Winterson unter einer christlichen Erziehung verstand. Ihr Ehemann ist nur ein stiller Schatten, der ihr an keiner Stelle Paroli bietet. Dabei gelingt es Winterson – menschlich und künstlerisch beeindruckend – wie schon in Oranges are not the only Fruit, dass wir auch Mitleid mit dieser fürchterlichen und sicherlich schwer kranken Frau haben, die sich und allen anderen in ihrem Umfeld, alles, was auch nur im Entferntesten nach Leben, Körperlichkeit oder Lachen oder Glück roch, mit äußerster Brutalität versagte. Man fragt sich mehr als einmal, was Mrs Winterson selbst erlebt haben muss und warum um alles in der Welt sie überhaupt auf die Idee gekommen ist, mit 37 ein Kind zu adoptieren. Die merkwürdige Frage, die der Titel stellt, ist im Grunde das Lebensmotto der Mrs. Winterson.

Die kleine Jeanette, in der Schule ein Außenseiter und ein schwieriges, aggressives Kind, wird als Strafe oft über Nacht einfach ausgesperrt und muss dann die Nacht auf der kalten Treppenstufe verbringen.

… and I’m locked out and sitting on the doorstep again. It’s really cold and I’ve got a newspaper under my bum and I’m huddled in my duffel coat. A woman comes by and I know her. She gives me a bag of chips. She knows what my mother is like. Inside our house the light is on. Dad’s on the night shift, so she can go to bed, but she won’t sleep. She’ll read the Bible all night, and when Dad comes home, he’ll let me in, and he’ll say nothing, and she’ll say nothing, and we’ll act like it’s normal to leave your kid outside all night, and normal never to sleep with your husband. (S. 4)

Auf einer zweiten Ebene ist es eine verdichtete Reflexion über die Auswirkungen solcher Erlebnisse, über die Folgen von Adoption und Lieblosigkeit, über die Narben und lebenslangen Auswirkungen einer solchen Jugend. Als Erwachsene musste sie erst mühsam lernen, was es heißt, einen anderen Menschen zu lieben. Auch die Bestrafung beispielsweise, nachts auf den Treppenstufen sitzen zu müssen, hat sich tief in ihr Leben eingeprägt:

My friends joke that I won’t shut the door unless it is officially bedtime or actually snowing into the kitchen. The first thing I do when I get up in the morning is to open the back door. […] All those hours spent sitting on my bum on the doorstep have given me a feeling for liminal space. I love the way cats  like to be half in half out, the wild and the tame. […] I am domestic, but only if the door is open. And I guess that is the key – no one is ever going to lock me in or out again. My door is open and I am the one who opens it. (S. 60)

Aber vor allem ist es eine Reflexion über die Möglichkeiten, solche Erfahrungen zu überleben und produktiv damit umzugehen. Einer ihrer Lieblingsgedanken dazu lautet, dass die Vergangenheit nicht feststehe, man verstehe und interpretiere sie in späteren Lebensabschnitten ganz unterschiedlich, man könne sie sich verwandeln, neu betrachten und sich damit aus der Opferrolle befreien. Außerdem sei schließlich entscheidend, wie man die Karten spiele, die einem das Leben ausgeteilt habe.

I used to have an anger so big it would fill up any house. I used to feel so hopeless that I was like Tom Thumb who has to hide under a chair so as not to be trodden on. Do you remember how Sinbad tricks the genie? Sinbad opens the bottle and out comes a three-hundred-foot-tall genie who will kill poor Sinbad stone dead. So Sinbad appeals to his vanity and bets he can’t get back into the bottle. As soon as the genie does so, Sinbad stoppers the neck until the genie learns better manners. […] Sometimes, often, a part of us is both volatile and powerful – the towering anger that can kill you and others, and that threatens to overwhelm everything. We can’t negotiate with the powerful but enraged part of us until we teach it better manners – which means getting it back in the bottle to show who is really in charge. This isn’t about repression, but it is about finding a container. (S. 34 – 35)

Und so ist das Buch auf einer weiteren Ebene eine Liebeserklärung an eigene und fremde Geschichten, an Büchereien, an Literatur, die für sie nichts mit intellektueller Selbstbeweihräucherung oder elitärer Freizeitbeschäftigung zu tun hat, sondern schlicht eine Lebensnotwendigkeit ist. Literatur hat eine wesentliche Rolle bei ihrem Überleben gespielt.

When I was locked outside, or the other favourite, locked in the coal-hole, I made up stories and forgot about the cold and the dark. I know these are ways of surviving, but maybe a refusal, any refusal to be broken lets in enough light and air to keep believing in the world – the dream of escape. (S. 21)

It’s why I am a writer – I don’t say ‘decided’ to be, or ‘became’. It was not an act of will or even a conscious choice. To avoid the narrow mesh of Mrs Winterson’s story I had to be able to tell my own. Part fact part fiction is what life is. And it is always a cover story. I wrote my way out. (S. 5 – 6)

I believe in fiction and the power of stories because that way we speak in tongues. We are not silenced. All of us, when in deep trauma, find we hesitate, we stammer; there are long pauses in our speech. The thing is stuck. We get our language back through the language of others. We can turn to the poem. We can open the book. Somebody has been there for us and deep-dived the words. I needed words because unhappy families are conspiracies of silence. The one who breaks the silence is never forgiven. He or she has to learn to forgive him or herself. (S. 9)

I had no one to help me, but the T. S. Eliot helped me.
So when people say that poetry is a luxury, or an option, or for the educated middle classes, or that it shouldn’t be read at school because it is irrelevant, or any of the strange and stupid things that are said about poetry and its place in our lives, I suspect that the people saying that had things pretty easy.
A tough life needs a tough language – and that is what poetry is. That is what literature offers – a language powerful enough to say how it is. (S. 40)

Und noch auf einer weiteren Ebene spielt das Buch. Winterson erklärt, wieso es auf einmal lebenswichtig für sie wurde, mehr über ihre leibliche Mutter zu erfahren. Diese Spurensuche ist spannend und man kann kaum glauben, wie Bürokratie und dieser ganze sogenannte Dienstweg, auch hier das Leben und schlichte Mitmenschlichkeit fast bis zur Unkenntlichkeit entstellen.

Die Sprache Wintersons ist kraftvoll, schnörkellos, und auch alle Bilder und Vergleiche wirken kompromisslos, so als ob sie nur genau so hätten verwendet werden können. Sicherlich kein Zufall, da ihr als Kind Sprache vor allem in der Bibel begegnet ist. Diese Schule merkt man ihr an. Allerdings bemerkt man so manchmal erst auf den zweiten Blick, dass man wahrscheinlich nicht allen sehr apodiktisch getroffenen Aussagen zustimmen will.

An keiner Stelle habe ich überlegt, ob ich das Buch zur Seite legen möchte. Und dennoch hat mir Oranges are not the only Fruit besser gefallen. Die diversen Ebenen in Why happy when you could be normal? ließen das Buch für mich auseinanderbrechen. Es ist die Aufarbeitung der schwierigen Lebensgeschichte von einer mutigen, klugen, sprachmächtigen und reflektierten Frau. Nicht mehr und nicht weniger.

Und das sagt Sabine von Binge Reading zu dem Buch.

Die Rezensenten sind geteilter Meinung: June Thomas schreibt beispielsweise im Slate Book Review am 3. März 2012:

Three-quarters of the way through the book, the action suddenly jumps ahead 25 years to 2007 and to the breakup of a relationship, the death of her adoptive father’s second wife, to Jeanette finding her adoption papers, and eventually descending into madness. Within a few pages, she is hearing voices and attempting suicide. These passages are alarming and shockingly revealing—a woman who has looked after herself so effectively since she was 16 can barely manage the basic tasks of survival—but it’s so raw and undigested, it’s hard to take in and difficult to understand. In her 1997 Paris Review interview, Winterson said, “If you want something to be clear straightaway then it’s probably better not to read my books.” That’s fair enough in a novel, but in a memoir, the saga of seeking out a birth mother—a cold, bureaucratic process that took such a toll on Winterson’s psyche—clarity feels like a reasonable request.

Julie Myerson hat sich im Observer vom 6. November 2011 allerdings begeistert zu dem Buch geäußert. Ihre Besprechung beginnt mit den Worten:

Jeanette Winterson once asked her adoptive mother […] why they couldn’t have books in the house. ‚The trouble with a book is that you never know what’s in it until it’s too late,‘ answered the peerless Mrs Winterson. As advertisements for reading go, it’s pretty seductive. But it also happens to be wonderfully true of this vivid, unpredictable and sometimes mind-rattling memoir. You start it expecting one thing – a wry retake of her working-class gothic upbringing – and come out having been subjected to one of the more harrowing and candid investigations of mid-life breakdown I’ve ever read. This book is definitely of the sort that Mrs Winterson feared most: truths that most of us find hard to face, explored in a way that disturb, challenge, upset and inspire. And so yes, by the time I realised what it was really about and what it was going to do to me, it was definitely far ‚too late‘.

Wer mehr über Winterson und ihr Schreiben erfahren möchte, sehe sich das Amazon-Interview mit ihr an. Buzzaldrins Blog verdanke ich den Hinweis auf Wintersons sehenswerten Auftritt 2012 im Sydney Opera House, in dem sie über die Bedeutung von Literatur und ihren Roman spricht.

Books, for me, are a home. Books don’t make a home – they are one, in the sense that just as you do with a door, you open a book, and you go inside. Inside there is a different kind of time and a different kind of space. There is warmth there too – a hearth. I sit down with a book and I am warm. I know that from the chilly nights on the doorstep. (S. 61)

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Sir Edmund Hillary: Wer wagt, gewinnt (OA 1975)

Ich wurde am 20. Juli 1919 in Auckland, Neuseeland, geboren.

Mit diesem nicht sehr inspirierten Einstieg beginnt die von Hans Jürgen Baron von Koskull ins Deutsche übersetzte Autobiografie des Mannes, dem zusammen mit dem Sherpa Tenzing Norgay im Mai 1953 die Erstbesteigung des Mount Everest gelang.

Nachdem Hillary auf knapp 28 Seiten seine Kindheit und Jugend abgehandelt hat, beschreibt er seinen Dienst in der Home Guard. Anschließend geht es um seine Militärzeit: Anfang 1944 erhält er den Einberufungsbefehl zur Royal New Zealand Air Force. Die Ausbildung zum Navigator endet im Januar 1945. Danach sind seine Einsatzgebiete die Fidschii-Inseln und die Salomon-Inseln, wo die Soldaten für Erkundungs- und Rettungsmissionen zuständig sind.

Während dieser Zeit frönt er schon, wann immer möglich, seiner Leidenschaft, dem Bergwandern und Klettern. Dabei lernt er nach und nach die wichtigen neuseeländischen Bergsteiger kennen; es entstehen Kontakte und Freundschaften, die ihm später noch nützlich sein werden.

Nach dem Krieg arbeitet er noch eine Zeitlang zusammen mit seinem Bruder in der väterlichen Imkerei, der Lohn ist karg und Freizeit gibt es nur im Winter. Doch allmählich verbringt er immer mehr Zeit mit der Bergsteigerei. Selbst während eines Europa-Urlaubs, auf dem er seine Eltern begleitet, geht er mit Freunden in Österreich und der Schweiz auf Tour.

Im Verlauf des Tages lernten wir einige Schweizer Bergsteiger kennen, die sich in der Hütte einquartiert hatten. Ein hübsches Mädchen fragte mich, wie mir die Schweiz gefiele, und ich sprach begeistert von der Schönheit dieses Landes. ‚Ja‘, pflichtete sie mir bei, ‚die Schweiz ist das schönste Land der Welt!‘ Später stellte sich heraus, daß sie in ihrem ganzen Leben noch nie die Grenzen ihres Heimatlandes überschritten hatte, aber sie schien von der Richtigkeit ihrer Behauptung wirklich überzeugt zu sein. (S. 143)

Als er das Angebot erhält, eine Expedition in Nepal zu begleiten, sagt er nicht Nein und so beginnt eine lebenslange Faszination für das Land und seine Berge. Anhand von Tagebucheintragungen schildert Hillary die Erstbesteigung des Mount Everest, die ihm zusammen mit Tenzing Norgay gelungen ist. Auch auf die zum Teil massive Kampagne, die beiden gegeneinander auszuspielen, geht er ein.

Auf dem Londoner Flughafen wurden wir wie siegreich aus einem Krieg heimgekehrte Helden empfangen. In den folgenden Wochen lernte ich eine mir bis dahin völlig fremde Welt kennen. Die Gesellschaften und öffentlichen Veranstaltungen jagten einander. Ich nahm an einem Staatsbankett und einem Empfang im Buckinghampalast teil. Dabei ernährte ich mich hauptsächlich von geräuchertem Lachs und Champagner und wachte jeden Morgen mit einem leichten Kater auf. Ich lernte die Leute mit den guten Beziehungen, die Mächtigen und Reichen kennen. Es war sehr unterhaltsam, aber ich habe nur wenig gesehen, um das ich jemanden beneiden oder für das ich jemanden bewundern müßte. In einer schlichten privaten Zeremonie, an der nur die Expeditionsteilnehmer und die königliche Familie teilnahmen, wurde ich von der Königin in den Adelsstand erhoben. (S. 239)

Danach folgen monatelange Vortrags- und Urlaubsreisen, auch mit seiner Familie, vor allem in die USA.

Ich kann nicht behaupten, daß mir mein erster Besuch in den Vereinigten Staaten gefallen hätte. […] und wir haben die falschen Leute kennengelernt: eine bestimmte Gesellschaftsklasse, mit der wir eigentlich nichts gemein hatten. Damals glaubte jeder Amerikaner, alle Ausländer wollten am liebsten auf amerikanische Weise glücklich werden, und sie konnten es nicht verstehen als ich ihnen sagte, daß es mir vollständig genügte, Neuseeländer zu bleiben. (S. 247)

Hillary war auch bei weiteren großen Expeditionen dabei, so war er z. B. verantwortlich für die Anlage von Vorratslagern bei der Commonwealth Trans-Antarctic Expedition, die ihn 16 Monate von seiner Familie trennte. Dabei erreichte er, auch wenn das gar nicht so vorgesehen war, noch vor dem offiziellen Leiter der Expedition den Südpol.

Diese Erinnerungen lesen sich, schon aufgrund der geschilderten Expeditionen, Dramen und Gefahren, natürlich spannend. Und gleichzeitig war ich erstaunt, wie dröge sie manchmal daherkommen. Hier schreibt einer, dem das anschauliche Erzählen ganz offensichtlich nicht in die Wiege gelegt worden ist. Vielleicht liegt dieser Eindruck unter anderem auch daran, dass das Private nur eine untergeordnete Rolle spielt. Frauen werden bis zu seiner erfolgreichen Mount Everest-Besteigung erst gar nicht erwähnt, doch danach zaubert er innerhalb weniger Zeilen sogar eine Braut aus dem Hut. Humor taucht nur dann auf, wenn er sozusagen gar nicht zu vermeiden ist.

Tiefsinnige Reflexionen sind seine Sache nicht. Hillary setzte sich später für viele wichtige Dinge, wie z. B. den Naturschutz, ein, sammelte Gelder und unterstützte den Bau von Schulen, Brücken und Krankenhäusern in Nepal, doch dass auch seine Expeditionen Müll und Schrott zurücklassen, wird kommentarlos übergangen.

Mit wachsender Erregung stiegen wir [Hillary und seine Familie] unter den hochragenden vereisten Wänden weiter bis auf 5190 Meter und fanden hier die ersten Zeichen früherer Everest-Expeditionen; verrostete Konservendosen, Markierungsstäbe aus Bambus, alte Batterien und ähnliches. Mich erinnerten sie an unvergeßliche Augenblicke. (S. 400)

Dass der Bau des Flughafens in Lukla durchaus auch negative Folgen für die einheimische Bevölkerung hatte, ist ihm allerdings schmerzlich bewusst.

Durch den Flughafen von Lukla sind die Bürokratisierung und der Tourismus im Gebiet des Everest leider beschleunigt worden. Schon am Khumbu spürt man die ‚Segnungen‘ der Zivilisation. Wälder werden abgeholzt, der Unrat türmt sich an den Campingplätzen und vor den Klöstern, und die Kinder haben schon das Betteln gelernt. […] Manchmal habe ich ein sehr schlechtes Gewissen. Mein einziger Trost liegt darin, daß die althergebrachte Lebensweise der Sherpas ohnedies nicht mehr aufrechterhalten werden kann, denn nur wenige Gesellschaften vermögen den Versuchungen zu widerstehen, die die Zivilisation zu bieten hat. (S. 382)

Was zählt, sind Tatkraft, Kameradschaft, körperliche Leistungsfähigkeit und die pure Abenteuerlust, bei der man immer wieder die eigenen Grenzen ausloten und verschieben kann.

Ich fand es herrlich, wieder in Thyang Botschi zu sein, in der wunderschönen Landschaft das Lager auf dem Schnee einzurichten und zu wissen, daß wir diesmal über die Ausrüstung und die Männer verfügten, um einen erfolgreichen Angriff auf den Gipfel zu beginnen. Ich bin bei keinem schwierigen Unternehmen sofort vom Erfolg überzeugt gewesen; gewiß nicht, besonders wenn es sich dabei um die Besteigung eines hohen und bis dahin noch nicht bezwungenen Berges handelte. Was hat es für einen Sinn, eine Sache anzupacken, von der man weiß, daß sie gelingen wird? Ich wußte, wir würden am Everest alle Kräfte einsetzen, über die wir verfügten, aber der Erfolg war uns nicht von vornherein sicher, und das war mir nur recht. (S. 207)

Deswegen liegt auch der Schwerpunkt in diesen Erinnerungen auf der fast minutiösen Schilderung seiner großen Expeditionen.  Ab und zu hatte ich dann das Gefühl, nun alle gefährlichen Gletscherspalten persönlich zu kennen. Auffällig auch immer wieder die Metaphorik; der Berg, der Gipfel, das sind Gegner, die man angreifen, bezwingen und besiegen muss.

Schade, dass diese Ausgabe des Frederking & Thaler Verlages so spärlich bebildert ist.

‚Es gibt nichts Neues mehr!‘ Immer wieder hört man das von allen möglichen jungen Menschen, und irgendwie ist das traurig, weil man weiß, daß derjenige, der es sagt, die Augen vor den Möglichkeiten verschließt, die es auch heute noch in großer Zahl gibt. Überall in der Welt gibt es Abenteuer zu bestehen, wenn man genug Phantasie besitzt und sich die Mühe macht, danach zu suchen. (S. 410)

Vielleicht wäre es in diesem Fall sinnvoller gewesen, eine Biografie über Hillary zu lesen statt seiner Autobiografie, denn ich hätte gern noch viel mehr über das Davor und Danach, z. B. seine Kindheit oder sein gesellschaftliches Engagement in Neuseeland sowie Einschätzungen seiner Freunde und seiner Familie gelesen.

Anmerkungen

1975 starben Hillarys Frau Louise und ihre 16-jährige Tochter bei einem Flugzeugunglück in der Nähe Kathmandus. 1989 heiratete er die Witwe seines engen Freundes Peter Mulgrew. Mulgrew hatten nach einer Expedition beide Füße  amputiert werden müssen. 1979 erklärte er sich bereit, für Hillary als Kommentator bei dem Air New Zealand Flug 901 einzuspringen, einem touristischen Rundflug über der Antarktis. Bei diesem Flug kamen alle 237 Passagiere und die Besatzung ums Leben.

Nach dem Tod Hillarys 2008 kam es zu häßlichen Erbstreitigkeiten zwischen Edmunds Sohn und seiner zweiten Frau.

Fundstück eines Dienstmädchens

Die Kartoffeln habe ich meistens schon [vorher] mit den Kindern [gemeint sind ihre jüngeren Geschwister] gebuddelt. Da mußte gutes Wetter sein, sonst ging es nicht. Denn das war ein extra Vergnügen, Vergnügen und Zeitvertreib, denn Spielsachen, wie die Kinder jetztzutage haben, kannten wir doch nicht. Eine Peitsche für die Knaben, wenn der Jahrmarkt kam, Bilderbogen mit großen schönen Geschichten, bunte Papierbogen, wo wir Puppen mit Kleid und Mantel draus fabrizierten. Wo wir denn im Verhältnis glücklicher waren wie viele Kinder jetzt sind mit ihrem vielen Tand, daß sie gar nicht wissen, womit spielen. Eine Puppe zu Weihnachten, ein Ruhebett mußte selbst fabriziert werden. Ein Knabe, der vielleicht von Onkel Seemann ein Schiff auf einem Wasser zu schwimmen bekommen hatte, das war ein angesehener Held.

aus: In Träumen war ich immer wach: Das Leben des Dienstmädchens Sophia von ihr selbst erzählt, hrsg. von Gunilla-Friederike Budde, 1990

Sophia Friederika Hinriette Lemitz, 1844 in Lütjenburg (Schleswig-Holstein) geboren, schreibt im Alter von ca. 64 Jahren ihre Lebenserinnerungen auf. Höchst ungewöhnlich für eine einfache Frau, die als Kind für zwei Jahre nicht zur Schule gehen konnte, weil sie sich nach dem Tod der Mutter um den Haushalt und die jüngeren Geschwister kümmern musste. Da war Sophia erst neun Jahre alt.

Sie wird dann später Dienstmädchen, wechselt die Herrschaften, was durchaus gängig war, kommt auf diese Weise sogar bis nach Kopenhagen und arbeitet mal in der Landwirtschaft, mal als Kindermädchen oder bei einer jähzornigen und zu Gewaltausbrüchen neigenden Gräfin. Sie heiratet einen gutaussehenden Handwerker, der zum Trinker wird, nichts mehr zum Lebensunterhalt beiträgt und katastophale Fehlentscheidungen trifft, die vor allem seine Frau ausbaden muss.

Ihre Erinnerungen schreibt sie in ein Poesiealbum, das erst in den achtziger Jahren auf einem Dachboden gefunden wurde und der Sammeltätigkeit Walter Kempowskis sein Fortleben zu verdanken hat. Als das Album bis auf den letzten Quadratzentimeter vollgeschrieben ist, brechen die Aufzeichnungen ab. Jedenfalls hat man kein zweites Heft gefunden.

Es ist aus heutiger, westlicher Sicht kaum zu glauben, wie viel harte Arbeit in ein einziges Leben passt, und ihren Ehemann hätte ich – so rund 100 Jahre später – gern persönlich aus dem Haus gejagt…

Das schmale Werk wird durch ca. 35 Seiten Erläuterungen zum zeitgeschichtlichen Hintergrund abgerundet.

Siehe auch die ausführlichere Vorstellung auf bloglichter.

Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer: Brautbriefe Zelle 92 (1992)

Wen dieser Briefwechsel kaltlässt, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.

Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945), der bekannte Theologe, aktiv im Widerstand gegen Hitler, begegnet im Juni 1942 seiner großen Liebe, der 18 Jahre jüngeren Maria von Wedemeyer. Im November 1942 bittet Marias Mutter wegen des Altersunterschiedes um das Einhalten einer einjährigen Kontaktsperre, was sie allerdings im April 1943 zurücknimmt, als Bonhoeffer von den Nazis verhaftet wird und für fast zwei Jahre in Berlin Tegel, Zelle 92, inhaftiert ist. Den ersten Kuss geben sich die Brautleute im Gefängnis.

Also schreiben sich diese zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten und beide sind wunderbar ehrliche Briefeschreiber. Besonders die Briefe der jungen Frau sind von großer Anschaulichkeit und zeigen – vor allem in der Anfangsphase – Lebenslust, Energie und übersprudelnde Verliebtheit.

Wenn ich morgens um 6 aufwache, ist mein erster Griff in die Nachttischschublade nach Deinem Bild. Dann stelle ich es auf die Bettdecke und sage: „Guten Morgen, Dietrich, hast Du gut geschlafen? Machst Du ein fröhliches Gesicht? Denkst Du an mich? Hast Du mich noch lieb? Freust Du Dich auf später?“ und noch viel mehr. (2. September 1943, S. 49)

Hurra, Hurra, Hurra, Hoch, Vivat und Halleluja! Ich hab einen Brief von meinem Dietrich bekommen und bin sehr glücklich darüber. Mein liebster Dietrich, was kannst Du für schöne Briefe schreiben! Ich bin verliebt in jeden einzelnen Satz, in jedes Wort, in jeden Kringel Deiner Schrift. Ich lese immer und immer wieder. Es unterhält sich so schön mit Dir, wenn man einen Brief dazu in Händen hat. (21. September 1943, S. 58)

Wir lesen aber auch von Marias Sorge, dem älteren und gebildeten Mann vielleicht doch nicht genügen zu können. Sie spricht von ihrem Alltag, ihrer Arbeit, der Trauer über den Tod des Vaters und des Lieblingsbruders im Krieg.

Da werden Hochzeitspläne geschmiedet und sie denkt darüber nach, woher man die zum Hausstand notwendigen Möbel bekommt und wie man sich wohl jeweils in der Schwiegerfamilie wird eingewöhnen können. Dietrich und Maria empfehlen einander ihre Lieblingsbücher (wobei Bonhoeffer nicht immer glücklich ist mit den Vorlieben seiner jungen Braut). Man erfährt, wie sich die beiden nach den „Sprecherlaubnissen“ fühlen, wo sie für kurze Zeit unter Aufsicht miteinander reden dürfen.

Eigentlich ist es ganz unverständlich, wenn ich so neben Dir sitze, daß es nun nicht einfach so weitergehen kann, daß ich nicht Deine Hand fassen darf und mit Dir zusammen hinausgehen kann durch die 2 großen Türen auf die Straße und dann immer weiter nur noch mit Dir zusammen. (Maria am 5. Januar 1944, S. 111)

Dietrichs Briefe klingen gesetzter, durchdachter und reifer und sind durch seine theologische Arbeit und seinen Glauben geprägt. So schreibt er am 21. November 1943:

Weißt Du, so eine Gefängniszelle, in der man wacht, hofft, dies und jenes – letztlich Nebensächliche – tut, und in der man ganz darauf angewiesen ist, daß die Tür der Befreiung von außen aufgetan wird, ist gar kein so schlechtes Bild für den Advent. (S. 83)

Doch zeigen gerade die wenigen an der Zensur vorbeigeleiteten Briefe, wie viel Herz und Leidenschaft sich eben den grauenhaften Bedingungen anpassen musste und sich nicht frei artikulieren durfte. So beginnt einer der wenigen unzensierten Briefe Dietrichs:

Meine liebe, liebe Maria! Es geht nun nicht mehr länger, ich muß endlich einmal an Dich schreiben und zu Dir sprechen, ohne daß ein Dritter daran teilnimmt. Ich muß Dich in mein Herz sehen lassen, ohne daß ein anderer, den es nichts angeht, mit hineinguckt. Ich muß zu Dir von dem reden, was uns beiden ganz allein auf der Welt gehört und was entheiligt wird, wenn es fremden Ohren preisgegeben wird. Was Dir allein gehört, daran lasse ich keine Dritten teilnehmen; ich empfände es als unerlaubt, als unrein, als hemmungslos, und als würdelos Dir gegenüber. Was in verschwiegenen Gedanken und Träumen mich zu Dir zieht und an Dich bindet, liebste Maria, das kann erst in der Stunde offenbar werden, in der ich Dich in meine Arme schließen darf. (11. März 1944, S. 150)

Außerdem ist er anfangs unsicher, ob er der jungen Maria mit einem von den Nazis inhaftierten Bräutigam nicht doch zu viel aufbürdet.

Die beiden wissen um ihre Unterschiede und tun das Menschenmögliche, sich durch ihre Briefe kennenzulernen, obwohl die meisten der Briefe ja die Zensur passieren mussten und nur wenige Briefe durch wohlwollendes Wachpersonal an den Augen der Nazi-Schergen vorbeigeschmuggelt werden konnten.

Wir bekommen Einblick in die familäre Prägung, vor allem von Maria. Sie schildert, wie bei ihr zuhause noch eine Jagdgesellschaft stattfindet, bei der die Gäste in Frack und Abendkleid erscheinen. Und wir hören von den Höhen und Tiefen dieses ungewöhnlichen Brautstandes, der beiden tiefes Glück, Traurigkeit, aber auch Dankbarkeit und Sehnsucht bedeutet. Immer wieder müssen sie darum ringen, das Unverständliche, das Sinnlose im Gottvertrauen wieder sinnvoll werden zu lassen, eine Aufgabe, an der besonders Maria spürbar reift.

Morgens, wenn ich um 1/2 sechs aufstehe, dann bemühe ich mich immer recht zart und behutsam an Dich zu denken, damit Du noch ein bißchen weiterschlafen kannst. Ich hab einen Kreidestrich um mein Bett gezogen etwa in der Größe Deiner Zelle. Ein Tisch und ein Stuhl steht da, so wie ich es mir vorstelle. (Maria, am 26. April 1944)

Im September 1944 entdeckt die Gestapo ein „Geheimarchiv der Verschwörer im Amt Canaris“, deren Kreis ja auch Bonhoeffer angehörte (S. 205), sodass die Hoffnungen, das Kriegsende noch zu erleben,  immer weiter schwinden. Am 9. Oktober wird Bonhoeffer ins Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts überführt. Dort entstehen dann im Dezember die berühmten Verse des später vertonten Gedichts „Von guten Mächten treu und still umgeben“.

Am 3. Februar 1945 erlebt Berlin den schwersten Luftangriff, so kommt „es am 7. Februar zum Transport, der Bonhoeffer mit 19 anderen prominenten Häftlingen in ein Kellergefängnis am Rande des KZ Buchenwald verbrachte. […] Am 3. April erfolgte die Weiterfahrt dieser Truppe gen Süden über Regensburg nach Schönberg im Bayrischen Wald, wo sie in einer Schule untergebracht wurden.“ (S. 212)

Am 8. April fand im KZ Flossenbürg das Standgericht statt „und am nächsten frühen Morgen die Hinrichtung am Galgen, zusammen mit Wilhelm Canaris, Ludwig Gehre, Hans Oster, Karl Sack und Theodor Strünck. Wohl zur gleichen Zeit erlitt Hans von Dohnanyi im KZ Sachsenhausen den Tod.“ (S. 213)

Maria von Wedemeyer hat vom Tod ihres Verlobten erst im Juni 1945 erfahren.

Ein gesondertes Fazit zu diesem Buch möchte ich gar nicht ziehen, zu sehr hat es mich bewegt und mitgenommen, wie hier zwei Menschen um ihre Liebe und ihre Zukunft ringen.

Ich konnte gut verstehen, dass Maria diesen Briefwechsel erst auf ihrem Sterbebett ihrer älteren Schwester überlassen hat. So persönlich, so zart, so intim sind diese Texte. Erst 1992 konnten die Briefe veröffentlicht werden, versehen mit einem umfangreichen und informativen Anhang, der u. a. die Lebenswege und die gesellschaftliche Stellung der Protagonisten noch einmal nachzeichnet.

Eine große und wunderbare Liebesgeschichte, ein Fremdkörper in einer Zeit der Freizügigkeit, der Selfies, Pornos und der scheinbar völligen Tabulosigkeit, die doch die Zeit überdauern wird und mich verstört und bewegt hat wie lange kein Buch mehr und die en passant auch den Irrsinn des Nationalsozialismus zeigt.

Am 8. Oktober 1945 schreibt Karl Bonhoeffer, der Vater Dietrichs, an seinen Kollegen Professor Joßmann in Boston:

… Daß wir viel Schlimmes erlebt und zwei Söhne (Dietrich, der Theologe, und Klaus, Chefsyndikus der Lufthansa) und zwei Schwiegersöhne (Prof. Schleicher und Dohnanyi) durch die Gestapo verloren haben, haben Sie, wie ich höre, erfahren. Sie können sich denken, daß das an uns alten Leuten nicht ohne Spuren vorübergegangen ist. […] Da wir alle aber über die Notwendigkeit zu handeln einig waren und meine Söhne auch sich im Klaren waren, was ihnen bevorstand im Falle des Mißlingens des Komplotts und mit dem Leben abgeschlossen hatten, sind wir wohl traurig, aber auch stolz über ihre geradlinige Haltung. (zitiert nach: E. Bethge, R. Bethge, C. Gremmels: Dietrich Bonhoeffer, Bilder aus seinem Leben, 1986, S. 234)

Anmerkungen

Aus der gleichen Zeit stammen die Briefe von Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, die von Thomas Hartnagel veröffentlicht wurden, siehe dazu den Beitrag auf Annes Lesetagebuch.

Wer auf der Suche nach weiteren Liebesbriefen ist, sollte auf Leselebenszeichen vorbeischauen. Ulrike bespricht Die Liebesbriefe von Dylan Thomas.

James Rebanks: Mein Leben als Schäfer (OA 2015)

Unsere ganze Klasse spielte gern ein „Spiel“, bei dem es darum ging, innerhalb einer Unterrichtsstunde schulische Ausstattung von größtmöglichem Wert zu schrotten und das Ganze als „Panne“ zu verkaufen. Bei solchen Aktionen war ich gut. Der Boden war übersät mit kaputten Mikroskopen, Tierpräparaten, zersplitterten Stühlen und zerfetzten Büchern. Eine in Formaldehyd konservierte Froschleiche lag mit gespreizten Gliedern auf dem Boden wie ein Brustschwimmer. Die Gashähne brannten wie eine Bohrinsel, ein Fenster bekam einen Sprung. Die Lehrerin starrte uns nur noch an, in Tränen aufgelöst und völlig am Ende, während ein Techniker versuchte, die Ordnung wiederherzustellen. Eine Mathestunde gewann für mich erst an Reiz, als der Lehrer und ein Mitschüler mit Fäusten aufeinander losgingen. […] Von Zeit zu Zeit versuchte jemand – stets ein Stümper -, die Schule in Brand zu stecken. Ein Junge, den wir schikanierten, brachte sich ein paar Jahre später mit seinem Auto um. (S. 10/11)

Dieser dreizehnjährige Lehrer-Alptraum aus dem Lake District im Norden Englands veröffentlicht also knapp drei Jahrzehnte später seine Autobiografie Mein Leben als Schäfer.

Die deutsche Übersetzung stammt von Maria Andreas.

Zum Inhalt

Nach einer wohl noch halbwegs unfallfrei verlaufenden Grundschulzeit ist die weiterführende Schule für den jungen James (*1974), der aus einer Schäferfamilie stammt, ein einziger Graus. Neben einer verwahrlosten Schulatmosphäre macht er dafür auch die angeblich so bornierten Lehrer und Lehrerinnen verantwortlich:

Dass wir, unsere Väter und Mütter stolze, hart arbeitende und intelligente Menschen sein könnten, die Nützliches, vielleicht sogar Bewundernswertes leisteten, überstieg den geistigen Horizont dieser Frau [gemeint ist seine Lehrerin]. Erfolg definierte sich für sie über Bildung, Ehrgeiz, Unternehmungsgeist und eine glanzvolle Karriere, doch damit konnten wir nicht punkten. Ich glaube nicht, dass an dieser Schule jemals das Wort „Universität“ fiel. Dort hätte auch keiner von uns hingewollt. Denn wer wegging, gehörte nicht mehr dazu. Er veränderte sich, und damit gab es für ihn kein Zurück mehr, was wir instinktiv spürten. Bildung war ein „Ausweg“, ein Weg in die Welt hinaus, aber dorthin wollten wir auch gar nicht, wir hatten unsere Wahl längst getroffen. Später begriff ich, dass man in modernen Industriegesellschaften geradezu davon besessen ist, „weiterzukommen“ und „etwas aus seinem Leben zu machen“. Darin drückt sich eine Abwertung aus, die ich unerträglich finde: Wer bleibt, wo er ist, und körperlich arbeitet, gilt nicht viel. (S. 12)

Im Haus der Großeltern galt Bücherlesen – zumindest, wenn ein Junge dabei erwischt wurde – als Zeichen übelster Faulheit, da auf dem Hof schließlich genügend andere Tätigkeiten dringlicher waren. Und auch wenn sich seine Mutter die Augen ausweint, sein Vater versteckt ihn einfach an den Tagen, an denen er die Schule schwänzt.

Diese miese, abgetakelte Schule hat mir fünf Jahre meines Lebens geraubt. Ich hätte eine Stinkwut deswegen, wenn ich nicht wüsste, dass ich dort mehr über mich selbst gelernt habe als überall sonst. Ich habe dort auch begriffen, wie schlecht das moderne Leben sehr vielen Menschen bekommt. Wie wenig Wahlmöglichkeiten es ihnen bietet. Sie haben eine Zukunft vor sich, die so stumpfsinnig ist, dass sie sich jedes Wochenende um den Verstand saufen müssen. (S. 107)

So wundert es wenig, dass der junge James mit 15 die Schule ohne Abschluss verlässt, um endlich etwas Sinnvolles zu tun, nämlich auf dem väterlichen Hof mitanzupacken.

Mit romantischen Disneybildern süßer Lämmer hat die Arbeit nichts zu tun.

Jeden Sommer wird eine Handvoll Schafe von Fliegenmaden befallen. Die bösartigen, gefräßigen kleinen Kriecher setzen sich auf einem Fleck verschmutzter Wolle fest, dann im Fleisch oder in einem Fuß. […] Ein befallener Fuß ist manchmal nur noch ein Klumpen wimmelnder Maden; Maden am Schwanz oder im Vlies sind schwieriger auszumachen und können sich über den ganzen Körper ausbreiten. Wird das Tier nicht behandelt, kann es daran sterben… (S. 47)

Und so lernen schon die Kinder, dass zum Leben auf dem Bauernhof eben auch gehört, dass man immer wieder mal Blut, Kot oder Schleim abbekommt und dass man nach den Tieren riecht, die man hält.

Was hier zählt, sind Ausdauer und körperliche Kraft.

Dad blickte öfter mitten im Scheren zu mir herüber und fragte spöttisch, ob ich müde sei. Ich hätte ihm am liebsten eine reingesemmelt. Jahrelang konnte ich nicht mit ihm mithalten. (S. 46)

Ganz besonders wichtig für den Heranwachsenden ist sein Großvater, der für ihn lange alle Tugenden und Fähigkeiten verkörpert, die einen guten Mann und Farmer auszeichnen.

Aber er brachte mir auch Werte bei, eine innere Haltung – wie man fair mit den Leuten handelt und sich Respekt verdient, wie man Geschäfte macht und unseren guten Namen schützt. Von frühester Kindheit an wurde uns eingeimpft, dass wir zu einer Familie und einer Gemeinschaft gehören und Werte zu bewahren haben, die wichtiger sind als unsere persönlichen Wünsche und Launen. Der Hof und die Familie kommen stets an erster Stelle. (S. 82)

Doch dann gibt es immer häufiger Streit zwischen James und seinem Vater.  Zunächst flüchtet James in die Welt der Bücher, doch als der Hof trotzdem zu eng für die zwei Männer wird und sie sich mehrmals an die Gurgel gehen, wird ihm klar, er muss da raus.

Saufen. Schlägern. Vögeln. Diese Zukunft sah ich vor mir und hatte keine Lust darauf. Aber ich wusste nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte. Der Optimismus, der mich nach dem Schulabgang beflügelt hatte, war verflogen. (S. 137)

Da trifft er mit 21 seine Herzdame und – man glaubt es kaum – besucht die Abendschule, um seine Hochschulreife zu erwerben. Als der Lehrer ihn irgendwann fragt, ob er nicht studieren wolle, lacht James ihn zunächst aus.

Ich wünschte mir kein einziges Mal, ach, wäre ich doch zur Universität gegangen. Die wenigen Leute aus meinem Bekanntenkreis, die studiert hatten, schienen nach ihrer Rückkehr auch nicht klüger, sondern hatten eher eine Menge Unsinn gespeichert. Und sie gehörten nie mehr richtig dazu. Trotzdem brachte mich die Frage ein wenig aus dem Gleichgewicht. Ich wollte nicht wirklich weg von hier, aber wenn der Lehrer fand, mir liege dieser Bücherkram, dann hieß das vielleicht, dass ich Wahlmöglichkeiten hatte. Und die brauchte ich. Die Bücher und die Abendschule öffneten mir einen Freiraum, über den ich selbst verfügen konnte. Ich erweiterte meinen Horizont und entdeckte, dass man sein eigenes Schicksal in einem viel größeren Umfang gestalten kann, als ich es bisher erlebt hatte. Wer mehr las, härter arbeitete, die Dinge klug durchdachte und besser als andere Leute schrieb oder argumentierte, der war auf der Gewinnerseite. (S. 144)

Anschließend studiert er in Oxford. Genau dieser Ausflug in die intellektuelle Welt ermöglicht ihm heute, freiberuflich als beratender Experte beim UNESCO-Weltkulturerbezentrum in Paris zu arbeiten, eine Tätigkeit, ohne die sein Hof heute wirtschaftlich wesentlich schlechter dastehen würde.

Und so erfahren wir, welche Arbeit vonnöten ist, um die Lammsaison über die Bühne zu  bringen (besonders, wenn im April noch mal Schneestürme toben), wie die Schäfer und Züchter ihre Schafe auf den Märkten verkaufen (und vorher hübsch frisieren, da werden auch schon mal ein paar Haare in der falschen Farbe mit Pinzette ausgezupft) und wann die Schafe auf welchen Weiden gehalten werden und wie sich das anfühlt, wenn einem die ganze Heuernte für den nächsten Winter verregnet.

Aber auch derbe und zarte Familienanekdoten fehlen nicht, die das Ganze erden und dem Buch eine authentische, bodenständige Atmosphäre geben.

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  • Die erste Schäferregel lautet: Es geht nicht um dich, sondern um die  Schafe und das Land.
  • Die zweite Regel: Manchmal hast du keine Chance.
  • Die dritte Regel: Quatsch nicht lang, sondern komm in die Pötte. (S. 202)

Fazit

Es ist ein Buch, das – in der Chronologie hin und her springend und locker den vier Jahreszeiten folgend – nicht nur einen interessanten und mit Informationen überbordenden Einblick in eine mir völlig fern liegende Welt, die Bergschäferei auf den nordenglischen Fells, erlaubt und verdeutlicht, wie viel Knochenarbeit, Sachverstand, Sturheit und regendichte Klamotten dafür vonnöten sind.

Es ist eine hinreißende Liebeserklärung an seine Heimat im Lake District, an seinen Großvater und seine Familie, an seine Herdwick-Schafe und Hütehunde und vor allem an seinen Beruf, den er als Berufung erlebt, ja schon fast mythisch überhöht:

Wir werden geboren, leben unser arbeitsreiches Leben und sterben, vergehen wie die Eichenblätter, die im Winter über unser Land wehen. Wir sind alle ein winziger Teil dessen, was überdauert und was wir als solide, echt und wahrhaftig empfinden. Unser Schäferleben wurzelt tief im Boden dieser Landschaft, tiefer als fünftausend Jahre. (S. 20)

Bei der Arbeit hier oben wird man demütig; sie befreit einen von jeder Illusion, wichtig zu sein; man könnte sagen, sie ist das Gegenteil vom Bezwingen eines Bergs. (S. 280)

Es ist aber auch ein sperriges und stellenweise trotziges Buch, das manchmal so tut, als könnte man die Komplexität der modernen Gesellschaft einfach dadurch auflösen, dass am besten einfach alle da bleiben, wo sie herkommen.

Touristen sind für ihn die lästigen Leute in teurer Funktionskleidung, die achtlos an den Jahrhunderte alten Steinmauern vorbeischlendern und deren Hunde unangeleint auf die Schafe losgehen und sich dann noch aufregen, wenn eine Schafherde die Straße versperrt.

Wobei er die Entwicklung des Lake District zum „malerischen Tummelplatz“ sicherlich nicht ohne Grund mit großer Skepsis betrachtet:

Heute strömen jedes Jahr 16 Millionen Besucher in ein Gebiet mit 43.000 Einwohnern. Sie geben jährlich über eine Milliarde Pfund aus. Mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Region hängen vom Tourismus ab, und viele der Bauern sind darauf angewiesen, ihr Einkommen durch Bed & Breakfast oder andere Angebote aufzubessern. Aber in manchen Tälern sind über zwei Drittel der Häuser Zweitwohnsitze oder Feriendomizile, und viele Einheimische können sich das Wohnen in ihrer eigenen Gemeinde nicht mehr leisten. […] Es gibt Orte, die sich nicht mehr wie unsere eigenen anfühlen, als hätten die Gäste das Gästehaus übernommen. (S. 15)

Den Touristen spricht er das Recht ab, von einer „Liebe“ zum Lake District sprechen zu dürfen:

Es ist sonderbar, wenn man allmählich begreift, dass die eigene Landschaft auch von anderen Menschen geliebt wird. Noch sonderbarer und ein wenig beunruhigend ist es, wenn man nach und nach entdeckt, dass wir Einheimischen bei allem, was diese Menschen mit unserer Landschaft verbinden, eigentlich gar nicht vorkommen. Wenn es schüttet wie aus Kübeln oder im Winter schneit, sind nie Touristen hier, deshalb ist man versucht, ihre Liebe zum Lake District als Schönwetterliebe abzutun. Unsere Beziehung zu dieser Landschaft beruht darauf, dass wir hier alles miterleben. Für mich ist das ein ähnlicher Unterschied wie zwischen der Teenie-Liebe zu einem hübschen Mädchen und der Liebe zur eigenen Frau nach vielen Jahren Ehe. (S. 99)

Aber natürlich ist auch der uralte Beruf des Schäfers an die moderne Marktwirtschaft und unser Konsumverhalten gekoppelt:

Das einzig Traurige an der Scherzeit ist, dass Wolle, eines der großartigsten Produkte der Welt, heute so geringe Preise erzielt. […] Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts brachten Karawanen von Pferden oder Eseln Wollballen über die Berge nach Kendal, einer Stadt, die ganz vom Wollhandel lebte. Die Klöster, die im Mittelalter weite Bereiche des Lake District besaßen, erwarben einen Großteil ihres Reichtums durch Wolle. Heute bezahlen wir einem professionellen Scherer ein Pfund pro Tier. Das Vlies ist nur vierzig Pence wert und bringt damit nur einen Teil der Kosten herein, von einem Gewinn ganz zu schweigen. In manchen Jahren machen wir uns gar nicht die Mühe, die Wolle zu verkaufen, weil der Preis so schlecht ist, und verbrennen sie einfach. (S. 48)

Nach der Lektüre wird man also der nächsten Schafherde ein bisschen nachdenklicher nachblicken, die unvergleichliche und uralte Kulturlandschaft des Lake District mit anderen Augen betrachten als vorher und sich fragen, wo man eigentlich selbst seine Wurzeln, seine Heimat hat.

Alles in allem also empfehlenswerte Pflichtlektüre für alle, die demnächst ihren Urlaub – so als schnöselige Touristen – im Lake District verbringen wollen.

In den alten Scheunen von Gatesgarth, wo ein anderer unserer Freunde seine Schafe züchtet, Willie Richardson, sind die Balken mit Rosetten und Urkunden für Herdwicks geschmückt, die sich im Laufe eines ganzen Jahrhunderts angesammelt haben; manche sind zerfleddert, verblichen und befinden sich in unterschiedlichen Verfallsstadien, andere sind aus den letzten Jahren. […] Orte wie diese alten Steinscheunen enthalten die wahre Geschichte und Kultur des Lake District. Aber nur die Schäfer und Schäferinnen, die dort ihre Tiere herausputzen, haben diese Auszeichnungen je gesehen; Tausende Besucher laufen auf ihren Wanderungen an den Scheunen vorbei und erfahren nie, welche Schätze sie bergen. (S. 273)

Aber es bleibt ein ungelöstes Rätsel, weshalb ein solches Buch so dermaßen kärglich, ja lieblos bebildert ist. Wahrscheinlich soll man gleich dem  Autor auf Twitter folgen.

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 Hier gibt es die Rezension des Bestsellers aus der New York Times.

Benjamin Mee: We bought a Zoo (2008)

Wie wähle ich bloß immer meine Bücher aus? Das Cover ließ auf seichte Unterhaltung schließen, doch die Geschichte klang skurril und ich gehe so gern in Tierparks, also kam We bought a Zoo: The amazing true story of a broken-down zoo, and the 200 animals that changed a family forever, das dann als Vorlage für den Film mit Matt  Damon dienen sollte, vor einigen Jahren mit nach Hause. Die deutsche Übersetzung von Theda Krohm-Linke erschien unter dem Titel Wir kaufen einen Zoo: eine ganz gewöhnliche Familie und ein verrückter Traum.

Der britische Journalist Benjamin Mee erzählt also seine Geschichte ab dem Jahr 2004; damals war er gerade mit Frau und Kindern nach Frankreich ausgewandert und sah einem entspannten Journalisten- und Familienleben in südeuropäischen Gefilden entgegen.

L’Ancienne Bergerie, June 2004, and life was good. My wife Katherine and I had just made the final commitment to our new life by selling our London flat and buying two gorgeous golden-stone barns in the south of France, where we were living on baguettes, cheese and wine. […] I was writing  a column for the Guardian on DIY, and two others in Grand Design magazine, and I was also writing a book on humour in animals, a long-cherished project which, I found, required a lot of time in a conducive environment. And this was it. (S. 5)

Doch ab da verschränken sich zwei Entwicklungen: Seine Frau Katherine erkrankt an Krebs und er, seine Mutter und seine Geschwister stehen plötzlich vor der ziemlich durchgeknallten Frage, ob sie einen völlig heruntergewirtschafteten Zoo in Dartmoor, England, kaufen wollen. Benjamin Mee ist sich im Klaren darüber, dass diese Idee „hare-brained“ ist, was aber nichts an ihrer Antwort ändert: Sie wollen.

Und so entfaltet sich eine Geschichte, die auf der einen Seite traurig ist und uns an unsere Endlichkeit erinnert. Dabei ist das Buch kein bisschen weinerlich oder selbstmitleidig, dafür aber ehrlich, diskret und anrührend.

So beschreibt er seinen ersten Besuch im Krankenhaus, nachdem er erfahren hat, dass Katherine keineswegs nur ein neues Mittel gegen ihre Migräne braucht, sondern einen Hirntumor hat:

I found Katherine sitting up on a trolley bed, dressed in a yellow hospital gown, looking bewildered and confused. She looked so vulnerable, but noble, stoically cooperating with whatever was asked of her. Eventually we were told that an operation was scheduled for a few days‘ time, during which high doses of steroids would reduce the inflammation around the tumour so that it could be taken out more easily. Watching her being wheeled around the corridors, sitting up in her backless gown, looking around with quiet confused dignity, was probably the worst time. The logistics were over, we were in the right place, the children were being taken care of, and now we had to wait for three days and adjust to this new reality. I spent most of that time at the hospital with Katherine, or on the phone in the lobby dropping the bombshell on friends and family. The phone calls all took a similar shape; breezy disbelief, followed by shock and often tears. After three days I was an old hand, and guided people through their stages as I broke the news.  (S. 11)

Und auf der anderen Seite ist sein Buch oft witzig, vielleicht weil Mee einfach so schreibt, wie die Dinge eben sind. Er beobachtet genau und ist nicht auf billige Knalleffekte bedacht. Er schildert präzise, z. B. eine abendliche Joggingrunde – noch während der Zeit in Frankreich – zusammen mit seinem großen Hirtenhund Leon:

Unusually I was out for a run, a bit ahead of Leon, so I was surprised to see him up  ahead about 25 metres into the vines. As I got closer I was also surprised that he seemed jet black in the moonlight, whereas when I’d last seen him he was his usual tawny self. Also, although Leon is a hefty 8 stone of shaggy mountain dog, this animal seemed heavier, more barrel-shaped. And it was grunting, like a great big pig. I began to conclude that this was not Leon, but a sanglier, or wild boar, known to roam the vineyards at night and able to make a boar-shaped hole in a chain-link fence without slowing down. I was armed with a dog lead, a propelling pencil (in case of inspiration) and a head torch, turned off. … As the light snapped on, the grunting monster slowly wheeled round and trotted into the vines, more in irritation than fear. And then Leon arrived, late and inadequate cavalry, and shot into the vineyards after it. Normally Leon will chase imaginary rabbits relentlessly for many minutes at a time at the merest hint of a rustle in the undergrowth, but on this occasion he shot back immediately professing total ignorance of anything amiss, and stayed very close by my side on the way back. Very wise. (S. 21)

Außerdem habe ich richtig mitgefiebert, ob sie all die bürokratischen, finanziellen und handwerklichen Hindernisse überwinden, die ihrer Erlaubnis, den Zoo wieder eröffnen zu dürfen, im Wege stehen.

Nach dem Lesen sieht man Zoos und ihre vielfältigen Aufgaben garantiert differenzierter und mit mehr Wertschätzung und zum anderen nimmt man es nicht mehr als einfach gegeben hin, dass die gefährlichen Tiere auch brav hinter den Gittern und in ihren Gehegen bleiben.

Anmerkungen

Hier der Webauftritt von Mees Dartmoor Zoological Park.

Hier Fotos von Friedrich Seidensticker, die ich immer wieder anschauen kann.

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Oss Kröher: Das Morgenland ist weit (1997)

Die hinreißenden Erinnerungen von Oss Kröher an eine nie mehr zu wiederholende Reise mit dem Motorrad beginnen mit den Sätzen:

Es war am Vormittag des 15. März 1951 in der Stadt Pirmasens, als vor dem Hause Klosterstraße 29 – unweit der Horebschule – ein kleiner Volksauflauf entstand. Die Menge umringte ein schier vorsintflutliches NSU-Motorrad, Baujahr 1928, das wundersamerweise den Krieg überlebt hatte und auf dem zwei abenteuerlich gewandete Gestalten saßen. Seitlich angekoppelt war ein heillos überladener Beiwagen, auf dessen Bug ein Schild mit der Aufschrift „Germany – India“ prangte. (S. 17)

Oss (eigentlich Oskar) Kröher (*1927 in Pirmasens) und sein Freund Gustav Pfirrmann brechen also im Frühjahr 1951 auf, um mit einem alten Motorrad samt Beiwagen bis nach Bombay in Indien zu fahren. Eine Reise, die fast anderthalb Jahre dauern wird.

Ihr Plan, die Haushaltskasse durch Vorführungen zu finanzieren, geht auf, und zwar spektakulärer, als sie das selbst erwartet hätten. Dabei ist Gustav für Zauberkunststücke und das Feuerschlucken zuständig, während Oss Volkslieder und Schlager samt Gitarrenbegleitung zu Gehör bringt. Immer wieder gewünscht vom Publikum wurde übrigens Lili Marleen.

Ich mußte es noch oft anstimmen, aber im ‚Arizona‘ über den Dächern von Damaskus sang ich es erstmals öffentlich. Vielleicht war mein Ausdruck deshalb so überzeugend, weil ich noch als Teenager an die Front gekommen war und nur durch außergewöhnliche Umstände das Kriegsende, wenn auch leicht lädiert, überlebt hatte. (S. 234)

Mit jugendlichem Überschwang nehmen sie es hin, dass sie schließlich sogar vom ersten indischen Premierminister Jawaharlal Nehru eingeladen werden.

Sie „fressen Staub“, „schlachten“ unzählige Wassermelonen, kämpfen mit Läusen, müssen so ziemlich alles reparieren, was an einem Motorrad kaputtgehen kann, schleppen bis zum Schluss zwei Feldbetten mit, freuen sich an der Schönheit der Menschen, der Moscheen und an den überwältigenden Natureindrücken. Sie fahren und spazieren mit offenem Blick durch die Natur, die Basare, Bars, Hurenviertel und Villen.

Mit der aufkommenden Nacht fuhren wir in eine Schlucht hinein, deren Felsblöcke sich zu beiden Straßenseiten die steilen Hänge emportürmten. Acht Kilometer rollten wir durch diese düstere Felsenwildnis aus geborstenen Säulen und Mauerresten der Antike, durch dies Niemandsland. Immer dunkler fiel die Nacht, immer steiler stieg die Straße zwischen den Zyklopenfelsen. Eine Eule flog lautlos vor uns her, und neben uns flüchtete ein Schakal in das Geröllfeld. Da hielten wir an und blickten ihm  nach, bis er auf dem Grat vor dem Nachthimmel noch einmal stehenblieb, zu uns herunterlugte – und dann verschwand. Kurz danach sperrte der syrische Schlagbaum die Straße. Der Grenzpolizist trug Khaki und begrüßte uns auf Französisch. Er hob den Schlagbaum und öffnete uns die Grenze. Wir waren in Syrien. (S. 210)

Sie geraten in Stürme, werden das Opfer von Sabotage, doch genauso werden sie vom Hauslehrer eines Scheichs eingeladen, der ihnen stolz seinen Wagenpark von fünfzehn Luxusfahrzeugen präsentiert, während seine Pächter wie Leibeigene leben.

Die beiden kommen einer Python ziemlich nah, geben in Bagdad Radio-Interviews und bewundern archäologische Kostbarkeiten, wie z. B. Ktesiphon, die Behistun-Inschrift oder die Ruinen von Babylon. Die Reisegefährten werden, wenn auch unbeabsichtigt, Zeuge der Bestattungsriten der Parsen, die die Leichen der Verstorbenen in den Türmen des Schweigens den Vögeln zum Fraß überlassen.

Sie hören Deutsch an den überraschendsten Stellen und ein Afghane überrascht sie mit seinem rheinischen Dialekt. Daneben gewinnen sie Freunde, mit denen sie z. T. Jahrzehnte später noch Kontakt halten, und erleben – gerade auch durch die Musik -, wie Menschen sich über Länder- und Sprachgrenzen hinweg verständigen und respektieren können.

Die lange Reise hatte uns unmerklich aufgeschlossen und bescheiden gemacht. Die Überheblichkeit unserer Jugend war der Achtung vor fremden Verhaltensweisen gewichen, und wir hatten gelernt uns der Ausstrahlung fremder Kulturen bereitwillig hinzugeben. (S. 493)

So sollte man reisen.

Was für ein großartiges Buch (und nein, ich fahre nicht Motorrad). Am liebsten möchte ich gleich wieder mit der Lektüre von vorn beginnen, habe ich doch die Fülle an Geschichten, befremdlichen und herzerwärmenden Eindrücken und skurrilen und gastfreundlichen Begegnungen und Informationen beim ersten Mal wie einen Abenteuerschmöker genossen.

Einmal [kurz vor Delhi] tauchte sogar eine Sänfte auf. Wir hatten uns gerade im Schatten niedergetan, als die vier Träger langsam näherkamen. Einer von ihnen mußte den Passagier darin auf uns hingewiesen haben, denn der Vorhang wurde zurückgezogen, und das Antlitz eines zwölfjährigen Knaben sah uns an. Über den dunklen Augen und der Bronzehaut der Stirn leuchtete der weiße Turban aus Seide, und mit anmutiger Geste hielt die Knabenhand den Vorhang gerafft. So zog die Sänfte fast lautlos an uns vorbei, denn die vier halbnackten Träger gingen barfuß; dann verschwand sie hinter uns im Schatten der dichtbelaubten Alleebäume. (S. 504)

Und – zu meiner Verblüffung – zeigt sich, dass eine solide Kenntnis der Bücher von Karl May damals aus Fremden rasch Vertraute machen konnte.

Daneben kann man das Buch auch zum Anlass nehmen, etwas über die bereisten Länder (Italien, Griechenland, Türkei, Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und Indien) zu lernen. Oss Kröher spickt seine Erinnerungen nämlich mit vielen Informationen zur Geschichte, den heiligen Stätten, der Literatur und Kultur.

Dann aber, im Mongolensturm des Jahres 1258, büßte Bagdad seine Macht und Größe ein. Das arabische Reiterheer versank vor den Mauern der Stadt in Blut und Tod, als die mongolischen Bogenschützen auf ihren struppigen Ponies wie ein todbringendes Schicksalsrad das gelähmte Heer der Araber galoppierend  umkreisten und so lange mit Pfeilen überschütteten, bis sich nichts mehr rührte. Dann wurde die ehemals strahlende Märchenstadt von den Steppenreitern geplündert, verwüstet und verbrannt. Aus den Schädeln der Toten bauten sie eine Pyramide zum eigenen Ruhm. In unseren Geschichtsbüchern steht kaum etwas davon geschrieben. (S. 280)

Und während man dieses Zeitzeugnis liest, kann man ganz trübsinnig werden, weil ein Großteil mancher dieser Länder nun in Trümmern liegt, so dass in Vergessenheit zu geraten droht, welch Jahrtausende alte Kultur, Architektur, Literatur etc. da gerade zu einer Mondlandschaft zerbombt wird. Unser eurozentrischer Blick kommt an mehr als einer Stelle ordentlich an seine Grenzen.

In Hochstimmung näherten wir uns der ersten arabischen Stadt – es war Aleppo, im Norden Syriens. […] Ob Eselsgespann, Pferdekutsche oder amerikanische Straßenkreuzer mit Glitzer und Chrom; ob Omnibusse, die mit Landschaftsbildern bemalt waren, aber dafür keine Fensterscheiben hatten – wegen der Tageshitze -, ob tiefverschleierte Frauen oder europäisch gekleidete, sie alle waren offenbar emsig beschäftigt, und die Stadt atmete pulsierendes Leben. (S. 212)

Gleichzeitig zeigen Kröhers Erinnerungen, dass die ungeheuerliche, hoffnungslose Armut und die geringe Alphabetisierungsrate der Massen in Kombination mit dem selbstherrlichen Wüten der Kolonialmächte und den wirtschaftlichen Interessen des Westens schon lange ein explosives Gemisch gewesen sind. Ich war jedenfalls überrascht, wie viele westliche Ingenieure die beiden auf ihren Reisen getroffen haben und wie die zwei jungen Deutschen meist freundlich aufgenommen wurden, eben weil sie nicht zu den verhassten Kolonialmächten gehört hatten.

Heute, im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, könnten wir unsere bunte und friedliche Motorradreise von damals keinesfalls wiederholen. (S. 224)

Ich wäre auch noch länger mit an Bord geblieben, dabei hat das Buch schon 662 Seiten. Die Informationen über die Vorgeschichte des Unterfangens und über die beiden Freunde selbst hätten gern noch ausführlicher sein können und – ein bisschen Meckern muss erlaubt sein – ich hätte mich über noch mehr Fotos gefreut.

Und nach dem Lesen beziehe ich den Titel nicht mehr nur auf die vielen tausend Meilen zwischen Pirmasens und Bombay, sondern lese ihn auch so: Das Morgenland ist von großer und fast unvorstellbarer Weite und Vielfältigkeit.

Und wer wissen will, was die beiden jungen Männer auf ihrer langen Reise am tiefsten berührt hat, was sie mit Eleanor Roosevelt zu tun hatten, welche Fehler man lieber nicht machen sollte und auf welch geradezu märchenhafte Art und Weise Oss die Heimreise nach Deutschland angetreten hat, der muss das Buch nun doch noch selbst lesen.

Wir ließen die Hafenstadt hinter uns und fuhren in das Amanosgebirge hinauf. Da kamen uns Zigeuner entgegen mit Kind und Kegel, ihre armselige Habe war auf einem Maulesel-Karren verstaut. Pfannen und Töpfe hingen an den Seiten, und die Frauen trugen durchwegs lange, weite Röcke, unter deren rotbunten Falten die Barfüße herauslugten. Die rotznäsige Kinderschar, halbnackt und in zerlumpten Turnhosen, versuchte bei uns zu betteln, aber wir hielten nicht an. Einer der Männer, in längsgestreifter Pyjamahose und ärmelloser Weste, führte einen zottigen Braunbären an einer Nasenkette. (S. 207)

Anmerkungen

Oss Kröher trat übrigens später – zusammen mit seinem Zwillingsbruder Hein – jahrzehntelang als Liedermacher und Volksliedsänger auf. Hannes Wader sagte einmal über die beiden, dass er viele Volkslieder erst durch die Brüder kennengelernt habe.

Ein Literaturtipp, der sich aus dem Buch ableitet, wäre Die vierzig Tages des Musa Dagh (1933) von Franz Werfel.

Den Hinweis auf Das Morgenland ist weit verdanke ich Stefan von Lichtgewimmel. Also Danke für einen wunderbaren Tipp; ich kann jetzt verstehen, weshalb du damals das Buch vor der Buchapokalypse retten wolltest.

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Agatha Christie: An Autobiography (1977)

Agatha Christie (1890 – 1976) beginnt ihren wunderbaren Lebensrückblick mit der Schilderung des Ortes, an dem sie beginnt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben:

Nimrud, Iraq, 2 April 1950. Nimrud is the modern name of the ancient city of Calah, the military capital of the Assyrians. Our Expedition House is built of mud-brick. It sprawls out on the east side of the mound, and has a kitchen, a living- and dining-room, a small office, a workroom, a drawing office, a large store and pottery room, and a minute darkroom (we all sleep in tents). But this year one more room has been added to the Expedition House, a room that measures about three square metres. […] There is a picture on the wall by a young Iraqi artist, of two donkeys going through the Souk, all done in a maze of brightly coloured cubes. There is a window looking out east towards the snow-topped mountains of Kurdistan.

Zur Entstehungsgeschichte

Ihr zweiter Mann, der Archäologe Max Mallowan, leitet zu dieser Zeit in Nimrud die Ausgrabungen, die u. a. zu der Entdeckung von Tausenden von Elfenbeinschnitzereien  führen. Christie kann nur wenig Zeit für ihre Erinnerungen erübrigen, da der Großteil ihrer Zeit vom Schreiben ihrer Krimis und der aktiven Unterstützung ihres Mannes bei den Ausgrabungsexpeditionen in Anspruch genommen wird, und so dauert es schließlich 15 Jahre, bis ihre Autobiografie – und mit ca. 500 Seiten ihr längstes, und wie ich finde, auch ihr bestes Buch überhaupt –  beendet ist.

On second thoughts, autobiography is much too grand a word. It suggests a purposeful study of one’s life. It implies names, dates and places in tidy chronological order. What I want is to plunge my hand into a lucky dip and come up with a handful of assorted memories. (S. 1)

Zum Inhalt

Die schnöden Fakten kann man ja überall nachlesen, doch die allein erklären nicht den Reiz des Buches. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, wie Christie hier vorgeht: Sie vermengt in fröhlichen Zeitsprüngen konkrete Kindheitserlebnisse, Selbstironie und ihren trockenen Humor mit Reflexionen über das Wesen der Erinnerung. Das liest sich vergnüglich, spannend und anregend.

This is one of the compensations that age brings, and certainly a very enjoyable one – to remember. (S. 12)

I think, myself, that one’s memories represent those moments which, insignificant as they may seem, nevertheless represent the inner self and oneself as most really oneself. […] So what I plan to do is to enjoy the pleasures of memory – not hurrying myself – writing a few pages from time to time. It is a task that will probably go on for years. But why do I call it a task? It is an indulgence. I once saw an old Chinese scroll that I loved. It featured an old man sitting under a tree playing cat’s cradle. It was called ‚Old Man enjoying the pleasures of Idleness.‘ I’ve never forgotten it. (S. 13)

Vor allem aber ist dieses Buch wirklich ein Fenster, und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Ein Fenster in ein buntes und erfülltes Leben

Hier gibt es keine krisenhafte Kindheit, wie bei so vielen anderen Schriftstellern, ganz im Gegenteil:

One of the luckiest things that can happen to you in life is to have a happy childhood. I had a very happy childhood. I had a home and a garden that I loved; a wise and patient Nanny; as father and mother two people who loved each other dearly and made a success of their marriage and of parenthood. (S. 15)

Christie erzählt von  ihrer Mutter, die den Schreck verkraften musste, dass Agatha schon als Fünfjährige lesen konnte, obwohl sie das erst für Achtjährige als wünschenswert deklariert hatte, und ihrem so liebenswerten, wenn auch nicht übermäßig intelligenten Vater. Er stirbt, als Agatha elf Jahre alt ist.

Als Vierjährige verliebt sie sich in einen Freund ihres Bruders:

It was a shattering and wonderful experience. […] When I think of it now, how supremely satisfying early love can be. It demands nothing – not a look nor a word. It is pure adoration. Sustained by it, one walks on air, creating in one’s own mind heroic occasions on which one will be of service to the beloved one. Going into a plague camp to nurse him. Saving him from fire. Shielding him from a fatal bullet. (S. 38)

Wir erfahren, wie der Privatunterricht zu Hause abläuft, und wenn sie die Großmutter in Ealing (London) besucht, gehen sie mindestens einmal die Woche ins Theater. Doch auch an das schier unfassbare Glück, als sie zu ihrem fünften Geburtstag einen Hund geschenkt bekommt, erinnert sie sich:

When I read that well-known cliche ’so and so was struck dumb‘ I realize that it can be a simple statement of fact. I was struck dumb – I couldn’t even say thank-you. I could hardly look at my beautiful dog. Instead I turned away from him. I needed, urgently, to be alone and come to terms with this incredible happiness […] I think it was the lavatory to which I retired – a perfect place for quiet meditation, where no one could possibly pursue you. (S. 33-34)

So anschaulich, liebevoll und detailliert beschreibt Christie die Spiele und Katastrophen ihrer Kindheit, geerdet mit freundlichem Humor, dass man den Eindruck gewinnt, sie wird einem erzählt, während man gemütlich auf dem Sofa sitzt und hofft, die Geschichte geht immer weiter.

Um ihre musikalischen Begabung zu fördern, erhält sie Gesangs- und Klavierunterricht und längere Auslandsaufenthalte, z. B. in Paris, sollen ihr den letzten gesellschaftlichen Schliff verleihen.

Da sich inzwischen die finanzielle Situation der Familie so weit verschlechtert hat, dass man der 17-jährigen Agatha keine traditionelle Coming-Out-Saison in London ermöglichen kann, beschließt Mrs Miller, der ein wärmeres Klima gesundheitlich helfen soll, mit ihrer Tochter nach Kairo zu reisen:

Cairo, from the point of view of a girl, was a dream of delight. We spent three months there, and I went to five dances every week. They were given in each of the big hotels in turn. There were three or four regiments stationed in Cairo; there was polo every day; and at the cost of living in a moderately expensive hotel all this was at your disposal (S. 168)

Nach ihrer Rückkehr nach England lernt sie bei einer Tanzveranstaltung ihren späteren Mann Archibald Christie kennen, für den sie sich von ihrem Verlobten trennt. 1914 heiraten die beiden.

Während des Weltkrieges arbeitet Agatha als  Hilfskrankenschwester und schließlich als Apothekenhelferin, eine Tätigkeit, der sie ihre Kenntnisse diverser Gifte verdankt.

From the beginning I enjoyed nursing. I took to it easily, and found it, and have always found it, one of the most rewarding professions that anyone can follow. I think, if I had not married, that after the war I should have trained as a real hospital nurse. (S. 230)

In dieser Zeit kommt ihr erstmals die Idee, eine Detektivgeschichte zu schreiben. Später bereut sie sehr, Poirot in seinem ersten Fall nicht jünger gemacht zu haben, da sie natürlich nie damit gerechnet hatte, dass dieser kleine belgische Detektiv sie noch jahrzehntelang verfolgen wird. Zwei Jahre später wird The Mysterious Affair at Styles von einem Verlag angenommen. Ihre Unerfahrenheit wird von The Bodley Head schamlos ausgenutzt und die finanziellen Konditionen sind miserabel, doch zunächst ist sie einfach überglücklich, dass tatsächlich ein Buch von ihr veröffentlicht werden soll.

Archie dient während des Krieges in der britischen Luftwaffe. Einmal liegen zwei Jahre zwischen ihren Wiedersehen.

It seems odd that I don’t remember being at all worried about Archie’s safety. Flying was dangerous – but then so was hunting, and I was used to people breaking their necks in the hunting field. It was just one of the hazards of life. There was no great insistence on safety then. […] To be concerned with this new form of locomotion, flying, was glamorous. Archie was one of the first pilots to fly – his pilot’s number was, I think, just over the hundred: 105 or 106. I was enormously proud of him. (S. 221)

Interessant auch, wie sie den Tag erlebt, als der Krieg zu Ende ist.

I went out in the streets quite dazed. There I came upon one of the most curious sights I had ever seen – indeed I still remember it, almost, I think with a sense of fear. Everywhere there were women dancing in the street. English women are not given to dancing in public […] But there they were, laughing, shouting, shuffling, leaping even, in a sort of wild orgy of pleasure: an almost brutal enjoyment. It was frightening. One felt that if there had been any Germans around the women would have advanced upon them and torn them to pieces. (S. 264)

1919 kommt das einzige Kind der beiden, Tochter Rosalind, zur Welt.

1926 stirbt Agathas Mutter, an der sie sehr gehangen hat. Archie ist ihr keine Unterstützung und zu allem Überfluss eröffnet er ihr, dass er sich scheiden lassen will, um seine Geliebte heiraten zu können. Agatha erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Auf ihr zehntägiges Verschwinden, das es bis auf die Titelseite der New York Times schaffte, geht sie in ihrer Autobiografie nicht ein (siehe dazu den Spiegel-Artikel von Daniel Kringiel).

Doch ihr Abscheu vor Journalisten geht auf diese Zeit zurück und erklärt, weshalb sie ihren zweiten Mann, den Archäologen Max Mallowan, 1930 heimlich, still und leise in Edinburgh heiratet. Besonders gefallen hat mir, in welcher Situation Max das erste Mal gedacht hat, dass Agatha die richtige Frau für ihn sein könnte. Die Ehe mit dem 14 Jahre jüngeren Mann, den sie mehrere Monate pro Jahr auf seinen Expeditionen im Irak und in Syrien begleitet, war glücklich und hielt bis zu ihrem Tod.

Nothing could be further apart than our work. I am a lowbrow and he is a highbrow, yet we complement each other, I think, and have both helped each other. (S. 523)

Ein Fenster in eine vergangene Zeit

Doch es ist auch ein Buch, das einen Blick in eine vergangene Zeit erlaubt, in der der keinem Beruf nachgehende Vater dem Dahinschmelzen des geerbten Vermögens nur planlos zuschauen kann und die Töchter dieser Schicht oft noch zu Hause unterrichtet wurden. So hat Agatha ihr Elternhaus Ashfield in Torquay auch nicht als „reich“ in Erinnerung, schließlich hatten sie nur drei Bedienstete und gehörten auch nicht zu den Familien, die sich ein Automobil leisten konnten; dafür entsprachen die Mahlzeiten, wenn man Gäste hatte – gemessen an heutigen Standards – wohl dem Niveau gehobener Restaurants. Überhaupt zählte man Henry James und Kipling zu den Gästen, die bewirtet wurden.

Servants, of course, were not a particular luxury – it was not a case of only the rich having them; the only difference was that the rich had more. […] Our various servants are far more real to me than my mother’s friends and my distant relations. I have only to close my eyes to see Jane moving majestically in her kitchen… (S. 30)

Servants did an incredible amount of work. Jane cooked five-course dinners for seven or eight people as a matter of daily routine. For grand dinner parties of twelve or more, each course contained alternatives – two soups, two fish courses, etc. The housemaid cleaned about forty silver photograph frames and toilet silver ad lib, took in and emptied a ‚hip bath‘ […] brought hot water to bedrooms four times a day, lit bedroom fires in winter, and mended linen etc. every afternoon. […] In spite of these arduous duties, servants were, I think, actively happy, mainly because they knew they were appreciated – as experts, doing expert work. As such, they had that mysterious thing, prestige; they looked down with scorn on shop assistants and their like. (S. 29)

Agathas Schwester Madge hatte vor dem Zweiten Weltkrieg noch 16 Angestellte, die das große Haus mit 14 Schlafzimmern in Schuss hielten. Und Männer wie ihr Bruder Monty, die nirgendwo richtig sesshaft wurden, konnten sich wenigstens noch im Burenkrieg auszeichnen.

Gesellschaftliche Gegebenheiten, wie die sexuelle Doppelmoral oder das Empire, wurden nicht hinterfragt und überglücklich nahmen Agatha und ihr erster Mann 1922 das Angebot Ernest Belchers an, mit ihm zehn Monate um die Welt zu reisen, um Werbung für die geplante British Empire Exhibition von 1924 zu machen.

I still think New Zealand the most beautiful country I have ever seen. Its scenery is extraordinary. […] Everywhere the beauty of the countryside was astonishing. I vowed then that I would come back one day, in the spring […] and see the rata in flower: all golden and red. I have never done so. For most of my life New Zealand has been so far away. Now, with the coming of air travel, it is only two or three days‘ journey, but my travelling days are over. (S. 289)

Ein Fenster in die Arbeit archäologischer Expeditionen

Agatha Christie ist schon bei ihrem ersten Aufenthalt in Ur, wo sie als VIP-Gast den Ausgrabungen der Woolleys zuschauen darf,  begeistert von Land, Leuten und Kultur.

I fell in love with Ur, with its beauty in the evenings, the ziggurrat standing up, faintly shadowed, and that wide sea of sand with its lovely pale colours of apricot, rose, blue and mauve changing every minute. I enjoyed the workmen, the foremen, the little basket-boys, the pickmen – the whole technique and life. The lure of the past came up to grab me. To see a dagger slowly appearing, with its gold glint, through the sand was romantic. The carefulness of lifting pots and objects from the soil filled me with a longing to be an archaeologist myself. (S. 377)

Für viele Jahre begleitet sie dann ihren zweiten Mann bei dessen Ausgrabungen, u. a. in Nimrud, wo sie beim Säubern der gefundenen Elfenbeinschnitzereien hilft, z. B. mit feinen Stricknadeln oder ihrer Gesichtscreme, oder die Kostbarkeiten fotografiert.

Später wird Max ihr sogar bescheinigen, vermutlich mehr über „pre-historic pottery“ zu wissen als jede andere Frau in England.

Ein Fenster in das Leben einer der erfolgreichsten Autorinnen überhaupt

Ihre ersten Geschichten schreibt sie, als sie krank im Bett liegt und sich langweilt. Im Laufe der Zeit entwickelt sich das zu einer Freizeitbeschäftigung wie vorher das Besticken von Kissenhüllen.

Eher nebenbei erfahren wir, wann und wo ihr Ideen für ihre Bücher gekommen sind und unter welchen Umständen diese dann entstanden. Und bei Murder at the Vicarage (1930), dem ersten Buch mit Miss Marple, weiß Christie selbst nicht mehr, wo, wann und warum sie es geschrieben hat.

Christie war keine Intellektuelle (in ihrer Familie galt sie immer als „slow“) und sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Bücher und Theaterstücke geschrieben hat, um Geld damit zu verdienen, und das, wie man weiß, überaus erfolgreich. So konnte sie beispielsweise ihrer Leidenschaft frönen, heruntergekommene Häuser zu kaufen, zu renovieren und sie anschließend weiterzuverkaufen:

… there was indeed a moment in my life, not long before the outbreak of the second war, when I was the proud owner of eight houses. (S. 426)

Als richtigen Beruf hat sie ihre Tätigkeit lange gar nicht ernst genommen.

How much more interesting it would be if I could say that I always longed to be a writer, and was determined that someday I would succeed, but, honestly, such an idea never came into my head. […] In fact I only contemplated one thing – a happy marriage. (S. 127-128)

Auf Formularen trug sie bei „Beschäftigung“ immer „married woman“ ein.

I never approached my writing by dubbing it with the grand name of ‚career‘. I would have thought it ridiculous. (S. 430)

Meine gute alte Zeit?

Da Christie verfügt hatte, dass ihre Autobiografie erst nach ihrem Tod erscheinen dürfe, wurde sie erstmals 1977 veröffentlicht.

Auf Deutsch erschien diese 1977 unter dem albernen und irreführenden Titel „Meine gute alte Zeit“. Das klingt, als ob hier jemand bloß einer glorifizierten Vergangenheit nachtrauert und die harschen Seiten des Lebens und der Geschichte ausblendet. Nichts könnte falscher sein.

Man denke nur an das Scheitern ihrer ersten Ehe, den Tod ihres ersten Schwiegersohnes oder die grässlichen Jahre während des Zweiten Weltkrieges:

So time went on, now not so much like a nightmare as something that had been always going on, had always been there. It had become, in fact, natural to expect that you yourself might be killed soon, that the people you loved best might be killed, that you would hear of deaths of friends. Broken windows, bombs, land-mines, and in due course flying-bombs and rockets – all these things would go on, not as something extraordinary, but as perfectly natural. (S. 489)

Eher schon findet sich eine gewisse Nostalgie, wenn sie z. B. von Orten schreibt, an denen sie glücklich war und die sie danach nie wieder besucht hat, wie beispielsweise den Schrein des Sheikh Adi in Nordirak.

The peacefulness of it comes back – the flagged courtyard, the black snake carved on the wall of the shrine. Then the step carefully over, not on the threshold, into the small dark sanctuary. There we sat in the courtyard under a gently rustling tree. […] We sat there a long time. Nobody forced information on us. […] When the sun began to get low, we left. It had been utter peace. Now I believe, they run tours to it. The ‚Spring Festival‘ is quite a tourist attraction. But I knew it in its day of innocence. I shall not forget it. (S. 81)

Und Christie veranschaulicht mit ihren Lebenserinnerungen den Wertewandel, den wir in vielen Bereichen in den letzten hundert Jahren erfahren haben, vor allem, was die Rolle von Mann und Frau anbelangt, auch wenn sie dabei ihre von Anfang an privilegierte Position ein bisschen aus den Augen verliert. Dem Gedanken an Gleichberechtigung könnte sie wohl wenig abgewinnen.

The real excitement of being a girl […] was that life was such a wonderful gamble. You didn’t know what was going to happen to you. That was what made being a woman so exciting. No worry about what you should be or do – Biology would decide. You were waiting for The Man, and when the man came, he would change your entire life. You can say what you like, that is an exciting point of view to hold at the threshold of life. What will happen? ‚Perhaps I shall marry someone in the Diplomatic Service… I think I should like that; to go abroad and see all sorts of places…‘ (S. 128)

Fazit

Das Buch ist in seiner Fülle von Geschichten unterhaltsam, warmherzig und erhellend, dabei kein bisschen trivial oder sentimental. Kurzum, ein Buch, das mir beim Wiederlesen genauso viel Freude wie beim ersten Lesen bereitet hat (wenn man mal von den wirren zwei Seiten absieht, auf denen sie die Todesstrafe befürwortet).

Was mir diesmal besonders auffiel, war Christies Faszination und vorbehaltlose Freude an Orten, ihrer Schönheit, ihrer Gastfreundlichkeit und ihrer Kultur, die wir zur Zeit nur mit Menschenrechtsverletzungen, Krieg oder Terror in Verbindung bringen, sei es im Iran, Irak oder in Syrien.

Neben dem sanften, auch selbstironischen Humor sind übrigens, genau wie in ihren Kriminalromanen, die Dialoge einer der Stärken des Buches. Diese dürften ja selten genau so verlaufen sein, wie sie hier niedergeschrieben sind; aber sie klingen völlig natürlich, wie gerade stattgefunden.

Auch der Epilog, in dem sie sich gelassen und ein bisschen spöttisch mit ihrem Altern und dem Tod auseinandersetzt: lesenswert!

An Autobiography, für mich das Beste, was Christie je geschrieben hat. Und wer wissen will, was damals der große Nachteil am Reisen mit dem Orient-Express war, wo sie ihren zweiten Mann kennengelernt hat und weshalb man sie zum zehnjährigen Bühnenjubiläum von The Mousetrap im Savoy zunächst nicht in den für die Party reservierten Raum hineinlassen wollte und welche zwei Dinge Agatha Christie in ihrem Leben am aufregendsten fand, der muss das Buch jetzt doch noch selbst lesen.

I like living. I have sometimes been wildly despairing, acutely miserable, racked with sorrow, but through it all I still know quite certainly that just to be alive is a grand thing. (S. 13)

I have remembered, I suppose, what I wanted to remember; many ridiculous things for no reason that makes sense. That is the way we human beings are made. (S. 529)

Zur Frage, was von der deutschen Übersetzung zu halten ist, geht es hier lang.

Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (2015)

Ich interessiere mich eigentlich weder für Schauspielschulen noch für Meyerhoffs Großeltern, doch was soll ich sagen: Was für ein wundervolles Buch. Ich bin entzückt, die Bekanntschaft dieser zwei elegant-trinkfesten Menschen gemacht zu haben.

Das Buch, der dritte Teil des Erinnerungsprojekts von Joachim Meyerhoff, beginnt mit den Sätzen, die im Grunde schon eine inhaltliche Zusammenfassung „in a nutshell“ bieten:

Mit zwanzig wurde ich zu meiner großen Überraschung in München auf einer Schauspielschule angenommen und zog, da ich kein Zimmer fand, bei meinen Großeltern ein. Diese beiden Welten hätten nicht unterschiedlicher sein können. Davon will ich erzählen: von meinen über alles geliebten Großeltern, gemeinsam gefangen in ihrem wunderschönen Haus, und davon, wie es ist, wenn einem gesagt wird: „Du musst lernen, mit den Brustwarzen zu lächeln.“

Nach irgendwie bestandenem Abitur weiß Meyerhoff nur, dass er aus seiner kleinen norddeutschen Heimatstadt Schleswig weg will, irgendwohin, wo ihn keiner mitleidig anschaut, wo niemand von dem Unfalltod seines Bruders weiß.

Ich war durch den noch nicht lange zurückliegenden Unfalltod meines mittleren Bruders komplett aus der Bahn geworfen worden. Mein Leben war bis zu diesem Verlust ein stabiles und angenehmes gewesen. Eine verlässlich zugefrorene Fläche, auf der ich gutbürgerlich herangewachsen und wohlbehütet Schlittschuh gelaufen war. Doch jetzt knirschte und taute es gewaltig unter mir. Eine unberechenbare Traurigkeit hatte mich ergriffen und brachte Bewegung in die Tektonik meiner einst so soliden Tage. Ich glitt auf dünnem Eis dahin, doch immer öfter blieb ich unvermittelt stehen, da mich eine Verzagtheit ergriff, die mir den Atem nahm und jeden weiteren Schritt sinnlos zu machen schien. Aber genau dieses Stehenbleiben war gefährlich. Ich musste stets in Bewegung bleiben, um nicht einzubrechen. Auch quälten mich Zukunftssorgen, da ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich werden sollte. (S. 37)

Liebäugelt er zunächst mit einer Zivildienststelle in München als Bademeister für erkrankte Kinder, so entschließt er sich dann doch, an der Aufnahmeprüfung der Otto-Falckenberg-Schule teilzunehmen. Er wird genommen, obwohl er nur eine statt der drei geforderten Rollen eingeübt hat.

Aus Bequemlichkeit und Geldnot zieht der Erzähler in die Villa seiner Münchner Großeltern, der ehemaligen Schauspielerin Inge Birkmann und dem Philosophie-Professor Hermann Krings. War zunächst nur von einigen Wochen die Rede, wird er – zu seiner und der LeserInnen Freude – die nächsten drei Jahre im „rosa Zimmer“ der Großeltern wohnen, sich an seine Kindheit erinnern und sich mehrmals die Woche gepflegt mit ihnen betrinken.

In dieser Zeit kämpft und hadert er mit seiner Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule und oft genug verzweifelt er an sich, den Lehrern, den Aufgaben. Was soll man auch davon halten, wenn man die Anweisung bekommt, als Nilpferd einen Monolog aus Effi Briest zu sprechen?

Meyerhoff schaut ganz genau hin, auch wenn’s wehtut. Dabei schont er sich nicht, ist entwaffnend ehrlich und klug. So entsteht ein anrührender Blick auf einen jungen Mann, der noch keine Ahnung hat, wo es für ihn langgehen könnte, und der sich keineswegs sicher ist, an der Schauspielschule am richtigen Ort zu sein. Das kommt so frisch, absurd und unmittelbar daher, als hätte der Erzähler seine Ausbildungsjahre erst gestern erlebt.

Neben dem Witz gibt es eine ganz große Unbefangenheit und ein manchmal fassungslosen Staunen, mit dem er seine in ihren Ritualen verhafteten, seltsam aus der Zeit gefallenen, durchaus exzentrischen Großeltern porträtiert. Und obwohl wir nach der Lektüre glauben, vieles, auch sehr Privates über diese zwei Menschen zu wissen, war es nie indiskret, habe ich mich nie als Voyeur gefühlt.

In einem Taschenkalender [des Großvaters] steht zum Beispiel über einen Tag im Kurhotel in Dürnberg, als beide schon weit über achtzig waren, Folgendes: „Gegen viertel vor neun brechen Inge und ich bei kühlen Temperaturen auf. Ich habe einen Rucksack mit dem Nötigsten gepackt. Nach einem etwas gerölligen Aufstieg erreichen wir den Höhenweg gegen neun. Bei herrlicher Sicht wandern wir bis zum Kreuz. Ankunft um neun Uhr zehn. Wir rasten und essen jeder einen Apfel und trinken einen Schluck Schnaps. Genießen die Aussicht. Ich bin ungewöhnlich außer Atem. Inge sieht im Tal einen Hirsch, der sich mit dem Fernglas als Heuschober entpuppt. Um halb zehn brechen wir einigermaßen ausgeruht wieder auf. Es zieht sich zu. Gegen viertel vor zehn erreichen wir glücklich das Hotel. Sogar trocken geblieben sind wir.“ So steht es da. Sie waren eine Stunde unterwegs und doch klingt es nach einer grandiosen Gipfelerstürmung. (S. 157)

Meyerhoff kann erzählen und mit seinen Dialogen eine Unmittelbarkeit erzeugen, dass man meint, man sitze beim Sechs-Uhr-Whisky oder beim abendlichen Rotweingelage mit am Tisch und müsse ebenfalls aufpassen, nicht auf die wertvollen Großelternstühle zu kleckern, bis man schließlich ziemlich angeschickert mit dem Treppenlift nach oben zu den Schlafgemächern entschwindet.

Als Leser(in) ist man gerührt, entsetzt, betrübt und amüsiert. Komik und Tragik liegen oft ganz nah beieinander und genau das bewahrt das Buch davor, nur eine locker-flockige Anekdotensammlung zu werden. Ich wünschte, viel mehr Autoren könnten auch so erzählen, so urkomisch, liebevoll, tolerant, verzweifelt und zärtlich und dabei immer durchlässig aufs zutiefst Menschliche.

Wenn ich nachts oder auch frühmorgens ins Haus meiner Großeltern kam, stand für mich das Abendessen in der Küche. Immer lag auf dem leeren Teller ein kleiner Zettel mit der nur schwer zu entziffernden Großmutter-Handschrift: „Lieberling, im Kühlschrank ist noch Lachs“ oder „Lieberling, die Avocado ist köstlich. Ein Rest aufgeschnittener Zunge ist auch noch da“ oder „Lieberling, iss bitte den Appenzeller auf und mach den Rotwein alle. Das Stück Baumkuchen ist für dich.“

Selten in meinem Leben habe ich so sicher gewusst: Genau hier will ich sein, genau in diesem Moment, genau an diesem Küchentisch will ich sitzen, mit tauben, nach Rauch riechenden Fingerspitzen ein Glas Rotwein trinken und dazu kalt aufgeschnittenen Braten essen. Über der Spüle sah ich die beiden mit Wasser gefüllten Gläser der vor Stunden zu Bett gegangenen Großeltern und am Rand des einen den Lippenstiftabdruck der Großmutter. (S. 258)

Eine meiner zahlreichen Lieblingsstellen beschreibt übrigens, wie er einen teuren Bildband klaut, und wenn man wissen will, warum ihn der Ladendetektiv – nach wildester Verfolgungsjagd – trotzdem laufen lässt, dann muss man das Buch schon selbst lesen.

Anmerkungen

Wer mehr Zeit hat, dem sei das Interview mit dem Autor auf SRF empfohlen. Dort erklärt er u. a. den Zusammenhang zwischen Humor und Ernst und auch, warum ihn seine Erinnerungen so wichtig sind. Er möchte seine Vergangenheit und auch die Verstorbenen quasi immer bei sich tragen. Er könne das Wort “Trauerarbeit” nicht ausstehen, wenn es suggeriere, dass man irgendwann mit der Trauer fertig sei.

Meine Besprechungen zu den bisher erschienenen Teilen seines auf sechs Bände angelegten Erinnerungsprojekts:

Einen prima Eindruck erhält man auch bei Meyerhoffs Auftritt in der NDR Talkshow.

H. D. Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern (OA 1854)

Wer kennt sie nicht, die Sätze, die zum Motto des Clubs der toten Dichter werden sollten? Doch das überbordend großartige Walden oder Leben in den Wäldern (1854) mit seinen fast 500 Seiten, aus dem das Zitat stammt, habe ich erst jetzt für mich entdeckt. 

Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde. (S. 141)

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Walden, or, Life in the Woods. Die Ausgabe des Diogenes Verlages wurde von Emma Emmerich und Tatjana Fischer übersetzt.

Lesen wir zunächst, was Thoreau selbst auf den ersten Seiten zu seinem Werk sagt:

Als ich die folgenden Seiten, oder jedenfalls den größten Teil davon schrieb, wohnte ich eine Meile weit von meinem nächsten Nachbarn entfernt in einem Haus, das ich mir selbst am Ufer des Waldenteiches in Concord, Massachusetts, gebaut hatte, allein im Walde und verdiente meinen Lebensunterhalt einzig mit meiner Hände Arbeit. Dort lebte ich zwei Jahre und zwei Monate lang. Jetzt bin ich wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.
Ich würde meine Angelegenheiten der Aufmerksamkeit meiner Leser nicht aufdrängen, wenn nicht von meinen Mitbürgern über meine Lebensweise die genauesten Erkundigungen eingezogen worden wären, Erkundigungen so eingehender Art, daß man sie fast als unverschämt bezeichnen könnte, wenn nicht die Verhältnisse sie natürlich und angemessen erscheinen ließen. […]
Ich würde nicht soviel über mich reden, wenn ich irgend jemand anderen ebenso gut kennte. Leider bin ich durch die Beschränkung meiner Erfahrung auf dieses Thema angewiesen. […]
Ich möchte gern mancherlei sagen, weniger über die Sandwichinsulaner oder die Chinesen als über euch, die ihr diese Zeilen lest, die Bewohner von Neuengland; allerhand über eure Verhältnisse, besonders über eure äußeren Verhältnisse in dieser Welt, dieser Stadt; welcher Art sie sind, ob es notwendig ist, daß sie so schlecht sind, wie sie sind, und ob sie nicht ebenso leicht verbessert werden könnten.

Im März 1845 beginnt Thoreau sein Blockhaus im Wald zu zimmern, wo er für über zwei Jahre leben wird. Zwar macht er keinen Hehl daraus, dass er keineswegs zum Eremiten geworden ist: Fast täglich geht er ins ca. zwei Kilometer entfernte Örtchen, er erhält Besuch, die Eisenbahnlinie verläuft ganz in der Nähe und immer wieder kommt er mit Arbeitern, Baumfällern und Anglern ins Gespräch.

Und dass das Waldgrundstück, auf dem er da so vergnügt als Selbstversorger herumwerkelt, seinem Freund und Mentor Emerson gehört und dass er seine Wäsche im Ort waschen lässt, das verschweigt er den LeserInnen dann einfach. Im September 1847 verlässt er schließlich seine Waldeinsamkeit.

Ja, und so nimmt ein Buch seinen Anfang, das sich in seiner Collage- und Assoziationstechnik schwerlich zusammenfassen lässt. Die mehr als zwei Jahre Aufenthalt im Wald werden im Buch zu einem Jahr zusammengefasst. Überhaupt dauerte es mehrere Jahre und diverse Überarbeitungen, bis das Werk zu seiner endgültigen Gestalt gefunden hatte. Thoreaus Zeitgenossen waren von diesem gesellschafts- und konsumkritischen Buch, das zur Selbsterkenntnis aufrief, wenig begeistert. Seinen Siegeszug als amerikanischer Klassiker trat es erst nach dem Tod seines Autors an.

Eine herausfordernde, mäandernde, mal ausufernde, mal faszinierende Mischung, bestehend aus philosophischen Gedankenflügen, herablassender Weltverachtung, Einkaufslisten, kluger Gesellschafts- und Konsumkritik, Überheblichkeiten, Absurditäten, naturwissenschaftlichen Experimenten, Pathos, lyrischen Landschafts- und Tierschilderungen, Anleitungen zum Bohnenanbau oder zum Bau einer eigenen Blockhütte. Kaum ein Thema ist vor ihm sicher.

Dann wieder gibt es Ernährungs- und Lektürehinweise – ganz einfach nur das Beste lesen -, wir erfahren, wer ihn in seiner Einsiedelei besucht und wie wenig er materiell benötige, um zufrieden zu sein. Der Autor macht sich so seine Gedanken zur Bedeutung der Natur, zum Wohnen, zur Kleidung, zum richtigen Abstand zwischen zwei Gesprächspartnern, zur Einsamkeit und zum Erwachen am Morgen. Er kritisiert unsere Gier nach „Neuigkeiten“, misst den See aus (später wird Thoreau als Landvermesser arbeiten), sinniert über das Wesen der  Gastfreundschaft und überlegt, wie ein sinnvolles Studium aussehen könnte.

… ich meine, sie sollten nicht bloß Leben spielen oder dieses bloß studieren, während der Staat sie bei diesem kostspieligen Spiel unterstützt, sondern es im Ernst leben vom Anfang bis zum Ende. Wie sollen junge Leute besser das Leben erlernen können, als indem sie sich sofort am Experiment des Lebens versuchen? […] Wenn ich zum Beispiel wünschte, daß ein Junge etwas von Kunst und Wissenschaft verstehen lernte, so würde ich nicht das allgemeine Verfahren einschlagen, welches darin besteht, ihn in die Nähe eines Professors zu schicken, wo alles mögliche doziert und geübt wird, nur keine Lebenskunst. Er lernt dort, die Welt durch ein Fernrohr oder durch ein Mikroskop, aber nie mit den natürlichen Augen zu betrachten; er studiert dort Chemie, ohne zu wissen, wie Brot gemacht wird, oder Mechanik, ohne zu wissen, wie man es verdient; er entdeckt neue Trabanten des Neptun, aber nicht den Schmutz in seinen eigenen Augen oder den Taugenichts, dessen Trabant er selber ist. (S. 87/88)

Wilde Metaphorik, Anklänge an die Bibel, Gedichtzeilen, Widersprüchlichkeiten und Zitate aus der von ihm verehrten indischen Literatur, dazu schwelgerisch ausgeführte Gedanken und Naturschilderungen gehen eine sprachmächtige Mischung ein, deren Sog man sich kaum entziehen kann.

Ein See ist der schönste und ausdrucksvollste Zug einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde. Wer hineinblickt, ermißt an ihm die Tiefe seiner eigenen Natur. Die Bäume dicht am Ufer, welche sein Wasser saugen und in ihm zerfließen, sind die schlanken Wimpern, die es umsäumen, und die waldigen Hügel und Felsen die Augenbrauen, die es überschatten. (S. 273)

Manchmal verliere ich den Faden, manchmal langweile ich mich, manchmal widerspreche ich, doch alles in allem: einzigartig, lesenswert, nachdenkenswert. Dabei trifft einen die jugendlich anmutende Arroganz, genau zu wissen, was denn richtiges Leben sei und was in der Gesellschaft falsch läuft, manchmal ganz ohne Vorwarnung und fröhlich zwingt Thoreau einen zur Selbstbefragung, wie man denn nun selbst das „Experiment“ des eigenen Lebens anzugehen gedenke.

Noch immer leben wir niedrig wie Ameisen, obgleich die Sage erzählt, wir seien schon vor langer Zeit in Menschen verwandelt worden. Wie Pygmäen kämpfen wir mit Kranichen; Irrtum häuft sich auf Irrtum und Flickwerk auf Flickwerk, und unsere besten Kräfte verwenden wir zu überflüssigen, vermeidbaren Jämmerlichkeiten. Unser Leben zersplittert sich in Kleinigkeiten. […] Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Laß deine Geschäfte zwei oder drei sein, sage ich dir, und nicht hundert oder tausend… (S. 142)

Hier geht’s lang zu einem lesenswerten Artikel von Gisa Funck auf der Seite des Deutschlandfunk. Denis Scheck hat Walden in seine Klassikerliste aufgenommen.

Einen wesentlich kritischeren Blick auf den misanthropischen Querdenker Thoreau wirft der längere Artikel von Kathryn Schulz im New Yorker.

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Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude (1921)

Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und Figuren zu bewegen, will ich mir – gedrängt von innerer Not der Zeit – Rechenschaft ablegen über den problematischsten Teil meines Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft, nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe, die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Mißverständnissen, Tragik, Widersprüchen, Hader und Leiden eröffnen.

Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.

So beginnt das aufschlussreiche und beeindruckende Buch des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann, das 1921 erschien. Wassermann beschränkt sich in diesem Lebensrückblick, wie der Titel schon sagt, tatsächlich auf das Thema seiner deutsch-jüdischen Identität. Andere wichtige Bereiche seines Lebens, wie beispielsweise seine desaströse Ehe mit Julie Speyer, werden ausgeklammert und stattdessen in anderen Werken verarbeitet (siehe die Besprechung zu My first Wife auf dem Blog A Common Reader).

Wassermann, 1873 in Fürth geboren und 1934 in Altaussee (Österreich) gestorben, beginnt seine Bestandsaufnahme mit der Schilderung seiner freudlosen Kindheit: Die Mutter stirbt, als er neun Jahre alt ist; der Vater, ein erfolgloser Kaufmann, versucht die Familie mehr schlecht als recht als Versicherungsagent durchzubringen.

Der Junge lernt schon früh antisemitische Hänseleien kennen, die ihm aber zunächst nicht so sehr zu schaffen machen, da er spürt, dass sie weniger ihm als Individuum gelten, sondern eher der jüdischen Gemeinschaft. Es ist beklemmend zu lesen, wie klar Wassermann schon 1921 die Dämlichkeiten der Antisemiten entlarvt:

Aber ich merkte, daß meine Person, sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewußt wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv Nichtjuden in der der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, daß der Rassenhaß, den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten Äußerlichkeiten genährt wird, und daß sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren darin die Stumpfesten. (S. 12 – 13)

Der aufmerksame Junge nimmt von Anfang an die Ambivalenz seiner jüdischen Existenz wahr. Auf der einen Seite gehen er und seine Geschwister in den kleinen christlichen Handwerkerbetrieben der Nachbarschaft ein und aus und selbst Heiligabend dürfen sie dort zu Gast sein und werden ebenfalls beschenkt.

Aber Wachsamkeit und Fremdheit blieben. Ich war Gast, und sie feierten Feste, an denen ich keinen Teil hatte. (S. 18)

Damit ist sein Grundproblem umrissen:

Nun war aber das Bestreben meiner Natur gerade darauf gerichtet, nicht Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht, als aus Mitleid und Gutmütigkeit geduldeter noch weniger, als einer, der aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren sich entschließt, erst recht nicht. Angeboren war mir das Verlangen, in einer gewissen Fülle des mich umgebenden Menschlichen aufzugehen. (S. 19)

Da genau dieses Verlangen nicht gestillt werden konnte, sieht Wassermann in Literatur und Landschaft seine Retter, die ihn vor dem Verlust der eigenen Identität bewahrt haben. Schon als Elfjähriger lernt er die Macht des Wortes kennen, als er, um seinen fünf Jahre jüngeren Bruder am Petzen zu hindern, diesem jeden Abend eine verwickelte Fortsetzungsgeschichte erzählt, die aber nur bei Wohlverhalten des Bruders weitergeführt wird. Es dauert nicht lange, bis er diese Geschichten nachts heimlich aufzuschreiben versucht, immer bedroht von der unfreundlichen Stiefmutter, die alles Geschriebene, was ihr in die Hände fällt, erbarmungslos vernichtet.

Seine Hoffnung, in dieser Richtung auch beruflich tätig werden zu können, scheitert an der Kleinbürgerlichkeit der Familie. Der Vater spekuliert darauf, dass Jakob als Lehrling bei einem reichen Onkel in Wien zur Sanierung der prekären finanziellen Lage beiträgt. Doch dort macht er alles andere als eine gute Figur. Er schlägt sich die Nächte mit Schreiben um die Ohren und ist am Tage zu nichts zu gebrauchen. Schließlich hält er es nicht mehr aus, reist zu einem Freund nach München und beginnt ein Studium, doch schon nach kurzer Zeit wird ihm die ohnehin zu knapp bemessene Unterhaltshilfe des Onkels gestrichen. Er nimmt seinen Militärdienst auf und trifft dort – vor allem unter seinen Kameraden – auf unverhohlenen Antisemitismus:

Zum erstenmal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Haß, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Haß hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne der Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Haß. (S. 39)

Wassermann seziert nicht nur die Bestandteile der Vorurteile und Benachteiligungen, denen er ausgesetzt ist, er ist sich auch im Klaren darüber, dass dies nicht ohne Folgen auf die eigene Psyche bleiben kann, gerade auch, weil selbst Freunde ihn nicht als das anerkennen können, was er ist, ein Deutscher und ein Jude. Er will schon gar nicht von ihnen als löbliche Ausnahme anerkannt werden, da er auch darin tiefverwurzelte Vorurteile am Werke sieht.

Nach kurzen und unerquicklichen Aufenthalten in Nürnberg und Freiburg zieht er – bettelarm – zu einem Freund nach Zürich. Dieser, selbst gerade arbeitslos, nimmt ihn zunächst voller Herzlichkeit auf, doch schon bald geht auch durch diese enge Freundschaft ein Riss. Sie diskutieren sein Deutschtum, sein Judentum, sie kommen dabei zu keinem gemeinsamen Ergebnis, denn der Freund ist nur gewillt, ihn als eine Ausnahmeerscheinung innerhalb des eigentlich verachtenswerten jüdischen Volkes zu sehen. Die Verbindungslinien von solcherlei Einstellung und Verdrehungen zu den späteren Beschwörungen der Nazis sind schon hier mühelos zu ziehen: Die Juden hätten sich nie vollständig mit den Interessen der „Wirtsvölker“ identifiziert, sie seien weder willens noch fähig, sich aus ihrer Isolierung zu lösen.

Es steckt in ihnen ein ungesunder Hochmut der Tradition noch heute. Noch heute pochen sie auf die nur ihnen allein offenbarte Lehre […] Namentlich gegen das Christentum mußte sich ihr unauslöschlicher Haß richten, denn ihm gegenüber empfanden sie wie eine Mutter, die aus ihrem Schoß den Verräter geboren hat, Verräter des Volkes, Verräter der Menschheit, Verräter Gottes. Was kann solchem Haß gleichen? Wodurch könnte er gemildert werden? […] Rache für das Erlittene zu üben, keimt wahrscheinlich als Beschluß seit Geschlechtergedenken in ihrer Seele, wuchert in ihrem Zellgewebe sozusagen; was vermag dagegen der andersgeartete Einzelne? Dergleichen Instinkte wirken unterirdisch fort und sind durch keine Übereinkunft gutmeinender Aufklärer […] aus der Welt zu schaffen. (S. 49)

Der Freund vertritt damit weit vor 1900 eine Auffassung, die – einmal zum Programm erhoben – ein Leben als jüdischer Deutscher im Grunde zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt:

Doch nachdem ihnen die Wege zur Gemeinschaft mit uns geebnet waren, veränderte sich wohl ihr geistiges Antlitz, ihre Spiritualität mit erstaunlicher Schnelligkeit; mit erstaunlicher Schwung- und Spannkraft machten sie unsere Notwendigkeiten zu den ihren, ihre zu den unseren, schmiegten sich den Forderungen des Staatswohls an, der öffentlichen Meinung, der Mode, widmeten ihre wunderbaren Talente der Kunst, der Wissenschaft, der sozialen Entwicklung, aber in ihrem Grund blieben sie Juden. (S. 52)

Selbst eine Konvertierung zum Christentum sei nur im oberflächlichen Sinne möglich, im tiefsten Inneren bleibe ein Jude ein Jude. Auch wenn Wassermann diese Argumentation nicht akzeptieren kann, zwingt ihn sein Freund zu unerbittlicher Selbstanalyse. Er selbst sieht die Tragik im Dasein des Juden darin, dass

er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung. In dem beständigen Anprall, in der Reibung dieser beiden Empfindungsströme muß er leben und sich zurecht finden. […] Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß man Jude ist.“ (S. 54)

Als er dem Freund anfängt, zur Last zu fallen, fährt er – selbst die Fahrkarte müssen ihm Freunde bezahlen – zurück nach München, wo sein Vater inzwischen lebt. Es kommt dort zum Zerwürfnis, und es folgen Monate bitterster Armut und Perspektivlosigkgeit. Als ein befreundeter Schriftsteller ihm ein selbstverfasstes Buch mit freundschaftlicher Widmung schenkt, bringt er dies ohne zu zögern zum Antiquar, um davon seinen Lebensunterhalt für die nächsten Tage zu bestreiten.

Mit 23 Jahren veröffentlicht er den Roman Die Juden von Zirndorf.

Danach überspringt Wassermann elf Jahre seines Lebens und geht direkt zu seinem Werk Caspar Hauser über, dessen Thematik ihn über Jahre beschäftigt hat. Doch auch dieses Werk verschafft ihm nicht die Anerkennung als deutscher Schriftsteller, auf die er gehofft hatte. Wie gegen Glaswände stößt er überall gegen antisemitische Vorbehalte, Vorurteile und Abwiegelei.

Man denke sich einen Arbeiter, der, wenn er seinen Lohn begehrt, niemals voll ausgezahlt wird, obgleich seine Leistung in nichts hinter der der übrigen Arbeiter zurücksteht, und den man auf die Frage nach dem Grund solcher Unbill mit den Worten bescheidet: du kannst den vollen Lohn nicht beanspruchen, weil du blatternarbig bist. Er schaut in den Spiegel: Sein Gesicht ist durchaus ohne Blatternarben; er geht hin: Was wollt ihr? Ich bin ja gar nicht blatternarbig. Man zuckt die Achseln, man erwidert: Du bist als blatternarbig gemeldet, also bist du blatternarbig. In dem Gehirn des Menschen entsteht eine sonderbare Verwirrung: Das Recht wird ihm verkürzt unter dem Vorwand eines äußeres Makels, und in der Beunruhigung, die es ihm erregt, unterläßt er es, mit dem Aufgebot aller Kraft sein Recht durchzusetzen. Eine raffiniert ausgedachte Qual. (S. 84)

1898 zieht er nach Wien und ist überrascht, wie sehr das öffentliche Leben dort von Juden geprägt ist. Doch auch er ist nicht gefeit davor, in Schablonen und Verallgemeinerungen zu denken.

Mein Verhältnis zu ihnen, innerlich wie äußerlich, war von Anfang an ein höchst zwiespältiges. […] Ich schämte mich ihrer Manieren, ich schämte mich ihrer Haltung. Die Scham für den anderen ist ein ungemein quälendes Gefühl, am quälendsten natürlich, wo Blut- und Rasseverwandtschaft im Spiel ist […] Diese Scham steigerte sich manchmal bis zur Verzweiflung und bis zum Ekel. […] Es ging ein Zug von Rationalismus durch all diese Juden, der jede innigere Beziehung trübte. Bei den Niedrigen äußerte es sich und wirkte im Niedrigen, Anbetung des Erfolgs und des Reichtums, Vorteils- und Gewinnsucht, Machtgier und gesellschaftlichem Opportunismus; bei den Höheren war es das Unvermögen zur Idee und Intuition. Die Wissenschaft war ein Götze … (S. 103 – 104)

Wieder überspringt er mehrere Jahre, sagt nichts darüber, wie er seinen Lebensunterhalt bestreitet, wie er lebt, sondern geht gleich zur Veröffentlichung des Buchs Das Gänsemännchen (1915) über, das „sogleich ein herzliches und weittragendes Echo fand.“ (S. 87)

Mit dem aufkommenden Zionismus kann er sich nicht identifizieren, obwohl „der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes.“ (S. 118) Schon seit Jahrhunderten seien sie die bequemen Sündenböcke, der Kanal, in den man Hass, Verbitterung und Ressentiments leiten konnte. Hellsichtig und nahezu hoffnungslos konstatiert er:

Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. […] Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. (S. 122)

Und mit dem Wissen darum, was nur wenige Jahre später in Deutschland passiert, lesen sich seine Schlussworte erschütternd, die an die Worte Bonhoeffers erinnern, mit denen er den Tyrannenmord rechtfertigte:

Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig, Herumstehenden: was soll geschehen? so sage ich ihm: reißt dem Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand. Erwidert mir dann einer: der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh geladen, so sage ich ihm: das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand. Mehr kann Deutschland nach meiner Ansicht gewiß nicht tun. Aber es wäre viel. Es wäre genug. (S. 125)

Fazit

Mein Weg als Deutscher und Jude beeindruckt in seiner psychologischen Klarheit. Es ermöglicht uns trotz so mancher sprachlich verquasten Stelle einen Einblick in das Wesen des Antisemitismus, in rassistische Vorurteile überhaupt und in deren Auswirkungen auf die Psyche des Schriftstellers und zeigt uns Wassermanns Ringen um eine deutsche Identität.

Interessant auch sein Brief an Hedwig und Samuel Fischer aus dem Jahr 1925, in dem er die mangelnde öffentliche Anerkennung und die Zurückhaltung seines Verlegers ebenfalls mit antijüdischen Ressentiments begründet.

Marcel Reich-Ranicki schrieb in der FAZ:

Dieses Buch ist ein erschütterndes Zeitdokument, es ist Bekenntnis und Darstellung, Klage und Anklage in einem. Wassermann bekannte sich zu einer Bahn mit zwei Mittelpunkten: Er sei Deutscher und Jude zugleich – eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen. Damit ist schon gesagt, was Wassermann meinte, als er mehrfach, zumal gegen Ende seines Lebens, erklärte, er sei gescheitert.

Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen (OA 1945; deutsche Ausgabe 1986)

Vor kurzem stellte ich hier Eveline Haslers Buch Mit dem letzten Schiff  (2013) vor, in dem es auf S. 215 heißt:

Fry begann die Ereignisse der Marseiller Zeit aufzuschreiben, um auf diese Weise mit den verstummten Freunden verbunden zu bleiben, doch eine Veröffentlichung war noch zu heikel für alle Beteiligten. Als dann nach Kriegsende 1945 Varian Frys ‚Surrender on Demand‘ erschien, wurde das Buch von der Presse gelobt, verkauft wurde es schlecht.

Ja, das stimmt: Die Erinnerungen Varian Frys an die 13 Monate, in denen er in Marseille die Arbeit des Emergency Rescue Committee koordinierte, das von den Nazis verfolgten Intellektuellen und Künstlern zur Flucht verhelfen sollte, erschienen bereits 1945 unter dem Titel Surrender on Demand.

Die deutsche Erstausgabe Auslieferung auf Verlangen wurde von Jan Hans und Anja Lazarowicz übersetzt und 1986 im Hanser Verlag veröffentlicht.

Eine Neuausgabe erschien 1995 im Fischer Taschenbuch Verlag. Diese ist unbedingt lesenswert, doch was ich bei der Lektüre herausfand, geht weit über das hinaus, was ich erwartet habe. Ich stelle dabei zunächst einmal unkommentiert einige Textstellen von Fry und Hasler einander gegenüber.

Varian Fry (zitiert nach der Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages, S. 13):
Vor dem Bahnhof gab es keine Taxen, aber viele Gepäckträger. Einer nahm meinen Koffer.
„Welches Hotel?“ wollte er wissen.
„Splendide“, sagte ich.
„Haben Sie ein Zimmer bestellt?“
„Nein.“
„Dann werden Sie wohl auch keines bekommen“, sagte er. „Versuchen Sie es lieber im Hotel Suisse. Das ist das einzige Hotel in der Stadt, wo es noch Zimmer gibt. In Marseille ist alles von Flüchtlingen belegt.“

Eveline Hasler (S. 11)
Im Taxi nannte Fry das Hotel Splendide.
„Haben Sie dort reserviert?“, fragte der Chauffeur.
Fry verneinte.
„Marseille quillt über von Reisenden und Emigranten, in den großen Hotels finden Sie heute garantiert keinen Platz!“

——

Fry (S. 16)
Im Hotel tat man sehr geheimnisvoll, und ich mußte eine ganze Weile warten, bis man mir schließlich erlaubte, zu ihren Zimmern hinaufzugehen.

Hasler (S. 71)
Im vornehmen Hotel du Louvre et de la Paix, wo Fry an der Rezeption den Namen Werfel nannte, tat man geheimnisvoll. Erst nach längerer Diskussion bequemte man sich dazu, die Gäste in ihrer Suite zu benachrichtigen.

——

Fry (S. 16)
Werfel sah genau so aus wie auf den Fotos: groß, untersetzt und bleich – wie ein zur Hälfte gefüllter Mehlsack.

Hasler (S. 73)
… doch mit dieser Statur eines halbgefüllten Mehlsacks (gemeint ist Werfel)

——

Fry (S. 33)
… aber jeden Tag kamen waggonweise Soldaten, die entweder in Südfrankreich oder in Afrika demobilisiert werden sollten. Marseille war mit Soldaten ebenso überfüllt wie mit Flüchtlingen. Alle Waffengattungen der französischen Armee waren vertreten: Kolonialsoldaten mit leuchtend rotem Fes oder ‚Chechias‘ auf dem Kopf; Freiwillige der Fremdenlegion, die ihre ‚Kepis‘ in Staubschutzhüllen trugen; Zuaven in weiten türkischen Pluderhosen […]; Gebirgsjäger in olivgrünen Uniformen und mit gewaltigen Baskenmützen, die bis über das linke Ohr heruntergezogen wurden; staubige Schanzarbeiter aus den Tunneln der Maginot-Linie in grauen Pullovern; Kavallerieoffiziere in eleganten Khaki-Röcken, maronfarbenen Reithosen und, statt Kepi oder Stahlhelm, mit verwegenen, velourbraunen Mützen; schwarze Senegalesen mit Turbanen …

Hasler (S. 47)
Was für ein Ort, dachte Justus. […] Am auffälligsten die Militärs: Soldaten aus den Kolonien mit rotem Fes. Tiefschwarze Senegalesen mit Turbanen. Freiwillige der Fremdenlegion mit weißen Kepis in Staubhüllen. Zuaven mit türkischen Pluderhosen. Gebirgsjäger in olivgrünen Uniformen und mit gewaltigen Baskenmützen. Kavallerieoffiziere in eleganten Khakiröcken und mit verwegenen samtbraunen Mützen…

——

Fry (S. 36)
Noch bevor meine erste Woche in Marseille zuende ging, hatte es sich offenbar in der gesamten nicht besetzten Zone herumgesprochen, daß ein Amerikaner aus New York angekommen war, wie ein Engel vom Himmel gefallen sei, Taschen voller Geld und Pässe und einen direkten Draht zum State Department habe, so daß er jedes beliebige Visum im Handumdrehen besorgen konnte. Jemand erzählte sogar, daß es in Toulouse einen tüchtigen Geschäftsmann gab, der meinen Namen und meine Adresse für 50 Francs an Flüchtlinge verkaufte.

Hasler (S. 52)
[Hertha Pauli im Gespräch mit Walter Mehring]: „Ein Amerikaner ist vom Himmel gefallen! Mit Taschen voller Dollars und einer Namensliste, wer von den Künstler und Intellektuellen unbedingt zu retten sei. …“
[als Gedanke Miriam Davenports, S. 54]: In Toulouse, so erzählte man, verkaufe ein tüchtiger Geschäftsmann bereits Name und Adresse von Varian Fry für fünfzig Francs, der Amerikaner könne im Handumdrehen jedes beliebige Visum besorgen! Das kam ihr übertrieben vor.

——

Fry (S. 56)
Jedesmal, wenn ein Zug ankam und abfuhr, hörte man unten auf dem Pflaster das tausendfüßige Getrappel von Menschen, die die große Treppe hinaufliefen oder heruntereilten.

Hasler (S. 76)
In diesem Moment fuhr oben im Bahnhof rumpelnd ein Zug ein, für Minuten war nichts anderes zu hören als Zurufe und das Getrappel der Ankommenden auf den Marmorstufen.

——

Fry (S. 65)
Wir steckten Mehring im Splendide ins Bett. Der Arzt kam, sah ihn kurz an und schrieb dann ein sehr eindrucksvolles Attest. Es besagte nicht nur, daß Monsieur Mehring krank und somit unfähig war, wegen der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis auf der Präfektur vorzusprechen, es bestätigte auch noch, daß Mehring nicht vor Mitte November in der Lage sein würd, sein Zimmer zu verlassen.
Ich brachte Barellet das Attest, und er verlängerte Mehrings Aufenthaltsgenehmigung unverzüglich um zwei Monate. Für einen nicht-französischen Flüchtling war das äußerst ungewöhnlich, meistens wurde der Schein höchstens um zwei Wochen verlängert.

Hasler (S. 90)
Der Arzt kam und schrieb nach kurzer Visite ein eindrückliches Attest mit der Feststellung, Mehring sei nicht in der Lage, sein Bett vor Mitte November zu verlassen. Barallet wiederum verlängerte den Aufenthaltsschein gnädig um zwei Monate anstelle der üblichen zwei Wochen.

——

Fry (S. 73)
Harry Bingham [der amerikanische Vizekonsul] wohnte in einer Villa in der Rue du Commandant Rollin, einer Straße, die hinter der Corniche ein ganzes Stück vom Stadtzentrum entfernt liegt. Ich rief ihn an, nachdem ich vom Scheitern des Schiffsplans erfahren hatte. Er lud Bohn und mich zum Essen ein.
Es begann schon zu dämmern, als wir auf der Cannebiere in die Bahn zur Rue Paradis einstiegen, und es wurde dunkel, als wir das Gartentor aufstießen und den langen Weg zum Haus hinaufgingen. Auf der Kiesterrasse saß an einem kleinen Eisentisch Feuchtwanger – Harry [Bingham] hatte gerade sein Bad in einem seichten Fischteich etwas weiter unten beendet. […] Feuchtwanger war ein kleiner, verhutzelter Mann, aber er sprühte nur so vor Energie und Ideen.

Hasler (S. 93/S. 94)
Der Vizekonsul wohnte außerhalb der Stadt, an der Rue du Commandant Rollin, hinter der Corniche. Mit der Straßenbahn, von der Canebiere aus, war das Haus bequem zu erreichen. Als die beiden Besucher die Gartentür öffneten, begann es zu dämmern, […] Aus einem dieser Gewässer stieg nun etwas an Land, das einem Neptun glich, sich jedoch am Ufer in einen kleinwüchsigen Mann verwandelte, der in einen Bademantel schlüpfte und über eine Terrasse im Haus verschwand. ‚Es ist Feuchtwanger‘, flüsterte Bohn. […] Feuchtwanger […] zeigte sich an diesem Abend voller Energie und sprühte nur so vor Ideen.

——

Fry (S. 81)
[Einer der Helfer von Fry während der Rettungsaktion für Golo Mann, Heinrich und Nelly Mann und die Werfels: ‚Der Grenzbeamte meint], ihr solltet es trotzdem versuchen. Er sagt, man weiß nie, was passiert. Es könnte sein, daß morgen schon ein neuer Befehl aus Vichy kommt und er euch alle verhaften muß. Deshalb glaubt er, ihr solltet hier weg, solange ihr noch könnt. Er ging sogar mit mir nach draußen, um mir den besten Weg zu zeigen.‘
Ich sah mir den Berg an. Er war ziemlich hoch, und es war ziemlich heiß.
‚Mensch, Ball‘, sagte ich. ‚Ich glaube nicht, daß Werfel das jemals schafft. Er ist zu dick, und Heinrich Mann ist zu alt.‘

Hasler (S. 101)
‚Er hat uns aber geraten, es trotzdem zu versuchen. Es könne sein, dass morgen ein neuer Befehl aus Vichy komme und er uns alle verhaften muss. Er ging sogar mit mir vor den Bahnhof, um mir den besten Weg zu zeigen.‘
Fry schaute zum Berg hinauf. Er war ziemlich hoch, und der Tag drohte sehr heiß zu werden.
‚Mensch, Ball‘, murmelte Fry. ‚Ich glaube nicht, dass Werfel das schafft. Er ist zu dick, und Heinrich Mann ist zu alt.“

——

Fry (S. 260)
Ich war genau um elf Uhr in seinem Büro [dem Büro des Marseiller Polizeichefs], und er ließ mich eine dreiviertel Stunde warten – eine feinsinnige Form der Folter. Auf einen Summton hin wurde ich schließlich in ein großes Büro geführt. Am Ende des Raumes stand vor einem großen Fenster der Schreibtisch, hinter dem de Rodellec du Porzic saß. Das durch das Fenster einfallende Licht blendete mich aber so, daß es einige Minuten dauerte, bis ich sein Gesicht deutlich erkennen konnte. […] Schließlich sah er auf.
‚Sie haben meinem lieben Freund, dem Generalkonsul der Vereinigten Staaten, viel Verdruß bereitet‘, sagte er.
‚Ich denke, der Konsul kann seine Probleme selbst lösen‘, antwortete ich.
‚Mein Freund der Generalkonsul berichtete mir, daß Sie sowohl von Ihrer Regierung als auch von dem amerikanischen Komitee, das Sie hier vertreten, aufgefordert wurden, unverzüglich in die Vereinigten Staaten zurückzukehren‘, fuhr er fort.

Hasler (S. 196/197)
Fry erschien pünktlich bei Rodellec du Porzic [dem Polizeichef von Marseille]. Der Chefbeamte, wohl um seine Macht zu demonstrieren, ließ den Amerikaner eine Dreiviertelstunde warten, dann endlich wurde Fry in du Porzics Heiligtum eingelassen. In den durch das Fenster eindringenden Sonnenstrahlen war du Porzics Kopf ganz in sanftes Licht getaucht, Fry musste warten, bis seine geblendeten Augen die Gesichtszüge seines Gegenübers erfassen konnten. […] Schließlich blickte er [du Porzic] auf und begann: ‚Mister Fry, Sie haben meinem lieben Freund, dem Generalkonsul der Vereinigten Staaten, viel Verdruss bereitet!‘
‚Ich denke, der Konsul kann seine Probleme selbst lösen‘, antwortete Fry.
‚Es wird mir berichtet‘, fuhr du Porzic fort, ‚dass Sie von Ihrer Regierung und von dem Komitee, das Sie vertreten, aufgefordert werden, unverzüglich heimzureisen.‘

Und so könnte man diesen Textvergleich noch eine ganze Weile weiterführen. Muss man aber nicht.

Fazit

I am not amused und nehme mein positives Urteil zu Eveline Haslers Buch zurück.

Natürlich kann ein Buch wie das von Hasler nicht ohne Recherche entstehen, und einige wenige Male kennzeichnet sie wörtlich von Fry übernommene Stellen mit Hinweisen wie „wie Fry später sagen würde“. Aber was ist mit all den anderen unzähligen Stellen, die sie nicht als Zitat gekennzeichnet hat, bei denen sie dreist aus den Erinnerungen Frys zitiert oder Passagen nur unwesentlich umformuliert und hin und wieder dabei sogar Details verändert hat?

Und die Stellen, die ich zunächst bei Hasler für die gelungeneren hielt, sind just die, die direkt auf Frys Bericht zurückgehen.

Also: Wer sich für die Arbeit des Emergency Rescue Teams interessiert, der lese unbedingt das Buch Auslieferung auf Verlangen von Varian Fry und vergesse das Buch von Hasler. Fry erklärt ohnehin sowohl Details als auch Zusammenhänge wesentlich besser. Hasler war ja über die ganzen bürokratischen Feinheiten bei der Visa-, Pass-, Transit- und Ausreisegenehmigungsbeschaffung, in denen ein wesentlicher Bestandteil der Flüchtlingshilfe lag, sehr luftig-locker hinweggeglitten.

Auch Frys Mitarbeiter und Unterstützer, die sich nicht scheuten, Gangster und andere dubiose Gestalten in ihr Rettungswerk miteinzubeziehen, werden im Original wesentlich klarer konturiert. Der Leser erlebt, in welchen Gefahren das Team immer wieder schwebte, erfährt von gescheiterten Rettungsversuchen, von dem Entsetzen, als man Verräter und Spitzel in den eigenen Reihen entdeckt, und wie Fry schließlich – auf Betreiben des amerikanischen Konsuls in Marseille und des französischen Polizeichefs – aus Frankreich ausgewiesen wird.

Ich stand auf und wollte gehen. Dann drehte ich mich aber doch noch einmal um, um [dem Marseiller Polizeichef] eine letzte Frage zu stellen. ‚Sagen Sie mir offen, warum Sie mich so hartnäckig bekämpfen‘

‚Parce que vous avez trop protégé des juifs et des anti-Nazis‘, antwortete er. ‚Weil Sie Juden und Nazigegner geschützt haben.‘ (S. 262)

Fry schreibt präzise, informativ und spannend. Und einige Stellen sind auf einmal auch psychologisch wesentlich stimmiger, selbst wenn die Unterstützung durch weibliche Mitarbeiter in seinem Text wohl ein wenig zu kurz kommt. Sein Bericht umfasst 280 Seiten, dazu kommt in der Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages ein 60-seitiger Anhang mit hilfreichen Erläuterungen, abgedruckten Briefen und einem ausführlichen Namensregister.

Dem Fazit aus dem Nachwort von Wolfgang D. Elfe kann ich nur zustimmen:

Die Geschichte der Rettungsaktionen des ERC, die Fry in seinem Buch geschrieben hat, ist ein Dokument der Geschichte des antifaschistischen Exils wie auch der intellektuellen Emigration in die USA. Doch hat Fry mit diesem Buch nicht nur ein historisches Dokument hinterlassen, sondern zugleich ein Werk von einiger literarischer Qualität. Fry erweist sich – ohne dadurch die Realitätstreue seines Berichts in Frage zu stellen – als spannender Erzähler. Das gilt insbesondere für die Schilderung seiner konspirativen Tätigkeit. Er verlebendigt viele Situationen durch dialogische Gestaltung und zeigt sich als Meister der Charakterisierung. Es gelingt ihm auch, viel Atmosphärisches einzufangen und die Jahre 1940-41 in Vichy-Frankreich lebendig vor dem Leser erstehen zu lassen. Ungeachtet des großen Ernstes der Situation, einer deprimierenden Weltlage und des Scheiterns verschiedener Rettungsaktionen […] erzählt Fry häufig mit Witz und Komik. Im übrigen erhöht an vielen Stellen typisches angelsächsisches Understatement die Lesbarkeit seines Berichtes. (S. 300)

Hasler dagegen entpuppt sich als eine Trittbrettfahrerin, die auf 219 Seiten ohne jeglichen Anhang Frys Bericht in vereinfachter und gekürzter Form nacherzählt – ohne das je kenntlich zu machen – und dabei das Ganze noch ein bisschen aufpeppt mit Personen, die mit Frys Geschichte gar nichts zu tun haben.

Anmerkung

Hier noch eine Würdigung von Fritz J. Raddatz zum „Engel von Marseille“ aus der ZEIT.

Mely Kiyak: Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an (2013)

Man stirbt.
Man steht morgens auf, macht seine Arbeit und stirbt.
Man träumt und stirbt.
Man gießt Blumen, geht einkaufen, schüttelt Decken aus und stirbt.
Man liest. Man liebt. Man stirbt.
Vögel zwitschern, Narzissen springen mit einem leisen Rascheln auf – was folgt ist Sterben.
Ob man es brauchen kann oder nicht, zwecklos sich damit anzulegen, man stirbt.
Man stirbt. Man stirbt.

Diese Worte sind dem Buch der Journalistin  Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an vorangestellt.

Die Journalistin und Kolumnistin, die u. a. für die ZEIT, taz und die Frankfurter Rundschau schreibt, bekommt immer wieder Besuch von ihrem Vater, der als ehemaliger Gastarbeiter nun seinen Ruhestand in der Türkei genießen möchte, denn er gehört zu denen, die

… sich nach ihrer Heimat sehnen, sie aber mit einem Bein in Deutschland leben müssen, weil ihre vollen Rentenbezüge verloren gehen, wenn sie länger als sechs Monate nicht in Deutschland waren … (S. 140)

Bei einem seiner Deutschlandaufenthalte, bei denen er seine inzwischen erwachsenen Kinder besucht, geht er ins Krankenhaus, um nur eben einen hartnäckigen Husten abklären zu lassen. Doch die Diagnose lautet Lungenkrebs.

Was folgt, ist zum einen die Beschreibung der Krankenhausodyssee mit all der deutschen Regularienwut, den quälenden und schmerzhaften Behandlungsmethoden, der fehlenden menschlichen Anteilnahme. Möchte Herr Kiyak am liebsten in Ruhe gelassen werden und manches vielleicht gar nicht so genau wissen, so ist seine Tochter das Gegenteil: Sie will kämpfen, kämpfen, kämpfen, ihren Vater aufmuntern, ihm seine Tränen verbieten, bis der Krankenhauspsychologe sie ermahnt, dass sie bitte schön ihren Vater respektieren und ihm nicht noch Energie rauben solle, indem er meint, für sie Gefühle vorspielen oder unterdrücken zu müssen.

Auch das Leben der Tochter gerät aus den Fugen, sie kann nicht mehr so wie bisher arbeiten, fährt täglich ins Krankenhaus, wäscht die Wäsche ihres Vaters, kocht für ihn, stellt sich Ärzten in den Weg, trauert, organisiert und beherbergt zahlreiche Verwandte, die ihren Vater im Krankenhaus besuchen.

Dazwischen streut Mely all die Geschichten, die ihr Vater ihr schon in der Vergangenheit erzählt hat und nun auch im Krankenhaus erzählt, von früher, von Anatolien, den Tanten und dem kriminellen Onkel oder dem Großvater der Autorin, der noch Analphabet war, von Familienfesten und Bräuchen, wie z. B. der Entführung der Geliebten:

Einer „entführten“ Frau kann man keinen Vorwurf machen, im Gegensatz zu einer Frau, die mit ihrem Liebsten durchbrennt. Mein Vater brauchte ein Fluchtfahrzeug. Er bat seinen Cousin Hüseyin, ihm einen Esel für die Geiselnahme zu überlassen. […] Dein Opa setzte seine Oma auf den Esel und lief hinterher. So entführte er sie. Als Gegenleistung für den Esel überließ mein Vater Hüseyin seinen Anteil an den Feldern. Daraufhin hieß es, mein Vater sei vor lauter Liebe verarmt. Was natürlich nicht stimmt. Er war keineswegs arm geworden. Die Liebe macht einen Menschen immer reich. (S. 50)

Da gibt es Geschichten vom Militärdienst des Vaters, bei dem er zum ersten Mal die Benachteiligung der Kurden begriff. Geschichten vom Leben in der Fremde, in Deutschland, von langen 12-Stunden-Nachtschichten und den besprochenen Kassetten, die die Gastarbeiter in die Türkei schickten und die dann von Familienmitgliedern überspielt und wieder besprochen wurden.

Fazit

Ich habe das Buch sehr, sehr gern gelesen. Aus mehreren Gründen. Es ist traurig, schnoddrig, witzig, bedenkenswert und ehrlich, man sieht und spürt die Verzweiflung – und den Lebenstrotz – der Tochter und wird an die eigene Sterblichkeit und die seiner Lieben erinnert:

Es scheint zu stimmen. Der Mensch ist sterblich. Gewusst habe ich es immer, aber nicht begriffen. Ich dachte, Kranksein sei eine Ausnahme. Es scheint vielmehr die Ausnahme zu sein, friedlich im Schaukelstuhl mit einer Kaschmirdecke auf den Knien einzuschlafen. (S. 61)

Man fragt sich doch, worin der Sinn des Lebens besteht, wenn am Ende gestorben wird. Und wie ich mich gefreut hatte auf das Leben. (S. 113)

Natürlich ist es scheußlich, von der Krankenhausmentalität zu lesen, wenn kaum jemand Zeit hat, dem Patienten und den Angehörigen zu erklären, was mit einem passiert, so dass man im Stillen hofft, nie dort sterbenskrank sein zu müssen. Der Mensch an sich wird – aus Zeitmangel, Überarbeitung, Gleichgültigkeit – nicht mehr wahrgenommen und die Tochter muss um ein Arztgespräch betteln, nachdem der Vater mal eben – eher so im Vorübergehen – die Diagnose Krebs erhalten hat. Das Krankenhaus wird so zum Spiegelbild unserer Gesellschaft.

Dem Leser dämmert, dass die Gastarbeiter von damals immer noch nicht als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft wahrgenommen werden, im Krankenhaus so gar nicht auf ihre manchmal so kleinen, aber für das Sich-nicht-völlig-fremd-Fühlen so wichtigen Wünsche reagiert wird, z. B. einen ordentlichen Tee zu bekommen. Der Speiseplan ist komplett auf deutsche Essgewohnheiten abgestellt, gleichzeitig sieht man es ungern, wenn Familienmitglieder Essen mit ins Krankenhaus bringen.

Und wir lesen von einer Vater-Tochter-Beziehung, in der vermutlich jeder wirklich alles für den anderen geben und tun würde. Ich war manchmal schon fast entsetzt über die Respektlosigkeiten, die sie und ihre Geschwister sich ihrem Vater gegenüber als Kinder erlaubt haben, über die Rabiatheit, die die Tochter ihrem Vater gegenüber an den Tag legt, und doch schimmert jetzt hinter allem Liebe und ein unglaublicher Zusammenhalt durch. Als Mely einmal so losweinen muss, dass sie gar nicht mehr aufhören kann,

nützt [er] das als Freibrief und legt dermaßen los und weint mit und das macht mich schlagartig nüchtern, dass ich mich gar nicht erst beruhigen muss, ich bin in solcher Weise klar im Kopf, dass ich ihn anschaue und sage: Papa, bloß weil ich ein Nervenbündel bin, heißt das noch lange nicht, dass du mitmachen darfst! (S. 202)

Herr Miyak ist ein so liebenswürdiger, stiller aber dabei so tapferer Mann, dass er mein Leserinnenherz im Fluge für sich eingenommen hat. Dabei gelingen der Autorin Momentaufnahmen von großer Innigkeit. Und manchmal muss man auch einfach lächeln.

Gern gelesen habe ich auch die Geschichten aus der Türkei, so bunt und fabulierfreudig, ganz das Gegenteil des Krankenhauslebens. Mir wurde bewusst, wie wenig ich eigentlich über die Türkei weiß. Und: Wie viele Geschichten hat Deutschland möglicherweise versäumt?

Wo sind alle diese Kassetten geblieben? Wer archiviert die Erinnerungen? (S. 126)

Meinetwegen hätte das Buch dreimal so dick sein können.

Und das schreibt Mely Kiyak über Literatur:

All die Schmerzensliteratur, die es gibt und die man zitiert nicht erträgt, wenn man sich nicht auf dem gleichen Level der Traurigkeit wie der Zitierte befindet, bekommt im Moment der eigenen Traurigkeitsauflösung eine solche Wucht, eine solch monströse Kraft, man traut sich gar nicht mehr, ins Buchregal zu greifen. (S. 229)

Ein großes Dankeschön an Sabine von Binge Reading, die mich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam gemacht hat.

James Herriot: All Creatures Great and Small (1970)

They didn’t say anything about this in the books, I thought, as the snow blew in through the gaping doorway and settled on my naked back. I lay face down on the cobbled floor in a pool of nameless muck, my arm deep inside the straining cow, my feet scrabbling for a toe hold between the stones. I was stripped to the waist and the snow mingled with the dirt and the dried blood on my body. I could see nothing outside the circle of flickering light thrown by the smoky oil lamp which the farmer held over me.

Mit diesen Sätzen beginnt die Reihe um den britischen Tierarzt James Herriot, der im wahren Leben James Alfred Wight hieß.

Das hätte sich Wight (1916 – 1995) am Anfang wohl auch nicht träumen lassen, dass er unter dem Pseudonym James Herriot – Tierärzten war jegliche Eigenwerbung verboten, deshalb ein Pseudonym – mit seinen halb fiktiven Erinnerungen und Erlebnissen aus seinem Arbeitsleben einmal weltberühmt werden würde.  Einschließlich der diversen Verfilmungen. Dabei hatte er zuvor jahrelang nach einem Verleger suchen müssen. Er begann erst mit 50 zu schreiben und trotz des Erfolges, der sich dann einstellte, hat er bis zu seiner regulären Pensionierung  in der gemeinsamen Praxis gearbeitet.

A trip down memory lane – oder eine kleine Zeitreise zurück in die Kindheit

Durch einen Umweg bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden. Zwar hatte ich als Kind wie vermutlich viele andere die Verfilmungen gesehen, doch als ich Jahrzehnte später den ersten Band seiner Erinnerungen geschenkt bekam, wanderte der ungelesen in den SUB nach dem Motto: Irgendwann mal oder auch nicht. Nachdem ich dann eher zufällig über die englischen Originalfolgen der Fernsehserie „All Creatures Great and Small“ gestolpert bin (oft herrlich komisch), kramte ich das Buch wieder aus dem Regal.

Das war für mich der Beginn eines wochenlangen Abtauchens. Und die Folgebände mussten auch noch her. Da geht es dann leider nicht immer chronologisch weiter: Manches wirkt lieblos zusammengestoppelt, so als seien Verlag und Autor vom Erfolg überrannt worden, dem dann rasch etwas nachgeworfen werden musste.

Zum Inhalt

Der Leser, der Zuschauer lernt das Leben als Tierarzt in Yorkshire ab den vierziger Jahren kennen. Die Menschen lebten auf kleinen Farmen, arbeiteten hart und waren viel unmittelbarer von der Natur und dem Lauf der Jahreszeiten abhängig. Die Tierärzte sahen sich auf der einen Seite mit damals noch unheilbaren Tierseuchen konfrontiert, die dem einzelnen Bauern die gesamte Existenzgrundlage innerhalb von Tagen zertrümmern konnte, und auf der anderen Seite gab es allmählich Veränderungen und Fortschritte in der Tiermedizin. Die Arbeit ist dabei keineswegs immer ungefährlich. Einmal wäre James auf dem Weg zu einem kranken Tier beinahe ums Leben gekommen, weil er im Schneesturm den Weg verloren hatte.

Die drei Kollegen, zunächst ohne weibliche Unterstützung, sieht man von der wunderbaren, immer leicht genervten Haushälterin Mrs Hall einmal ab,  ergänzen einander auf Feinste: James‘ Chef Siegfried Farnon ist aufbrausend, unberechenbar und dabei gutherzig und großzügig, während sein jüngerer Bruder Tristan das Leben in vollen Zügen genießt, frühes Aufstehen verabscheut, sich wo immer möglich, der Arbeit entzieht und ein gutes Bier und weibliche Gesellschaft zu schätzen weiß. Am pflichtbewussten James bleibt dagegen mehr als einmal der Löwenanteil der unangenehmeren Arbeiten hängen und am Anfang hat er, der zugezogene Schotte, seine liebe Not mit den einheimischen Bauern, die ihn erst gar nicht recht ernstnehmen wollen, besonders wenn er mit so neumodischen Behandlungsmethoden um die Ecke kommt.

Und im Sprechzimmer tummeln sich bizarre Patienten und ihre manchmal noch bizarreren Herrchen und Frauchen. Aber spätestens bei den Fahrten über Land ist meist aller Ärger vergessen, wenn James sich an der herbschönen Landschaft Yorkshires erfreut.

Fazit

Ich mag die Geschichten mit ihrem Witz und ihrer Situationskomik noch immer, wobei auch traurige und ernsthafte Ereignisse ihren Platz haben. Und natürlich findet James auch seine Herzdame. Kurzum: eine (fiktive) Welt, in der Anstand, Menschlichkeit und Freundschaft ganz wesentliche Bestandteile sind.

Für mich also Geschichten mit einem riesengroßen Entspannungsfaktor, bei denen es gleichermaßen um die Tiere wie um die Menschen mit all ihren Eigenheiten, Kümmernissen und Freuden geht.

Und im letzten Urlaub habe ich mir ein Loch in den Regenschirm gefreut, als ich in einem richtig schönen Secondhand-Bookshop den Bildband „James Herriot’s Yorkshire, with photographs by Derry Brabbs“ von 1979 entdeckt habe.

P1070525Biografie des Sohnes

Natürlich musste ich dann auch die Biografie seines Sohnes lesen: 1999 erschien The Real James Herriot: A Memoir of my Father von Jim Wight.

Das Buch des Sohnes über seinen erfolgreichen Vater liest sich interessant und durchaus erhellend, selbst wenn es an der ein oder anderen Stelle etwas verklärend geraten ist. Es ermöglicht den Vergleich zwischen Fiktion und dem Tatsächlichen, ohne dass dadurch der Charme und das Liebenswerte der Bücher von Alf Wight verloren gehen.

Ernüchternd war allerdings zu erfahren, dass das Verhältnis der drei Kollegen keineswegs immer so rein freundschaftlich war, wie es die Erzählungen von „James Herriot“ vermuten lassen. „Siegfried“ drohte als älterer Herr sogar mit dem Anwalt und der Beendigung der jahrzehntelangen Freundschaft, sollte Alf die Bücher veröffentlichen.

Für Wights Humor und seine Freundlichkeit findet man in dem Buch weitere schöne Beispiele: Meine Lieblingsstelle schildert, wie seine zukünftige Schwiegertochter ihm einen Entschuldigungsbrief schreibt, nachdem sie am Abend vorher auf der „first publication party“ die Auswirkungen des Alkohols unterschätzt und den Abend dann wohl überwiegend auf der Damentoilette verbracht hatte. Wight antwortet ihr – auf reizende Weise:

My dear girl, I hasten to assure you that your feelings of remorse are entirely unnecessary and, in fact, there is something ludicrous in apologising to me, the veteran of a thousand untimely disappearances and as many black and hopeless dawns. I see you describe yourself as a ‘sordid little heap in the Ladies’. Well that’s a good description of me but for ‘Ladies’ read ‘Gents’ or ‘Friend’s back room’, or ‘Back seat of car’ or, in one case, ‘Corner of tennis court’.
Let me further assure you that your ‘awful behaviour’ was probably not even noticed by a roomful of people who had punished the champers for a couple of hours, then waded into the vino for a similar period. It remains rather a blur to me.
I dimly remember the two Michael Joseph men making rather incoherent speeches of thanks to which, they tell me, I made a slurring twelve-word reply. I honestly don’t remember and that goes for a very drunken Tristan and most of the others.
But I do remember meeting you right at the start and that was lovely.

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Das es dieses alte Schätzchen auf meinen Blog geschafft hat, ist die Schuld von Birgit, die auf ihrem ehemaligen Blog in ihrer Reihe #Verschämte Lektüren dazu aufgerufen hatte, im heimischen Buchregal auf die Suche nach “literarisch unterirdischen Werken“ zu gehen, „die man verschämt in der hintersten Ecke des Regals versteckt und von denen man sich dennoch nicht trennen mag“. Das fand ich zunächst wirklich schwierig, denn Bücher, die ich verschämt etwas diskreter lagere, gibt es nicht. Die Bücher, die ich mag, stehen sichtbar da, wo sie nach der Lesechronologie halt hingehören.

Also, was tun? Nach ein bisschen Grübelei bin ich doch noch fündig geworden. Es gibt so einen Leseschatz, von dem ich bisher wirklich niemanden überzeugen konnte. Literarisch „unterirdisch“ ist er zwar nicht, allerdings von den englischsprachigen Verlagen grottenschlecht betreut. Eigentlich ist es ein Dreiklang aus den Büchern, der Fernsehserie und einer wunderbaren Landschaft, der mich nach wie vor entzückt. Es geht natürlich um Den Doktor und das liebe Vieh.

Und: Liebe Birgit, das hat jetzt richtig Spaß gemacht. Nicht zuletzt auch wegen der herrlichen Kommentare, die sich inzwischen bei dir tummeln. Da kann man dann auch mitverfolgen, wie man von James Herriot zu Männern mit schönem Haar und zu John Boy von den Waltons kommt. Ganz zu schweigen von Winnetou, der durch die Lateinstunden ritt…

Einer meiner Favoriten kommt von Drittgedanke:

Jaaaa! 🙂 Ein Traum aus Tweed und Fünf-Uhr-Tee-Plüschigkeit. Endlich, endlich eine Gelegenheit um mich ganz un-verschämt zu outen: DEN hätte ich sofort geheiratet – damals, als Zehnjährige. (Jaja, die Episode mit dem Ehering habe auch ich gerade vor Augen…) Ich brauche sofort meinen Strick-Pollunder mit Zopfmuster – herrje, wo ist mein Strick-Pollunder?!

Petra Hartlieb: Meine wundervolle Buchhandlung (2014)

Wir haben eine Buchhandlung gekauft. In Wien. Wir haben eine Mail mit einer Zahl geschrieben, ein Gebot, einen Betrag, den wir gar nicht hatten, und nach einigen Wochen kam die Antwort: Sie haben eine Buchhandlung gekauft! So etwas passiert dir nur bei eBay, wenn du dich hinreißen lässt und mehr bietest, als du eigentlich wolltest, weil sich das Kind das Harry-Potter-Lego so sehr wünscht und du dann diese eine Zahl hingeschrieben hast und keiner, verdammt noch mal keiner, findet sich, der mehr bietet. Und nun haben wir für eine Buchhandlung geboten, in einer Stadt, in der wir nicht leben, mit Geld, das wir nicht haben. Und haben sie bekommen. Und jetzt? Jetzt müssen wir das durchziehen.

Mit diesen Sätzen beginnt die buchhändlerische Erfolgsstory von Petra Hartlieb, die zunächst so gar nicht ins Amazon-Zeitalter zu passen scheint:

Nach den schönen Besprechungen auf dem Grauen Sofa (dort bitte auch die anregenden Kommentare lesen!) und beim Kaffeehaussitzer muss zum Inhalt wohl nicht mehr viel gesagt werden: Familie kauft Buchhandlung in Wien. Arbeitet bis zur Erschöpfung und manchmal auch darüber hinaus, kämpft mit Tücken der Finanzierung und wunderbaren und manchmal auch ziemlich schrägen Kunden.

Den Vogel schießt die Kundin ab, die ein spanisches Kinderbuch, das sie im Urlaub für ihren Enkel gekauft hat, von uns übersetzen lassen will. Der Enkel spreche schließlich kein Spanisch. Darauf die Kollegin: „Ich auch nicht.“ Die Dame verlässt beleidigt den Laden. (S. 67)

Hin und wieder gerät das Familienboot unter all der Zeitnot und dem Stress gefährlich ins Trudeln. Sie gewinnen neue Mitarbeiter auf manchmal ungewöhnlichen Wegen und – verkaufen Bücher ohne Ende. Inzwischen mit liebevoll gestalteter Homepage.

Fazit

Humorvoll, ironisch, locker-flockig, manchmal ein bisschen rüde, da wird dann für eine gute Pointe auch mal ausgeteilt. Über manches wird geschwiegen: Wie hat wohl der Sohn, der den Rest seiner Schulzeit in Hamburg absolviert hat und nicht mit der Familie nach Wien gezogen ist, diese Zeit erlebt? Und wenn alles immer noch nahe dem Nervenzusammenbruch passieren würde, dann hätte Frau Hartlieb sicherlich nicht die Zeit gefunden, dieses Buch und noch ein paar Krimis zu schreiben.

Trotzdem ist das Buch spannend, man will wirklich wissen, was passiert als nächstes? Zwischendurch ist es erholsam, wenn sie das Erzähltempo drosselt und einzelne Episoden erzählt, da kann man dann ein bisschen aufatmen.

Und wie schön zu lesen, dass so ein angeblich altmodisches Ding wie eine Buchhandlung hervorragend funktionieren kann. Dass es Menschen gibt, die ihren Traum leben und mit Enthusiasmus das wettmachen, was ursprünglich vielleicht an finanziellen Rücklagen und technischem Know-How gefehlt hat.

Dieses Loblied auf den Buchhandel vor Ort und auf einen Beruf, der uns allen hoffentlich noch lange, lange erhalten bleibt, macht Laune. Nicht mehr, nicht weniger. Und man möchte am liebsten gleich wieder in eine dieser mit Büchern vollgestopften Buchhandlungen verschwinden und auf Entdeckungstour gehen. Und der ein oder andere Buchladen kann sich von dem, wie hier Service, Beratung und Kundenbetreuung hochgehalten werden, vielleicht auch ein Scheibchen abschneiden.

Und wenn ein Buch mit so viel Wärme und Begeisterung von Hartlieb empfohlen wird wie Der Schrecken verliert sich vor Ort von Monika Held, dann werde ich doch gleich mal schauen…

 … wir verkaufen das schönste Produkt, das es gibt. Wir verkaufen Geschichten. Und ich kann mich für einen guten Unterhaltungsroman genauso begeistern wie für die sogenannte ernsthafte Literatur, und manchmal finde ich diese Unterscheidungen im deutschen Sprachraum sehr mühsam. Jedes Mal dieser Eiertanz, wenn man rausfinden möchte, welche Art von Buch eine Kundin gerne möchte, wenn sie in den Laden kommt und sagt: „Empfehlen Sie mir ein gutes Buch.“ Was könnte das sein? Was ist für die Dame eine gutes Buch? Irgendetwas zwischen Elfriede Jelinek und Cecilia Ahern, aber wie bekomme ich das raus, ohne beleidigend zu sein? (S. 129)

Und vielleicht sollte sich meine Buchhandlung vor Ort den folgenden Hinweis mal zu eigen machen:

Es gibt natürlich auch solche, die regelmäßig sehr, sehr viele Bücher kaufen, du weißt aber, dass sie nicht unfassbar reich sind und ihre Bücherregale eigentlich auch schon überquellen müssen. Da muss man auch schon mal etwas verweigern, zumindest rauszögern, ein wenig wie ein guter Wirt, der einschätzen kann, wann der Gast genug hat, und ihm nicht mehr nachschenkt. „Jetzt liest du mal das, was auf deinem Nachttisch liegt, und dann kommst du wieder.“ (S. 177)

Bartholomäus Grill: Um uns die Toten (2014)

Der Journalist, Autor und Korrespondent Bartholomäus Grill (*1954) versucht in diesem unglaublichen Buch nichts weniger, als der Tatsache ins Auge zu schauen, dass unser Leben endlich ist. Dabei herausgekommen ist eine bewegende Mischung aus Autobiografie und Reportage, die sich streng auf das im Untertitel genannte Thema Meine Begegnungen mit dem Sterben beschränkt. Das Buch beginnt mit einer Kindheitserinnerung an die Beerdigung des Großvaters.

Es sei ein kalter, sonniger Februartag gewesen, Tante Afra erinnert sich noch genau. Mir fällt niemand ein, den ich sonst noch fragen könnte, und es leben auch nicht mehr viele, die eine Antwort wüssten. Ich habe den Tag ganz anders im Gedächtnis: grau und frostig. Ein scharfer Westwind wehte durch den Halmberger Hof, als der Leichenwagen von Kirchreit her kommend in die Durchfahrt zwischen Getreidestadel und Bauernhof einbog, ein Gespann mit zwei kastanienbraunen Gäulen, auf dem Kutschbock saß ein Mann mit kantigem Gesicht. Kurz bevor das Gefährt vor der Haustür zum Stehen kam, riss eine Bö die Kappe von seinem Kopf.

Der Autor behauptet zunächst:

Im Zentrum steht der Freitod meines Bruders Urban, sein langer Kampf gegen den Krebs, schließlich sein unwiderruflicher Entschluss, das Leiden und den endlos sich hinziehenden Prozess des Sterbens zu beenden. (S. 12)

Doch das stimmt nur bedingt. Hier wird das ganz Persönliche verwoben mit dem Weltpolitischen.

Am Beginn steht der Rückblick auf eine als idyllisch empfundene, gleichwohl streng katholisch geprägte Kindheit auf einem bayrischen Bauernhof. Dieser umfasst sowohl Erinnerungen an das kleine Schwesterchen, das mit schwersten Conterganschäden auf die Welt kam und ein Jahr lang starb, als auch an die Traditionen, Feste und Wallfahrten und an den Tod der Großeltern. Außerdem lesen wir von den verschwiegenen Selbstmorden in der Nachbarschaft. Dabei war der Selbstmord für die gläubigen Katholiken schändlicher als die Tatsache, dass da ein ehemaliger SS-Obersturmbannführer in den Freitod gegangen war.

Die Loslösung vom Elternhaus geht einher mit Drogenexperimenten, die – wenn auch ungewollt – beinahe tödlich enden und mit immer tieferen Rissen im katholischen Weltbild. Seinen Zivildienst absolviert Grill zunächst in einem Alterskrankenhaus, bevor er in ein Zentrum für behinderte Kinder wechselt. Diese Zeit ist geprägt durch die völlig irrationale Annahme, dass der wirkliche Tod ein lächerlicher Geselle sei, mit dem man ganz unbefangen kokettieren könne.

Zum Beispiel durch waghalsige Ski-Abfahrten auf lawinengefährdeten Hängen, durch Autorasereien ohne Fahrerlaubnis oder andere hirnrissige Mutproben, mit denen wir den Mädels imponieren wollen. […] Was würde ich schon verlieren? Nur das Leben, so what? Aber das konnte mir ohnehin nicht passieren. Ich fühlte mich bei solchen Torheiten so sicher wie ein afrikanischer Buschkrieger, der sich für unverwundbar hält, nachdem er sich mit Zauberelixieren immunisiert hat: Die Kugeln des Feindes prallen an ihm ab wie Wassertropfen. Nach neueren medizinischen Erkenntnissen ist das irrationale Verhalten männlicher Jugendlicher auf das hormonelle Chaos in ihrer Reifezeit zurückzuführen, da fallen Sicherheitsschaltungen im Gehirn manchmal einfach aus. (S. 58)

Nach einem Zeitsprung geht es schließlich weiter mit den Erfahrungen, die Grill in seiner Zeit als Auslandskorrespondent gemacht hat.

Die ersten Einsätze in den achtziger Jahren führten mich nach Osteuropa, nach Polen, wo Geheimagenten der wankenden Jaruzelski-Diktatur regimekritische Priester entführten und umbrachten. Dann, Weihnachten 1989, nach Rumänien, als der Despot Nicolae Ceaucescu gestürzt und hingerichtet wurde und mir beim Anblick vermeintlicher Folteropfer des Geheimdienstes Securitate der Tod erstmals als furchtbarer Menschenschinder erschien. Drei Jahre später wurde ich von der ZEIT nach Afrika entsandt. Seither habe ich regelmäßig über Kriege, Staatsstreiche, Hungersnöte, Seuchen und Katastrophen berichtet. Den ersten Aids-Toten sah ich in einem Fischerdörfchen am Victoria-See in Uganda, ich ahnte damals nicht, dass mich diese Pandemie von schier unvorstellbaren Ausmaßen in zahlreichen Reportagen immer wieder beschäftigen würde. Kein Ereignis hat mich indes so erschüttert wie der Genozid und dessen Nachwehen in Ruanda. (S. 13/14)

Grill nimmt uns mit seinen Reportagen und Texten mit in die Gebiete der Welt, die uns sonst doch oft sehr weit weg zu sein scheinen und wo Folter, Hunger, unvorstellbares Leid, Grausamkeiten und der von Menschen verschuldete Tod Grill nicht nur an der Menschlichkeit, sondern auch an der Existenz Gottes zweifeln lassen. Doch genauso schildert er die ausgelassenen afrikanischen Feierrituale, die dort eine Beerdigung zu einem Fest des Lebens machen.

Und gegen Ende führt der Bogen wieder nach Hause zurück. Zum Sterben seines Bruders Urban, der unheilbar an Zungenkrebs erkrankt ist, und dessen Entschluss, die Hilfe der Schweizer Organisation Dignitas in Anspruch zu nehmen, um freiwillig aus dem Leben zu gehen. Grill schildert die Verzweiflung der Familie, die Vorbehalte der katholischen Mutter und schließlich die Fahrt in die Schweiz, den Ablauf, die letzten Stunden des Bruders in einem schäbigen Zimmer.

Dabei wird Grill nie sentimental, nie gefühlig, immer versucht er zu begreifen, zu verstehen, das überzeugende Argument zu finden. So wird auch ein Streitgespräch zwischen ihm und dem katholischen Denker Robert Spaemann abgedruckt, der sich gegen jede Institutionalisierung der Sterbehilfe ausspricht.

Dass Grill dabei seine eigenen (verlorengegangenen) religiösen Ansichten auf den Prüfstand stellt und versuchen muss, nun auch selbst mit dem Tod und der Endlichkeit unseres Lebens zurande zu kommen, versteht sich von selbst.

Letztlich spiegelt auch das vorliegende Buch das kollektive Bedürfnis, den verdrängten, verbannten und scheinbar gezähmten Tod wieder näher ans wirkliche Leben heranzuholen. Weil es aus einer sehr persönlichen Perspektive geschrieben ist, nimmt es in weiten Teilen autobiografische Züge an. […] Peter Weiss […] nannte das Schreiben den Versuch, “mit all unseren Toten in uns, mit unserer Totenklage, unseren eigenen Tod vor Augen, zwischen den Lebenden dahin zu balancieren.” Kein Satz könnte meine Beweggründe trefflicher ausdrücken.“ (S. 17)

Fazit

Klingt das trostlos? Ist es aber eigenartigerweise nicht, denn Grill schreibt reflektiert, oftmals gelassen, manchmal fast heiter. Ehrlich auch da, wo er über eigene Schuld spricht. Zum anderen hat er etwas zu erzählen.

Interessant zum Beispiel sein Exkurs zu einigen Berufskollegen, den Mitgliedern des legendären Bang-Bang Clubs, den preisgekrönten Katastrophenfotografen, die nahezu zwangsläufig ihrer derformation professionelle erliegen: Greg Marinovich, Kevin Carter, Joao Silva und Ken Oosterbroek.

Die Bang-Bang-Fotografen trieb eine Art Soldatenlust aufs Schlachtfeld, die prickelnde Erfahrung von Gewalt, gemischt mit Abenteurertum und ein bisschen Aufklärungsdrang – der Rest der Welt sollte die Grausamkeiten in den Ghettos der Schwarzen sehen. Aber viel wichtiger noch war den Fotografen, zu beweisen, was für harte, furchtlose Kerle sie waren und welche Mutproben sie bestanden. Stand-ups gehörten zu ihren obligatorischen Übungen: Sie gingen bei Feuergefechten aus der Deckung, richten sich auf und schossen ihre Bilder. Natürlich war es verpönt, dabei Splitterschutzwesten zu tragen, das war etwas für Hasenfüße. (S. 94)

Grills Erzählungen über die diversen Kriegs- und Katastrophengebiete sind informativ, anschaulich, fürchterlich und manchmal nur schwer auszuhalten. Wenn man in dieser geballten Form, quasi von Kapitel zu Kapitel, dem Autor auf seinen Reisen folgt und dabei sieht, was Menschen zu tun imstande sind, dann müssen einem Fragen kommen, Fragen nach dem eigenen Lebensstil, Menschenbild und Glauben und nach den eigenen Werten. Wobei man übrigens nicht zwangsläufig zu dem Schluss kommen muss, dass es angesichts des Irrsinns wohl keinen Gott geben könne.

Eine Aussage ist allerdings grober Unfug, dass nämlich die Heilserwartung des gottesfürchtigen Christen sich nicht von der des islamistischen Selbstmordattentäters unterscheide.

Angenehm ist, dass Grill meist darauf verzichtet, fertige Antworten anzubieten, es ist eher eine große Einladung an den Leser, mal aus dem Kreiseln auszusteigen, zur Ruhe zu kommen und auszuhalten, was der Autor schreibt.

Ich habe alle wichtigen Studien über die Ursachen des Völkermords (in Ruanda) gelesen, und dennoch kann ich bis heute nicht begreifen, wie Menschen zu Mordmaschinen mutieren. Wie kommt es, dass ein Arzt seine Patienten im Krankenhaus umbringt? Dass Lehrer ihre Schüler zerstückeln? Dass Pfarrer ihre Gläubigen mit Benzin übergießen und anzünden? (S. 104)

Kurz gesagt: Mit diesem Buch haut er alle unsere Versuche, mit Entertainment, Esoterikgesäusel oder pausenloser Beschäftigung vor der Tatsache der Endlichkeit wegzulaufen, in die Tonne.

Jeder von uns hat seine eigene Methode entwickelt, die Unausweichlichkeit des Todes zu verdrängen. Gemeinsam ist uns dabei die kognitive Dissonanz, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit den Wünschen anpasst: Es mag andere erwischen, mich aber nicht. (S. 202)

P1060979Bergfriedhof Heidelberg

John W. Evans: Young Widower (2014)

The year after my wife died, I compulsively watched television. I needed distraction, to be entertained. What I could not stream online or order through the mail I sought out at the local video store. I was living in a suburb of Indianapolis, about a mile from a strip mall where I could rent, in a pinch, midseason discs of The Wire, The Office, Friday Night Lights.

So beginnt der autobiografische Bericht des Dozenten und Schriftstellers John W. Evans über das schlimme Jahr nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2007.

Evans hatte seine Frau in Bangladesch während der Arbeit im Peace Corps kennengelernt. Die beiden leben zwischendurch auch in Amerika, doch dort hält es sie nicht lange. Sie gehen nach Bukarest in Rumänien, seine Frau Katie arbeitet u. a. in einem Anti-AIDS-Programm mit und er unterrichtet Englisch.

Irgendwann unternehmen sie mit Freunden eine zweitägige Wanderung durch die Karpaten. Spät am Nachmittag trennt sich die Gruppe, damit die Schnelleren wie John schon mal eine Unterkunft in einem Hostel organisieren können. Doch als es dunkel wird und man ungeduldig auf die Nachzügler wartet, kommen nur zwei der drei völlig verstört am Hostel an. Die Gruppe war von einem Bären angegriffen worden und nur den beiden ist die Flucht gelungen, Katie ist also allein mit dem Bären irgendwo in der Dunkelheit.

My wife’s death was violent and sensational. She was killed by a wild bear, while we were hiking in the Carpathian Mountains outside of Bucharest, where we had lived and worked for the last year of her life. She was thirty years old. (S. 2)

Der Autor schreibt nun – wie schon viele Witwer und Witwen vor ihm – seine und Katies Geschichte auf. Wir erfahren im Rückblick, wie sie sich kennengelernt haben, sich ihre Liebe entwickelt hat, was für ein Mensch Katie gewesen ist.

Doch vor allem ist das Buch der unerbittliche Versuch, sich selbst Klarheit zu verschaffen über den Ablauf des Trauerprozesses, wobei der Schreibprozess auch ordnen soll, was im Grunde nicht zu ordnen ist. Gerade den genauen Hergang des grauenhaften Unglücks hat er wohl vor der Veröffentlichung nahezu zwanghaft immer wieder und wieder umgeschrieben.

In Wellenbewegungen nähert er sich dabei auch dieser verhängnisvollen Wanderung – und wir erfahren immer weitere Details, wobei es dem Autor nie um Sensationshascherei geht, was für den Leser/die Leserin den Schmerz entsprechender Stellen fast unerträglich macht.

Katie und John hatten sich, als sich die Gruppe getrennt hat, ein wenig gestritten (fast schon ein zu großes Wort für die kleine Missstimmung). Die Nachzügler hatten zwar Bärenspray dabei, doch dies hatten sie in ihren Rucksäcken verstaut, die sie als erstes wegwarfen, in der Hoffnung, so den Bären abzulenken.

John muss außerdem damit zurechtkommen, dass der Hostelbetreiber ihm keine Waffe aushändigen wollte, um keine Scherereien zu bekommen. Als die Bärenjäger aus dem Nachbardorf kommen, ist alles zu spät. So war John allein zurückgegangen, um Katie zu helfen. Doch er kann nur noch wie erstarrt zusehen, wie der Bär Katie den Brustkorb zerquetscht. Danach fühlt er sich schuldig für seinen Überlebenswillen und die Unfähigkeit, Katie zu retten.

Die Prämie der Lebensversicherung ermöglicht ihm, – abgesehen von kleineren Lehrtätigkeiten – erst einmal aus dem Arbeitsleben auszusteigen. Er zieht beim Bruder seiner verstorbenen Frau und dessen Familie ein und wird so etwas wie ein weiteres Familienmitglied, das mal am Familienleben teilnimmt, mal sich völlig zurückzieht, seine Therapiestunden besucht, Medikamente nimmt, Tagebuch schreibt, Freunde trifft, sich an die schönen und schwierigen Alltagsmomente mit Katie erinnert und versucht, das Gedenken an seine Frau, z. B. mit einem Blog, wachzuhalten.

I have three soft-cover notebooks in which I wrote daily accounts of my life during that year. The journal is a matter of will and record. I wanted to survive grief. I feared I would lose, with time, the intensity, of my reactions. A therapist said we were personally and creatively redefining the context of my emotional experience of the world. (S. 3)

Er fühlt sich auch schuldig, weil er sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand beispielsweise Katies Lachen nicht mehr vergegenwärtigen kann und Erinnerungen seltsam leblos werden. Diverse Fragen treiben ihn um. Warum fühlt er – gerade am Anfang – den Drang, wirklich jedem seine Geschichte zu erzählen? Wäre es gefährlich, irgendwann die Tabletten gegen die Angst und die Schlafstörungen abzusetzen?

Hätte er seine Frau retten können? Ist er unschuldiger Zeuge eines entsetzlichen Unglücks oder ein Feigling? Wie verändern sich familiäre Beziehungen und Freundschaften in dieser Zeit?

Wie kann man trauern, wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der jeder funktionieren soll und es außer schwarzer Kleidung keine gesellschaftlich anerkannten Rituale für Trauer mehr gibt und kaum jemand damit umgehen kann, wenn ein anderer so aus der Bahn geschleudert wird? Wenn niemand mit der Endlichkeit des Lebens behelligt werden möchte?

Was antwortet man der Therapeutin, als die vorschlägt, nur noch jeden zweiten Abend eine Schlaftablette zu nehmen? Wie lernt man später, seinen Schmerz auch zu schützen?

I had carried grief at first so that everyone would see it, maybe even forced to acknowledge it. Now I had to learn how to step back and protect it, to cover my body and reveal only what I needed someone else to see. (S. 105)

Welches „Bild“ von Katie ist angemessen? Sie war ja mehr als „nur“ seine Frau, sie war Tochter, Tante, Freundin und eben ein ganz eigenständiger Mensch. Wie kann es sein, dass das als selbstverständlich angenommene Zusammensein mit Katie nach ihrem Tod zu einer Reihe unzusammenhängender Einzelerinnerungen zerfällt?

Ab wann werden Trauer und Gedenkrituale zu einem Schauspiel, dem die echten Gefühle abhanden gekommen sind? Ein Schauspiel, das man nur deshalb noch aufführt, um die Anteilnahme der Mitmenschen zu bekommen und um eine Handlungsanweisung zu haben, an der  man sich orientieren kann.

Entscheidend ist bei diesem Buch, dass Evans mit aller Kraft versucht, seine Trauer intellektuell zu verstehen und zu verarbeiten.  Das zeigt sich bei Dingen wie dem im Eingangszitat erwähnten Fernsehkonsum.

I became suspicious of representations of suffering, especially gratuitous violence. What was the point of imagining bloodlust and apocalypse, if not to enjoy it? I preferred alternative logics – superheroes, universes, Texas – and comedies. They rejected finality. I found comfort in their repetitions. What did it matter that I was real and the people I watched were not? I felt present by proxy in constant variations on redemption: charity, sublimation, self-actualization. (S. 11)

Fazit

Eine traurige, tragische und eine große Liebeserklärung an seine Frau. Drei Tage nach dem Unglück, noch in Rumänien, spricht er mit einem Psychologen der Botschaft. Sie reden über dies und das, über die Wirkung der Schlaftabletten usw. Evans schreibt:

I feel safe with Katie is what I should have said. If Katie were with me in the room, I should have told the nurse, then she would tell me what to do next. I wouldn’t need to ask the embassy nurse for pills, or the embassy psychiatrist for help, or anyone why, since Katie’s death, I had felt in such equal parts fear and excitement, even at night, as I fell asleep in a haze of narcosis and panic, uncertain how I might keep myself safe and protected for the seven hours I would not be conscious. Katie kept me safe, I thought, and though I knew this was sentimental, it was also true. (S. 89)

Und die indirekte Kritik am westlichen Gesellschaftssystem, das einem normalerweise keine längere Auszeit nach einer persönlichen Katastrophe zugesteht, würde ich sofort unterschreiben.

Evans schreibt schonungslos ehrlich und ist ein kluger Beobachter, dennoch fehlte mir irgendetwas. Zum einen schreibt hier ein Mensch, der mir in seiner ganzen Lebensart ziemlich fremd wäre, diese Fremdheit ist durch die Lektüre nicht geringer geworden.

Dazu kommt, dass Evans ein Liebhaber von Abstrakta ist. Das machte die Lektüre stellenweise schwierig und es gab Sätze, die ich auch nach mehrmaligem Lesen schlicht nicht verstanden habe.

Obwohl jeder von uns sterben wird, geht jeder anders damit um. Und die literarischen Zeugnisse der Überlebenden, der Trauernden zeigen, dass auch jeder auf ganz individuellem Weg seinen Trost findet – oder eben auch nicht. Vielleicht war es das, was mich hier auf Abstand gehalten hat. Letztlich haben Evans der zeitliche Abstand geholfen, Tabletten, ein Therapeut, eine unterstützende Familie und nicht zuletzt die finanzielle Absicherung, sodass er nach ca. einem Jahr bereit ist, den Absprung zu wagen und bei seinem Schwager auszuziehen.

Und doch bleibt alles so, wie soll ich sagen, unbefriedigend. Ein wirklicher Trost, der das Grauen aushält, ist nicht in Sicht. Letztlich scheint das auch Evans zu spüren.

A therapist said to think of Katie’s death as a story. Name the parts that are too difficult, and then leave them out. Tell the story again and again, until those difficult parts come back.

Is it easier to think of our life together as a collection of facts and events, rather than one complete, exhaustive sequence? I’m not certain that either Katie’s life or our life together had certainty and coherence; that how we lived was exactly the one life described in eulogies and tributes, with its tidy beginning, middle, and end, full of premature accomplishment. (S. 36)

Auch die Tatsache des Schuldigwerdens, des dumme Fehler-Machens, was katastrophale Folgen haben kann, kann hier nur „wegtherapiert“ werden. So bleibt für Evans zunächst nichts als die Erkenntnis:

The healthy body does not grieve forever. It will not stay in bed all day, or refuse to go to work, or drink too much alcohol, or take too many pills. It is a highly adaptable organism. (S. 161)

Anmerkung

Das Buch hat den River Teeth Literary Non-Fiction Prize der Ashland University gewonnen.

Auf der Homepage des Autors, der inzwischen Creative Writing unterrichtet, findet sich ein kurzer biografischer Abriss.

Zum Abschluss ein Zitat von Nicholas Montemarano aus der lesenswerten Besprechung in der Los Angeles Review of Books:

Evans is one in a long line of such messengers, from Lewis to Didion to Deraniyagala. And we need them: it is too easy to forget that what we have, we will lose — that brown bears come in many guises, and that we are all powerless in one way or another. But thanks to honest and sadly beautiful books like Young Widower, we are at the very least helpless together. We can’t go on, we’ll go on.

Montemarano nennt auch weitere Titel, die den Verlust geliebter Menschen zum Thema haben.

Jackie Kay: Red Dust Road (2010)

Die autobiografische Rückschau der schottischen Lyrikerin und Schriftstellerin Jackie Kay beginnt mit den Sätzen:

Nicon Hilton Hotel, Abuja

Jonathan is suddenly there in the hotel corridor leading to the swimming-pool area. He’s sitting on a white plastic chair in a sad cafe. There’s a small counter with a coffee machine and some depressed-looking buns. He’s dressed all in white, a long white African dress, very ornately embroidered, like lace, and white trousers. He’s wearing black shoes. He’s wired up. My heart is racing. ‚Jonathan?‘ I say.

Es ist erstaunlich, wie viele Parallelen ihre Lebensgeschichte zu der von Jeanette Winterson aufweist. Auch Kay wurde als Baby adoptiert, wurde Schriftstellerin, ist lesbisch und begibt sich als Erwachsene auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern und verarbeitet dies in einem autobiografischen Roman.

Doch der Grundtenor ist ein ganz anderer als bei Winterson. Während Winterson um ihr seelisches Überleben in einem freudlosen Haushalt kämpfen muss, bei dem die Religion als Krücke und Schild gegen echte Gefühle herhalten muss, wächst Kay bei einem schottischen Kommunistenpaar auf, das keine Bedenken hat, 1959 und 1962 zwei Kinder zu adoptieren, die farbig sind.

Ihre leibliche Mutter Elizabeth, eine schottische Krankenschwester, lernt in Aberdeen einen postgraduate-Studenten aus Nigeria kennen, der dann später als Professor Karriere machen wird. Eine allein erziehende Mutter Anfang der sechziger Jahre in Schottland mit einem farbigen Kind – undenkbar, also wird das Baby zur Adoption freigegeben. Und Jackie, auf deren Geburtsurkunde eigentlich der Name Joy steht, kommt zu Eltern, die man sich nicht liebevoller, lebenslustiger und engagierter denken kann. Jackie Kays Geschichte veranschaulicht auf sehr warmherzige und humorvolle Art, wie viel Widerstandskraft und Kraft einem eine Familie geben kann, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann, in der gern gesungen wird, in der das Materielle nicht an erster Stelle steht, in der viel gelacht wird, in der die Eltern sich auch nach 50 Jahren Ehe noch liebhaben und in der ein Fundament an Geborgenheit gelegt worden ist,  das Jackie auch in schwierigen Zeiten einen enormen Rückhalt bietet.

Ihr Buch ist nicht so theoretisch grundiert wie das von Winterson, sie ist gefühlsorientierter und steht dazu. Sie versteht selbst nicht genau, weshalb es ihr so wichtig ist, ihre leiblichen Eltern zu finden, da sie bei ihren Adoptiveltern wirklich zu Hause ist und nie etwas vermisst hat. Doch ihre Umwelt signalisiert ihr aufgrund ihrer Hautfarbe ja immer wieder, „that she doesn’t belong“. So ist diese Suche sicherlich auch eine Suche nach einem wichtigen Teil der eigenen Identität, der äußere Anlass ist hingegen ihre eigene Schwangerschaft.

Auf einer Reise durch Nigeria, auf der Fahrt in ihr väterliches Heimatdorf, wo sie sich niemandem zu erkennen gibt, wirkt sie zunächst fast ein wenig naiv und nimmt die alltäglichen Bedrohungen und Gefahren des dortigen Alltags nur sehr allmählich war.

Die Suche nach den leiblichen Eltern und die Bemühungen, anschließend so etwas wie einen Kontakt zu diesen völlig fremden Menschen aufzubauen, bilden den roten Faden des Buches. Besonders begeistert sind allerdings weder die Mutter noch der Vater in Nigeria, von ihrer leiblichen Tochter ausfindig gemacht zu werden. Beide haben ihren späteren Familien verschwiegen, dass es da noch eine erstgeborene Tochter gibt.

Und eine der Stellen, an denen es den Leser dann schüttelt, ist, als Jackie bei der einzigen Begegnung mit ihrem Vater Jonathan – sie ist da bereits 42 – ihm eine Frage stellt:

I ask him if he had ever thought about me at all over the years. ‚No,‘ he says. ‚No, of course not, not once. Why would I? It was a long time ago. It was in the past.‘ (S. 98)

Ihr Vater gehört inzwischen einer der zahlreichen fundamentalistischen evangelikalen Gruppierungen an, die es in Nigeria gibt, und die Begrüßung seiner erwachsenen Tochter im Hotel besteht darin, zwei Stunden über ihr zu beten, sie anzupredigen und anschließend von ihr zu erwarten, dass sie sich sofort bekehrt. Natürlich könne er niemandem von ihr erzählen, seine Gemeindemitglieder würden dann ihren Glauben verlieren.

Mit dem ihr eigenen sehr liebevollen Humor schreibt Kay, dass sie gar nicht gewusst habe, welche Macht sie besitze. Sie verurteilt ihren leiblichen Vater nicht, sondern schreibt:

Meeting  a birth parent stirs up such a strange mix of emotions; I wanted to fling my arms round Jonathan and run away from him at top speed. (S. 99)

Auch ihre leibliche Mutter hat Zuflucht in der Religion gesucht. Sie gehört inzwischen einer mormonischen Glaubensgemeinschaft an und ist überzeugt, dass Babys schon im Mutterleib danach riefen, adoptiert zu werden. Doch sind die wenigen Begegnungen mit ihr vor allem bedrückend. Sie leidet an Alzheimer und es ist traurig, wie die alte Dame eines Sonntags noch nicht einmal mehr den Weg zu ihrer Kirche findet und sowohl einen Friseur als auch einen Polizisten nach dem Weg fragt.

Fazit

Für den Aufbau des Buches sind die ständigen Wechsel der Zeitebenen typisch, die mir ziemlich auf die Nerven gingen. Und ich habe dann mühsam genug versucht, eine Chronologie der Ereignisse herzustellen. Allerdings hat dieses Mosaikstein-Prinzip zur Folge, dass sich das Thema Rassismus eben nicht kontinuierlich durch das Buch zieht, sondern seinen klar zugewiesenen Platz bekommt.

Das wiederum finde ich sehr souverän. Kay hat da einiges, schon als Kind, durchmachen müssen. Die für sie schlimmste Erfahrung war, als sie als junge Studentin in London zum ersten Mal von ihren schottischen Freunden besucht wurde und sie abends an einer U-Bahn-Station warteten und von einer Gruppe jugendlicher Idioten  angepöbelt und angegriffen wurden:

Rowena, my friend, and the youngest of us, only sixteen, intervenes, and one of them smashes her face. Her face is pouring with blood. I shout to the people on the platform. ‚Isn’t anyone going to help us?‘ A businessman, well dressed in a smart raincoat and with a leather case, standing next to another businessman, turns to me calmly and says: ‚No, we support them.‘ And his calm sentence is more chilling than the yobs breaking bottles on the platform. (S. 189)

Glücklicherweise kommen ihnen dann doch vier Männer zur Hilfe, die Schlimmeres verhindern. Bis die Polizei eintrifft, können die Täter jedoch unerkannt entkommen.

Das Buch hat ein wunderbares Ende, ein geradezu furios-fröhliches Ende. Doch was mich am meisten beeindruckt hat, ist, wie sie die Beziehung zu ihren alten Adoptiveltern feiert, egal ob sie mit ihnen durch das völlig verregnete Glen Coe fährt, mit ihnen in alten Urlaubserinnerungen schwelgt oder ihnen einfach nur zuhört. Ein Tochter-Eltern-Verhältnis, das sich kaum schöner denken und schon ein bisschen Panik durchscheinen lässt, weil sie sich irgendwann von ihnen wird verabschieden müssen.

I love hearing these stories, partly because they are familiar to me, and partly because I love the way they tell them in tandem, and both remember slightly different things. I envy the rare thing that my parents have, that they have shared over 50 years together and can keep each other’s memories; tend to them, like a lovely garden with freshly blooming broom. (S. 117)

Jackie Kay sagt selbst in einem Interview im Telegraph am 5. Juni 2010:

Red Dust Road, she says, ‚is a love letter to my parents‘.

Anmerkung

The Scotsman bringt es am 5. Juni 2010 auf den Punkt:

… the key to Kay is empathy. A story about an adopted person’s quest to find their birth parents could, I guess, easily veer into uninvolving self-obsession: in Red Dust Road, the opposite happens. It’s engrossing. Whether she’s dealing with her parents‘ easy comic banter as they remember past holidays with their children, or the desperately sad unravelling of Elizabeth’s mind, Kay follows the classic writer’s „show, don’t tell“ mantra to near-perfection. Red Dust Road may read as intimately as a friend talking to you in a cafe, but that’s only because, as one of Scotland’s finest short story writers, she knows exactly how to tell a tale to make it so involving in the first place.

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Helene und Wolfgang Beltracchi: Selbstporträt (2014)

‚Du musst das verstehen: Sonst haben wir hier bald mehr Katzen als Ratten, und wer soll dann die Katzen jagen?‘ So wollte meine Mutter es mir erklären. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: ‚Außerdem haben die Bauern bei uns das schon immer so gemacht.‘

Ich war fünf Jahre alt, und sommers wie winters saß ich vor dem Katzenloch im Deelentor unseres Vierständerhofes, meinem Beobachtungsposten. Von hier aus hatte ich einen geschützten Blick auf meine Welt: ein winziges Dorf im Weserbergland am Rande des Teutoburger Waldes. Den Rücken gegen das warme raue Holz gelehnt, wartete ich auf meine Katze Minke, die jeden Moment durch die Klappe kommen konnte, schaute auf den lehmigen Weg, der vom Wald in den Ort hinaufführte, und auf den Dorfanger. Dort also wurden all die kleinen Kätzchen ertränkt.

Mit dieser Kindheitserinnerung beginnt die fast 600 Seiten starke Autobiografie Selbstporträt des wohl bekanntesten Kunstfälschers Wolfgang Fischer, der später den Namen seiner Frau angenommen hat: Wolfgang Beltracchi.

Beltracchi (*1951) schildert seinen Weg, der in eher ärmlichen und provinziellen Verhältnissen begann – der Vater war Kirchenmaler, die Mutter Lehrerin – über Marokko bis nach Frankreich, wo er als reicher Mann und glücklicher Familienvater heimlich seiner kriminellen Tätigkeit nachgeht.

Seine ersten Zeichnungen sind Aktzeichnungen, die er aus den Büchern des Vaters kopiert und anschließend seinen Kameraden verkauft. Mit 15 gaukelt er den Eltern vor, er wolle zu Beginn der Sommerferien ein paar Tage mit seinen Freunden verbringen, in Wahrheit trampt er nach Barcelona – war doch Picasso dort kurze Zeit Schüler an der Kunstschule gewesen – und verdient sich zwischendurch mit Pflastermalerei das nötige Kleingeld. Erst zweieinhalb Monate später kehrt er zurück. Danach kann er dem Leben in Geilenkirchen nun gar nichts mehr abgewinnen.

1967 versucht ein alkoholkranker Cousin, den die Mutter aufgenommen hatte, ihn umzubringen. 1968 fliegt er vom Gymnasium. Er bewirbt sich an der Aachener Werkkunstschule, die ihn zunächst ablehnt, weil sie glaubt, dass die Bilder, die er zur Aufnahmeprüfung einreicht, nicht von ihm seien. Sie seien zu gut. Erst als ein ehemaliger Kunstlehrer die Echtheit bestätigt, wird er aufgenommen. Doch auch diese Ausbildung bricht er ab.

Es folgen Wanderjahre durch Wohngemeinschaften, zahlreiche Frauenbetten und Länder – oft ziemlich vom Drogenrausch benebelt. Als Hippie testet er die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten immer wieder aus und glaubt, die Regeln und Einschränkungen des Spießerlebens hinter sich gelassen zu haben.

… das Leben war ein großes Experiment. Es wurde diskutiert, gekifft, getanzt und gevögelt. Wir wollten bewusster leben, der Konsum von Drogen […] sollte der Bewusstseinserweiterung dienen. […] Meine Leidenschaften tendierten in jenen Jahren etwa zu dieser Reihenfolge: Frauen, Kiffen, Kunst, Kuchen, Musik, LSD.  (S. 64 und 65)

Nach zehn Monaten im Amsterdamer Drogensumpf kommt er zurück nach Deutschland. Der Kontakt zu seinem wesentlich älteren belgischen Schwager André, einem Zigaretten- und Kaffeeschmuggler, intensiviert sich. Die beiden klappern alle Trödel- und Antikmärkte ab, da Wolfgang offensichtlich Talent darin besitzt, Gemälde zu entdecken, die man mit Gewinn weiterverkaufen kann.

Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, Bilder mit Details aufzuhübschen, die ihren Marktwert steigern. Irgendwann kommen sie auf die Idee, dass Wolfgang auf alt getrimmte Bilder gleich selbst herstellen könne. Er wird keine Kopien malen, sondern Bilder im Stile der Künstler, beispielsweise Bilder, die als verschollen galten. Er selbst gibt die Anzahl der von ihm gefälschten Bilder mit ungefähr 300 an. André wird dann sein erster Hehler, der ihn auch darin unterstützt, eine umfangreiche Kunstbibliothek aufzubauen. Im Vor-Internet-Zeitalter unabdingbar für einen erfolgreichen Kunstfälscher.

Ein Jahr zuvor hatte ich ‚Die Kuh‘ für 5000 Mark nach Berlin an Heinz gegeben. Nun steigerte sich ihr Wert auf über 100.000 Dollar. 1987 wurde sie in München in der Galerie Harald Wolf ausgestellt und im selben Jahr bei Christie’s in London anonym versteigert; erst 2006 wurde sie, abermals bei Christie’s, wieder angeboten; inzwischen kostete sie etwa 650.000 Dollar. (S. 228)

Er konzentriert sich in seiner Tätigkeit vor allem auf Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Campendonk und Max Ernst.

Ohne mit der Wimper zu zucken, rechtfertigt Beltracchi noch im Nachhinein seine Entscheidung, Anfragen von Galeristen, die an echten Beltracchis interessiert waren, abzulehnen, mit seinem moralischen Empfinden:

Die Daseinsform eines werktätigen Malers, die damit verbunden gewesen wäre, stieß mich ab. An öffentlichem Erfolg war ich nicht sonderlich interessiert […] Warum hatte ich all die Jahre gegen gesellschaftliche Normen gelebt? Nur um mich jetzt für ein bisschen Erfolg und Anerkennung dem Mief zu unterwerfen? Ich kannte doch die Erfolgreichen, die bei jeder Vernissage ihre Show abzogen, den ‚Künstler‘ mimten, auf donnernden Applaus hofften; wenn sie einmal mit einer Rolle begonnen hatten, mussten sie sie immer weiterspielen. […] Für mich war es eine Frage der Moral, mich diesen Verlockungen zu widersetzen. Meine Ablehnung gründete auf einen Anarchismus, der vor allem gegen die Kunst-Gesellschaft und ihr Regelwerk gerichtet war. […] Mein Terror zielte darauf, die Aufrichtigkeitsillusion eines Publikums zu zerstören, das die Akteure dieses Kunstmarkt genannten Schmierentheaters würdigt. (S. 142 und 143)

So nimmt eine beispiellose Jahrzehnte lange und finanziell immer einträglichere Fälscher- und Betrügerkarriere ihren Anfang, die erst mit der Entlarvung 2010 und dem Prozess 2011 an ihr Ende kommt.

Daneben ist es der Rückblick eines Hippies, der von sich selbst sagt, dass die Geburt seines Sohnes Manuel alles verändert habe:

Nachdem ich fast zwei Jahrzehnte wie ein psychedelisches Karnickel durch Europa gehoppelt war, reiste ich jetzt seltener, verzichtete auf meine nächtlichen Abenteuer und lebte zurückgezogen auf dem Lande.

Und 1992 trifft er seine große Liebe Helene Beltracchi, die er ein Jahr später heiratet und die, wie auch der Komplize Otto Schulte-Kellinghaus, dafür zuständig war, Gutachten von Sachverständigen zu besorgen, um anschließend die Gemälde in den Kunstmarkt einzuschleusen zu können. In mehreren Kapiteln schildert sie die Geschichte aus ihrer Sicht.

Ich habe schon lange keine Autobiografie mit solchem Interesse gelesen. Stellte sich mir am Anfang noch die Frage, ob denn wenigstens hier alles seine Richtigkeit habe, war mir das überraschend schnell völlig egal. Schon allein die Schilderung der Jugendjahre hätte für mich die Lektüre gelohnt. Die Freude am Schlittschuhlaufen, die Langeweile in der Schule, der Unsinn, den man mit den Freunden macht. Beltracchi ist ein großartiger Erzähler.

Anfang der Sechziger spielt die folgende Szene:

Und es kam noch schlimmer: In diesem Sommer fiel uns auch die Kuh eines Bauern zum Opfer. Mein Freund Rainer hatte uns gesteckt, dass sein Vater eine Handfeuerwaffe besaß. Äußerst fasziniert, überredeten wir ihn, die Pistole zu einem unserer Treffen im Wald mitzubringen. Wir waren zu dritt; jeder wollte einmal auf die am Waldrand aufgestellten Flaschen zielen; in unserem Eifer war uns freilich nicht aufgefallen, dass sich dahinter eine Kuhweide befand. Erst als eine der Kühe laut muhend umfiel, merkten wir, was wir angestellt hatten. Die Kuh lag noch im Sterben, als der Bauer mit seinem Trecker über die Wiesen auf uns zugerast kam. Er hatte die Schüsse gehört. Wir: entgeistert vor der toten Kuh. Er: vom Sattel springend und mit der Mistgabel in der Hand auf uns zurennend. (S. 35/36)

Die Ausbruchversuche aus der Provinz, die Sehnsucht nach der weiten Welt. Die Verbitterung, die Wut, die man als Jugendlicher erlebt, wenn man – weil man in abgetragener Kleidung zum Tanzunterricht kommt – gedemütigt wird.

Mal hier, mal dort zupfte er (der Tanzlehrer) an den Probanden herum. Dann stand er vor mir. Verächtlich, vielleicht sogar leicht angewidert, als müsste er einen Misthaufen begutachten, wanderte sein Blick betont langsam von den zu großen Schuhen über den speckig glänzenden Anzugstoff an mir hoch und blieb schließlich an meinem Schlips hängen. Mit zielgerichtetem Griff riss er ihn nach unten und ließ ihn mir ins Gesicht zurückflitschen. Sekunden später lag er mit blutiger Nase auf dem Rücken, und der Tanzunterricht war für mich beendet. Bis heute kann ich keinen Walzer tanzen, und nie mehr in meinem Leben habe ich einen Schlips getragen. (S. 39)

Es ist ein tolles Buch mit dem Blick für die entscheidenden Szenen, mit natürlich wirkenden Dialogen, witzigen Passagen und vielen, vielen Geschichten; selbstverständlich auch inszeniert, welche Autobiografie wäre das nicht? Außerdem eine anrührende Liebesgeschichte. Er sieht Helene und weiß, diese Frau will er heiraten.

Heute liebe ich ihre grauen Strähnen genauso wie damals ihre blonden Haare, ihre dünner gewordene Haut, die mich ihr Inneres besser sehen lässt, ihre Augen, jetzt etwas müder, aber noch immer voll Liebe für mich, ihre Falten und Fältchen, die mich daran erinnern, dass unsere Liebe im Lauf der Zeit zwar größer geworden ist, die Zeit selbst aber kürzer wird, weil wir im Herbst unseres Lebens angekommen sind. (S. 276)

Da sich der Erzähler als Mensch zu erkennen gibt, zieht er natürlich meine Sympathie auf sich, sei es beim Tod seiner Mutter oder wenn er sich Sorgen um die Gesundheit seiner kleinen Tochter macht oder als er verrückt vor Sorge ist, als seine Frau an Brustkrebs erkrankt.

Genau diese Ich-Perspektive ist aber auch die – reizvolle – Falle, in die man als Leserin hineinzutappen droht. Leicht könnte man der Gefahr erliegen, mit dem Betrüger zu zittern, ob er wohl die Schmuggelware unentdeckt über die Grenze bringt, ob ein geplanter Coup gelingt oder nicht.

So ist das Buch auf altmodische Weise spannend und gleichzeitig lehrreich, sowohl was einzelne Künstler als auch den Kunstmarkt angeht. Ich weiß jetzt nicht nur, was es mit dem Loplop, Manzonis Künstlerscheiße und der Frage, wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, auf sich hat, sondern auch, dass jemand in manchmal nur wenigen Stunden ein Bild malen kann, für das er dann Hunderttausende Euro bekommt. Und dabei völlig ausblendet, dass er seinen gepflegten Lebensstil auf einem Weingut in Frankreich dadurch finanziert, dass er Menschen etwas andreht, was die nie im Leben hätten haben wollen.

Ein kreatives, manchmal dämliches, bis 1985 von Drogen vernebeltes und betrügerisches Leben mit vielen Reisen und Begegnungen. Eine schillernde Hauptfigur, ein Zocker, ein Liebender, außerordentlich begabt, intelligent, auch handwerklich unglaublich geschickt, gleichzeitig auch mit außerordentlich krimineller Energie und einem erstaunlich gering entwickelten Unrechtsbewusstsein ausgestattet.

Als einige Fachleute mehr über die Herkunft einzelner Bilder wissen wollten, beschließt er kurzerhand, der Legende, dass die Bilder aus der Sammlung der Großeltern seiner Frau stammten, Leben einzuhauchen. Sie besorgen sich Fotoapparate, Papier, Kleidung und Möbel aus den dreißiger Jahren und lichten Helene Beltracchi als ihre eigene Großmutter vor gefälschten Bildern ab.

Kein schlechtes Gewissen, sondern nachvollziehbarer Stolz auf die eigene Leistung erfüllte ihn, wenn sogar Angehörige von verstorbenen Malern seine Bilder als echt, ja als das beste Werk des Künstlers lobten. Noch während des Gerichtsprozesses 2011 macht er keinen Hehl daraus, dass sich sein schlechtes Gewissen, die Bilder gemalt zu haben, doch sehr in Grenzen halte. Das Einzige, was ihm vermutlich wirklich in Bezug auf seine Gesetzesübertretungen leid tut, dürfte die Tatsache sein, dass er sich und vor allem seine Frau damit ins Gefängnis gebracht hat.

Er gibt zu, dass er an seiner Fälschertätigkeit den Nervenkitzel genossen habe. Das Abenteuer. Den Reiz des Risikos, der sein Leben in einer dauernden Spannung hielt, die er heute durchaus vermisse. Auch die Gier der Händler hätte – zum Beispiel in den achtziger Jahren – sein Tun doch sehr erleichtert.

Die Händler gierten damals nach frischer Ware. Der Markt boomte. Alles, was ich produzierte, riss man mir praktisch aus den Händen. Die Händler trugen ihre Gemäldewünsche an Otto heran, als ob sie ein unerschöpfliches Reservoir witterten … (S. 229)

Er und seine Frau werden in dem Buch nicht müde, die Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter und zu dem Sohn Wolfgangs aus einer anderen Beziehung zu beschwören – das will ich auch gar nicht in Abrede stellen -, aber gab es nie einen Gedanken daran, was mit den Kindern passieren würde, wenn sie auffliegen? Dass der ganze Luxus, den man ihnen über die Jahre geboten hat, doch auf mehr als tönernen Füßen beruhte?

Also, ich höre schon Hollywood.

Anmerkungen

Liest man Zeitungsartikel zu dem weltweit Aufsehen erregenden Prozess, Interviews mit Beltracchi oder auch Rezensionen zu dieser Autobiografie, dann fällt auf, dass diese oft in Schwarzweiß-Malerei verfallen und überraschend emotional daherkommen. Gorris und Röbel beschimpfen ihn im Spiegel als größenwahnsinnigen Hippie-Arsch, der zur Reue ganz unfähig sei.

Andere werfen ihm vor, dass er immer noch nur seine eigene Vermarktung im Kopf habe – nicht nur die Autobiografie, nein auch noch die Briefe, die er sich mit seiner Frau im Gefängnis geschrieben hat, werfe dieser geschäftstüchtige Gauner nun auf den Markt. Und eine weichgespülte Dokumentation – pikanterweise vom Sohn des Verteidigers – gibt es auch schon.

Manchmal ist da der Neid auf die von den Beltracchis fröhlich genutzten Millionen und den edlen Lebensstil und eine heuchlerische Empörung deutlich herauszuhören. Ich bezweifle, dass sehr viele Menschen standhaft bleiben würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, auf illegale und persönlich befriedigende Weise steinreich zu werden.

Andere wiederum sehen in ihm trotz allem einen langhaarigen Sympathieträger, einen Schlawiner in Jeans, der es den geldgierigen Spekulanten am Kunstmarkt mal so richtig gezeigt habe, indem er die ganzen Sachverständigen, die seine Bilder als echt deklarierten, ziemlich alt aussehen ließ. Was auch erklärt, dass diverse Gutachter und Galeristen keinerlei Interesse daran hatten, im Prozess auszusagen.

Eine dritte Gruppe mäkelt und nörgelt, er sei doch gar kein Künstler und im Grunde völlig unkreativ, er habe nur Stile kopiert und nie etwas Eigenes und Originelles geschaffen. Beltracchi sagt allerdings, dass ihn die „verzweifelte Suche nach Originalität“ nie interessiert habe, er habe alles, was er habe ausdrücken wollen, in seinen Bildern mitteilen können.

Genau diese Widersprüchlichkeiten zeigen, wie facettenreich, begabt, spannend und frech dieser Mann ist. Das ändert nichts daran, dass seine Betrügereien illegal waren und der finanzielle Schaden, den er und seine Komplizen angerichtet haben, enorm ist.

Sicherlich hat Beltracchi auch recht, wenn er süffisant darauf hinweist, dass es wohl kaum sein könne, dass viele seiner Bilder eine von Fachleuten attestierte „Aura“ innehatten, von dieser nach seiner Entlarvung aber plötzlich nichts mehr zu spüren sei. Da habe die Aura wohl doch eher am Preisschild gehangen.

Stefan Krücken: Unverkäuflich! (2012)

Der Anruf, der alles verändert, der so furchtbar sein soll und so einschneidend, der alles aus der Bahn wirft und nichts mehr so sein lässt, wie es einmal war, erreicht mich im Paradies. Man nennt diesen Ort tatsächlich Paradies, jeder, der einmal dort war: Siargao, eine Insel im Archipel der Philippinen.

Mit diesen Sätzen beginnt Unverkäuflich! – Schulabbrecher, Fußballprofi, Weltunternehmer – Die völlig verrückte Geschichte von Bobby Dekeyser (2012) von Stefan Krücken.

Nun, der Untertitel nennt schon wesentliche Stationen im Leben des 1964 geborenen Robert „Bobby“ Dekeyser, der das international erfolgreiche Unternehmen Dedon leitet und der diverse soziale und kulturelle Projekte mitbegründete oder tatkräftig unterstützt.

Seine Firma Dedon, die hochpreisige Outdoormöbel herstellt, hat keinen der Produktionsbereiche aus der Firma „outgesourct“, wie das heute aus Kostengründen ja so beliebt ist, und für Dekeyser ist es selbstverständlich, dass in seinem Werk auf den Philippinen vergleichsweise hohe Löhne bezahlt werden, dass strenge Sicherheitsvorschriften eingehalten werden, die Mitarbeiter krankenversichert sind und dass das Kantinenessen für die Mitarbeiter umsonst ist.

Auch seine Firmenführung in Lüneburg entspricht nicht immer dem, was Managementberater und Banker als sinnvoll erachten. Überhaupt dürfte es schon ziemlich untypisch für einen Unternehmer sein, dass ihm Geld als solches relativ unwichtig ist. Geld taugt zum Ausgeben, nicht zum Horten. Und das Wesentliche, das Echte kann man ohnehin nicht kaufen.

Macht Konsum glücklich? Ich finde: nein, und will das an einem einfachen Beispiel erklären. Schon zu meiner Zeit als Fußballprofi fragte ich mich manchmal im Stadion: Haben die Leute nichts Besseres zu tun? Eine Familie kann am Wochenende mit dem Ball in den Park oder auf die Dorfwiese gehen. Man spielt, lacht, verbringt Zeit miteinander, hält sich fit und wird Energie los, ohne einen einzigen Euro auszugeben. Stattdessen schieben sich immer mehr Menschen in langen Staus in Stadien, sind gestresst, geben immer mehr Geld für Eintrittskarten, für Bier, Wurst und Parkplätze aus, um Spielern zuzusehen, die überbezahlt sind und wenig bis nichts mit dem Verein verbindet, in dessen Farben sie auflaufen. Meist sehen sie ein ödes Gekicke. Sie grölen, klatschen und pfeifen ein bisschen und glauben, das wäre ‚Miteinander‘, bevor es wieder mit dem Massenstrom zur großen Autosuche auf den Parkplatz geht, zurück in den Dauerstau. Ist das Unternehmungslust? Macht das wirklich Spaß? (S. 141)

Wir erfahren etwas über seinen Lebensweg, seine Anfänge als Kind, das oft sich selbst überlassen bleibt, zusammen mit anderen Jugendlichen Unfug treibt und die Schule schwänzt, bis Bobby schließlich als Fünfzehnjähriger die Schule hinwirft.

Irgendwann setzt er sich in den Kopf, Fußballer zu werden, und mit wahnwitzigem Trainingseifer schafft er das schließlich auch.

Doch als man ihn vertraglich auf die Rolle des Ersatztorhüters festlegen will, schert er aus. Trotz der Verantwortung für seine kleine Familie beschließt er, den Vertrag abzulehnen und stattdessen Unternehmer zu werden, eigentlich vor allem deshalb, weil er sich schlecht unterordnen kann und lieber seinem Bauchgefühl folgt als all den vernünftigen Ratschlägen. Seine ersten unternehmerischen Ideen floppen.

Was folgt, ist die manchmal wahnwitzige Erfolgsgeschichte von einem, der nie studiert hat und manchmal auch schmerzhaft auf die Nase fällt. Doch heute ist er mit seinen Outdoor-Möbeln, die mit einer in Lüneburg hergestellten Kunststofffaser, einem quasi witterungsbeständigen Rattan, auf Aluminiumrahmen geflochten werden, in über 80 Ländern vertreten. Zu den Kunden gehören Brad Pitt und andere Prominente.

Bis heute habe ich kein festes Büro, keine Sekretärin, keine Assistentin. Mich ruft auch kaum jemand an. Ich bin nicht greifbar, nicht fassbar, ich lasse mich nicht vereinnahmen. (S. 119)

2010 – er ist gerade auf Geschäftsreise – dann der Einbruch; er erhält den Anruf, dass seine geliebte Frau Ann-Kathrin eine Gehirnblutung erlitten hat. Sie stirbt, bevor er zurück in Deutschland ist. Doch die Familie hält zusammen und lässt sich dauerhaft auch von einem solchen Schlag nicht unterkriegen. Die Geschichte geht weiter.

Fazit

Das Buch ist von der ganzen Aufmachung her so gar nicht meins. Dunkelblauer Hintergrund, helles Neon-Orange für die Überschrift. Dazu – weil Dekeyser gut aussieht – einfach ein Porträtfoto von ihm.

Das Ganze in der Ich-Form erzählt und sprachlich schlicht. Aufgeschrieben von Stefan Krücken, der wohl mit Dekeyser befreundet ist.

An wichtigen Stellen war mir der Text zu sprunghaft, da fehlten mir plötzlich Zusammenhänge, um die Firmenentwicklung wirklich nachvollziehen zu können. Auch die Trauerzeit nach dem Tod seiner Frau wurde diskret gerafft.

An vielen Stellen hätte ich gern mehr gelesen oder auch andere Stimmen gehört, z. B. von seinen Mitarbeitern oder Familienmitgliedern.

Aber auch wenn das nun keine Autobiografie auf literarischem Niveau ist, der Mann selbst ist faszinierend, mit seiner Widerständigkeit, seinem Familiensinn, seinem Optimismus und natürlich seinem Erfolg, dem schließlich inzwischen über 3000 Menschen ihren Lebensunterhalt verdanken.

Und so sprachlich simpel seine Botschaften auf den ersten Blick wirken mögen, er hat sie umgesetzt und ich finde es spannend und mehr als nachdenkenswert, was ein Einzelner – auch ohne Schulabschluss – bewegen kann, wenn er sich etwas nur fest genug vorgenommen hat.

Ich möchte jedem, der meine Geschichte liest, Mut machen. Ich möchte raten, auf das eigene Herz zu hören. Den Plan, den man schon lange hegt, endlich umzusetzen, etwas zu wagen, etwas zu riskieren. Aber um das klarzustellen: Diese Geschichte ist kein Ratgeber. Ich glaube nicht an Ratgeber und ich halte generell nichts von Beratern, denn sie sind für mich wie dicke Männer, die einem Diäten verkaufen wollen. Patentrezepte? Gibt es nicht. Erfolg ist so individuell wie ein Fingerabdruck, denn jeder Mensch hat andere Talente; jeder Mensch geht seinen eigenen Weg, und wer behauptet, die Weisheit zu kennen, ist so vertrauenswürdig wie meine Labradorhündin Anouschka, wenn sie auf eine Fleischwurst aufpassen soll. (S. 17)

Anmerkungen

Hier geht es lang zu einem Artikel in der ZEIT und zu einem Talkshow-Auftritt des sympathischen Unternehmers, schon sein Redetempo ist phänomenal …

Meike Winnemuth: Das große Los (2013)

Ich habe gerade 500 000 Euro bei ‚Wer wird Millionär‘ gewonnen. Glaube ich jedenfalls. „Da geht’s raus“, sagt Günther Jauch, und im Abgehen stolpere ich, geblendet von den Scheinwerfern, fast in die Kulisse. Wirklich ungemein realistisch, dieser Traum.

Es dauert ein bisschen, bis die Journalistin Meike Winnemuth kapiert, dass sie das nicht geträumt hat. Von den Folgen erzählt sie in ihrem Buch Das große Los.

Nach dem Gewinn wagt die Journalistin, sich einen langgehegten Traum zu erfüllen. Sie nimmt sich ein Jahr Auszeit, um durch die Welt zu reisen. Dabei gibt sie zu:

Freiheit ist erst mal eine Zumutung, niemand von uns hat gelernt, wie das geht. Wen einem niemand die Entscheidung abnimmt, womit der Tag zu füllen ist – kein Boss, keine Familie, keine Institution -, und man völlig ohne Strukturen lebt, ist das ebenso berauschend wie beunruhigend. Man muss regelrecht trainieren, freihändig zu gehen. Denn man verlässt mit dem engen heimischen Gehege eben auch die stabilen Geländer, an denen man sich immer entlanggehangelt hat. (S. 25)

Jeweils einen Monat verbringt sie in ihren Sehnsuchtsstädten und Ländern: Sie beginnt im lässig-entspannten Sydney, den Februar verbringt sie samt Tangokurs in Buenos Aires und den März in Mumbai. In Indien stellt sie  fest – surprise, surprise – , dass viele Menschen so arm sind, dass sie nicht einfach durch deren Wohnviertel laufen kann, wie sie das sonst so gern bei ihren Stadterkundungen macht.

Mit welcher Berechtigung hätte ich dort durchwandern dürfen? Nur um mal zu gucken, wie groß genau das Elend ist? Wie erbärmlich die Leute hausen? Es ging einfach nicht. Es reichte auch so. (S. 54)

Ursprünglich stand auch Tokio auf der Reiseliste. Doch nach dem Reaktorunglück in Fukushima entscheidet sie sich um und reist stattdessen nach Shanghai. Es folgen Honolulu, San Francisco und London. Sie setzt ihren Weltenbummel fort in Kopenhagen, Barcelona, Tel Aviv in Israel und den November verbringt sie in Äthiopien, dem Land, das sie am meisten überrascht, berührt und begeistert. Danach kann sie ihrer letzten Station Havanna auf Kuba, wo sie ständig von Männern dumm von der Seite angequatscht wird,  nicht mehr ganz so viel abgewinnen.

Da sie auch während der Reise ihrer Arbeit nachgehen und verschiedene Aufträge abarbeiten kann, muss sie weit weniger auf das Geld aus Wer wird Millionär zurückgreifen, als sie kalkuliert hatte, und das, obwohl sie sich, was den Lebensstil angeht, nicht wesentlich eingeschränkt hat. Sie lernt ein bisschen Ukulele spielen und besucht einen Tauchkurs in Israel. Über entsprechende Tauschbörsen mietet sie schöne, z. T. richtig luxuriöse Wohnungen. Letztlich stellt sie fest, dass sie sich so eine Auszeit auch hätte nehmen können ohne den Geldgewinn, doch erst der hat ihr den Kick und den Mut dazu gegeben.

Angst, so allein durch die Welt zu reisen, hat sie nicht:

Ich gehe nie vom worst case aus, warum sollte ich auch? Es ist ungleich wahrscheinlicher, bei einem Verkehrsunfall zu sterben als bei einem Terrorakt – hat mich das je davon abgehalten, auf die Straße zu gehen? Ängste sind Zeit- und Lebensverschwendung. Fast nie trifft das Befürchtete ein, und falls doch, dann wird man halt damit fertig. Der Mensch ist ein elastisches kleines Tierchen, jeder hält mehr aus, als er denkt. (S. 234)

Die Leser erfahren mal mehr, mal weniger über die Städte und Sehenswürdigkeiten. So beschließt sie, bei der nächsten Lebenskrise sofort die Koffer zu packen und eine Woche Totes Meer zu buchen, da es unglaublich entspannend sei, beim Schwimmen so getragen zu werden. Und die Gedenkstätte Yad Vashem beeindruckt sie tief.

Mein persönliches Highlight war die völlig schräge Theatervorführung in London im Barbican Centre, bei der es darum ging, die Zuschauer möglichst schnell in einen sanften Schlummer zu bringen. Man verbrachte dann die Nacht ganz stilecht im Theater in den extra im Zuschauerraum aufgestellten Betten.

Ich trug meinen neuen Marks & Spencer-Pyjama, und auch die anderen Besucher waren festlich gewandet: rot-grüne Pyjamahosen mit Aliens und Robotern, rosa Polyesterrüschen-Nachthemden, es war alles dabei. Eine Frau kuschelte mit ihrem Stoffhasen, ein Pärchen stritt leise. (S. 147)

Aufgewacht bin ich davon, dass ein kleines Gehege mit tschilpenden Küken in die Mitte des Raums getragen wurde. […] Die Bühnensonne ging auf, alle räkelten sich in den Betten. So ein gemeinsames Aufwachen unter Wildfremden ist ganz wunderbar. (S. 148)

Aber noch wichtiger ist das, was die Orte und die interessanten Menschen, denen sie begegnet, bei ihr auslösen: Gedanken und Erinnerungen an Kindheit, Elternhaus und verflossene Lieben nehmen viel Raum ein. Über ihre Erziehung schreibt sie beispielsweise im Brief an ihre Eltern:

Euer Aufzuchtprinzip war konsequente Freilandhaltung. Mit sieben oder acht war ich jeden Tag für ein paar Stunden verschwunden, und Ihr hattet keine Ahnung, wo ich war. (S. 77)

Bei einer solchen Reise kann es nicht ausbleiben, dass man sich auch mit den „großen“ Fragen beschäftigt: Was macht eigentlich ein sinnvolles Leben aus? Was will man mit der einem noch verbleibenden Lebenszeit anstellen?

Es braucht ja meist eine Zäsur, um sein Leben mal aus der Vogelperspektive zu betrachten und Inventur zu machen – in meinem Fall waren es gleich zwei Einschnitte, mein 50. Geburtstag im letzten Sommer und jetzt diese Reise. Also: Was habe ich, was fehlt mir, was funktioniert, was nicht mehr, wovon möchte ich mich verabschieden, wovon brauche ich mehr in meinem Leben? Was also will ich? (S. 87)

Was fange ich eigentlich mit meinen Kräften an, nutze ich sie auf die bestmögliche Weise? Macht es einen Unterschied, ob es mich gibt oder nicht? (S. 278)

Wie viel materielle Dinge braucht man, um glücklich zu sein? Wo ist Heimat? Wer ist man überhaupt? Und welchen Einfluss hat der jeweilige Ort auf einen oder, in den Worten Winnemuths: In welche Aggregatzustände versetzt einen ein fremdes Land, eine fremde Stadt? Welche Momente erlebt man als spirituell, als tief ins Menschsein greifend? Welche Antworten will man als nichtreligiöse Frau auf die letzten Fragen geben? Welche Freundschaften halten das Jahr aus und werden sogar vertieft? Welche neuen Freunde gewinnt man? Wie will man leben, wenn das kostbare Reisejahr vorüber ist? Was wird davon bleiben?

Das Wegsein verändert mich. Nicht fundamental, das nicht, aber es räumt auf in meinem Leben. Es sortiert mich. Umzüge haben eine ähnliche Wirkung: Man nimmt alles einmal in die Hand, überlegt, ob man damit weiterleben will, wirft die Hälfte weg und packt den Rest in die Kisten. (S. 151)

Ihre wichtigste Einsicht: Was für ein Glück, „in eines der reichsten Länder der Erde hineingeboren zu sein, jederzeit ein Dach über dem Kopf gehabt zu haben, dazu eine gute Ausbildung, einen Beruf […], die Freiheit, alles tun zu dürfen, was [man] will, reisen zu können […]. Nichts daran ist selbstverständlich, nichts davon verdient.“ (S. 282)

Fazit

Denis Scheck nannte Das große Los kurz und bündig „ein gutes Buch“. Ich würde dem mit einem entschiedenen „Jein“ antworten.

Eine intelligente, finanziell abgesicherte und prima vernetzte Frau Anfang 50 reist um die Welt, ohne dabei allzusehr auf Komfort und die technischen Errungenschaften wie Internet und Laptop zu verzichten. Das ist lockerluftig, voller Begeisterung, Entdeckerspaß und Ehrlichkeit erzählt, auch wenn mir manchmal der Stil ein bisschen zu sehr ins Kolumnenhaft-Girliemäßige abdrehte. Und bei Aussagen, wie sie reise „immer im Wissen, dass einem nicht das Geringste passieren kann. Oder doch: nur Gutes“, bekomme ich grüne Pickel.

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mir vielleicht doch mehr Einblick in die bereisten Städte und deren (kulturelle) Möglichkeiten erhofft, ein bisschen mehr Reisebericht. Interessanterweise gefiel mir der Abschnitt über Äthiopien am besten, hier lässt sie sich auf das Land und ihre Reisebegleiter ein und da bin ich ganz fasziniert mitgereist, ihr eigenes Staunen übertrug sich auf mich.

Winnemuths Reise entwickelt sich zu einer großen Selbsterkundung und die Fragen, die sie sich stellt, so ganz herausgelöst aus dem üblichen Alltagstrott, dürfen und sollten auch wir uns stellen, auch wenn wir dafür nicht bis nach Äthiopien reisen können. Beispielsweise verändert sich ihr Blick auf ihren Beruf.

Gleichzeitig bemerke ich, dass ich meinen Job […] gerade fast wie nebenbei erledige. Zuhause ist er das Zentrum meiner Gedanken und Planungen, mein Daseinszweck und meine Existenzberechtigung. Hier draußen sind andere Sachen wichtiger – und trotzdem oder gerade deshalb scheint die Arbeit davon zu profitieren, dass ihr nicht meine ganze Aufmerksamkeit gilt. Ich schaffe dasselbe, ich schaffe es nur schneller und lockerer, weil ich Besseres zu tun habe. Eigentlich müsste das doch auch zuhause möglich sein, oder? (S. 205)

Ihre Sicht auf die westliche Welt wird kritischer:

Vielleicht wollen wir aber auch – nur mal so als böser Verdacht – mit unserer ganzen Betriebsamkeit darüber hinwegtäuschen, dass sich dieser Tanz um eine verdammt leere Mitte dreht. Denn wenn man mal ehrlich ist: Unverzichtbar für den Fortbestand der Menschheit ist doch niemand von uns. […] Wozu also dauernd dieses hysterische ‚Ich bin so im Stress‘-Gestöhne? Wem wollen wir damit etwas vormachen? Den anderen? Uns selbst? (S. 113)

Was einem aus den Buchseiten geradezu entgegenspringt und -leuchtet und mich bei der Stange gehalten hat, ist der Spaß, den Winnemuth hat, an der Ungeplantheit der Tage, an den spontanen Entdeckungen und Entscheidungen, am Ausprobieren der wunderbaren Möglichkeiten, die uns die Welt bietet.

Auf der Kinderukulele habe ich dann tagelang den Song geübt. Vier Saiten, drei Akkorde, C, G, F, was kann daran so schwer sein? Alles. Für eine unmusikalische Stümperin wie mich war das wie Gehenlernen. Stolpern, auf die Nase fallen, aufstehen, ein paar Schritte machen, wieder hinfallen. Es war, mit einem Wort, großartig. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt mit so viel Hingabe bei der Sache war. Denn das Wunderbare daran, von etwas überhaupt keine Ahnung zu haben: Du machst rasend schnell Fortschritte. Von geht überhaupt nicht zu geht schon ein bisschen ist es nur ein winziger Schritt, aber ein riesiges Glücksgefühl. (S. 16/17)

Spannend hätte ich übrigens noch ein Kapitel gefunden, in dem die Autorin darüber redet, wie es ihr vielleicht ein halbes oder ein ganzes Jahr nach der Reise geht, ob und was sich für sie in ihrem Leben grundsätzlich geändert hat.

Ich erinnere mich noch an den Moment, an dem ich das erste Mal bei Sonnenuntergang am Grand Canyon stand und ganz still wurde vor dieser Erhabenheit. Es war ein spiritueller Moment, wo Prioritäten und Bewertungsskalen komplett ins Rutschen kamen. Undenkbar, sich je wieder über Nichtigkeiten aufzuregen. Doch schon ein halbes Jahr später – war (fast) alles wie immer …

Anmerkungen

Wer auch ein bisschen Reisespaß haben möchte, dem empfehle ich zwei Anregungen von Winnemuth nachzugehen. Zum Einen sollte man den Franzosen Joel Henry recherchieren, der den „experimentellen Tourismus“ erfunden hat.

Zum Anderen ist sie im Nachhinein beschämt, nie vorher von den Felsenkirchen in Lalibela in Äthiopien gehört zu haben.

Wenn ich mir überlege, mit welchem banalen Mist ich mich oft beschäftigt habe, wenn ich mir weiter überlege, wie viel Schönheit und Reichtum und Wissen wohl noch auf Erden existiert und von mir in meinem Eurozentrismus einfach nie zur Kenntnis genommen wurde… (S. 273)

Und gern verweise ich auf die Besprechung auf dem Grauen Sofa, die mich überhaupt erst über das Buch stolpern ließ.

Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich so, wie es nie war (2013)

Mein erster Toter war ein Rentner. Lange bevor in meiner Familie ein Unfall, eine Krankheit und Altersschwäche die nächsten geliebten Menschen verschwinden ließen, lange bevor ich hinnehmen musste, dass der eigene Bruder, der zu junge Vater, die Großeltern, ja selbst der Kindheits-Hund nicht unsterblich waren, und lange bevor ich in ein zwanghaftes Dauergespräch mit meinen Gestorbenen geriet – so heiter, so verzweifelt -, fand ich eines Morgens einen toten Rentner.

Mit diesem Satz beginnt der zweite Erinnerungsband des Schauspielers Joachim Meyerhoff, in dem er aus seiner Kindheit erzählt. Sein Vater war der ehemalige Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig.

Die Erinnerungen beginnen kurz nach seinem siebten Geburtstag und enden, als er ca. Mitte zwanzig ist. Dabei kreisen viele der Geschichten um den schwer übergewichtigen Vater, der so gerne abnehmen möchte und Bücher und Zeitschriften und Zeitungen in sich hineinstopft und sich danach an alles erinnern kann, was er gelesen hat.

Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so wahllos hochgebildet war wie mein Vater. Er konnte sich für die Deutsche Hitparade genauso begeistern wie für die Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Er studierte die täglichen Werbeprospekte mit derselben innigen Begeisterung wie Hölderlin-Gedichte. Nichts war ihm zu entlegen, dass es nicht wert gewesen wäre, es zu wissen. (S. 171)

Der Vater geht in seiner Arbeit mit den Kranken völlig auf und fühlt sich unter ihnen wohler als unter Gesunden. Zu seinen Geburtstagen kommen nicht etwa Freunde oder Verwandte zu Besuch, sondern eine kleine Schar von Psychiatriepatienten, z. B. Ludwig.

Ludwig trug ausnahmslos Latzhosen und hakte, wenn er nicht gerade tastend seine blassen Nosferatu-Finger über den Tisch krabbeln ließ, seine Daumen unter die Verschlüsse der Träger. Er hatte Todesangst vor unserem Hund, wünschte sich aber nichts sehnlicher, als ihn zu streicheln. (S. 69)

Vater Meyerhoff wird nicht müde, seine Söhne zu Toleranz zu erziehen, und wenn sich einer der Jungen weigert, bei der Geburtstagsfeier des Vaters neben einem übergewichtigen Mädchen mit  deformiertem Kopf zu sitzen, dann ist er es, der auf die verborgene Schönheit eines jeden Menschen aufmerksam macht.

Eindringlich sprach er darüber, wie verwundert er oft sei, wenn er die Patienten nachts in ihren Betten sehe: ‚Da denke ich, ich kenne ein Mädchen seit Jahren, und plötzlich sehe ich sie schlafen. Entspannt, ruhig atmend, mit einem völlig anderen Gesicht. Und dieses arme Mädchen, das den ganzen Tag Fratzen schneiden muss und sich die Hand an den Kopf schlägt, das liegt dann da und ist wunderschön. (S. 71)

Doch dieser Seelenfachmann macht als Vater nicht immer die beste Figur. Der älteste Sohn taucht ab in sein muffiges Zimmer, das nur notdürftig von mehreren 100-Liter-Aquarien erhellt wird, der mittlere Sohn bekommt 20 Pfennig zugesteckt, wenn er es schafft, einen Tag lang mal nicht zu weinen. Und der jüngste, Joachim, wird von seinen Brüdern pausenlos gepiesakt. Sie erzählen ihm beispielsweise, dass er eigentlich ein adoptiertes Kind aus der Psychiatrie sei.

Joachim schließlich neigt zu Tobsuchts- und Jähzornanfällen, vor denen nichts und niemand sicher ist, hat Mühe, Lesen und Schreiben zu lernen und wird von der Grundschule suspendiert – heute würde mal wohl ADHS diagnostizieren.

Er kommt, nachdem er Winnetou gesehen hat, auch auf die etwas abseitige Idee, den von ihm geliebten Familienhund zum Blutsbruder zu machen. Nach dieser Aktion ist der Hund nie mehr gemeinsam mit ihm in den Keller gegangen.

Joachim liebt die Momente, in denen er seinen Vater in dessen Behandlungszimmer besuchen darf und von ihm fachgerecht abgeklopft und untersucht wird.

Mein Vater untersuchte mich mit wirklicher Hingabe, und ich genoss die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mir widmete. (S. 152)

Die Mutter steht weniger im Zentrum, hat aber auch nicht immer ein glückliches Händchen in der Erziehung. Als sie beispielsweise von einem ihrer Kinder ein selbstgemaltes Bild geschenkt bekommt, hängt sie es auf – im Zimmer eben dieses Sohnes.

Je älter der Ich-Erzähler wird, umso stärker wird die Zeit gerafft. Der Amerika-Aufenthalt, um den es schwerpunktmäßig in Meyerhoffs erstem Buch ging, wird auf wenigen Seiten zusammengefasst.

Schließlich erkrankt der Vater schwer. Die Mutter kehrt aus Italien zurück, um sich um ihren Mann zu kümmern. Und da kommt es zu einem innigen Moment zwischen Sohn, Mutter und Vater – für mich eine der rührendsten Szenen des Buches.

Diesmal ist mein Leseeindruck zwiespältig.

Beeindruckend ist auch hier die Unbefangenheit im Umgang mit den Psychiatriepatienten, den Menschen, die einfach anders sind, was Joachim und seine Brüder allerdings nicht daran hindert, sich auch derbe über die Kranken lustig zu machen.

Über tausend Patienten lebten damals auf dem Klinikgelände und das Haus der Direktorenfamilie lag mittendrin. Jahrelang glaubte Joachim, dass die Außenmauern und Tore zum Schutz vor Eindringlingen von außen gedacht seien. Die Meyerhoff-Söhne spielen mit den gleichaltrigen Kranken. Es ist eben normal, dass nicht alle „normal“ sind, was sich auch beim alljährlichen Spektakel des Krippenspiels zeigt.

Natürlich war die Spielweise je nach Station völlig verschieden. Da der Psychiatriegottesdienst gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie gefeiert wurde, gab es auch Krippenspiele mit für immer eingesperrten Sexualstraftätern, sogar mit Mördern, bei denen hinter jedem Hirten sprungbereit ein riesiger Pfleger stand. Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in der Zwangsjacke habe ich gesehen. (S. 141)

Wie auch bei Alle Toten fliegen hoch findet Meyerhoff oft wunderbar treffende Bilder:

Ich habe Frauen oder Mädchen gesehen, die hingen an ihren Zigaretten wie an einem seidenen Faden aus Rauch über einem schwarzen Abgrund. Geredet wurde kaum. (S. 31)

Und auch der trockene Witz machen wieder Spaß. Es ist schwierig, bei manchen Stellen nicht laut loszuprusten, z. B. bei der Beschreibung der Wikingertage, die alljährlich in Schleswig stattfinden, oder bei der Schilderung, wie der damalige Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg zur Einweihung eines neuen Klinikgebäudes kam und am Ende von seinen Leibwächtern …

Meyerhoff kann erzählen, Pointen setzen und Dialoge schreiben, in denen alle Protagonisten ihre ganz eigene Stimme haben. Er erzeugt eine Unmittelbarkeit, dass man meint, man sitze bei Meyerhoffs mit am Tisch. Man ist gerührt, entsetzt, betrübt und amüsiert. Und seine ungewöhnliche Kindheit bietet dafür Stoff in Überfülle (die Frage, wie viel davon wahr ist, umgeht Meyerhoff in Interviews dabei immer ganz luftig mit dem Hinweis, dass Erfinden immer Erinnern bedeute).

Dennoch:

Das Anekdotenhafte, die Beschreibung der Vorgänge aus der Außensicht,  verhindert – vor allem im letzten Drittel – hin und wieder den Blick auf das Innenleben der Figuren. Was mich aber vor allem gestört hat, war im letzten Teil das Fehlen einer Struktur, immer wahlloser wurden Anekdoten aneinandergereiht, bis ich den Eindruck hatte, jemand habe einen großen Kasten bunter Legosteine ausgeschüttet, aus denen ich jetzt etwas bauen soll. Die Steinchen sind bunt und vielversprechend, doch die Frage, was da gebaut werden soll, scheint im Vorfeld nicht so richtig geklärt worden zu sein.

Zwar überlegt Meyerhoff selbst, was denn nun der rote Faden sein solle, doch ein bisschen mehr Stringenz in der Auswahl der Erinnerungspäckchen hätte mir gut gefallen.

Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?

Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? […] Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich  mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten. (S. 348)

Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch (2011)

Mit achtzehn ging ich für ein Jahr nach Amerika. Noch heute erzähle ich oft, dass es ein Basketballstipendium war, aber das stimmt nicht. Meine Großeltern haben den Austausch bezahlt.

So – quasi mit einer Mini-Inhaltszusammenfassung – beginnt das fantastische Buch von Joachim Meyerhoff.

Der 1967 geborene Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller schrieb ursprünglich autobiografische Texte für die Bühne und daraus hat sich ein größeres Buchprojekt entwickelt. Im ersten Band Alle Toten fliegen hoch geht es um den siebzehnjährigen Joachim, der in der norddeutschen Kleinstadt Schleswig aufwächst und – ganz untypisch für einen Coming of Age-Roman – keinerlei nennenswerten familiären Probleme hat. Noch in Amerika betont er:

Dass ich nicht vor ihnen [gemeint sind seine Eltern] geflohen, keiner durch Lieblosigkeit oder Repressalien verdunkelten Welt entkommen war und sie sehr vermisste.

Im Laufe der Geschichte erinnert sich Joachim immer wieder an Erlebnisse aus seiner Kindheit.

Das mit der Glasschiebetür ist mir selbst widerfahren. Ich konnte gerade laufen. Mein ältester Bruder setzte mich in einen Sessel und ging auf die Terrasse hinaus. Erst wenn er meinen Namen rief, durfte ich vom durchgesessenen Blumenmustersessel hinunterkrabbeln und auf meinen noch wackeligen Beinen durch das Zimmer hinaus ins Freie, in seine Arme rennen. Über die Bodenschienen der Schiebetür hätte ich jedes Mal einen niedlichen Hopser gemacht. Angeblich konnte ich von diesem Im-Sessel-Sitzen und Auf-Kommando-ins-Freie-Laufen im Gegensatz zu meinem Bruder nicht genug bekommen. Schon in seinen Armen, den Bruderarmen, hätte ich ‚Noch mal! Noch mal!‘ gerufen. Nach dem zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten ‚Noch mal! Noch mal!‘ setzte mich mein Bruder wieder in den Sessel und zog die Schiebetür zu, um herauszufinden, ob ich schon wüsste, dass man nicht durch Glas gehen kann. Ich wusste es nicht und donnerte mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass meiner Mutter vor Schreck das Buch bis an die Zimmerdecke flog […] Wie eine unsichtbare Faust hatte mich die Scheibe auf dem Weg in die weit geöffneten Arme meines Bruders niedergestreckt. […] Mein Bruder wurde ermahnt, keine Experimente mit mir zu machen, und in sein Zimmer geschickt. (S. 7/8)

Im Großen und Ganzen also Provinzidylle pur, zwei manchmal nervende ältere Brüder, die ebenfalls das Gymnasium besuchen, der Vater ist Arzt in der Psychiatrie und den obligatorischen Familienhund gibt es auch. Alles nicht weiter aufregend.

In meiner Stadt war Stille noch der Urzustand. Beruhigend, aber eben auch anstrengend, da man immer alleine von vorn anfangen musste, Lärm zu machen. Kein Weiterreichen, kein Einklinken – jeder für sich allein in seiner Stille. So brummten auch die Autos an mir vorbei. Aus der Stille kommend, in die Stille fahrend. Die Ziele dieser Autos erfüllten mich mit Langeweile. Garagen oder verkehrsberuhigte Wohnstraßen. Und während der Motor noch warm war, krabbelten die Kleinstädter in ihre heimeligen Betten und versanken gedankenlos in eben dieser Stille. Wie vereinzelt hier alles war. Einzelne Häuser, einzelne Autos, einzelne Bäume. (S. 60/61)

So beschließt Joachim, sich für ein Auslandsjahr an einer High School in Amerika zu bewerben. Beim Auswahlverfahren in Hamburg fürchtet er allerdings, nicht mit den weltgewandteren Großstadtkids konkurrieren zu können. Um trotzdem einen Platz im Austauschprogramm zu ergattern, lügt er beim entscheidenden Fragebogen, dass sich die Balken biegen. Er kreuzt an, dass er tiefreligiös und naturverbunden sei und deswegen am liebsten aufs Land wolle. Nur bei der Frage, ob er irgendeine Sportart bevorzuge, antwortet er wahrheitsgemäß: Er möchte Basketball spielen.

Und so nimmt die Sache ihren Lauf: Er landet mit miserablen Englischkenntnissen in der tiefsten amerikanischen Provinz, am Rande von Laramie in Wyoming, bei einer streng religiösen Familie und muss ab sofort dreimal die Woche mit zum Gottesdienst. Mehr möchte ich eigentlich gar nicht verraten, denn das Buch ist übervoll mit wahnwitzigen Geschichten und Begegnungen – ein bisschen wie Blasmusikpop von Vea Kaiser, mit dem Unterschied, dass hier sich vieles wirklich so oder ganz ähnlich abgespielt haben dürfte.

Fazit

Ich wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Wen würde er treffen oder kennenlernen? Welche Überraschungen würde der Unterricht an der High School bereithalten, von den seltsamen Lehrern dort ganz zu schweigen, und würde er es schließlich ins Basketballteam schaffen?

Einer der Lehrer nimmt ihn mit zu einer Besichtigungstour ins Gefängnis und ist enttäuscht, als Joachim sich nicht auf dem elektrischen Stuhl fotografieren lassen möchte. Die Leiterin des Drama Club hingegen

kam dann auf die Bühne, tippte sich mit dem Zeigefinger in die Augenwinkel, zeigte ihn herum und strahlte: ‚Hey, come on! What did you do to me? Tell me, what’s that? WHAT’S THAT? TEARS. For heaven’s sake. THESE ARE TEARS. Jesus, you are so intense, you made me cry!‘ Alle klatschten. Wir beklatschten sie, weil sie weinte, und uns, weil wir sie zum Weinen gebracht hatten. (S. 151)

Wir begleiten den Ich-Erzähler dabei, wie er ein Stück weit erwachsener wird, mit allem, was dazugehört. Er muss zurechtkommen mit Liebe, Freundschaft, Sex, Egoismus, Fehlbarkeit, Verlust, Trauer, Irrwitz und existenziellem Schrecken.

Er schaut ganz genau hin, auch wenn’s wehtut. Dabei ist aber eben keine oberflächlich-lockerflockige Anekdotensammlung entstanden, sondern ein oft genug wirklich anrührender und zarter Blick in das Innenleben eines jungen Menschen. Das kommt so frisch, absurd und unmittelbar daher, als hätte der Autor das Ganze erst gestern erlebt.

Meyerhoff schreibt entwaffnend ehrlich und vor allem oft urkomisch – mit dem perfekten Gespür für den Moment der Pointe. Mit Staunen, Toleranz und großer Unbefangenheit nimmt der jugendliche Held die manchmal schöne und manchmal sehr befremdliche Welt um sich herum wahr. Und seine Schilderung von Trauer ist derart, dass einem ganz fröstelig wird, weil man weiß, ja genau so ist das.

Durch das Jahr in Amerika ist auch ein sinnvoller Spannungsbogen garantiert. Und ich habe einige Dinge über Amerika gelernt, die in keinem Reiseführer stehen.

Anmerkungen

Hier ein Interview mit Iris Radisch, das einen guten Eindruck vom Autor vermittelt, und hier ihre Leseempfehlung auf ZEIT online, über die ich mich ein bisschen gewundert habe. Radisch klingt, als würde das Buch überwiegend in der deutschen Provinz spielen, dem ist nun nicht so.

Und hier geht’s lang zu den begeisterten Rezensionen der FAZ und von Dr. Christian Koellerer.

Heide Soltau schreibt im NDR: „Das Buch folgt dem Muster des klassischen Entwicklungsromans. Mit Witz und Charme und ganz ohne Larmoyanz erzählt er von den inneren und äußeren Nöten eines Jugendlichen, der mit der Reise nach Amerika auch die eigene Kindheit, das Reich der Toten und die Welt der Erwachsenen bereist. Das ist keine Selbstbespiegelung, sondern gelungene Literatur.“

Im Deutschlandfunk schreibt Günter Kaindlstorfer und in der TAZ schreibt Detlef Kuhlbrodt.

Astrid Lindgren: Das entschwundene Land (OA 1975; deutsche Ausgabe 1977)

Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern nur eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe. Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, daß sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten.

So beginnt das einzige Buch, das die vielleicht berühmteste Kinderbuchautorin der Welt für ein erwachsenes Publikum geschrieben hat. Die deutsche Ausgabe wurde von Anna-Liese Kornitzky übersetzt. Das Original erschien 1975 unter dem viel nüchternen Titel Samuel August från Sevedstorp och Hanna i Hult.

Zum Inhalt

Der nur 126 Seiten schmale Band – überdies in großer Schrift – umfasst sechs Kapitel. Das erste und mit ca. 45 Seiten längste Kapitel schildert die Liebesgeschichte von Samuel August von Sevedstorp und Hanna in Hult, also den Eltern von Astrid Lindgren (1907– 2002). Die Kinderbuchautorin „wurde als zweites Kind des Pfarrhofpächters Samuel August Ericsson (1875–1969) und seiner Ehefrau Hanna Ericsson (1879–1961) geboren. Sie hatte einen älteren Bruder, Gunnar (1906–1974), und zwei jüngere Schwestern, Stina (1911–2002) und Ingegerd (1916–1997).“ (Wikipedia)

In der Liebe dieser Eltern sah Lindgren das Fundament ihrer glücklichen Kindheit.

Es war schön, dort Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. (S. 44 der dtv-Ausgabe)

Und tatsächlich weht den Leser da noch etwas an von einer anscheinend wahrhaft idyllischen Kindheit:

Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiß wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, so daß es das reine Wunder ist, daß wir uns  nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, daß unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluß, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten. (S. 44 – 45)

Gehorsam gegenüber den Eltern und Mithilfe sowohl im Haushalt als auch auf dem Feld waren dabei von klein auf selbstverständlich.

Daß wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache von der Welt. Schon mit sechs Jahren mußten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen. Mit dem Heranwachsen wurden wir auch, sofern es nötig war, bei der Erntearbeit eingespannt. […] Was einem aufgetragen war, das hatte man zu tun. Ich glaube, es war eine nützliche Lehre, die einem später im Leben half, auch mit eintöniger Arbeit ohne allzuviel Gestöhne und Gejammer fertig zu werden. (S. 46)

Schön war auch die Beschreibung der Familienfeste. Zu denen musste man oft ja erst stundenlang mit dem Pferdewagen anreisen. Und dann gingen die Erwachsenen sozusagen nahtlos von einer guten Mahlzeit zur anderen über, während die Kinder die Gelegenheit ergriffen, mit all ihren Kusinen und Vettern so viel Unsinn wie möglich zu treiben.

Im nächsten Kapitel erzählt Lindgren dann noch ein wenig mehr aus dem Alltag des elterlichen Pachthofes mit seinen Mägden und Knechten, die ein karges Leben fristeten und kaum etwas ihr Eigen nennen konnten. Aber vor allem gelten ihre Erinnerungen der Natur.

Sie umschloß all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, daß man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann […] In der Natur ringsum war auch all das angesiedelt, was unsere Phantasie zu erfinden vermochte. Alle Sagen und Märchen, alle Abenteuer, die wir uns ausgedacht oder gelesen oder gehört hatten, spielten sich nur  dort ab, ja sogar unsere Lieder und Gebete hatten dort ihren angestammten Platz.  (S. 78)

Und die kleine Astrid war höchst empört, als sie erfuhr, dass ihr Bruder Gunnar das Gebet „Ein reines Herz“ immer mit dem Weg hinterm Kuhstall verknüpfte.

Wie gut hatte es da doch mein „Ein reines Herz“, das so fromm den kleinen Pfad zwischen Faulbaum und Haselstrauch dahinwandern durfte, den Bach entlang, wo im Frühling die Sumpfdotterblumen gelb leuchteten, am Feldrain vorüber mit all den Walderdbeeren und danach an der Quelle, der tiefen und geheimnisvollen, wo in der Sommerhitze die Milch gekühlt wurde, bis hin zu dem uralten Waschhaus, das dort so einsam im Grünen versteckt lag, um schließlich – amen! – am Graben aufzuhören, wo das Goldmilzkraut wuchs. (S. 79)

Im dritten Kapitel erfahren wir, das ihre Leseleidenschaft den Anfang in der Küche einer armen Bauernfamilie nahm. Dort nämlich las die Häuslertochter der kleinen Astrid Märchen vor und von da an war es um Astrid geschehen und als sie selbst lesen konnte und ab und an der Luxus möglich wurde, nicht nur Bücher auszuleihen, sondern sich sogar eines zu kaufen, war die Freude grenzenlos.

Ein Buch ganz für sich allein zu besitzen – daß man vor Glück nicht ohnmächtig wurde! (S. 86)

Zu ihren familiären Pflichten gehörte, ihre kleine Schwester in den Schlaf zu singen, da diese sonst nicht einschlafen wollte. Um trotz der knappen Freizeit Zeit fürs Lesen zu finden, sang Astrid kurzerhand dem Schwesterchen die Bücher vor, die sie gerade las.

Natürlich wird auch – was für ein Zeitsprung – jener Märztag 1944 erwähnt, an dem Lindgren mit verstauchtem Fuß liegen musste und vor Langeweile die Geschichten um Pippi Langstrumpf aufschrieb, die sie sich 1941 für ihre Tochter ausgedacht hatte.

Im vierten Teil des Buches hält sie ein leidenschaftliches Plädoyer fürs Lesen als dem grenzenlosesten aller denkbaren Abenteuer.

Heutzutage wissen ja wohl alle Eltern, daß ihre Kinder Bücher brauchen … oder etwa nicht? Ich weiß zwar nicht, was ihr euch für euer Kind erträumt und erhofft, aber ich weiß, daß es für alle Wechselfälle des Lebens besser gerüstet ist, wenn es lesehungrig ist. (S. 98)

Das vorletzte Kapitel ist überschrieben mit „Kleines Zwiegespräch mit einem künftigen Kinderbuchautor“. Darin finden sich Banalitäten wie die Empfehlung, so zu schreiben, dass die Sprache für die Zielgruppe verständlich sei, und das ironische „Rezept“, mit dem sich Lindgren von modernen Kinder- und Jugendbüchern absetzt.

Nimm eine geschiedene Mutti – möglichst Klempnerin von Beruf, aber eine Atomphysikerin tut es notfalls auch, Hauptsache, sie „näht“ nicht und ist auch nicht „lieb“ – vermische diese Klempnermutti mit ein paar Teilen Dreckwasser und ein paar Teilen Luftverschmutzung, füge ein paar Teile weltweiten Hunger sowie ein paar Teile Elterntyrannei oder Lehrerterror hinzu, ziehe einige Löffel voll Geschlechterdiskriminierung darunter und streue schließlich reichlich Beischlaf und Drogensucht darüber, dann hast du ein deftiges und gepfeffertes Gulasch … (S. 107)

Im letzten Teil geht sie kurz der Frage nach, wo eigentlich ihre ganzen Einfälle herkommen.

Fazit

Dieser Band zerfällt in völlig disparate Teile, wobei der erste Teil der eigentlich lesenswerte war. Die Liebesgeschichte ihrer Eltern hat mir in ihrer Innigkeit und Schlichtheit sehr gefallen. Ein bisschen, als ob die alten Fotos, die wir alle aus irgendwelchen Familienalben kennen und bei denen wir manchmal nicht einmal mehr wissen, wer die Personen waren, plötzlich zum Leben erwachen. Eine märchenhaft schöne und ganz zeitlose Liebesgeschichte, zumal Lindgren noch aus den Briefen ihrer Eltern zitiert, die diese sich während ihrer langen Brautwerbezeit geschrieben haben. Das Ganze garniert mit ein wenig trockenem Humor.

Noch immer kutschierte er den Pfarrer […] und bisweilen auch die Witwe des Propstes, da Hanna in einem Brief besonders betont: ‚ Wenn Du willst, kannst Du am Sonntag auch ohne Pröpstin kommen.‘ Man hat Verständnis dafür, bei einem Stelldichein sind Pröpstinnen bestimmt nur im Wege. (S. 31)

Aber vor allem fand ich es anrührend, weil diese Liebe über all die Jahrzehnte gehalten hat. Selbst als hochbetagter Witwer hat Samuel August noch immer dankbar der großen Liebe seines Lebens gedacht.

… beide alterten, doch das änderte nichts. Ich erinnere mich ihrer, als sie beide schon die Achtzig überschritten hatten und das Leben um sie herum still geworden war, wie er dort saß und ihre Hände hielt und so zärtlich sagte: ‚Meine kleine Inniggeliebte, hier sitzen wir nun, du und ich, und haben’s schön.‘ (S. 48)

Doch die übrigen Kapitel weisen zwei große Mankos auf: Zum einen verrät Lindgren wenig über sich und ihre tatsächliche Biografie, schwierige Zeiten und konkrete Rahmenbedingungen werden ausgeblendet, und zum andern rutscht ihr Stil oft ins unpassend Simple ab. Ihr Rat, dass ein Kinderbuchautor den sprachlichen Horizont seiner Leser berücksichtigen müsse, kehrt sich hier gegen sie selbst. Ein Buch für erwachsene Leser sollte sich auch einer erwachsenen Sprache bedienen und auch die Gedanken dürften den Schwierigkeitsgrad und die Psychologie eines Pippi Langstrumpf-Bandes übersteigen. Ich möchte da nicht in so einer pseudokindlichen tantenhaften Sprache mit Belanglosigkeiten angesprochen werden.

Anmerkungen

Literaturwissenschaftler haben herausgearbeitet, dass Lindgren keine autobiografischen Schriften im herkömmlichen Sinne verfasst habe. Es sei ihr nicht um die chronologisch angeordnete Darstellung bestimmter Entwicklungsschritte gegangen. Eher entwerfe sie ein bestimmtes Bild ihrer Kindheit, das bewusst bestimmte Aspekte und wichtige Fragestellungen ausklammere. So ist das Kind in den autobiografischen Erinnerungen alterslos und wird nirgendwo mit Namen angeredet, die Geschwister werden nur beiläufig erwähnt, der Schulbesuch wird höchstens gestreift. Betont werden stattdessen die Intensität der Naturerfahrung und die Bedeutung von Spiel und Imagination. Manche deuten das als Fortführung des romantischen Kinderbildes, wie es sich in E.T.A. Hoffmanns Märchen Das fremd Kind (1817) verkörpert (vergl. die von Frauke Schade herausgegebene Textsammlung: Astrid Lindgren – ein neuer Blick, 2008, S. 68).

Die Vermeidung konkreter Zeit- und Ortsangaben sorgt dabei für eine gewisse atmosphärische Zeitlosigkeit und gleichzeitig dafür, dass man als Leserin, als Leser doch nun gern der Autorin die ein oder andere Frage stellen würde.

Und in diesen Zusammenhang gehört auch der Titel der deutschen Ausgabe. Lindgren selbst zitiert das Gedicht „Das entschwundene Land“ von Alf Henrikson, das eine Grunderfahrung Lindgrens in Worte fasst. Nicht nur der Verlust der unwiederbringlich verlorenen Kindheit wird besungen, sondern auch der Wandel der Zeit, der sich für Lindgren im Verschwinden der Landstreicher, der Kutschen, der bäuerlichen Hofgemeinschaften und der freien Kinderspiele manifestiert. Nur in der Erinnerung kann das Verlorene noch einmal aufleben. Der dritte Vers des Gedichts lautet:

Weich wie Seide lag der Staub des Weges unter den Kinderfüßen …

In den Worten Astrid Lindgrens klingt das so:

Aber noch habe ich nicht alles vergessen, noch kann ich sehen und den Duft spüren und mich der Seligkeit des Heckenrosenbusches auf der Rinderkoppel erinnern, der mir zum erstenmal gezeigt hat, was Schönheit ist. Noch kann ich an Sommerabenden den Wiesenknarrer im Roggen hören und in den Frühlingsnächten das Rufen der Käuzchen auf dem Eulenbaum, noch spüre ich, wie es ist, aus Schnee und beißender Kälte in einen warmen Kuhstall zu kommen, ich weiß, wie sich eine Kälberzunge auf der Hand anfühlt, wie Kaninchen riechen, wie es im Wagenschuppen duftet und wie es sich anhört, wenn die Milch in den Eimer zischt, und noch kann ich die winzigen Krallen frisch ausgeschlüpfter Küken auf der Hand spüren. Der Erinnerung wert ist dies alles wohl nicht. Das Besondere daran ist die Intensität, mit der man es erlebte, als man noch jung war. Wie lange her das sein muß! Wie hätte sich die Welt sonst so unglaublich verändern können? Konnte das alles wirklich in einem kurzen halben Jahrhundert so anders werden? Meine Kindheit verlebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt, aber wohin ist es entschwunden? (S. 81)

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Andrea Hirata: Die Regenbogentruppe (OA 2005; deutsche Ausgabe 2013)

Hirata (*1967) setzt in dem bisher erfolgreichsten Buch eines indonesischen Autors seinen ehemaligen Mitschülern und seinen zwei Grundschullehrern, die an einer winzigen Zwergschule auf der Insel Belitung unterrichteten, ein liebenswertes Denkmal. Dieser manchmal auch etwas märchenhaft geratene Lobgesang auf das Recht auf Bildung beginnt mit den Sätzen:

An jenem Morgen hockte ich auf einer langen Bank im Schatten eines dicht belaubten Filicium, eines japanischen Baumfarns. Mein Vater saß neben mir, hatte mir den Arm um die Schultern gelegt und nickte den anderen Eltern und Kindern, die auf der Bank gegenüber saßen, mit einem Lächeln zu. Es war ein ganz besonderer Tag: mein erster Schultag.

Der Ich-Erzähler Ikal geht in Belitung zur Schule. Zwar wurde auf Belitung Jahrhunderte lang Zinn abgebaut, doch von den Bodenschätzen profitierte wie so oft die einheimische Bevölkerung am wenigsten. Zunächst bereicherten sich die niederländischen Kolonialmächte, die von ca. 1600 bis zum Zweiten Weltkrieg das Sagen hatten, und anschließend die Mittelschicht des Landes und die Besitzer und leitenden Angestellten einer Bergbaugesellschaft.

Die Bergbaugesellschaft betreibt auch eine eigene Schule, der Zugang ist allerdings nur Kindern der höheren Angestellten gestattet. Die Arbeiter, Fischer und Bauern bleiben bettelarm und schicken ihre Kinder meist erst gar nicht zur Schule, da diese zum Lebensunterhalt der Familien beitragen müssen. Und die, die trotzdem ihre Kinder schicken, haben, was die Schule angeht, ohnehin keine Wahl:

… und wir gehörten alle zur ärmsten Bevölkerungsschicht der Insel. Auch die Muhammadiyah (Name der Schule) war eine der ärmsten Dorfschulen auf Belitung. Es gab nur drei Gründe, warum unsere Eltern uns hier angemeldet hatten. Erstens, weil Muhammadiyah-Schulen keine Gebühren nahmen und sie lediglich freiwillige Beiträge zahlten, soweit sie es eben konnten. Zweitens, weil unsere Eltern hofften, dass eine frühe Unterweisung im Islam uns später vor schlechten Einflüssen bewahren würde. Und drittens, weil wir sowieso keinerlei Chance hatten, von einer anderen Schule genommen zu werden. (S. 8/9)

Schon der erste Schultag Ikals zeigt, wie gefährdet die kleine Schule ist. Der Schulinspektor will sie am liebsten schließen lassen und hat deshalb verfügt, dass zum neuen Schuljahr mindestens zehn Schüler zur Einschulung kommen müssen. Ihm ist diese heruntergekommene Schule ein Dorn im Auge und bei seinen Inspektionen findet er immer etwas zu beanstanden.

Unsere Schule war eine von Hunderten, wenn nicht Tausenden armer Schulen im Land, eine von der Sorte, die jederzeit in sich zusammenfallen konnte. Dazu hätte es nur eines Ziegenbocks bedurft, der hinter einer Ziege her war. Wir hatten nur zwei Lehrer für alle Fächer und alle Klassenstufen. Wir hatten keine Schuluniformen. Und wir hatten auch keine Toilette. Da unsere Schule am Waldrand lag, brauchten wir uns nur in die Büsche zu schlagen. Unsere Lehrer kamen immer mit, es hätte ja sein können, dass wir von einer Schlange gebissen worden wären. (S. 14)

Die Lehrer und Schüler kämpfen aber nicht nur mit dem vom Einsturz bedrohten Gebäude, dem Fehlen grundlegender Ausstattung und den Löchern im Dach. Wenn es regnet, versucht die fünfzehnjährige Lehrerin Bu Mus sich so gut es eben geht mit Bananenblättern zu schützen. Die zweite Gefahr geht von der Bergbaugesellschaft aus, die irgendwann Probebohrungen macht und Zinkvorkommen unter dem Schulhaus findet. Daraufhin rückten Bagger und große Maschinen an. Doch damit wollen sich weder die Schüler noch die zwei Lehrer abfinden, die sich zu allem anderen Ungemach ihren Lebensunterhalt auf andere Art und Weise verdienen müssen, denn entlohnt werden sie nicht.

Allmählich werden die Kinder älter und so lesen wir auch von der ersten Liebe Ikals. Am Abend seines ersten Rendezvous mit A Ling fahren die beiden mit einem Riesenrad:

Und dann schwiegen wir beide, schwiegen zusammen und wollten gar nicht wieder aussteigen. Das Riesenrad zeichnete mit seinen Lampen ein Muster in den Himmel. Mein Herz war weit. Dies war die schönste Nacht meines Lebens. (S. 133)

Leider endet die die Beziehung abrupt, weil A Ling von ihrer Familie nach Jakarta geschickt wird, um sich dort um eine Tante zu kümmern. Als Abschiedsgeschenk lässt sie ihm ein Buch zukommen, das mich dann doch überrascht, nämlich Der Doktor und das liebe Vieh von James Herriot. Das Buch heilt ihn von seinem Liebeskummer.

Ich war hingerissen von der Schönheit des kleinen Dorfes Edensor. Ich begriff, dass es außer der Liebe noch andere schöne Dinge gab auf der Welt. Herriots Beschreibungen waren so eindrücklich, dass ich meinte, den Duft der Narzissen und Aurikeln zu riechen, die an den Weidezäunen wucherten, von denen er erzählte. […] Es war wie ein Wunder, ich war wieder völlig gesund. Ich hatte eine neue Liebe, die in meiner zerschlissenen Tasche steckte. Das war Edensor. Nachdem ich 480 Stunden, 37 Minuten und 12 Sekunden den Verlust von A Ling beklagt hatte, beschloss ich mit dem Selbstmitleid aufzuhören. (S. 156/157)

Mit Humor und Wehmut erzählt hier einer eine Bildungsgeschichte der besonderen Art. Neben skurrilen Begebenheiten, Klassenstreichen und dem selbstlosen Einsatz der Lehrer werden die Mitschüler porträtiert und uns fremd anmutende Sitten und Gebräuche und der Einfluss von Aberglauben und Schamanen geschildert.

Allein in Indonesien verkaufte sich das Buch millionenfach und die Verfilmung wurde der erfolgreichste indonesische Film. Inzwischen gibt es drei Fortsetzungen.

Die Sprache ist einfach und die Erzählperspektive etwas wacklig. Manche Fragen z. B. zur Chronologie bleiben offen. Ob die von Hirata berichteten wundersamen Geschehnisse zutreffen – das Manuskript sei ihm gestohlen und ohne sein Wissen einem Verlag zugespielt worden -, sei dahingestellt. Und es irritiert, wenn im Buch das baufällige Schulgebäude zusammenbricht und Hirata trotzdem im Interview mit Wolfgang Herles behauptet, dass die große Scheune hinter ihnen genau diese Schule sein soll… So passen einige Details nicht recht zusammen. Man darf da wohl nicht alles als einen Tatsachenbericht lesen.

Dennoch: Es ist eine zutiefst menschliche, tolerante und warmherzige Geschichte, die einen Einblick in ein mir bisher unbekanntes Land gibt, und zugleich ein Plädoyer für das Recht auf Bildung und ein Loblied auf die Schule, das uns in Deutschland auch zu denken geben könnte:

Pak Harfan (der Lehrer) war allerdings nicht müde geworden, den Kindern klarzumachen, dass Wissen einen Wert für sich selbst darstellte und Erziehung eine Verpflichtung gegenüber dem Schöpfer bedeutete. Dass Schule nicht immer nur darauf abzielen musste, einen Titel zu erwerben, Geld zu verdienen oder gar reich zu werden. Schule bedeutete für ihn Wert und Würde, gelebte Menschlichkeit, sie war Lust am Lernen und Bildung. (S. 188)

Und zum Ethos des Lehrerberufs heißt es:

Ein Lehrer, dem ein Schüler abhandenkommt, ist wie ein Lehrer, dem die halbe Seele fehlt. (S. 207)

Wir in unserem reichen Land mit allgemeiner Schulpflicht sind da ja zum Glück schon weiter: Anstatt dafür zu sorgen, dass jedes Kind tatsächlich so unterstützt wird, dass es mit einem Schulabschluss, der nicht einfach hinterher geworfen wird, die Schule verlässt, gibt es ein Modellprojekt nach dem nächsten, in dem SchülerInnen, die ohne den Hauptschulabschluss die Schule verlassen, ein oder zwei Jahre geparkt werden, um bloß nichts am bisherigen dreigliedrigen System verändern zu müssen.

Wir verzetteln uns in albernen Papiertiger-Kompetenzbereich-Diskussionen und viele unserer Schüler (und Eltern) sehen Schule nun überhaupt nicht als die Institution an, in der man etwas lernen und sich dadurch sogar aus bedrückenden sozialen Rahmenbedingungen herausarbeiten kann, sondern eher als eine lästige Störung eines ansonsten unstrukturierten und regelfreien Aufbewahrungs-Spaßraums.

Wie ganz anders hingegen der Klassenkamerad Ikals: Lintang, ein hochbegabter Junge, versäumt nie auch nur einen einzigen Schultag, selbst wenn ihm wieder mal die Fahrradkette kaputtgeht oder ihm Krokodile den Weg versperren.

Lintang setzte immer wieder dem Unterricht zuliebe sein Leben aufs Spiel. Aber er fehlte niemals. Vierzig Kilometer  hatte er täglich auf seinem Schulweg zurückzulegen. Wenn der Unterricht bis zum Nachmittag dauerte, kam er erst bei Dunkelheit zu Hause an. Mich schauderte manchmal, wenn ich an seinen Schulweg dachte. Dabei waren noch gar nicht die anderen Schwierigkeiten eingerechnet, wie etwa Wege, die in der Regenzeit manchmal bis in Brusthöhe überflutet waren. Wenn das Wasser zu hoch war, ließ er sein Fahrrad an einem höhergelegenen Baum stehen, schwamm durchs Wasser und lief dann zu Fuß weiter. (S. 47)

Die Szene, in der Lintang im Auftrag der Mutter den kostbarsten Besitz seiner Familie verkauft – den Ehering seiner Eltern -, damit er sich eine neue Fahrradkette kaufen kann, gehört bestimmt zu den traurigsten Momenten der ganzen Geschichte und zeigt, wie viel Hoffnung die Familie in den Schulbesuch ihres Sohnes setzt.

Der Titel des Buches verdankt sich übrigens der Lehrerin Bu Mus:

Eines Nachmittags – es hatte den ganzen Tag über stark geregnet – erschien ein perfekter Regenbogen am Himmel, ein voller Halbkreis, strahlend hell in sieben Farben. […] Der Regenbogen schwang sich seidig schimmernd über die Ebene, er sah aus wie Millionen von schönen Jungfrauen in bunten Gewändern, die sich in einen abgelegenen See stürzten, um ihre Schönheit zu verbergen. Wir rannten zum Filicium und kletterten hinauf, jeder auf seinen gewohnten Ast. Wir taten das jedes Mal, wenn es geregnet hatte, um den Regenbogen zu betrachten. Deswegen nannte uns Bu Mus „die Regenbogentruppe“. (S. 73)

Eine Frage bleibt allerdings offen: Welche Wirrungen der Übersetzung sorgten dafür, dass aus James Herriots fiktivem Darrowby Edensor wurde?

Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens (2009)

Damals, in meinen frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit hoch gezogenen Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt, und schaute hinunter auf den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus. Ein Vogelschwarm kreiste weit oben in gleichmäßigen Runden, senkte sich langsam und stieg dann wieder ins letzte, verblassende Licht. Unten auf dem Platz spielten noch einige Kinder, müde geworden und lustlos. Ich wartete auf Vater, der bald kommen würde, ich wusste genau, wo er auftauchte, denn er erschien meist in einer schmalen Straßenöffnung zwischen den hohen Häusern schräg gegenüber, in einem langen Mantel, die Aktentasche unter dem Arm.

Mit diesen Sätzen beginnt die leicht verfremdete Rückschau des Schriftstellers und Hochschullehrers Hans-Josef Ortheil, der 1951 in Köln geboren wurde, auf seine ersten 27 Lebensjahre:

Das Buch, vom Erzähler selbst als Geschichte bezeichnet, ist in fünf große Abschnitte eingeteilt, die sich chronologisch von der frühen Kindheit des Johannes Catt – dem Alter Ego des Autors – bis hin zu dessen ersten schriftstellerischen Gehversuchen bewegen, obwohl für Johannes doch lange Zeit alles auf eine Karriere als Konzertpianist hinauszulaufen schien.

Dazwischen springt der Erzähler immer wieder in die Erzählgegenwart des reifen Mannes, der als über Fünfzigjähriger wieder nach Rom gekommen ist, um dort in der geliebten Stadt und doch fern genug von den Orten der Kindheit seine Geschichte aufzuschreiben. Dabei lernt er seine Wohnungsnachbarin und deren Tochter kennen, deren Klavierunterricht er schließlich unter seine Fittiche nimmt.

Mich haben vor allem die ersten beiden großen Teile Das stumme Kind und Lesen und Schreiben fasziniert.

Johannes stellt mit ca. drei Jahren das Sprechen ein und beginnt eine ungesunde Symbiose mit seiner traumatisierten Mutter zu leben, die ebenfalls nicht mehr spricht und ihre Tage vor allem lesend in der Kölner Wohnung verbringt. Wenn sie mit ihm am Rheinufer ist, müssen sie sich immer auf dieselbe Bank setzen und er darf sich dann immer nur wenige Meter von ihr entfernen. Deshalb ist es meist das Einfachste für ihn, sich neben sie zu setzen und völlig ruhig und bewegungslos zu sein.

Ich starrte auf einen winzigen Ausschnitt der Umgebung und beobachtete ihn so lange, bis es rings um diesen Ausschnitt zu schwanken und zu flirren begann. Manchmal wurde mir dann etwas heiß, und ich musste die Augen rasch schließen, ja es kam sogar vor, dass mir in solchen Augenblicken richtig übel und schwindlig wurde, dann hatte ich zu lange auf einen Punkt gestarrt und musste mich bemühen, den Blick wieder von diesem Punkt wegzubekommen. (S. 26)

Die Mutter kommuniziert mit Hilfe unzähliger kleiner Zettel, die dann abends der von seiner Arbeit als Vermessungsingenieur heimkommende Vater am Küchentisch vorliest.

Er schildert eine stumme, von Ängsten und Zwängen beherrschte Kindheit, die Fixierung auf seine Mutter, die er beschützen wollte, wenn er auch nicht wissen konnte, wovor eigentlich die Mutter beschützt werden musste. Auch der Vater stellt dieses stumme Familienleben nicht in Frage und lässt zu, dass sein Sohn weder Kontakt zu anderen Kindern noch kindgerechte Erfahrungen machen kann. In diese Erinnerungen schiebt sich dann die Gegenwart und noch der erwachsene Erzähler staunt:

Niemand, der mich heutzutage über diese römische Piazza gehen sieht und bemerkt, wie ich hier und da stehen bleibe, einen Anwohner grüße und mich unterhalte, wird vermuten, dass derselbe Mensch als Kind kein einziges Wort gesprochen und vor jedem Gang ins Freie erhebliche Angst ausgestanden hat. (S. 33)

Die Isolation und die fehlenden Anregungen in der Kindheit führen dazu, dass Johannes sich immer mehr in sich zurückzieht, stundenlang Dinge sortiert, diverse Spleens entwickelt, in die Gegend starrt und genau auf die Geräusche der vorbeifahrenden Autos achtet – später stellt sich heraus, dass er das absolute Gehör hat.

Er wird auf dem Spielplatz gehänselt und muss sich zusammen mit seiner Mutter herablassende oder mitleidige Kommentare anhören, wenn die Mutter in den Einkaufsläden nur rasch einen Zettel reicht, auf dem steht, was für sie zusammengepackt werden soll, sodass sie es dann später abholen kann.

Er ist einsam und wünscht sich doch so sehr einen Freund:

Da ich aber weder Freunde, geschweige denn einen richtigen, guten Freund hatte, dachte ich mir ab und zu einen aus. Mein Freund hieß Georg, Georg war stark und freundlich und etwas größer als ich, leider war er nicht immer da, wenn ich mich auf dem Kinderspielplatz aufhielt, doch wenn ich ihn dringend brauchte, kam er meist rasch vorbei und setzte sich neben mich, und dann spielten wir zu zweit oder unterhielten uns über die Zeitschriften, die wir uns gegenseitig ausgeliehen hatten. (S. 60)

Wohl fühlt er sich bei den Gottesdiensten im Kölner Dom, dort ist er kein Außenseiter, wird nicht kritisiert und nicht angesprochen:

Überhaupt war es schön, dass die Menschen während eines Gottesdienstes so viel gemeinsam und meist auch noch dasselbe taten, endlich redeten sie nicht ununterbrochen, sondern nur dann, wenn sie darum gebeten wurden, und endlich bewegten sie sich auch nicht laufend von einer Stelle zur andern, sondern hielten es eine Zeit lang singend und betend auf einem einzigen Platz aus. […] Die einzige Störung des Gottesdienstes, die jedes Mal nur schwer zu ertragen war, war die Predigt. (S. 69/70)

Bei seiner Mutter lernt er Klavierspielen, das er nun mit Hingabe praktiziert. Doch das fragile System des Alltags bricht zusammen, als Johannes in die Schule kommt. Es dauert nicht lange, bis Mitschüler und Lehrer ihn schikanieren. Er kann dem Unterricht nicht folgen. Die Hoffnung des Vaters, dass sein Sohn zwar stumm ist, aber mühelos lesen und schreiben lernen werde, erweist sich als Illusion.

Es kommt ein gehässiger Brief des Lehrers, der den Eltern empfiehlt, ihrem Kind mit seinen „verminderten und verwirrten Fähigkeiten“ eine andere „Aufbewahrungsanstalt“ zu suchen. Das ist der Moment, an dem der Vater erkennt, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss. Er nimmt auf unbestimmte Zeit Urlaub und fährt allein mit dem Sohn, d. h. ohne die Mutter, auf den großelterlichen Hof im Westerwald, wo die beiden Teil einer großen Hofgemeinschaft werden.

Was dann folgt, ist so schön zu lesen, dass ich das hier nicht vorwegnehmen möchte.

Fazit

Die ungewöhnliche Kindheits- und Jugendgeschichte des Schriftstellers, die auch übel hätte enden können, wird so einfühlsam und mit so vielen Details vergegenwärtigt, dass man glaubt, ebenfalls in dieser stillen Kölner Wohnung zu sein. Und dem Weg des Kindes ins Leben und in die Sprache bin ich fasziniert und mit Anteilnahme gefolgt.

Der Stil ist unaufgeregt, geradezu gemächlich, dabei überaus anschaulich und angelehnt an den klassischen Bildungsroman. Hier spürt einer dem eigenen, oft genug schmerzhaften Werdegang nach und schreibt:

All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin. Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben. Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht gelungen … (S. 470)

Vielleicht trug dieses Buch für den Erzähler dazu bei, sich nicht länger zu einem anderen Menschen machen zu wollen, indem sich da einer zu seiner Geschichte bekennt. Nichts ist mehr zu spüren von Verbitterung oder Anklage.

Für den Spannungsbogen sorgt dabei u. a. natürlich die Frage, wieso es überhaupt zu diesem Stummsein in der Familie gekommen ist.

Für mich hätte das Buch nach dem zweiten Teil aufhören können. Zwar geht der Erzähler immer wieder auch der Frage nach, wie er von seiner Kindheit geprägt worden ist, was durchaus interessant ist. Aber sein Leben in Rom als Student am Konservatorium und sein Alltag in Rom als ca. Fünfzigjähriger, während er seine Erinnerungen aufschreibt, waren für mich eher blass und längst nicht so mitreißend und außergewöhnlich, wie es die beiden ersten Teile dieser Annäherung an die eigene Biografie waren. Manches wirkte da durchaus ein wenig konstruiert.

Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums (2013)

Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.

Mit diesem Ausruf beginnt also die Lebensrückschau des vielfach ausgezeichneten Autors Urs Widmer, die es 2013 bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Widmer (1938 – 2014), einer der bekanntesten Schweizer Autoren, erzählt hier seine ersten dreißig Jahre, die quasi den Nährboden seines späteren schriftstellerischen Schaffens bilden.

Die Leser*innen freuen sich und leiden und staunen mit ihm, wenn Widmer wie aus einer Wundertüte seine Geschichten hervorzaubert, z. B. als er darüber fabuliert, wie sich das wohl angefühlt haben mag, als er als Kleinkind laufen und sprechen gelernt und dadurch neue Welten erobert hat.

Wie viele Dinge gab es in dieser Welt, deren Namen ich noch nicht einmal kannte! Ist es nicht ein Wunder, wie locker ich inzwischen ‚Fensterfront‘, ‚Schrank‘ und ‚Welt‘ sage und noch viel mehr – alle Wörter dieses Buchs -, als sei das selbstverständlich? (S. 22)

Überhaupt stellt sich im Rückblick das Glück der frühen Kindheit als ein Schatz dar:

So etwas wie ein Notvorrat, der in einem tiefen Stollen in mir aufbewahrt liegt. Lebendig immer noch, warm, leuchtend. Natürlich habe ich inzwischen nicht nur Glück erfahren. Wem widerführe dies. Dennoch aber: Was für ein, ja, Massel: ein Leben lang kein Krieg, keine Fluchten, kein Hunger. Kein jähes Exil an einem fremden Ort, nach einem hastigen Aufbruch mitten in der Nacht. Keine gewaltsamen Tode um mich herum. Das, was ich heute bin, kommt bruchlos aus dem, was war. Glück. (S. 37)

Wir erfahren von – keineswegs immer ungefährlichen – Jungenstreichen, Familienurlauben, Verwandten, dem eher ungeliebten Schulbesuch und diversen Umzügen der Familie. Schön auch das Denkmal, das er seinem ersten Freund mit dem Spitznamen Migger setzt:

Er nahm mich in die weite Welt mit, in die hineinzugehen ich bis dahin nie erwogen hatte. Die fernen Häuser, die Wälder, die Wiesen, die Gärten: Dass ich da hingehen könnte, ich, selber, allein und einfach so, das war ein undenkbarer Gedanke gewesen. Mit Migger schlich ich durch alle Gärten, ging über die Felder, in den Furchen zwischen den Kartoffeln und zwischen Löwenzahnblüten oder Mohn durch die Wiesen, bestieg den Kirschbaum neben dem Hundezwinger […] und auch die bezwingbaren Äste des Nussbaums. (S. 81)

Die Kindergarten- und Schulzeit steht allerdings von Anfang an unter keinem guten Stern. Schon am allerersten Tag muss ihn die Mutter buchstäblich hinzerren, alles Toben und Brüllen hilft ihm nichts.

Durchs Fenster sah ich, wie meine Mama davonging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie trug ihren brauen Mantel, der aus Kamelhaaren gemacht war. Das war das. Ich wusste, dass ich von nun an mit Fräulein Vögeli und diesen völlig fremden Kindern durchkommen musste. (S. 88)

Doch je älter der Junge wird, umso klarer wird, dass sein Elternhaus nicht nur eine Quelle des Glücks ist. Ich kann es kaum glauben, wie der Autor es noch als erwachsener Mann rechtfertigt, dass ihm sein Vater die Bilder von Auschwitz zeigt, als Urs vielleicht gerade einmal acht Jahre alt ist.

Heute weiß ich, dass ich sie gerade zur rechten Zeit sah, zu ihrer Zeit, denn ein solches Entsetzen auch nur eine Minute lang zu verschweigen wäre unmöglich gewesen und hätte unsere Welt verstummen lassen. (S. 77)

Als Erwachsener ist er „unendlich erleichtert“, wenn die Weihnachtszeit vorbei ist:

Wie sehr gaben sich meine Eltern Mühe, uns Kinder glücklich zu sehen – und selber glücklich zu sein -, und wie sehr misslang ihnen das. (S. 171)

Widmer, der Student, wäre wohl heutzutage der Schrecken all der stromlinienförmigen Schnellstudierer und Kostenevaluierer. Über den Beginn seines Studienaufenthaltes in Montpellier heißt es nur:

Es gab tatsächlich eine Uni, die aber ein so düsteres Gebäude war, dass ich sie ein einziges Mal betrat – ich meldete mich an -, und dann nie mehr. Wieso sollte ich in dieses staubige Gefängnis gehen, wenn ringsum eine Welt strahlte, die mir das Paradies zu sein schien? Die einzige universitäre Einrichtung, die ich in den nächsten Monaten benutzte, war die Mensa. (S. 199)

Wir begegnen skurrilen Verwandten, seinen Professoren, diversen Liebschaften und inzwischen verstorbenen Freunden. Dabei schreibt Widmer mit so viel Schwung, dass viele der Szenen und Geschichten ganz gegenwärtig wirken, selbst wenn sie über 70 Jahre zurückliegen, und diese launige Erzählfreude ist ansteckend. Die Sprache ist dabei ganz oft tatsächlich die des Erzählens, der Übertreibung, der Ironie, der feinen Beobachtung, der Andeutung. Fällt ihm ein Name nicht ein, lässt er das so stehen und reicht das ein paar Absätze später nach.

Dabei bettet er in mehreren großen Kapiteln die Geschichte seiner ersten 30 Jahre in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext ein, indem er in groben Zügen die Schweizer Zeitgeschichte rekapituliert. Die allerdings tragen nicht so riesig viel zum Verständnis bei.

Die NZZ, die ansonsten von einem großartigen Lesevergnügen spricht, grämt sich denn auch:

Man versteht, wie Urs Widmer auf die Idee verfallen konnte: Neben dem Intimen und biografisch Zufälligen mochten ihm Zeitkolorit und Weltgeschehen zu kurz gekommen sein. Und doch ist es ein Jammer, dass niemand im Verlag Tapferkeit vor dem Freund bewies und ihm diese paar Seiten aus dem Manuskript strich. Denn die Intermezzi sind so unbeholfen wie überflüssig […]. Aber sei’s drum, es sind nur ein paar Seiten. Am besten, man beachtet sie nicht.

Doch trotz der vermeintlichen Offenherzigkeit, was Liebesgeschichten, die Entdeckung Frankreichs und Italiens auf diversen Reisen, die Begeisterung über die erste Vespa, das erste Auto etc. angeht, ist dies an vielen Stellen eine erstaunlich diskrete Autobiografie.

Widmer erzählt zwar von wesentlichen Stationen seines Lebens, manches wird dabei aber gnadenlos gerafft. Seine universitären Leistungen werden heruntergespielt, sodass ich ganz verblüfft war, als er plötzlich mit seiner Promotion um die Ecke kam. (Auch wenn es viel Spaß macht zu lesen, wie seine Notizen zur Dissertation in einem französischen Wolkenbruch unterzugehen drohen.) Wichtiger scheint die befremdliche Reaktion des Vaters gewesen zu sein:

Ich öffnete die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters, steckte meinen Kopf durch den Türspalt und sagte, ich hätte eben die Doktorprüfung bestanden. Mein Vater hielt mit dem Schreiben inne, schaute mich an und sagte: ‚Na prima!‘ Dann tippte er weiter, und ich schloss die Tür. (S. 318)

Doch wie sich derlei Elterngebaren – die Depressionen der Mutter, die ständigen lautstarken Auseinandersetzungen der Eltern, das Schweigen des Vaters, der in der Wahrnehmung des Sohnes sein Leben komplett im Arbeitszimmer verbracht hat – auf die Psyche des Sohnes ausgewirkt haben, darüber schweigt sich der Autor aus. Er erzählt zwar, wie er als Kind davon überzeugt war, nur er könne die Familie zusammenhalten, nur er könne die Mutter vom Selbstmord abhalten. Die Innenseite, die Gefühlsseite lässt er den Leser nur erahnen, indem er von seinen Panikattacken, diversen Ticks und dem Asthma spricht, das er sich als psychosomatisch erklärt.

Gern hätte ich mehr darüber gelesen, wie Widmer selbst sich von seinen Eltern, seiner Herkunft geprägt weiß. Nicht nur, weil in seinem Leben – genau wie in dem seines Vaters – die Literatur eine so große Rolle gespielt hat.

Auch über die über Ehe mit der Psychoanalytikerin May, mit der er schließlich über 50 Jahre zusammen sein sollte, – was für eine Riesenseltenheit heutzutage – hätte ich gern mehr erfahren als nur die Frage, wie sie sich kennengelernt haben.

Durch das Nicht-Ausloten der inneren Vorgänge wurde das Buch stellenweise zu einer Anekdoten- und Geschichtensammlung, von der ich mir, egal wie lesbar das war, doch mehr Tiefgang oder zumindest Anteil an einer gewissen fröhlichen Altersweisheit erhofft hatte.

Vermutlich deshalb haben mir besonders die eher nachdenklichen Passagen gefallen, die aus der Sicht des reifen Mannes geschrieben sind, z. B. die ganz zu Beginn, in denen der Erzähler darüber nachsinnt, warum er nun eigentlich eine Autobiografie schreibt, obwohl „jedes Erinnern, auch das Genaueste, ein Erfinden ist.“ (S. 7)

Vermutlich aber gehorche ich nur einem banalen Gesetz der Menschen: Erst träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn diese gelebte Zukunft vergangen ist, erzählen wir sie uns noch einmal. (S. 7)

Anmerkungen

Diejenigen, die schon mehr von Widmer gelesen haben, wissen, dass er 2009 den Roman Herr Adamson veröffentlicht hat. Dieser Name taucht auch in Widmers Erinnerungen auf, und zwar als Titel eines der ersten von ihm gelesenen Bücher:

Adamson war ein einsamer älterer Herr mit drei einzelnen Haaren auf dem Kopf und einer Oberlippe, die sehr der meines Vaters glich. Auch er war ein lieber Tollpatsch. (S. 179)

Ein lesenswertes Interview mit Widmer findet sich in der Welt vom 21. Mai 2013 und Claudia vom Grauen Sofa hat mich mit ihrer Besprechung überhaupt erst neugierig auf den Roman gemacht.

Ansonsten empfehle ich noch den Artikel von Ursula März in der ZEIT.

Irrelevante Fußnote

Während ich dies schreibe, habe ich 50 Oberstufenarbeiten um mich herum drapiert, die dafür sorgen, dass mir die Herbstferien nicht zu unbeschwert geraten, und nur deshalb möchte ich noch folgendes Zitat aus Widmers Erinnerungen an seine Schulzeit ergänzen:

Herrn Schindler, der – leider, leider nicht während er uns unterrichtete – mitten in einer stinknormalen Schulstunde, als ein Schüler schon wieder das Passé simple mit dem Imperfekt verwechselte, sich langsam hinter seinem Pult erhob, ‚Jetzt reicht’s mir aber‘ murmelte, die Schule verließ und sie nie mehr betrat. Ein Schüler musste ihm seinen Hut nach Hause bringen, den er im Lehrerzimmer liegengelassen hatte. (S. 116)

A. J. Jacobs: Britannica & ich (2006)

Ich weiß, wie die führende türkische Avantgarde-Zeitschrift heißt. Ich weiß, dass John Quincy Adams seine Frau allein des Geldes wegen ehelichte. Ich weiß, dass Bud Abbott ein Lügner und Betrüger war, dass die Briefwahl in Irland äußerst populär ist und dass Zwerge einen kugelrunden Hintern haben.

Mit diesen Sätzen beginnt der amerikanische Journalist Arnold Stephen Jacobs seine Geschichte „von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden“. Das englische Original erschien unter dem Titel: The Know-It-All (2004) und wurde von Thomas Mohr ins Deutsche übersetzt.

Jacobs (*1968) beschließt, etwas gegen seine drohende Verblödung zu unternehmen und deshalb die komplette Ausgabe der Encyclopaedia Britannica (32 Bände, also insgesamt 33.000 Seiten) zu lesen. Bei diesem Selbstversuch begleiten wir ihn nun.

Ich liebäugele schon seit Jahren mit dem Gedanken, die Britannica zu lesen. Da ich – außer meiner beeindruckenden Kotztütensammlung aus Kindertagen – bislang eigentlich nichts Nennenswertes zustande gebracht habe, schien mir das ein geeigneter Prüfstein zu sein. Der höchste Berg der Erkenntnis. Mein Everest. Bei dessen Besteigung mir zum Glück weder die Ohren abfrieren werden noch der Sauerstoff ausgehen wird… Ein enzyklopädischer Crashkurs. Mit dessen Hilfe ich all meine Bildungslücken schließen werde. In diesem unserem Zeitalter extremer Spezialisierung werde ich der letzte universalgelehrte Amerikaner sein. Wenn nicht gar der klügste Mensch der Welt. (S. 9)

Zwischendurch ging mir der penetrant „witzige“, immer schön locker-flockige  Kolumnenton auf die Nerven und dann schien mir der Autor nur ein Parasit zu sein, der sein Buch ohne allzu viel Mühe aus den für ihn interessantesten Fundstücken zusammengebastelt hat.

Dance (Tanz)

Bei einem Stamm auf Santa Maria hielten die alten Männer mit Pfeil und Bogen Wache und erschossen jeden Tänzer, der einen Fehler machte. Davon sollten sich die Castingshows mal eine Scheibe abschneiden. (S. 66)

Im Original lautet die Passage:

In a tribe on the island of Santa Maria, old men used to stand by with bows and arrows and shoot every dancer who made a mistake. The perfect way to raise the stakes on American Idol.

Das zeigt, dass manchmal leider auch die Übersetzung an dem nervtötend-heiteren Ton schuld ist.

Dass dem Übersetzer auch richtig dicke Fehler unterlaufen, ist ebenfalls nicht hübsch: Im amerikanischen Original heißt es, dass Binet seinen Intelligenztest „in the early 1900s“ entwickelte. Das ist korrekt. In der Übersetzung wird daraus „Anfang des neunzehnten Jahrhunderts“. Binet wurde leider erst 1857 geboren.

Wenn Jacobson ausgerechnet ein paar Sätze von Robert Ardrey, einem Anthropologen und Dramatiker, als Sätze bezeichnet, „bei denen ich in Ohnmacht sinken könnte wie die Frau bei der Lektüre von Montaignes Essays“ (S. 271), dann stimmt mich das schon ein bisschen trübsinnig. Ardrey war als Anhänger der ‚hunting hypothesis‘ und der ‚killer ape theory‘ der Meinung, dass der Mensch vor allem seiner Aggression und Gewaltbereitschaft seinen evolutionären Erfolg verdanke. Eine These, die von diversen Forschern heute angezweifelt wird. Das Zitat, für das Jacobs glatt seine vier Jahre Studium der Philosophie eintauschen würde, lautet:

Doch nicht von gefallenen Engeln wurden wir geboren, sondern von emporgestiegenen Affen, die noch dazu bewaffnete Mörder waren. Worüber also sollen wir uns wundern? Über unser Morden, unsere Bomben und Raketen und unsere kriegslüsternen Truppen? […] Das Wunder der Menschheit ist nicht, wie tief sie gesunken, sondern wie hoch sie emporgestiegen ist. Unsere Gedichte, nicht unsere Toten machen uns unsterblich. (S. 271)

Der letzte Satz lautet im Original: „We are known among the stars by our poems, not our corpses.

Unzählige Opfer von Kriegen und Gräueln einfach als unvermeidliche Begleitschäden der Evolution abzutun, das muss man auch erst mal schaffen.

Ja, wir sind zu schrecklichen Dingen imstande. Wir haben Armut, Krieg und Sommerzeit erfunden. Aber alles in allem […] haben wir uns durch unsere Leistungen und Errungenschaften rehabilitiert. Immerhin gehen auch die Fontana die Trevi, Blinden-Scrabble, Dr. DeBakeys Kunstherz und das Frequenzwahltelefon auf unser Konto. (S. 390)

Die Geschichte sei auch „eine Ansammlung derart verblüffender Meisterleistungen und Heldentaten, dass ich es als Ehre empfinde, die DNA-Struktur der übrigen Menschheit zu teilen. (S. 398)

Aber dennoch ist das Buch an vielen Stellen auf charmante Weise informativ.

Vor seinem Britannica-Projekt hatte Jacobs vermutlich noch nie von dem Taiping-Aufstand gehört. Doch dieser Lexikoneintrag zeigt ihm, wie sehr das, was wir wissen, von unserem Umfeld abhängt und der Kultur, in der wir uns bewegen:

This was a Chinese upheaval in the mid-nineteenth century that “took an estimated 20,000,000 lives.” I read that sentence again. And again. It took 20 million lives. Holy shit. I try to process that enormous number. That’s four hundred stadiums full of human beings. That’s more than ten times the population of Manhattan. The Taiping Rebellion occurred about the same time as our own Civil War, which was horrible and bloody – and took less than seven hundred thousand lives. About 4 percent of the Taiping total. And I’ve barely even heard of this rebellion.
I feel like an ignorant Westerner. Even with my liberal education, I learned next to nothing about the other side of the world, so that doesn’t feel good. But I also have another, stranger reaction. I feel angry at the Britannica. The Britannica just states that 20 million died in its typical deadpan tone. Shouldn’t there be three exclamation points after it? Shouldn’t it say, “took an infuckingsane 20 million lives”? There’s a disconnect. The Britannica is completely dispassionate, which I’ve always thought was one of its strengths. But how can you be dispassionate with crazy information like this? How can you try to deal with the horrors of human behavior as if you’re talking about tectonic plates? The Britannica’s tone lulls you into thinking that the world is rational, but entries like this one just stop you cold.

Alphabetisch geordnet beschreibt er seine Leseeindrücke und garniert sie mit Geschichten aus seinem Alltag (seine Frau und er wünschen sich dringend Nachwuchs) und seiner Umwelt, die seine Besserwisserei nun ertragen muss. Und das ein oder andere Stichwort habe ich dann selbst in einem Lexikon nachgeschlagen, weil er mich neugierig gemacht hat. Ganz offensichtlich scheint die Britannica, das älteste noch erscheinende Nachschlagewerk – seine bescheidenen Anfänge lassen sich bis zum Jahr 1768 in Schottland zurückverfolgen – auch eine Fundgrube bizarrer „human interest“ Anekdoten zu sein.

Einen richtig wütenden Verriss gab es von Joe Quennan in der New York Times am 3. Oktober 2004:

The Know-It-All: One Man’s Humble Quest to Become the Smartest Person in the World is mesmerizingly uninformative. […] Facts absorbed without context merely magnify the intellectual deficiencies of the autodidact, because a poorly educated person does not know which facts are important.

A case in point: Jacobs refers to Absalom as a “biblical hero“ (wrong!), and reports that he was killed by his enemy Joab after his hair (yuk! yuk!) got caught in a tree branch. Absalom, as anyone who has read the Scriptures knows, was a son of David; the story of the son who raises his hand against his father is one of the most famous, heart-rending episodes in the Bible. A generation ago, everyone knew this tale; William Faulkner even wrote a book called “Absalom, Absalom!“ (Faulkner, for the uninformed, won the Nobel Prize in Literature.) With similar lack of sophistication, Jacobs brays on about the Aztecs, apparently unaware that the people known as the Aztecs actually called themselves the Mexica. And even after allegedly reading the encyclopedia, Jacobs still doesn’t know who Samuel Beckett is, an admission that is almost criminally stupid, even for someone who has written for Entertainment Weekly.

A graduate of the prestigious Dalton School in Manhattan and Brown University, Jacobs is a prime example of that curiously modern innovation: the pedigreed simpleton. […] Jacobs’s biggest problem isn’t that he doesn’t know much; it’s that he doesn’t realize how much educated people do know. There’s just no two ways about it — people who read Marcel Proust and Bertrand Russell instead of Entertainment Weekly actually do learn stuff. Deluded into believing that his enterprise has made him smarter, Jacobs constantly seeks to bedazzle the reader with his latest shocking discoveries, unaware that things he perceives as riveting arcana are common knowledge in many quarters.“

Das finde ich dann doch arg arrogant, denn Quennan scheint ein Problem damit zu haben, wenn Menschen, die nicht so gebildet sind wie er, ein Werk wie die Britannica zur Hand nehmen. Soll er sich doch freuen, dass der Autor einen deutlichen Informationszuwachs zu verzeichnen und vielleicht sogar ein bisschen Werbung für gewichtige Lektüre gemacht hat. Im Übrigen schreibt Jacobs am Ende seines Projekts selbst:

Ich weiß um die geradezu ozeanischen Ausmaße des Menschheitswissens. Ich weiß, dass ich von diesem Ozean sehr wenig weiß. (S. 398)

Zum Abschluss

Britannica & I hängt für mich ein wenig in der Luft, da kein existenzielles Bedürfnis hinter dem Projekt steht. Die Grundidee, die ich durchaus reizvoll finde, wird eher als launiger Gag behandelt und dadurch verschenkt der Autor  die Gelegenheit, auch mal tiefer zu schürfen und zu überlegen, was wir überhaupt unter Wissen verstehen, ob und wie es uns nützt, was uns antreibt, es zu erwerben und welche Rolle Enzyklopädien oder Wikipedia überhaupt dabei spielen. Und wie hängen Informationen und Wissen überhaupt zusammen?

Manchmal fehlt dem Autor einfach das Vertrauen in sein Buch und er meint, den Leser mit albernen Späßchen und Schwänken aus seinem eigenen Leben bei Laune halten zu müssen. Und das ist das wirklich Ärgerliche an dem Buch, dass die schöne Grundidee an vielen Stellen gnadenlos auf bloßes Entertainment eingedampft wird. Nichts ist mehr wichtig genug, um auch als wichtig oder ernsthaft behandelt zu werden. Info-Häppchen als Pausenfüller. Garniert mit Einblicken ins Jacobsche Familienleben. Am besten, das Ganze würde noch mit einem launigen Jingle unterlegt.

Nur hin und wieder schimmert auch eine andere Ebene durch, z. B. als ihm sein Bekannter Bob folgende Geschichte erzählt:

Kennen Sie die Geschichte von dem Herrscher aus dem Morgenland? Besagter Herrscher zitierte alle Gelehrten in sein Reich und sagte: ‚Ich möchte, dass ihr das gesamte Menschheitswissen an einem Ort zusammentragt, damit meine Söhne es lesen und lernen können.‘ Die Gelehrten gingen davon und kehrten nach einem Jahr mit 25 Bänden voller Wissen zurück. Der Herrscher sah sie sich an und sagte: ‚Nein. Das ist zu lang. Fasst euch kürzer.‘ Und so gingen die Gelehrten davon und kehrten nach einem weiteren Jahr mit einem einzigen Band zurück. Der Herrscher sah ihn sich an und sagte: ‚Nein. Immer noch zu lang.‘ Wieder gingen die Gelehrten davon. Als sie nach einem weiteren Jahr zurückkehrten, reichten sie dem Herrscher ein Stück Papier, auf dem ein Satz geschrieben stand. Ein einziger Satz. Wissen Sie, wie der Satz lautete?‘ Bob sieht mich an. Ich schüttele den Kopf. ‚Der Satz lautete: Alles geht vorüber.‘ (S. 110)

Jacobs ist übrigens ein Fan solcher Großprojekte. 2007 erschien sein Werk The Year of Living Biblically, in dem er beschreibt, wie er ein Jahr lang versucht, nach allen Regeln der Bibel zu leben. Sein neuestes Werk heißt: Drop Dead Healthy: One Man’s Humble Quest for Bodily Perfection (2012).

Jeanette Winterson: Oranges are not the Only Fruit (1985)

Zugegeben, ich hatte noch nie etwas von Winterson gelesen, auch nicht ihr Erstlingswerk, für das sie 1985 mit dem Whitbread Award (dem heutigen Costa Book Award) ausgezeichnet wurde. Doch das Interview, das sie Jennifer Byrne am 31. Juli 2012 gegeben hat, machte mich neugierig.

Like most people I lived for a long time with my mother and father. My father liked to watch the wrestling, my mother liked to wrestle; it didn’t matter what. She was in the white corner and that was that.

So beginnt Jeanette Wintersons stark autobiografisch gefärbter Rückblick Oranges are not the Only Fruit  (1985) auf ihre Kindheit und Jugend. Auf Deutsch erschien das Werk unter dem Titel Orangen sind nicht die einzige Frucht.

Die kleine Jeanette, die nur zufällig irgendwann erfährt, dass sie adoptiert wurde, wächst bei einem strenggläubigen Freikirchler-Ehepaar in Lancashire, England, auf.

Von ihrer lieblosen Adoptivmutter dazu bestimmt, später Missionarin zu werden, lernt das Mädchen zunächst nur die Welt der Gemeinde kennen. Alles ist übersichtlich, klar in Gut und Böse (not holy) eingeteilt. Hier ist ihre Familie, hier findet sie Geborgenheit, Freude an der Musik und ihre Aufgaben. Sie kennt die Tiere aus der Bibel früher als die Tiere, die auf dem Bauernhof leben.

Dass andere Kinder ganz anders aufwachsen, muss sie mühsam in der Schule lernen. Sie wird rasch zur Außenseiterin, da sie auf alle kreativen Aufgaben Antworten gibt, die einen engen Bezug zur Bibel und zur Gemeinde aufweisen. Sie möchte die anderen Kinder vor der Hölle bewahren und andere Eltern beschweren sich über sie, weil sie ihren Kindern Angst mache. Gleichzeitig scheint es keine Lehrerin zu geben, die ihr bei dem Versuch, die Welt um sie herum zu verstehen, zur Seite steht.

Einmal kann sie über Wochen hin nichts hören. Ihre Mutter und die Gemeinde deuten das als ein Erfülltsein vom Heiligen Geist. Nur durch Zufall stellt sich dann heraus, dass ihre krankhaft vergrößerten Rachenmandeln, die für die Taubheit verantwortlich sind, operativ entfernt werden müssen.

Dennoch stellt Jeanette über viele Jahre das System, in dem sie aufwächst, nicht grundsätzlich in Frage, ist es doch die einzige Art Zuhause, die sie kennt, die sie für normal hält und in der sie anerkannt ist. Später unterstützt sie die evangelistischen Aktionen der Kirche und beginnt auch selbst erfolgreich zu predigen.

Doch immer wieder blitzt etwas auf, ein Lebenswille, eine Bodenständigkeit, Ehrlichkeit, Neugier und der Wille, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen, die schon früh andeuten, dass Jeanette auf Dauer keinen Platz in dieser engen und oft genug unbarmherzigen Welt finden wird. Als sie sich in ein anderes Mädchen verliebt und im Grunde gar nicht weiß, was da mit ihr geschieht, muss sie sich entscheiden, denn eine gleichgeschlechtliche Liebe kann nach Ansicht der Mutter und des Pfarrers nur direkt aus der Hölle kommen.

Um sich und ihre Geschichte zu verstehen, baut die Ich-Erzählerin immer wieder märchenhafte Szenen ein, die Schlüsselszenen ihres Lebens nachstellen und mit deren Hilfe sie ihre Ängste ausdrückt und weiß, welche Schritte sie als nächstes gehen muss.

Fazit

Das ist ein schmerzhaftes, witziges, trauriges Buch und gleichzeitig ein unpathetischer Lobgesang auf das Leben. Dabei ist unerheblich, wie das genaue Mischungsverhältnis zwischen Realität und Fikion aussieht. So kann man nur über die Dinge schreiben, die man zu einem großen Teil selbst erlebt und erlitten hat.

Was mich an diesem Buch so beeindruckt hat, ist zum einen die Kraft, die Unverstelltheit, mit der hier gesprochen wird. Zwischendurch war es, als ob die Erzählerin in meinem Wohnzimmer sitzt und ihre Geschichte erzählt. Zum anderen das große Herz der Ich-Erzählerin; es handelt sich hier um keine verbitterte Anklage, die oft genug ja nahe gelegen hätte, keine Verurteilung und kein Hass den Klassenkameradinnen, Lehrerinnen oder Gemeindemitgliedern gegenüber (unter denen es durchaus auch wirkliche Freunde gibt, die zu ihr stehen).

What could I do? My needlework teacher suffered from a problem of vision. She recognized things according to expectation and environment. If you were in a particular  place, you expected to see particular things. Sheep and hills, sea and fish; if there was an elephant in the supermarket, she’d either not see it at all, or call it Mrs Jones and talk about fishcakes. But most likely, she’d do what most people do when confronted with something they don’t understand: Panic. (p. 58)

Auch den so schrecklich „strenggläubigen“ Frauen – die Männer spielen in dem Buch so gut wie keine Rolle, man fragt sich öfter, wo verflixt noch mal der Vater steckt – möchte man am liebsten helfen, weil sie wirklich von Herzen davon überzeugt sind, das Richtige zu tun. Und weil sie so grauenhaft blind gegenüber ihren eigenen Ängsten und Sehnsüchten sind. Sie benutzen Religion als Krücke für ihr verkrüppeltes Ich-Bewusstsein, als Opium, als Scheinwelt und Gegenwelt, als Mantel für ihre Ängste, als Machtmittel, als Schild gegen unangenehme Fragen, als Entschuldigung für Härte und Lieblosigkeit. Aber sie können und können es nicht sehen. Eher spüre ich so etwas wie Erschöpfung bei der Erzählerin, letztlich doch den Fängen dieser Prägung entronnen zu sein.

Man ahnt: Wer nach dieser Kindheit nicht gebrochen und zerbrochen ist, wird Stärke gewonnen haben. Sie sagt selbst in dem Interview mit Jennifer Byrne, dass – so seltsam das auch klingt – wahrscheinlich ihre Stiefmutter der Grund ist, weshalb sie Schriftstellerin geworden sei. Sie sei, um nicht kaputtzugehen, gezwungen gewesen, der Dominanz und den Worten dieser Frau etwas Eigenens entgegenzusetzen.

Und die Leser haben keinen Grund, sich selbstgefällig zurückzulehnen, die Frage gilt: Woher wissen wir, dass wahr ist, was wir für unumstößlich wahr halten?

Also sicherlich nicht das letzte Buch, das ich von Jeanette Winterson gelesen habe.

Die beste Interpretation des Buches stammt von der Autorin selbst, veröffentlicht im Vorwort zu der Vintage-Ausgabe von 2001:

Oranges is a threatening novel. It exposes the sanctity of family life as something of a sham; it illustrates by example that what the church calls love is actually psychosis and it dares to suggest that what makes life difficult for homosexuals is not their perversity but other people’s. Worse, it does these things with such humour and lightness that those disposed not to agree find that they do. […] Oranges is a comforting novel. Its heroine is someone on the outside of life. She’s poor, she’s working class but she has to deal with the big questions that cut across class, culture and colour. Everyone, at some time in their life, must choose whether to stay with a ready-made world that may be safe but which is also limiting, or to push forward, often past the frontiers of commonsense, into a personal place, unknown and untried. In Oranges this quest is one of sexuality as well as individuality. Superficially, it seems specific: an evangelical household and a young girl whose world is overturned because she falls in love with another young girl. In fact, Oranges deals absolutely with emotions and confrontations that none of us can avoid. First love, grief, rage, and above all courage, these are the engines that drive the narrative through the peculiar confines of the story. Fiction needs its specifics, its anchors. It needs also to pass beyond them. It needs to be weighed down with characters we can touch and know, it needs also to fly right through them into a larger, universal space. Oranges is comforting not because it offers any easy answers but because it tackles difficult questions. Once you can talk about what troubles you, you are some way towards handling it.

Is Oranges an autobiographical novel? No not at all and yes of course.

Paul Briscoe: My friend the Enemy (2007)

Kristallnacht 9 – 10 November 1938

Die Kindheitserinnerungen von Paul Briscoe, die 2007 erschienen, beginnen mit der Reichspogromnacht im November 1938.

At first, I thought I was dreaming, but then the rhythmic, rumbling roar that had been growing inside my head became too loud to be contained by sleep. I sat up to break its hold, but the noise got louder still. There was something monstrous outside my bedroom window. I was eight years old, and I was afraid.

Der Vater von Paul Briscoe stirbt, als Paul erst drei Jahre alt ist, und seine Mutter, die ihm keine Liebe zeigen kann und ihn eher als Last ansieht, versucht sich mit Sekretärinnenjobs und kleinen Zeitungsartikeln über Wasser zu halten.

Eher zufällig machen Mutter und Sohn 1934 Urlaub in Deutschland. Norah Briscoe verliebt sich in dieses „reizende“ und ordentliche Land und beschließt auf der Stelle, dass all die unschönen Dinge, die in den englischen Zeitungen über Nazi-Deutschland zu lesen sind, nichts als übelste Propaganda sind.

Und selbst ein Verhör bei der Gestapo aufgrund einer Namensverwechslung kommentiert sie später mit den Worten, dass ein Unschuldiger nie etwas von diesen Herren zu befürchten habe. 1935 reist sie mit ihrem Sohn wochenlang durch Deutschland, um Material für ihre Artikel zu finden, und in den Zeiten, in denen sie nach England muss, um Abnehmer für ihre Texte zu suchen, lässt sie ihren kleinen Sohn in der Obhut einer deutschen Familie in Miltenberg/Bayern zurück. Dort findet der kleine Paul zum ersten Mal familiäre Geborgenheit und Liebe.

1936 geht Pauls Traum in Erfüllung. Er soll, weil er ins schulpflichtige Alter kommt, nun dauerhaft in Miltenberg bleiben, während seine Mutter nur alle paar Wochen oder Monate zu Besuch kommt. Er verlernt allmählich seine Muttersprache und nimmt ganz selbstverständlich die Werte seiner Umgebung und seiner Ersatzfamilie an. Und die Kristallnacht, die am Beginn dieser Erinnerungen steht, hat er nicht etwa als Opfer miterlebt, sondern – nach ein bisschen Ermutigung durch die Erwachsenen – als aktiver Täter, der sich, wenn auch nach kurzem Zögern, ob denn nicht etwa ein Erwachsener diesem bösen Treiben ein Ende setzen werde, ebenfalls voller Begeisterung an der Zerstörung der Miltenberger Synagoge beteiligt.

Als der Krieg ausbricht, kann ihn die Mutter nicht mehr rechtzeitig nach Großbritannien holen. Seine deutsche Ersatzfamilie adoptiert ihn, um ihm Ausweisung oder Gefangenschaft zu ersparen. Aus dem kleinen „Paulchen“ wird ein überzeugter Englandhasser und ein glühender Hitlerverehrer. Über seinen Eintritt in die Hitlerjugend schreibt er:

I was the proudest boy alive when I first put on my uniform: black shorts, brown shirt, and a scarf fastened round my neck with a leather knot. I made a solemn oath that dedicated the rest of my life to the Führer: In the presence of this blood banner which represents our Führer, I swear to devote all my energies and my strength to the saviour of our country, Adolf Hitler. I am willing and ready to give up my life for him, so help me God.

I meant it. I would have carved those words in my heart if they had asked me. (S. 106)

Und während Paul sich in Miltenberg pudelwohl fühlt und wohl auch – von einem Lehrertyrannen abgesehen – akzeptiert wird, orientiert sich seine Mutter in England als glühende Hitler-Verehrerin im politischen Spektrum immer weiter rechts, verkehrt in faschistischen und antisemitischen Kreisen und versucht sich sogar als Spionin für Deutschland. Dabei gerät sie ins Visier der britischen Spionageabwehr. Sie wird überwacht und dabei ertappt, wie sie versucht, vertrauliche Unterlagen aus dem Versorgungsministerium nach Deutschland zu schmuggeln. Sie und ihre Freundin entgehen nur knapp dem Todesurteil und sie wird zu fünfjähriger Haft verurteilt, die sie allerdings nicht komplett verbüßen muss.

Paul geht derweil 1939 zum Kommunionsunterricht, um anschließend zum ersten Mal zu beichten und die Erstkommunion zu empfangen:

We were taught about mortal sins, which were so bad that they meant death to our souls and eternal damnation if we died without confessing them. I don’t suppose any of us eight-year-olds had committed any, but just to learn of their existence put the fear of God in us. We were taught about venial sins, which were not deadly in themselves, but which could put us in a state of mind in which committing mortal sins became more likely. We were told about ‚occasions of sin‘ – and how to avoid them. We were told about encouraging others to sin – and how that was a sin, too. We were taught how to make an examination of conscience and made to write out lists of the sins that our eight-year-old consciences informed us that we had committed – and then we had to learn those lists by heart so that we wouldn’t forget anything when the time came to make our first confession. […] When we were not learning what to feel guilty about in our R.E. lessons, we were learning about things to be proud of in the newsreels we watched on Saturday mornings. (S. 90)

Über seine erste Beichte schreibt Briscoe:

God only knows what sins I had committed or confessed to; I certainly can’t remember any of them now. But I do know that there was one thing that I didn’t confess, because nothing I had been taught suggested to me that it might have been sinful. I made no mention of my part in wrecking the Miltenberg synagogue. It didn’t occur to me for a moment that what I had done there was a matter a personal morality. (S. 91)

Das Interessante an dieser Autobiografie ist – neben den Einblicken in die damalige Faschistenszene in England -, wie Briscoe selbst seine Indoktrination erlebt hat. Damit gewinnen seine Kindheitserinnerungen eine gewisse Repräsentativität, obwohl sie von einem Briten stammen. Seine Ersatzfamilie schien eher zu den Mitläufern zu gehören.

I didn’t know I was being indoctrinated. I was ten years old. I wasn’t outraged to discover that the English were robbers and land-grabbers; I just accepted it as a historical fact. My real interest was in getting hold of the pictures I needed to complete my collection. I would have taken almost as much pleasure in cards of film stars. The fact that the Raubstaat England cards showed thrilling scenes of barbarity was a bonus. (S. 108)

Und wie so oft, sind es gerade die „Kleinigkeiten“, die so viel über die Denkweise der Nazis verraten. Bei einem Bombenangriff wird er an der Hand verletzt und bekommt vom Gruppenführer eine HJ-Bronzemedaille verliehen:

He gave a little speech that made it sound as if I had done something heroic, pointing out that if the arm had been amputated, I would have won a silver medal. (S. 158)

Nach Kriegsende lässt ihn seine Mutter gegen seinen Willen und gegen den Willen seiner deutschen Ersatzfamilie zurück nach England holen. Dort muss der junge Mann erst mühsam lernen, sich zu orientieren. Er hat nicht nur seine Muttersprache verlernt und leidet schrecklich an Heimweh, sondern muss auch das, was er nun über den Nationalsozialismus und die Judenvernichtung lernt, mühsam in sein Weltbild integrieren. So erzählt er bei einem Treffen von Exildeutschen in London noch ganz naiv von seiner Bronzemedaille der Hitlerjugend, bis ihn jemand eher mitleidig fragt, ob ihm klar sei, dass alle Anwesenden Juden seien.

Doch Paul geht seinen Weg. Er wird später Lehrer für Holzverarbeitung und Deutsch, gründet eine Familie und hält den Kontakt zu seinen deutschen Freunden. 2010 stirbt er im Alter von 80 Jahren.

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Heinrich Böll: Irisches Tagebuch (1957)

Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte […] hier auf dem Dampfer war England zu Ende: hier roch es schon nach Torf, klang kehliges Keltisch aus Zwischendeck und Bar, hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an: Armut war nicht nur „keine Schande“ mehr, sondern weder Ehre noch Schande: sie war – als Moment gesellschaftlichen Selbstbewußtseins – so belanglos wie Reichtum…

Mit diesem Absatz beginnt das nach wie vor lesenswerte Buch Irisches Tagebuch (1957) von Heinrich Böll.

Zur Entstehung

Böll, der eine besondere Beziehung zu Irland hatte und gemeinsam mit seiner Frau mehrere irische Autoren ins Deutsche übersetzte, hielt sich 1954 mehrere Monate in Irland auf und die daraus resultierenden „Irland-Impressionen“ wurden zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Daraus entstand 1957 das literarisch durchgestaltete „Tagebuch“.

Zum Inhalt

In 18 Kapiteln umkreist Böll verschiedene Themen und Wahrnehmungen, die ihn auf seiner Reise beschäftigen: die Trinkfreudigkeit der Iren, die Armut (viele Kinder laufen auch im Herbst barfuß zur Schule) sowie die damit eng verknüpfte seit jeher enorm hohe Auswanderungszahl. Aber auch die Frömmigkeit (sichtbar z. B. an den Neon-Heiligenscheinen in den vielen Kirchen), den Regen, ein verlassenes Dorf, den Smalltalk und die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen.

Dann wieder geht es um die herbschöne Landschaft, das Prasseln der Torffeuer oder das Warten einer jungen Arztgattin, deren Mann auf halsbrecherischen Küstenstraßen zu einer Hochschwangereren fährt, um ihr bei der Geburt beizustehen. Der werdende Vater wird auch diese Geburt nicht miterleben, da er nur in England genügend Geld für seine Familie verdienen kann. Als Dankeschön wird der Arzt entlohnt wie ein König, und zwar mit dem uralten Kupferkessel der Familie, der angeblich noch von einem Schiff der Armada stammen soll.

Die Grenze zwischen Reisebericht und Fiktion ist also nicht streng gezogen; aber gerade in der fiktiven, bisweilen phantastischen Verlängerung des Tatsächlichen […] erweist sich der Blick des Dichters für die Eigenart des Landes. (Jochen Vogt: Heinrich Böll, Beck, München 1987, S. 59)

Fazit

Das Motto, das Böll dem Buch vorangestellt hat, gilt über 50 Jahre später natürlich erst recht, wenn auch anders als damals:

Es gibt dieses Irland; wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.

Irland hat in den letzten Jahrzehnten rasante und tiefgreifende Veränderungen erlebt, so dass das Buch schon fast dokumentarischen Charakter hat. Aber darüber hinaus ist es wunderschön zu lesen, nur ganz ganz selten rutscht Böll in die sprachliche Kitschkiste, so wenn er z. B. schreibt:

Entjungfert, ihres Siegels beraubt waren die Milchflaschen; grau, leer, schmutzig standen sie vor Türen und auf Fensterbänken, warteten traurig auf den Morgen, an dem sie durch ihre frischen, strahlenden Schwestern ersetzt werden würden, und die Möwen waren nicht weiß genug, das engelhafte Strahlen der unschuldigen Milchflaschen zu ersetzen… (S. 62)

Was so schön ist, das Buch strahlt eine Ruhe, eine Beruhigung aus, die vielleicht daher kommt, dass Böll so genau hingesehen und sich den Menschen und Eindrücken geöffnet hat, die ihm unterwegs begegnet sind. Diese Augen und Ohren und diese Nachdenklichkeit wünscht man sich als Reisender. Und natürlich liest man es unterschwellig als Vergleich und Kommentar zum Nachkriegsdeutschland.

Nach wie vor gilt:

‚Als Gott die Zeit machte‘, sagen die Iren, ‚hat er genug davon gemacht.‘ Zweifellos ist dieses Wort so zutreffend wie des Nachdenkens wert: stellt man sich die Zeit als einen Stoff vor, der uns zur Verfügung steht, um unsere Angelegenheiten dieser Erde zu erledigen, so steht uns zweifellos genug davon zur Verfügung, denn immer ist ‚Zeit gelassen‘. Wer keine Zeit hat, ist ein Ungeheuer, eine Mißgeburt… (S. 70/71)

Schade nur, dass über die konkreten Hintergründe und Gastgeber der Reise so wenig gesagt wird.

Anmerkung

Abschließend sei Zuckmayer zitiert, der ebenfalls dem Charme dieses Buches erlegen war:

Das Irische Tagebuch – da ist alles locker und frei, auch das Beiläufige und nebenher Erzählte groß angelegt und wunderbar gesagt, Landschaft, Verhältnisse, Menschen, wenn auch nur wie mit einer Fahrradlampe kurz angeschnitten, gewinnen Kontur, prägen sich ein, nie wird eine verstimmende Absicht fühlbar, so stark und eindringlich auch das Denken und Empfinden des Mannes hervortritt, der hier seine Notizen poetisch zusammenfaßt und damit eine Welt und seine Persönlichkeit projiziert, man wird in diese Welt mitgenommen, man war weit weg, von Deutschland, von Europa, von der Aufdringlichkeit unserer Gegenwart, man hat eine lange, wunderliche Reise getan und merkt am Ende, daß man – heimlich geleitet – genau bei sich selbst angekommen ist, bei dem, was man ist oder sein sollte, was man am Leben liebt, worum man bangt und fürchtet, worauf man hofft, woran man glauben darf. Ich halte dieses Buch für eines der schönsten und wertvollsten, die in den letzten fünfzig Jahren geschrieben worden sind. (Carl Zuckmayer: Gerechtigkeit durch Liebe, in: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): In Sachen Böll: Ansichten und Einsichten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1968, S. 52)

Ursula Priess: Sturz durch alle Spiegel (2009)

Der Frisch also, der ist Ihr Vater!?

Sie erschrak – daß er nicht Max Frisch sagte, auch nicht Herr Frisch, und vor allem: in welchem Ton er es sagte! Aber auch er schien erschrocken. Sie schaute weg.

So beginnt die „Bestandsaufnahme“ von Ursula Priess (geboren 1943) über ihre schwierige, in weiten Teilen gescheiterte Beziehung zu ihrem berühmten Vater Max Frisch.

Wir haben hier ein Mosaik aus Erinnerungen und Reflexionen, das nicht chronologisch aufgebaut ist, sich aber an der Schilderung entlanghangelt, wie sie in Venedig einen Mann wiedertrifft, mit dem sie schon den ganzen Sommer telefoniert hat. Sie findet ihn attraktiv, doch ist diese Beziehung zum Scheitern verurteilt. Er ist wohl der Mann, der ihren Vater vor vielen Jahren zu schier unglaublicher Eifersucht angestachelt hatte, da die beiden Männer zeitgleich Ingeborg Bachmann kannten, mit der Max Frisch vier Jahre lang zusammen war.

Das Buch wird von manchen Kritikern als eine Liebeserklärung an ihren verstorbenen Vater gesehen, zu der es während seines Lebens nicht kommen konnte, in einer Sprache, die zwar an der Genauigkeit ihres Vaters geschult zu sein scheint, doch letztlich ihren Anspruch nicht einlösen kann. Selbst der Titel ist ein Zitat aus dem Roman ihres Vaters Mein Name sei Gantenbein.

Da Frisch mit seinem Schreiben sehr viele Menschen verletzt hat, indem er sie immer mit dem Blick auf literarische Verwertbarkeit betrachtet und auch verwendet hat, war es für Priess völlig klar, dass sie das nicht tun und auf Diskretion achten würde:

Vor den Toten verneige ich mich. Sie haben geschafft, was uns noch bevorsteht: ihren Tod. Ihre Namen nenne ich, staunend vor dem Unfaßlichen des Lebens mit all seinen Verwirrungen und Verhängnissen und mit manchmal ein bißchen Glück.

Schreiben jedoch über Lebende – niemals! Von Anfang an stand fest, daß ich es nicht tun werde. Und schon gar nicht mit Namen. Und Episoden mit dieser oder jener Person nur, wenn sie ausschließlich auf mich in meinem Verhältnis zum Vater hinweisen. Mir ist bewußt, daß diese ‚Zensur‘ vieles verschweigt und unterdrückt, möglicherweise auch verzerrt, aber weiterhin soll der bekannte Satz gelten: Ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches Material. (S. 170 der Taschenbuchausgabe)

Abgesehen davon, dass ich die ersten beiden Sätze verschwiemelt ohne Ende finde: Priess versucht die Quadratur des Kreises: eine Beziehungsanalyse, ein Erinnerungsbuch, das völlig losgelöst sein soll von anderen Menschen. Wie soll man seine Vaterbeziehung betrachten, ohne dabei die Mutter, die Geschwister, die eigenen Kinder etc. in den Blick zu nehmen? Wie will man eine Beziehung in Buchform betrachten und dabei letztlich nichts verraten, weil man so diskret sein möchte?

In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger (18. März 2010) warnt sie sogar davor, die Erzählerin zu rasch mit der Autorin gleichzusetzen:

Vorsicht. Es gibt zwar eine Nähe zwischen der Autorin und der Protagonistin des Buches, aber sind sie auch deckungsgleich? Tatsächlich gab es ein Ereignis, das es für mich notwendig machte, mich meiner Geschichte mit meinem Vater zu stellen. Aber darauf möchte ich nicht näher eingehen. Im Buch sagt die Person, die «Ich» sagt, ausdrücklich: Denk dir aus, wie es hätte sein können. Es bleibt also offen, ob es wirklich so gewesen war, und ich möchte es auch hier offenlassen.

Ja, was will sie denn nun? Und wenn sie sich wirklich mehrmals in ihrem Leben in Männer verliebt haben sollte, die in einer wie auch immer gearteten Beziehung zu ihrem Vater standen, dann hat sie doch wohl ein größeres Problem gehabt, das aber auch nur sehr von fern geahnt werden darf.

Auf dem Buchrücken ist ein Zitat Richard Kämmerlings aus der FAZ abgedruckt:

Ein schmales, aber hochverdichtetes Erinnerungsbuch – das bewegende Dokument einer schonungslosen Selbstanalyse. Die Autorin hat ein Buch geschrieben, das neben dem Werk von Max Frisch bestehen wird.

Nun, er hat auf der Buchmesse 2009 ein Podiumsgespräch mit ihr geführt, da darf man wohl eine positive Grundstimmung des Rezensenten erwarten.

Mir hat’s nicht gefallen, denn im Grunde steht nix drin. Ich halte mich da eher an Andreas Isenschmid,  der äußert sich in seiner Rezension „Vermurkste Bestandsaufnahme“ am  7. Juni 2009 in der Neuen Zürcher Zeitung ziemlich ungehalten:

Warum nur musste Priess, um gegenüber ihrem Vater eine eigene Stimme zu finden, just die ihres Vaters imitieren? Zumal ihr das im Wesentlichen gerade nicht gelingt. [..] und ihre Neigung zu pathetisch-banaler Schicksals- und Verstrickungsschwafelei [ist] beträchtlich. […] Bisweilen ist keine Assoziation zu abstrus: Wenn ein Bekannter an ihrem Schal versehentlich ein Wappen zu sehen meint, dann blickt aus ihm der böse Max: «Durch ihn schaust du auf mich, oder eigentlich durchs Bild, das Max noch nicht einmal von mir, sondern von meiner Mutter fabriziert hat.» Willkommen im Reich der rasenden Projektion!

Roman Bucheli äußert sich am 6. Juni 2009 – ebenfalls in der Neuen Zürcher Zeitung – ähnlich:

Wo es zur Sache ginge, da flüchtet sich die Autorin ins Vernebelte und Vage, versteckt sich hinter verschwiemelten Andeutungen («nichts ist geschehen oder alles», schreibt sie über eine Nacht, als sie einmal im Arm des betrunkenen Vaters schlief) oder verschleiert, was sie doch eigentlich aus dem Dunkel der Ahnungen befreien möchte. – […]

Das finde ich auch. Sie löst ihren eigenen Anspruch nicht ein:

Kaufe mir stattdessen ein großes grünes Heft. Um darin zu notieren und festzuhalten, wie es ist, heute und in Zukunft; damit ich mich vergewissere.

  • Damit mir nichts abhanden kommt.
  • Damit ich mich keiner Täuschung hingebe.
  • Damit ich Bescheid weiß.

Ach, wenn ich doch jemals Bescheid wüßte! (S. 113)

Ein Buch wie von einem Mädchen, das doch noch hofft, seinen strengen Vater zu beeindrucken. Und sicherlich war das Schreiben des Buches wesentlich für die Autorin, aber für mich als Leserin bleibt unterm Strich nichts von Belang.

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Clärenore Stinnes: Im Auto durch zwei Welten: Die erste Autofahrt einer Frau um die Welt 1927 bis 1929 (2007)

Soweit ich in meine Kindheitstage zurückblicken kann, war ich nie frei von dem Wunsch nach Abenteuern. In mir lag das Drängen nach dem großen Unbekannten, dem man in den unendlichen Steppen, in den schneeverwehten Urwäldern und in der hehren Einsamkeit der Berge näher zu sein glaubt. Trotz aller Mühe, die meine Mutter anwandte, um in mir die Liebe zu fraulichen Arbeiten zu wecken, überwog doch immer der Wunsch nach anderen Dingen. Sollte ich ihr bei der Näharbeit oder beim Strümpfestopfen helfen, so suchte ich nach allen möglichen Ausflüchten, um dem zu entgehen. Mich lockte es viel mehr, im Pferdestall die Geschichten unseres Kutschers Friedrich aus seiner Militärzeit zu hören, wobei er mir erlaubte, mich auf eines der Pferde zu setzen; oder ich saß vertieft in die Bücher germanischer Heldensagen, Indianer- und Abenteuergeschichten.

So beginnt Im Auto durch zwei Welten: Die erste Autofahrt einer Frau um die Welt 1927 bis 1929 (2007) von Clärenore Stinnes, erschienen 2007.

Schon spannend und irrwitzig, was die Industriellentochter und Rennfahrerin Clärenore Stinnes (1901-1990) sich da in den Kopf gesetzt und mit ihren Gefährten durchgezogen hat. Ursprünglich wurde sie bei ihrem Unterfangen, der erste Mensch zu sein, der mit einem Auto die Erde umrundet, von zwei Mechanikern und dem schwedischen Fotografen Söderström und wechselnden Botschaftsangehörigen und Übersetzern begleitet. Doch bis auf Söderström springen nach und nach alle von dem wahnwitzigen Unternehmen ab.

Mehr als einmal kam es zu lebensgefährlichen Manövern in straßenlosen Gegenden, wo nur enorm hilfsbereite Einheimische und Ochsenkraft die zwei Wagen noch vom Fleck bekamen. Einmal sind sie nur knapp dem Verdursten entkommen.

Fazit

Ein bisschen koloniale Selbstherrlichkeit kann man schon heraushören, was manchmal die Lesefreude etwas trübt: Irgendwo in Südamerika schreibt Söderström in seinem Tagebuch:

Dort hatten wir das große Glück, einen Amerikaner zu treffen, der schon acht Jahre im Land lebte. Er wusste genau, wie man die lokale Bevölkerung behandeln muss, um etwas bei ihr zu erreichen. Zwei Priester waren auf der Durchreise in der kleinen Niederlassung  und veranstalteten an diesem Tag ein Kirchenfest. An sie wandte sich mit Erfolg unser neuer Freund. Nach der Prozession hielten sie eine Rede an die Bauern und ermahnten sie, dass es Christenpflicht sei, uns den halben Weg bis Caraveli zu helfen. 22 Mann wurden ausgewählt und unter das Kommando von Don Calixto Velarde gestellt. Dazu kamen sieben Esel für unser Gepäck, für Wasser und Proviant, da wir jede unnötige Belastung des Autos vermeiden wollten. (S. 188)

Ich war dann allerdings ganz angetan von der Reaktion der Einheimischen, ihre „Arbeitsmoral“ sank innerhalb eines Tages um 90 Prozent und dann haben sie sich einfach aus dem Staub gemacht. Richtig so.

Stinnes ist sicherlich keine herausragende Reiseschriftstellerin, aber flott und interessant las sich das durchaus.

Wenig überraschend, dass sich Söderström nach den zwei gemeinsamen Reisejahren von seiner Frau hat scheiden lassen und dann mit Clärenore in Schweden glücklich geworden ist.

Anmerkung

Hier geht’s lang zu einem Bericht auf SPIEGEL ONLINE. Dort gibt es auch einige Fotos.

Gilbert Keith Chesterton: Autobiography (1936)

Bowing down in blind credulity, as is my custom, before mere authority and the tradition of the elders, superstitiously swallowing a story I could not test at the time by experiment or private judgement, I am firmly of opinion that I was born on the 29th of May, 1874, on Campden Hill, Kensington…

Mit diesem herrlich ironischen Satz, mit dem er quasi im Vorübergehen die Kritik an seiner Bekehrung zum Katholizismus verulkt, beginnt Gilbert Keith Chesterton, der Schöpfer der bekannten Pater Brown-Geschichten, seine sogenannte Autobiografie. Allerdings, was für eine Enttäuschung, falls man das Buch gekauft hat, um tatsächlich etwas über Chesterton zu erfahren.

Diese Erinnerungen enthalten zwar pointierte und nach wie vor gültige Sätze, gleichzeitig mäandern sie etwas ziellos vor sich hin.

… education, that is, the period during which I was being instructed by somebody I did not know, about something I did not want to know. (S. 61)

oder

… the curious fact that for some reason or other, a boy often does pass, from an early stage when he wants to know nearly everything, to a later stage when he wants to know next to nothing. (S. 62).

Viele seiner Beobachtungen sind nach wie vor unterhaltsam und treffend, aber der Antisemitismus, den er offiziell weit von sich weist, ist doch spürbar. Seine politische Erweckung während der britisch-holländischen Burenkriege anlässlich der Jubeleien zum Jameson raid bringt ihn zu der Erkenntnis:

To us it seemed obvious that Patriotism and Imperialism were not only not the same thing, but very nearly opposite things. (S. 131)

Die Hinwendung zum Katholizismus führt er u. a. auf die Deterministen und die Notwendigkeit der Beichte zurück:

It was the Determinist who told me, at the top of his voice, that I could not be responsible at all. And as I rather like being treated as a responsible being, and not as a luncatic let out for the day, I began to look around for some spiritual  asylum that was not merely a luncatic asylum. (S. 177).

Das letzte Kapitel über Pater Brown und seine eigene Hinwendung zum Christentum war dann wieder sehr interessant.

Selbst Randall Paine muss in seiner Einführung zugeben, dass diese Autobiografie durch das Fehlen des Autobiografischen gekennzeichnet ist. Er führt das auf Chestertons Demut zurück:

Yes, this book really is about G. K Chesterton – and the most central fact about G. K Chesterton is a fact that is beyond him.

Ansonsten empfiehlt er, falls der Leser tatsächlich etwas über Chesterton erfahren wolle, doch das Buch von Maisie Ward zu lesen. Nun, die Empfehlung ist vielleicht zu überdenken, erschien Wards Werk schon in den vierziger Jahren.

Zum Abschluss seit noch die hübsche Empfehlung Chestertons zitiert, wie man als Journalist erfolgreich sein könne:

I have a notion that the real advice I could give to a young journalist, now that I am myself an old journalist, is simply this: to write an article for the Sporting Times and another for the Church Times, and put them into the wrong envelopes. (S. 179)

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Martin Doerry: Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944 (2002)

Martin Doerry – langjähriger ehemaliger Chefredakteur des Spiegel – war die treibende Kraft bei der Veröffentlichung des bewegenden Briefwechsels zwischen seiner Großmutter, der jüdischen Ärztin Lilli Jahn (1900 – 1944) und ihren Kindern. Diese Briefe wurden erst 1998 im Nachlass seines Onkels, des ehemaligen Bundesjustizministers Gerhard Jahn, entdeckt. Er stammt vor allem aus der Zeit, als Lilli Jahn in dem Arbeitserziehungslager Breitenau nahe Kassel interniert war und ihre fünf Kinder nahezu auf sich alleine gestellt waren. Doerry veröffentlichte – auch wenn das familiär sehr kontrovers diskutiert wurde und seelische Belastungen für die Kinder Lilli Jahns bedeutete – 2002 eine Auswahl der Briefe als Buch unter dem Titel „Mein verwundetes Herz – das Leben der Lilli Jahn“.  2018 veröffentlichte der Penguin Verlag eine Neuauflage.

Zu Recht. Heute gelten die Briefe, auch international, als wichtiges, eindrückliches und bewegendes Dokument.

Der Mann Lillis war „Arier“ und trennte sich ganz opportunistisch von seiner jüdischen Frau und versagte ihr damit den einzigen denkbaren Schutz vor der Verfolgung.

Diese Briefe machen aus einer anonymen Zahl von nicht zu zählenden Ermordeten eine Person, einen einzelnen und unverwechselbaren Menschen, eine Mutter, die ihre Kinder nicht mehr sehen wird. Die Lektüre ist – wie könnte es anders sein – schmerzhaft.

Am 25. November 1943 schreibt die älteste Tochter Ilse an ihre inhaftierte Mutter das Aufsatzthema, das sie in der Schule zu bearbeiten hatte: „Was bedeuten dir die Umgangsformen.“

Was kann man da noch zu sagen?