Bernadette Conrad: Die vielen Leben der Paula Fox (2011)

Mir geht es wie Magda, die in ihrem letzten Newsletter schrieb:

Mich fasziniert die Frage, wie Leser*innen ihre Lektüren auswählen, wie sie auf bestimmte Bücher kommen, welche manchmal sehr einleuchtenden, manchmal aber auch total überraschenden Assoziationsketten sie von Autor A zu Autorin B und von einem kanonisierten Kultklassiker zu obskuren, längst vergessenen literarischen Schätzen bringen…

Ausnahmsweise kann ich diesmal meine Assoziationskette ganz genau auffädeln:

Ich sah eine der Folgen des Literaturclubs mit Usama Al Shahmani, also las ich In der Fremde sprechen die Bäume arabisch. Das war so toll, also musste ein weiteres Buch des Autors her: Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister. Dieser Band entstand in Zusammenarbeit mit Bernadette Conrad, deren Anteil am Buch ich vernachlässigt habe, ging es mir doch vorrangig um Al Shahmani.

Dennoch nahm ich ich dabei natürlich zur Kenntnis, dass Conrad eine Biografie zu der amerikanischen Schriftstellerin Paula Fox (1923 – 2017) geschrieben hat, von der ich vor Jahrzehnten zwei Bücher gelesen hatte. Also gut, dann les ich eben diese Biografie und damit wären wir bei Die vielen Leben der Paula Fox (2011) von Bernadette Conrad.

Judith Hermann spricht im Klappentext davon, dass Conrad das Leben der amerikanischen Schriftstellerin mit „großer Zärtlichkeit und Intuition“ erzähle. Mir war die Biografie, bei der uns Conrad auch nicht vorenthält, wo sie während der Recherche wohnt, wo sie sich verlaufen und was sie wo gegesessen hat, allerdings ein wenig zu gefühlig.

Ich hatte sie mir strenger vorgestellt, reservierter – und schaue nun in ein Gesicht, das – auch ernst – von innen beleuchtet scheint. (S. 14)

Conrad reist den einzelnen Lebensstationen und Wohnorten der Paula Fox mit der Andacht einer Pilgerin nach, das ist für einen Fan der Schriftstellerin, wie es Conrad ist, sicherlich reizvoll, der Erkenntnisgewinn für mich als Leserin war dabei manchmal begrenzt. Auch findet sich in dem ganzen Buch kein einziger kritischer Satz, auch nicht von Freunden oder Familienmitgliedern. Doch ein Ansporn, endlich mal wieder die Bücher von Fox aus dem Regal zu nehmen, ist die Biografie allemal.

Paula Fox (1923 – 2017) gilt vielen als eine writer‘s writer, also als eine Schriftstellerin, die von Schriftsteller*innen geschätzt und gelesen wird, aber in der allgemeinen Wahrnehmung immer wieder unter den Radar fällt und nie auf irgendwelchen Bestsellerlisten zu finden sein wird. Dabei war sie auch eine sehr erfolgreiche und preisgekrönte Autorin von 23 Kinder- und Jugendbüchern. Ihre erste erfolgreiche Zeit war Anfang der Siebziger.

Bernadette Conrad trifft die von ihr verehrte Autorin das erste Mal persönlich im Jahre 2005 in deren Haus in Brooklyn, New York, um ein Zeitungsporträt über sie zu schreiben. Dabei entsteht irgendwann die Idee zu einem Buch und über mehrere Jahre besucht Conrad die alte Dame und ihren Ehemann Martin Greenberg in New York.

Conrads Ausgangsfrage für ihre Spurensuche lautet:

Und wie konnte es überhaupt sein, dass ein Mensch, der so früh von seinen Wurzeln abgeschnitten, ‚herausgeschnitten‘, wird aus dem, was der Zusammenhang seines Lebens hätte werden können – dass so ein Mensch schreibend, erzählend auf außergewöhnliche Weise verbindenden und zusammenhangstiftend werden konnte? (S. 12)

Nun werde ich hier die Lebensstationen von Paula Fox nicht im Detail nacherzählen, doch welche Eindrücke bleiben nach der Lektüre? Ein interessanter, nicht ungefährdeter Lebensweg, ein Aufstieg vom vernachlässigten Mädchen, mit häufigen Orts- und Wohnungswechseln und vielen verschiedenen Jobs, u. a. als Model, Lehrerin oder Journalistin, zur anerkannten Autorin.

Irgendwann ein inneres und äußeres Ankommen, das erste Buch entstand in ihren Vierzigern, später die Reise nach Jerusalem im Jahr 1996, auf der sie von einem Räuber niedergeschlagen wird, Hirnblutung, sie fällt ins Koma. Als sie langsam wieder gesundet, weiß sie, dass sie nie wieder so wird schreiben können wie zuvor. Sie hat ihre Fähigkeit, Geschichten zu erfinden, durch die Gehirnverletztung unwiderbringlich verloren. Danach entstehen ihre autobiografischen Werke.

Wer bisher dachte, er habe eine suboptimale Beziehung zur eigenen Mutter, wird das nach dieser Biografie vermutlich relativieren. Eine solche Bösartigkeit wie bei der Mutter von Paula Fox ist mir auch in der Literatur nur selten untergekommen. Die jungen Eltern der kleinen Paula geben ihr Kind wenige Tage nach der Geburt ins Findelheim. Paula wird von einem netten, liebevollen Pfarrer in Pflege genommen, bei dem sie bis zu ihrem 6. Lebensjahr sehr glücklich ist. Das Drama ist allerdings, dass ihre leibliche Familie sie aus dieser Pflege wieder herausholt und sich dann doch nicht um sie kümmert, sie zeitweise verwahrlosen lässt oder in der Obhut von Dienstboten „vergisst“. Dabei wird dem Kind gerade von Seiten der Mutter ein geradezu pathologischer Hass entgegengebracht. Als Paula dann selbst als junge Frau von einem Bekannten ungewollt schwanger wird, reagiert ihre Mutter Elsie bloß „unüberbietbar grausam“ mit der Frage:

‘Is is your father‘s? (S. 146)

Auch Paula Fox gibt ihr erstes Kind, Baby Linda, nach der Geburt zur Adoption frei. Zwar will sie diesen Entschluss zehn Tage später rückgängig machen, doch ihr Arzt, der mit den geplanten Stiefeltern befreundet ist, lügt sie an und behauptet, die Frist für einen Widerruf sei bereits verstrichen. Erst 49 Jahre später wird sie ihre leibliche Tochter Linda kennenlernen. Linda wiederum wird später die Mutter von Courtney Love.

Schließlich noch das wache Mitererleben ihrer „Wiederentdeckung“, nachdem Jonathan Franzens Essay Why bother? – später bekannt geworden unter dem Titel Harper’s Essay – im Jahr 1996 das Interesse eines jungen Verlagslektors an der Autorin geweckt  hatte. 1999 erscheint die Neuauflage von Desperate Characters mit einer Einleitung von Jonathan Franzen:

Es erschien mir so offensichtlich besser als jeder Roman ihrer Zeitgenossen John Updike, Philp Roth und Saul Bellow. […] Es erschien mir ein unabweisbar großes Buch. (S. 302)

Jonatham Lethem, David Foster Wallace und Jeffrey Eugenides outen sich als Fans. Ein Rezensent beim New Yorker Magazine ist begeistert. Eine Lawine kommt ins Rollen.

Meine Lieblingsstelle findet sich ganz am Anfang, als Conrad Paula Fox und ihren Mann Martin Greenberg fragt, ob sie ein Foto von den beiden machen dürfe.

Paula Fox setzt sich aufs Sofa. ‚Setzt du dich neben mich?‘ ‚Ich habe mich immer gern neben dich gesetzt‘, sagt er, das klingt kein bisschen routiniert und auch nicht galant. Sondern einfach entschieden zärtlich. (S. 17)

Hier noch eine Liste weiterer writer‘s writers, auf dass uns die Ideen für unsere Wunschlisten nicht ausgehen.

Und hier geht es lang zu einem langen Interview mit Paula Fox.

Tom Hiney: Raymond Chandler. A Biography (1997)

Nachdem ich Farewell, my Lovely (1940), den zweiten Roman um den einsamen, trinkfesten und zynischen Privatdetektiv Philip Marlowe von Raymond Chandler (1888 – 1959) gelesen hatte, war klar, dass ich in den nächsten Wochen auch die anderen Marlowe-Krimis wiederlesen muss. Doch heute soll es um Tom Hineys Biografie zu diesem großen Kriminalschriftsteller gehen. 

Hiney liefert mit den ca. 300 Seiten seiner Chandler-Biografie einen knackigen und informativen Abriss, bei dem sich der Biograph nicht in den Vordergrund drängelt, bietet doch schon das Leben Chandlers genügend Stoff für mehrere Romane:

Chandler wird 1888 in Amerika geboren, sein Vater ist Alkoholiker, der die Familie früh verlässt. Als Siebenjähriger kehrt er mit seiner mittellosen Mutter zurück in deren Heimat nach Ireland. Verwandte unterstützen sie und ein Onkel finanziert, wenn auch nur mäßig begeistert, schließlich den Besuch der Privatschule Dulwich College in London, deren Direktor A. H. Gilkes einen unauslöschlichen Eindruck auf seine Schüler hinterlässt.

Gilkes‘ relentless sense of integrity could at times be excessive. P. G. Wodehouse, who left Dulwich in the year of Chandler‘s arrival, remembered the Master as the sort of man who would approach him after a good cricket performance and say ‚Fine innings, Wodehouse, but remember we all die in the end.‘ (S. 14)

Ein Studium mag der Onkel dem begabten Neffen dann doch nicht finanzieren. Allerdings unterstützt er längere Auslandsaufenthalte in Deutschland und Frankreich, sodass Raymond beide Sprachen lernt. Das wiederum hilft ihm, neben der Tatsache, dass er die britische Staatsangehörigkeit angenommen hat, 1907 den Einstellungstest für den öffentlichen Dienst als Drittbester von mehreren hundert Kandidaten zu bestehen. Doch in seiner ersten Stelle im Marineministerium hält Chandler es nur ein paar Monate aus; statt solider Tätigkeit im Staatsdienst folgt eine Phase verschiedenster Jobs, z. B. als Journalist, er mag sich nicht unterordnen und langweilt sich schnell. Vergeblich hofft er, als Dichter Anerkennung zu finden. 

Chandler‘s early poetry, with few exceptions, is most remarkable for the fact that he managed to have it published – for payment – in reputable magazines. (S. 25)

Sein Onkel, der ihm unmissverständlich klargemacht hat, dass es nun Chandlers Aufgabe sei, sich auch finanziell um seine Mutter Florence zu kümmern, borgt ihm ein letztes Mal Geld und so reist der 24-jährige Chandler 1912 nach Amerika. Während der Schiffsreise lernt er eine der reichsten Familien Los Angeles kennen, was ihm zu weiteren Kontakten und einer kulturellen Anlaufstelle für seine Freizeit verhelfen sollte. Schließlich lässt er seine Mutter nach San Francisco nachkommen, jobbt in allen möglichen Bereichen, belegt erfolgreich einen Kurs in Buchhaltung und arbeitet längere Zeit in der Buchhaltung einer Molkerei. 1913 dann der Umzug nach Los Angeles.

1917 meldet er sich zur Armee und kämpft während des Ersten Weltkrieges auf kanadischer Seite in Europa. Er erlebt, wie er als einziger aus seiner Einheit einen Angriff der Deutschen überlebt. Später wird er sich nur ganz selten zu seinen Kriegserinnerungen äußern. Nach Kriegsende beginnt er eine Affäre mit der 18 Jahre älteren Pearl Eugenie Pascal, die er immer nur Cissy nannte und die sich ihm gegenüber lange 10 Jahre jünger ausgegeben hat, als sie tatsächlich war. Cissy lässt sich für ihn von ihrem zweiten Ehemann scheiden, doch erst als Chandlers Mutter gestorben ist, ist der Weg für die Eheschließung 1924 frei. Die beiden bleiben bis zu Cissys Tod zusammen, sie war sein Halt, sein Idol, selbst seine Affären und sein Alkoholismus, dem Chandler immer nur phasenweise abschwor, haben daran nichts geändert. 

Ab 1922 arbeitet er sich in der rasch florierenden Ölfirma Dabney Oil Syndicate hoch und fängt an, richtig viel Geld zu verdienen. Ab den späten zwanziger Jahren läuft seine Trinkerei völlig aus dem Ruder. Er zieht in ein Hotel, da Cissy seine Affären und seine Sauferei nicht mehr erträgt. Wiederholt droht er mit Selbstmord oder verschwindet mit einer der Sekretärinnen von Dabney‘s übers Wochenende. Danach sind die beiden so durch den Wind, dass schließlich keiner von ihnen vor Mittwoch an der Arbeit erscheint. Er hat die ersten Blackouts und Gedächtnisausfälle.

Though Chandler made scant direct record of, or reference to, these lost years, it was a period in his life on which, in his later books, he would draw more heavily than any other. The age and circumstances of his fictional character, Philip Marlowe, would be very similar to those of Chandler during the last four years of his oil career. Both men were lonely drinkers working in Los Angeles. Both were good at jobs which they found distasteful and both, to some extent, were addicted to physical danger. The unique atmosphere of early 1930s Los Angeles would also figure more strongly in Chandler‘s fiction than that of any other period, for his own instability around 1930 was mirrored by the situation in which LA found itself following the Wall Street Crash of 1929. (S. 64)

Schließlich machen ihn sein ständiges Betrunkensein am Arbeitsplatz und seine daraus entstehenden Fehlzeiten für Dabney untragbar. 1932 wird er gefeuert. Mit seinen Ersparnissen kann er sich und Cissy eine Weile finanziell über Wasser halten, was hilfreich ist, denn ehemalige Freunde hat er mit seinem Verhalten längst vergrault und weder Verwandte noch eine Rückkehr nach Irland sind eine Option.

Nun kommt er – er ist inzwischen gründlich ausgenüchtert – auf die ja nicht unbedingt naheliegende Idee, sein Geld mit kurzen Geschichten verdienen zu wollen, die in preiswerten, auf raschen Konsum ausgerichteten sogenannten Pulp Magazinen veröffentlicht wurden. Das konnten Horror- und Abenteuergeschichten sein, Western oder eben auch Kriminalgeschichten. Diese erschienen ihm – trotz manche Plumpheiten – ehrlicher, aufrichtiger und besser zur Gegenwart passend als die traditionellen britischen Krimis.

Chandler […] was also genuinely intrigued by detective fiction and the likes of Dashiell hammett and Gardner. American crime fiction had, since the 1920s, been throwing off the polite shackles of the genre‘s English originators. The result was a tough, ‚hard-boiled‘ and instantly popular new sub-genre. It was also a sub-genre that had found, in Black Mask, both a new platform and a mass market. (S. 75)

Sein neues berufliches Ziel geht Chandler methodisch an; er besucht einen Kurs zum Schreiben von Kurzgeschichten, kauft Bücher dazu und analysiert die Geschichten, die in Pulp Magazinen veröffentlicht wurden, z. B. von Erle Stanley Gardner, dem Erfinder von Perry Mason. Doch Chandler feilt von Anfang an länger an seinen Texten, achtet mehr auf die Sprache als seine Kollegen, dafür weniger auf den Plot. 1933 wird seine erste Geschichte Blackmailers don‘t shoot in Black Mask veröffentlicht, an der er fünf Monate gearbeitet hat.

Dennoch ist das Ergebnis zunächst ernüchternd. 

It is possible to read the story half a dozen times without understanding what has taken place. This was partly arrogance on Chandler‘s part – his refusal to map out plots was largely because he considered them to be superfluous to the new realistic spirit of detective fiction. […] The plot proved to be a mess, and he was not yet sufficiently good a writer to create characters convincing enough to compensate for this. (S. 81)

Rückblickend sagt er über sein Schreiben, dass er am Anfang kaum in der Lage gewesen sei, einem Protagonisten glaubwürdig den Hut abzusetzen, ja, es habe zwei drei Jahre gedauert, bis er jemanden vernünftig einen Raum habe verlassen lassen können, und noch viel länger, bis er es geschafft habe, eine Szene mit mehreren Figuren im Griff zu behalten.

Writing was, none the less, a form of discipline that the reforming alcoholic enjoyed. Chandler grew fascinated by the mechanics of fiction, and even experimented with the physical process of typing… (S. 72)

Sein Leben lang wird er schmale, gelbe Papierstreifen in seine Schreibmaschine einsetzen, auf denen er nur 12 bis 15 Zeilen tippen kann. 

It was a trick, he discovered, which forced him to put ‚a bit of magic‘ on to each small sheet; be it an image, description or wisecrack. (S. 72)

Irgendwann ist er das Zugpferd des Black Mask Magazine, das sich immer stärker auf Detektiv- und Kriminalgeschichten konzentriert. Doch richtig viel Geld läßt sich für Chandler nicht damit verdienen. Seine finanziellen Umstände sind lange ausgesprochen drückend, weil er einfach nicht schnell genug Geschichten nachliefert. Er schreibt mehrere Monate an einem Text, während andere ihre Geschichten zum Teil in nur wenigen Tagen runterschreiben. Auch als er für mehrere Magazine schreibt, die zum Teil wesentlich besser als Black Mask bezahlen, verdient er nicht wirklich gut.

Doch 1938 wendet sich das Blatt. Ein New Yorker Literaturagent zeigt dem Verlagshaus Alfred Knopf einige Geschichten von Chandler. (Hier wird leider die Rolle von Blanche Knopf wieder völlig ignoriert). Jedenfalls teilt Knopf mit, dass er Interesse daran habe, einen Roman von Chandler zu lesen.

Und so erscheint 1939 sein erster Roman The Big Sleep. Wie bei fast allen seinen Kriminalromanen hat er darin mehrere seiner alten Geschichten aus dem Black Mask Magazine recycelt. Doch der Erfolg, auf den Knopf und Chandler gehofft hatten, stellt sich nicht ein. Erst kurz vor der Veröffentlichung des vierten Marlowe-Romans Lady in the Lake 1943 erlaubt Knopf eher resigniert auch Abdrucke in Pulp Magazinen und eine Taschenbuchausgabe. Doch nun passiert, womit keiner mehr gerechnet hat. Alle Marlowe-Bücher verkaufen sich wie geschnitten Brot, selbst die Hardcover-Ausgaben sind auf einmal erfolgreich. Das Problem dabei, Chandler fängt wieder an sich zu langweilen und weiß nicht recht, was er in Zukunft tun will. 

Da kommt im Mai 1943 ein Anruf der Paramount Studios. Sie bieten ihm an, zusammen mit Billy Wilder das Drehbuch für die Verfilmung von Double Indemnity nach der Romanvorlage von James M. Cain zu schreiben. Chandler sagt zu.

Just as he had done with the oil business in the 1920s, Chandler was about to enter a booming American industry at the optimum moment. The post-Depression, pre-television 1940s would turn out to be one of Holywood‘s greatest (and richest) decades. This had much to do with the continuing war, which was providing the American movie industry with a captive market, both at home and abroad. (S. 134)

Die enge Zusammenarbeit mit Wilder findet Chandler, nach den langen Jahren der sozialen Isolation, ausgesprochen schwierig. Er fängt wieder an zu trinken und glaubt, dass niemand das bemerkt. Dazu kommen die Probleme mit der Filmzensur, die sich die bekannteren Drehbuchschreiber bei der Romanvorlage von Cain nicht hatten antun wollen. Dennoch wird Double Indemnity ein Riesenerfolg. Chandler wird nun als fester Drehbuchschreiber engagiert und schwimmt in Geld.

Doch spätestens bei der Arbeit am Drehbuch zu The Blue Dahlia wird Chandler wieder zu einem alkoholischen Wrack. Er will die Arbeit zwischenzeitlich nicht mehr fortführen und erpresst von seinen Auftraggebern, die Angst hatten, dass ansonsten das ganze Projekt scheitern würde, schließlich Bedingungen, die noch keinem anderen Schreiber eingeräumt worden waren. Er setzt durch, dass er von zu Hause aus arbeiten kann, ständig zwei Cadillacs vor der Tür stehen, um Manuskripte zum Studio oder ihn oder Cissy zum Arzt zu bringen. Sechs Sekretärinnen würden sich jeweils in Zweierschichten bei der Arbeit ablösen. Auch ein Arzt solle bereitstehen, um ihm Vitaminspritzen zu verabreichen, da Chandler während seiner Trinkexzesse nichts aß. Chandler säuft also, schläft und schreibt. Das Drehbuch wird beendet und The Blue Dahlia wird 1946 zu einem der erfolgreichsten Kinofilme in Großbritannien. Chandler strickt dann eifrig an der Legende, dass er nur das Trinken wieder begonnen habe, um das Projekt zu einem rechtzeitigen Abschluss zu bringen. Die Zensoren bemängeln dann auch die übermäßige Erwähnung alkoholischer Getränke im Drehbuch. 

1946 wird er von Paramount gefeuert. Wieder wegen seines Alkoholmissbrauchs und der Tatsache, dass er schlicht nicht mehr zur Arbeit erscheint. Chandler und Cissy ziehen um nach La Jolla, wo sie die nächsten neun Jahre leben werden.

Ab Mitte der vierziger Jahre beginnen Kritiker zunehmend, sich ernsthaft mit den Kriminalromanen um Marlowe zu beschäftigen. Während einige befürchten, dass Chandler der ernsthaften Kultur erheblichen Schaden zufüge, weil er nun auch von intelligenten Leuten gelesen werde, sehen besonders britische Kritiker und Schriftstellerkollegen wie Stephen Spender, J. B. Priestley, William Somerset Maugham und W. H. Auden Chandler nicht länger als Vertreter billiger Unterhaltungsliteratur, sondern als ernstzunehmenden Schriftsteller an, dessen Romane als Kunstwerke gelesen werden müssten. Chandler interessiert das nur mäßig, er hält ohnehin die meisten Kritiker für Menschen, die  nicht schreiben können, keinen Kontakt zum Leben der Normalsterblichen hätten und sowieso schon halb tot seien. Und um ihre eigene Daseinsberechtigung nachzuweisen, würden sie ständig Interpretationen liefern, auf die außer ihnen kein vernünftiger Mensch komme. Aber es freut ihn natürlich, dass er anscheinend sein Ziel erreicht hat: aus einem heruntergewirtschafteten Genre etwas Neues geschaffen zu haben, über das sich die Intellektuellen in die Haare kriegen. Seine eigenen Ansichten zur Literatur veröffentlicht er ab Mitte der Vierziger immer wieder auch in Aufsätzen, die beispielsweise in The Atlantic erscheinen.

1949 erscheint Little Sister, sein fünfter Marlowe-Roman. 

1950 beginnt die Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock. Sie wollen Strangers on a Train nach dem Roman von Patricia Highsmith verfilmen. Doch Chandler überwirft sich mit Hitchcock, beschimpft ihn als „fetten Bastard“ und wird mal wieder gefeuert.

1953 erscheint The Long Goodbye, sein sechster Roman um Marlowe.

Dann, 1954, die große Katastrophe, von der sich Raymond Chandler nicht mehr erholen sollte. Nach jahrelangem Leiden an einer Lungenfibrose stirbt seine  geliebte Cissy im Alter von 84 Jahren, um die er sich in ihren letzten Monaten aufopfernd gekümmert hat.

For thirty years, ten months and four days, she was the light of my life, my whole ambition. Anything I did was just the fire for her to warm her hands at. That is all there is to say. (S. 214)

Mit Cissys Tod geht ihm der letzte Halt verloren. Er schafft es nicht einmal, ihre Asche zu bestatten. Er verkauft sein Haus und Alkoholabstürze, Sanatoriumsaufenthalte, diverse Umzüge, lange Englandaufenthalte und zweifelhafte Versuche, sich mit anderen Frauen und Heiratsanträgen zu trösten, sowie Selbstmordversuche folgen. Seine Freunde versuchen alles, um ihn zu stützen, abzulenken und unternehmen sogar Reisen mit ihm.  

Chandler‘s self-control continued to fall away in the loneliness into which he had plunged after Cissy‘s death. He made desperate midnight phone calls to people he had only ever known by letter. He was drinking constantly. (S. 217) 

Dennoch schafft es Chandler irgendwie, Playback, seinen letzten Marlowe-Roman fertigzustellen, der 1958, ein Jahr vor seinem Tod erscheint. 1959 stimmt Helga Greene, seine fast 30 Jahre jüngere britische Literaturagentin, seinem Heiratsantrag zu. Chandler besteht darauf, bei ihrem Vater formell um ihre Hand anzuhalten, was dieser ausgesprochen ungnädig aufnimmt. Beleidigt reist er nicht mit Helga zurück nach London, sondern verkriecht sich in La Jolla und trinkt und vernachlässigt sich so lange, bis er mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert wird, an der er drei Tage später stirbt. Greene wird damit – nach einem vor einem Gericht ausgetragenen Erbschaftskrieg – seine alleinige Erbin und Nachlassverwalterin.

Es war ein trister, anonymer Tod für einen Mann, der mit seinem Witz und seiner Klarsicht die Literatur so bereichert hatte. Die Zeitungen brachten lange, anerkennende Nachrufe. Die Londoner Times stellte fest: ‚Er gehört mit Sicherheit zu dem knappen Dutzend Kriminalschriftsteller, die zugleich auch Neuerer und Stilisten waren; die, in den gewöhnlichen Erzminen der Kriminalschriftstellererei arbeitend, das Gold der Literatur zutage förderten.‘ (MacShane in seiner Biografie von 1976, S. 428) 

Was die Biografie Hineys neben der Lebensgeschichte Chandlers so ansprechend vermittelt, ist der zeitgeschichtliche Hintergrund, der einen die Romane um Philip Marlowe noch einmal anders lesen lässt. Die Zeit der Prohibition (1920 – 1933), in der laut Chandler mehr getrunken wurde als je zuvor (siehe dazu auch die Seiten 66 ff), der Ölboom in Kalifornien, dann 1927 der große Korruptionsskandal um die Julian Petroleum Corporation, bei dem Tausende von Anlegern um ihre Ersparnisse gebracht wurden. 

Man versteht nach der Lektüre dieser Biografie besser, warum es in den Marlowe-Krimis von korrupten Polizisten wimmelt. Nicht nur das viel zu rasche Bevölkerungswachstum ist für die steigende Kriminalitätsrate in Los Angeles verantwortlich. Die Polizei ist für ihre Gewalttätigkeit berüchtigt und bei den rassistischen Ausschreitungen der Zoot Suit Riots von 1943 werden die Opfer bestraft, nicht aber die Täter. Das organisierte Verbrechen wird wohlwollend geduldet und gedeiht unter den Augen der Polizei ganz prächtig. 

In 1937, a federal grand jury investigation discovered that no less than 600 brothels and 18,000 unlicensed bars were operating under the noses of LAPD officers. It also confirmed in its report that ‚a portion of the underworld profits have been used in financing campaigns of city and county officials in important positions … The District Attorney‘s office, Sheriff‘s office, and the Los Angeles Police Department work in complete harmony and never interfere with … important figures in the underworld‘. (S. 89)

Selbst der oberste Polizeichef von Los Angeles, James Edgar Davis, steckte in der Tasche der einflussreichen Wirtschafts- und Unterweltbosse.

Besonders interessant fand ich die Ausführungen zur Rolle der Filmzensur in Hollywood.

Drehbücher mussten nämlich vorab eingereicht und genehmigt werden, um allen möglichen und unmöglichen Bedingungen zu genügen. Ständig mussten Szenen umgeschrieben und Details verändert werden. Unter dem Einfluss der katholischen Kirche und weiterer sittenstrenger Verbände war 1934 Schluss mit der künstlerischen Freiheit, was Gewaltszenen, nackte Haut und bestimmte Themenstellungen anging. Diese Periode in der amerikanischen Filmgeschichte bezeichnet man als Pre-Code.

Doch ab 1934 wurde der Production Code für alle amerikanischen Filmunternehmen verbindlich. Dessen Regelungen zielten darauf ab, auch Kriminalität, Sexualität und politische Inhalte moralisch einwandfrei darzustellen. Eine treibende Kraft bei der Durchsetzung des Production Code war die katholische Kirche, die andernfalls mit Boykottaufrufen drohte, was jeden Film zu einem wirtschaftlichen Reinfall gemacht hätte. So mussten die Studios nicht nur die Drehbücher vor Drehbeginn einreichen, sondern auch Fotos beilegen, die zeigen sollten, wie lang die Kostüme der Schauspielerinnen waren. Am liebsten wurde es gesehen, wenn die Filme die Möglichkeiten des Mediums nutzen, der charakterlichen Erbauung des Zuschauers zu dienen. Auch die Wortwahl wurde überwacht, möglichst keine Flüche und so wenig Slang wie möglich. Helden durften nicht zu feminin wirken und es durfte nichts Kriminelles gezeigt werden, was man als Zuschauer vielleicht hätte nachahmen können. So wurde beispielsweise beanstandet, dass ein Verbrecher, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, im Film Handschuhe tragen sollte. Kein Wunder, dass sich da Chandlers Filme kaum werkgetreu verfilmen ließen… Erst 1967 wurde der Production Code abgeschafft.  

Das letzte Kapitel setzt sich mit Chandlers Rezeption nach seinem Tod und mit seinem angeblichen Antisemitismus und seinem Rassismus auseinander. 

Zum Abschluss meiner wieder völlig ausgeuferten Buchvorstellung ein Zitat des großen Kriminalschriftstellers:

I wish to God that Hollywood would stop trying to be significant […] because when art is significant, it is always a by-product and more or less unintentional on the part of the creator. (S. 166)

Als musikalischen Abschluss empfehle ich für diejenigen, die bis hierhin durchgehalten haben, Raymond Chandler Evening von Robyn Hitchcock and the Egyptians.

Anmerkung: Wer noch tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem lege ich die über 400-seitige Biografie von Frank MacShane ans Herz, die im Original erstmals 1976 und in der deutschen Übersetzung 1984 im Diogenes Verlag erschienen ist. MacShane geht stärker als Hiney auf die literarische Entwicklung Chandlers ein und beschäftigt sich mit den Ansprüchen des Autors, die dieser grundsätzlich an Literatur, an sein eigenes Schreiben und seinen Stil gestellt hat. Auch die Beziehungen zu seinen Verlegern, die ganze geschäftliche Seite seines Schreibens wird genauer referiert. Dazu zitiert MacShane ausführlich aus den Briefen Chandlers.

 

Jörg Magenau: Christa Wolf – Eine Biografie (2013)

Diese Biografie von Magenau zu Christa Wolf ist ganz großartig, und zwar unabhängig davon, wie gut man sich im Gesamtwerk der Schriftstellerin auskennt. Manche Biografien und Autobiografien verdanken ihren Reiz zumindest u. a. den Anekdoten, den Kleinigkeiten, dem Ausleuchten der Beziehungen, die die Hauptperson mit anderen Menschen hat.

Doch Magenau hat hier einen anderen Ansatz gewählt und Wolfs Leben (1929 – 2011) konsequent im Hinblick auf ihre politische und schriftstellerische Entwicklung in der DDR und später nach dem Mauerfall beleuchtet. Es ist gleichermaßen spannend und aufschlussreich, diesen Weg zu verfolgen, der von der geradezu verblendet-unkritischen Anhängerin des Sozialismus und kurzzeitigen Tätigkeit als IM bis hin zu ihrer politischen Ernüchterung führt, dem Selbst-Bespitzelt- und Zensiertwerden und letztlich ihrer enttäuschten Hoffnung, nach dem Fall der Mauer doch noch einen menschenfreundlichen Sozialismus auf dem Boden der DDR aufzubauen.

Man erfährt nicht nur viel über die Funktionsweise der DDR, die komplizierten Zensurregelungen und das geradezu familiäre Ausloten dessen, was gerade noch öffentlich gesagt und geschrieben werden durfte, sondern auch bezüglich der sich allmählich verändernden poetischen Haltung der Autorin. Genauso wird das Geflecht an Freundschaften zu anderen Künstlern und SchriftstellerInnen aufgedröselt. Und natürlich ihre vielen, vielen Auslandsreisen, ein Privileg, das die Wolfs weidlich genutzt haben.

‘Prosa schafft Menschen, im doppelten Sinn. Sie baut tödliche Vereinfachungen ab, indem sie die Möglichkeiten vorführt, auf menschliche Weise zu existieren. (…) Prosa kann die Grenzen unseres Wissens über uns selbst weiter hinausschieben. Sie hält die Erinnerung an eine Zukunft in uns wach, von der wir uns bei Strafe unseres Untergangs nicht lossagen dürfen. Sie unterstützt die Subjektwerdung des Menschen….‘

Aus: Christa Wolf: Lesen und Schreiben, 1968; zitiert nach: Jörg Magenau: Christa Wolf: Eine Biografie, Rowohlt, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2013, S. 220

Der Wandel in der Rezeption der Autorin, die zunächst im Westen umjubelt wurde und sich nach der Wende plötzlich als angepasster DDR-Schreiberling beschimpfen lassen musste, wird ebenfalls gründlich und mit vielerlei Quellenmaterial untersucht und belegt. Mir gefiel, dass Magenau dabei auch zu eigenen Einschätzungen gekommen ist und sich nicht hinter einer Pseudo-Objektivität versteckt.

Das einzige, was ich vielleicht doch ein ganz klein wenig vermisst habe, war das Ausleuchten der jahrzehntelangen Ehe der Wolfs, das Familienleben, dessen nicht zu unterschätzende Bedeutung zwar konstatiert wird, dem aber nicht näher nachgegangen wird. Da bleibt die Biografie diskret.

Ende vom Lied: Ich habe mir – Magenaus Biografie ist schuld – vier weitere Bücher von und zu Christa Wolf bestellt.

‚… Die reine Werkkritik ist oft eine Fehlentwicklung: die Kritiker nehmen ein Buch her wie ein Objekt – so wie die Naturwissenschaftler irgendein zu untersuchendes Objekt. Aber gerade dieser Wissenschaftsbegriff ist auf Literatur ganz sicher nicht anzuwenden. Wenn also die Kritiker sich nicht entschließen können, die Subjektivität, die in dem Buch sich ausdrückt, mit in ihre Betrachtungen einzubeziehen, und sich selbst dazu in irgendein Verhältnis setzen, und zwar offen, dann wird das immer eine verklemmte Sache sein.‘

Aus: Ein Gespräch mit Christa und Gerhard Wolf, 1983, Gesammelte Werke VIII, S. 307 ff; zitiert nach: Jörg Magenau: Christa Wolf: Eine Biografie, Rowohlt, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2013, S. 70

Leoni Hellmayr: Der Mann, der Troja erfand – Das abenteuerliche Leben des Heinrich Schliemann (2021)

2021 erschien die Biografie Der Mann, der Troja erfand von Leonie Hellmayr. Der Untertitel Das abenteuerliche Leben des Heinrich Schliemann ist wahrlich mehr als passend. Mir selbst waren die Stationen des späteren Troja-Entdeckers bis dahin unbekannt: Schliemann (1822-1890) stammte aus eher zerrütteten Verhältnissen; sein Vater, ein Pfarrer, verlor seine Stelle, da er mit Vorliebe Affären mit den Dienstbotinnen hatte, woraufhin nach dem Tod der Mutter der kleine Heinrich und seine Geschwister auf verschiedene Verwandte aufgeteilt wurden.

Es folgten Schulbesuch, Kaufmannsausbildung, Aufstieg zum märchenhaft reichen Kaufmann in Petersburg, erste Ehe mit einer Russin, zwei Kinder, Weltreisen, Vermehrung des Reichtums in Amerika, Vertiefung seiner Fremdsprachenkenntnisse, weitere Reisen, ergaunerte Scheidung und schließlich die Eheschließung mit ca. 47 Jahren mit der 17-jährigen schönen Griechin Sophia, die vermutlich von ihrer Familie gedrängt wurde, nach nur drei Wochen Bekanntschaft diesen steinreichen Mann zu ehelichen. Mit ihr zwei weitere Kinder, Agamemnon und Andromache. Auch alle Hausbediensteten bekamen von Schliemann Namen aus den Homerischen Epen verpasst.

Dann jahrzehntelange Arbeit als Archäologe und Ausgrabung von Troja (siehe  dazu den Artikel zur Troja-Debatte), bei der auch schon mal die ein oder andere alte Vase zu Bruch ging, feines und behutsames Arbeiten war zunächst nicht so seins. Arbeit als Autor. Die illegale Ausfuhr von antiken Kunstschätzen (der sogenannte Schatz des Priamos) 1873 an den osmanischen Behörden vorbei, Grabungen in Mykene, Auseinandersetzungen mit Kollegen, Anfeindungen und Verehrung gleichermaßen, schließlich seine Jahre in Griechenland als geiziger und herrschsüchtiger Ehemann. Seine Eitelkeit und Größenwahn, als er – da ist er schon eine Berühmtheit – in Ankershagen, dem Dorf seiner Kindheit, einen Monat lang ausspannen will. Er sorgt im Vorfeld dafür, dass in den regionalen Zeitungen folgende Notiz erscheint:

Herr Dr. H. Schliemann-Athen gedenkt am 20. Juni in Ankershagen einzutreffen und im dortigen Pfarrhause einen vierwöchentlichen Aufenthalt zu nehmen, um in stiller ländlicher Zurückgezogenheit von angestrengter Arbeit auszuruhen und Erholung zu suchen. Verwandte, Freunde und Bekannte werden dringend gebeten, auf allen und jeglichen Besuch verzichten zu wollen. (S. 244)

Keine Frage, das ist ein spannendes Leben, das Hellmayr hier auf nur 283 Seiten ausbreitet, das sich stellenweise eher wie ein Roman liest.

An einigen Stellen störte allerdings, dass die Autorin sich zurechtlegt, wie es gewesen sein könnte, was er gedacht oder gesagt haben mag. Doch vor allem hätte mir die Biografie kritischer sein dürfen. Was dachten seine Frau, seine Kinder, seine Freunde und Kollegen über ihn, der sich sogar mit langjährigen Freunden überwarf, nur weil die Tischordnung bei einem offiziellen Essen nicht so war, wie sie angeblich seiner Bedeutung zukam? Wie stümperhaft waren seine Grabungsmethoden? Wie sah er die Einheimischen?

Das schimmert nur sehr dezent ab und an durch, doch der Selbsteinschätzung Schliemanns wird – auch perspektivisch – der größte Raum eingeräumt. Diese zwei Schwachstellen kann man beispielsweise an folgendem Zitat sehen, in dem es um Schliemanns Sicht auf seine Frau Sophia geht. Kein Wort davon, ob ihr „Kränkeln“ vielleicht psychosomatische Gründe hatte, und das Wort „Unfolgsamkeit“ lässt mich auch eher an einen Dackel denken:

Aber in vermutlich ebenso vielen Momenten hat er sich über ihre anderen Wesensmerkmale – ihr Kränkeln, ihre Trägheit, vor allem aber ihre Unfolgsamkeit – in höchstem Maße geärgert. (S. 270)

Paula Byrne: The Adventures of Miss Barbara Pym (2021)

Die Biografie von Paula Byrne zu der britischen Schriftstellerin Barbara Mary Crampton Pym, die durch diverse Neuübersetzungen allmählich auch in Deutschland bekannter wird, ist eine riesengroße Lesefreude. Informativ, unterhaltsam und auch beglückend, da steckt das ganze Leben drin. Die über 600 Seiten lasen sich weg wie nichts. Oder genauer gesagt, wie ein Roman selbst.

Man nimmt an Pyms Leben Anteil, weil es der schwungvollen, aber nicht unkritischen Biografin gelingt, eine für Pym angemessene Form und Sprache zu finden. Hier passt einfach alles: der Stil, die Recherche, die einem – wenn man nicht aufpasst – gleich wieder Bücher auf die Wunschliste setzt, sowie ein interessantes Leben der Hauptperson mit seinen diversen Höhen und Tiefen, eingebettet in sich rasant ändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Dazu kommt, dass Byrne auf viele Briefe und Tagebücher zurückgreifen kann, aus denen man so wunderbar zitieren kann.

Barbara Pym wurde 1913 geboren, ihr Vater war Anwalt. Die Familie kann ihren beiden Töchtern – Barbaras Schwester Hilary wurde 1916 geboren – ein Studium in Oxford finanzieren, wobei damit zunächst nicht zwingend eine berufliche Tätigkeit angestrebt wurde. Barbara träumt jedoch schon als Studentin davon, Schriftstellerin zu werden.

Im Nachhinein kann man vermutlich von Glück sprechen, dass ihr erster Roman Some Tame Gazelle – den sie schon 1934 geschrieben hat – erst 1950 veröffentlicht wird. Bis dahin hatten ihr Freunde, eigene Einsicht und die politische Entwicklung deutlich genug vor Augen geführt, dass die politisch naiven Szenen des Buches, die im Nazi-Deutschland der 1930er Jahre spielten und den Nationalsozialismus eher als drollige Randerscheinung abtaten, restlos gestrichen gehörten.

Ihr Studium der englischen Literatur am Frauen-College St Hilda‘s genießt Pym in vollen Zügen. Schon allein für diese Einblicke in eine ganz andere Welt hätte sich die Lektüre gelohnt.

Rules dated back to ancient times. Black gowns had to be worn, chapel attended, gate hours kept. Most societies remained male preserves. […] Male dining clubs flourished and were riotous events resulting in shattered windows, broken furniture and damaged flowerbeds. […] St Hilda‘s was a particularly strict college, with firm rules about gentlemen callers. Undergraduates were permitted to receive gentlemen friends not related to them on Tuesday afternoons only. The gates closed at 9.10 p.m. As late as the 1990s, students had to write down the name of their gentlemen visitors, and if they stayed the night that information had to be submitted to the porter‘s lodge. […] Punishment was fierce for transgression of rules – particularly so for women. […] As late as 1961, St Hilda‘s expelled a female undergraduate discovered with a man in her room after the gates had closed. (S. 24/25)

Allerdings waren besonders die männlichen Studierenden trotz der strengen Vorschriften wohl auch immer recht gewitzt, wenn es darum ging, sich bei Regelverstößen nicht erwischen zu lassen, und im geradezu aberwitzigen Alkoholkonsum sah man anscheinend ohnehin kein Problem.

Pym jedenfalls ist erst einmal so fasziniert von den Kinos, den Partys, der wunderbaren Architektur und vor allem den Gelegenheiten zum Flirten, dass sie am Ende des ersten Semesters feststellt, dass sie in Zukunft wohl etwas fleißiger würde studieren müssen.

Im Mai 1933 hat sie dann die erste Verabredung mit dem von ihr angebeteten etwas älteren Studenten Henry Harvey. Zusammen mit seinem homosexuellen Freund Robert „Jock“ Liddell werden die drei nahezu unzertrennlich. Für Pym ist die Liebe zu Harvey der Beginn einer jahrelangen Obsession. Fast ein Jahr später schreibt sie in ihr Tagebuch:

I am beginning to feel the wee-est bit hostile towards Henry, and to think that the glamour of being his doormat is wearing off. (S. 100)

Harvey behandelt sie oft miserabel, allerdings dauert es Jahre inclusive diverser Rückfälle, bis sie sich endgültig eingesteht, dass er sie nur als Spielzeug und sexuellen Lückenfüller benutzt hat und sie ihm mit ihrer unkritischen Verehrung vermutlich nur auf die Nerven gefallen war. Er hat keine Skrupel, sie als „common property“ zu beschimpfen oder sie in Begleitung betrunkener Männer zurückzulassen und sich anschließend wieder die Socken von ihr stopfen zu lassen.

Henry‘s dreadful behaviour set the pattern for Pym‘s relationships with other men: the more badly they treated her, the more deeply in love she felt. The worst aspect of it all was that she knew this and was powerless to stop herself. (S. 90)

Dennoch bleiben die drei ein Leben lang in Kontakt und Robert Liddell, der später selbst schreibt, erweist sich später als unfassbar guter Freund, der den Weg Pyms zur Schriftstellerei mit Klugheit und der nötigen Sturheit begleitet.

Ein weiterer Mosaikstein in Barbaras Lebenslauf sind ihre mehrmaligen Besuche im Nazi-Deutschland der dreißiger Jahre. Pym hatte an der Universität Deutsch gelernt und war von deutschen Filmen und der Literatur begeistert. 1934 fährt sie das erste Mal mit einer Studentengruppe aus Oxford nach Deutschland. Tausende taten es ihr gleich; die Bemühungen Goebbels, Deutschland als ein wunderbares Land zu präsentieren, trugen Früchte.

‘Germany Invites You‘ claimed the Thomas Cook & Son posters showing images of beautiful young people in lederhosen and Tyrolean hats, fairyland castles and mountain ranges framing the background. (S. 106)

Pym verliebt sich in die vermeintliche deutsche Ordnung, das Land und den attraktiven SS-Mann Friedbert Glück. Politisch ist und bleibt sie noch längere Zeit völlig unbedarft. Den allgegenwärtigen Judenhass und die Hetze teilt sie nicht, kann sie aber völlig ausblenden. Sie ist am Boden zerstört, als sie nach ihrer Rückkehr von ihrer ersten Deutschlandreise ihre kleine Hakenkreuz-Brosche verliert, die ihr der SS-Mann Glück geschenkt hat. Noch 1938 reist sie gegen den Willen ihrer Familie und ihrer Freunde nach Deutschland und anschließend nach Polen, um dort die Kinder einer jüdischen Familie zu unterrichten. Doch schon wenige Wochen später verschlechtert sich die politische Situation, sie kehrt nach England zurück und ist wie vom Donner gerührt, als es tatsächlich zum Kriegseintritt Großbritanniens kommt.

Während des Krieges tritt sie dem Women‘s Voluntary Service bei und hilft u. a. ihrer Mutter, die evakuierte Kinder in ihrem Haus aufnimmt. Das ist das erste Mal, das Pym in intensiveren Kontakt mit der Arbeiterklasse kommt, was sie durchaus das ein oder andere Mal befremdlich findet. 1941 beginnt sie für die Zensurbehörde in Bristol zu arbeiten, wo ihre Deutschkenntnisse gefragt sind. Dort lebt sie mit ihrer Schwester Hilary, die für die BBC arbeitet, und weiteren Erwachsenen sowie einigen Kindern in einem Haus zusammen.

In ihrer Mitbewohnerin Honor Wyatt findet Pym eine gute Freundin und Mentorin. Mit deren getrennt von Honor lebendem Mann Gordon Glover hat Pym eine weitere unglückliche Liebesaffäre; der charmante Mann teilt ihre Liebe zu Jane Austen und macht sie bekannt mit den Trivia von Logan Pearsall Smith. Doch schon nach zwei Monaten beendet er die Beziehung, im Gegensatz zu Pym hatte er kein Interesse an einer langfristigen Beziehung. Auch diese Affäre hinterlässt tiefe Wunden.

Um ihrer Niedergeschlagenheit zu entkommen, bewirbt sie sich bei dem Women’s Royal Naval Service (Wrens). Sie wird angenommen und so führt sie ihre Arbeit für die Zensurbehörde bis nach Italien, wo sie in Neapel stationiert ist.

1945 ziehen Barbara und Hilary, die sich inzwischen von ihrem Mann getrennt hat, in eine gemeinsame Wohnung in London.

From this time on, Barbara and Hilary Pym would live together in a manner envisaged in the novel Barbara had written when she was twenty-two. The sisters were extremely compatible, shared the same jokes and lived in great harmony together, though each had their own circles of friends. (S. 381)

1946 beginnt sie, für das International Institute of African Languages and Cultures zu arbeiten. Sie findet sich allmählich mit dem Gedanken ab, dass sie wohl nie heiraten und Kinder haben wird.

‚Maybe I shall be able to keep my illusions as it doesn‘t look like I shall ever get married.‘ (S. 380)

Stattdessen wird ihr immer wichtiger, endlich einen Verleger für Some Tame Gazelle zu finden. 1950 ist es so weit und Cape veröffentlicht ihren ersten Roman. Schon 1952 erscheint Excellent Women, der Roman, den viele für ihr Meisterwerk halten. Sie bekommt großartige Kritiken, genießt das Leben als frisch gebackene Autorin und ihre Begegnungen mit Größen wie Elizabeth Taylor oder Elizabeth Bowen. Auch ihre finanzielle Situation entspannt sich zusehends.

Sie veröffentlicht bis 1961 sechs Romane, die alle ihre Leserschaft finden und von den Kritikern und anderen Autoren geschätzt werden. Der Dichter und Schriftsteller Philip Larkin schreibt ihr nach dem Erscheinen von No Fond Return of Love (1961) einen begeisterten Brief, der Beginn einer intensiven und herzlichen (Brief-)Freundschaft. Doch es sollte 15 Jahre dauern, bis sich die beiden das erste Mal begegnen. Die Freundschaft wird bis zu Barbaras Tod 1980 andauern.

1963 entpuppt sich als eines der schlimmsten Jahre für Pym. Der Winter ist nicht nur der kälteste in England seit über 200 Jahren – die Schwestern leben in einem Haus ohne Zentralheizung -, sie werden auch noch zweimal ausgeraubt. In dem Monat, in dem die Beatles Please, Please Me herausbringen, dann der Schock: Pyms Verleger Tom Maschler vom Verlagshaus Cape erklärt ihr brieflich, dass ihre Bücher nicht mehr zeitgemäß, ja altmodisch seien. Er lehne die Veröffentlichung ihrer weiteren Werke ab. Es findet sich auch kein anderes Verlagshaus, das in den Sechzigern glaubt, dass sich diese Bücher über alte Jungfern, die jeden Sonntag zur Kirche gehen, noch verkaufen. Und so bleibt An Unsuitable Attachment in der Schublade liegen und wird erst nach dem Tod der Autorin 1982 veröffentlicht.

She [Barbara Pym] was one of the most liberated, independent women of her time. Ever since Oxford, she had been sexually active and unashamed of being so. One of her friends explained: ‚You see, Barbara liked sex‘. Nor did she feel the need to settle down to a conventional married life, despite several offers. The trouble was, her novels of quiet female independence did not exactly brim with sex, drugs and rock and roll. (S. 487)

Die folgenden 14 Jahre nennt Pym ihre „wilderness years“, Jahre, in denen sie schreibt, ihre Romane überarbeitet und doch keinen Verleger findet. Dazu kommen finanzielle Sorgen. Sie verdient am anthropologischen Institut nicht besonders viel, zudem hatten sie und Hilary ihren Vater finanziell unterstützt, als dieser Bankrott gegangen war.

Larkin ist empört, als er erfährt, dass auch Faber, sein eigener Verlag, nichts von Pym veröffentlichen will. Er schreibt im August 1965 sehr hellsichtig an Charles Monteith:

Personally, too, I feel it is a great shame if ordinary sane novels about ordinary sane people doing ordinary sane things can‘t find a publisher these days. This is in the tradition of Jane Austen & Trollope and I refuse to believe that no one wants its successors today. (S. 521)

I like to read about people who have done nothing spectacular, who aren‘t beautiful or lucky, who try to behave well in the limited field of activity they command, but who can see, in little autumnal moments of vision, that the so-called big experiences of life are going to miss them. […] presented not with self-pity or despair or romanticism, but with realistic firmness & even humour. (S. 521)

Hier klingt auch an, was Pym immer wichtig war: die Bedeutung kleiner, unscheinbarer Details, das Gewöhnliche, das Ausloten innerer Zustände scheinbar uninteressanter Menschen.

Pym‘s interest in trivia, ephemera, the life of ordinary things, roots her novels into specific times and yet they somehow transcend the quotidian and take on a timeless quality. As with Jane Austen, her realism is what enables her readers to inhabit her world, her characters, her sense of place and mood. (S. 578)

1971 wird bei Pym Brustkrebs diagnostiziert. Sie wird unverzüglich operiert. 1973 geht sie in Rente.

Im Januar 1977 passiert dann, womit niemand mehr gerechnet hat. Das Times Literaray Supplement hatte anerkannte Kritiker und Schriftsteller sowohl nach maßlos überschätzten als auch sträflich unterschätzten AutorInnen des 20. Jahrhunderts gefragt. Nur Pym wird zweimal als die am meisten unterschätzte Schriftstellerin genannt, einmal von ihrem Freund Philip Larkin, der sich schon seit Jahren für sie eingesetzt hatte, aber auch von dem Hochschullehrer, Biografen und Schriftsteller Lord David Cecil.

All of a sudden, Pym was hot news. Radio Oxford came for an interview; letters poured in from friends, and the telephone rang constantly. (S. 571)

Macmillan erklärt sich sofort bereit, ihren Roman Quartet in Autumn veröffentlichen. Das Buch schafft es auf Anhieb auf die Shortlist des Booker Prizes. Auch andere lange in der Schublade vor sich hin dämmernde Titel werden nun von ihr veröffentlicht; in Amerika wird ihr Name zum ersten Mal überhaupt wahrgenommen.

Then came another great accolade: she was invited to appear on BBC Radio 4‘s flagship programme Desert Island Discs. (S. 586)

Die Sendung wird im Juli 1978 aufgenommen. Die Frage, was sie auswählen würde, wenn sie nur ein einziges Musikstück auf die Insel mitnehmen dürfe, beantwortet sie mit dem Weihnachtslied „In the bleak midwinter“, gesungen vom Chor des King‘s College, Oxford, denn es vereine Lyrik, Musik und den christlichen Glauben.

Barbara stirbt 1980 im Alter von 66 Jahren, der Krebs war zurückgekehrt. Fortan setzt sich Hilary, ihre Schwester, zusammen mit ihrer beider Freundin Helen Hunt für das Vermächtnis der Autorin ein. Die Grabstätte der beiden Schwestern – Hilary stirbt 2004 – befindet sich in Finstock, ihrem letzten gemeinsamen Wohnort.

Hier eine Interpretation von In the bleak midwinter von Dan Fogelberg.

Und noch ein Satz aus ihrem Tagebuch:

‘Everything seems gloomy and dark when you‘re lying awake in the middle of the night. One day, perhaps soon – it will be better.‘ (S. 352)

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Laura Claridge: Blanche Knopf – The Lady with the Borzoi (2016)

Der hinreißenden Biografie zu Blanche Knopf, dieser wichtigen Frau der amerikanischen Verlagswelt, würde ich eine Übersetzung ins Deutsche sehr wünschen, da Knopf in ihrer Zusammenarbeit mit unzähligen heute weltbekannten Schriftstellern und Schriftstellerinnen den amerikanischen Lesegeschmack in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl wie wenige andere geprägt hat.

Blanche Knopf (1894 – 1966) gründete, da war sie gerade mal 20 Jahre alt, zusammen mit ihrem zwei Jahre Ehemann Alfred Abraham Knopf 1915 in New York den Knopf Verlag. Zunächst verschafften sie sich eine finanzielle Grundlage, indem sie dem amerikanischen Publikum erstmals Übersetzungen bestimmter  französische Romane anboten. Doch Blanche hatte von Anfang an ein untrügliches literarisches Gespür, mit dem sie dem Verlag Schriftstellerinnen wie Willa Cather, Muriel Spark oder Elizabeth Bowen zuführte und oft genug auch selbst betreute.

Sie gab die ersten amerikanischen Übersetzungen vieler europäischer Klassiker in Auftrag und gleichzeitig bot sie neuen, unerfahrenen SchriftstellerInnen eine Publikationsmöglichkeit, wenn sie von deren Qualität überzeugt war. Sie irrte sich selten, scheiterte allerdings ab und an daran, dass ihr Mann, der für den finanziellen Rahmen zuständig war, nicht immer bereit war, die entsprechenden Vorschüsse zu zahlen, wenn sie ihm zu hoch erschienen. Blanche ist es zu verdanken, dass Autoren wie Raymond Chandler, Dashiell Hammett und James M. Cain aus der literarischen Schmuddelecke geholt und durch die Veröffentlichung in ihrem Verlag als ernsthafte Autoren anerkannt wurden.

Dank der ausgezeichneten Verbindungen der Knopfs zu Carl van Vechten fanden auch AutorInnen der Harlem Renaissance bei den Knopfs eine verlegerische Heimat, wie z. B. Langston Hughes, James Baldwin oder Nella Larsen. Dass Schwarze bei ihnen und ihren Freunden ein- und ausgingen, war für Blanche eine Selbstverständlichkeit.

Später betreute sie Größen wie Siegmund Freud, Simone de Beauvoir, Albert Camus und Schriftsteller im Exil wie Thomas Mann, der sie einmal als die „Seele des Verlags“ bezeichnete.

Daneben hatte Blanche einen Blick auf das, was gesellschaftlich relevant war oder werden würde, sodass auch grundlegende journalistische Werke von den Knopfs publiziert wurden. Ihr Leben lang reiste sie durch Europa, aber auch durch Lateinamerika auf der Suche nach neuen Werken für den Verlag.

Allerdings hat diese Erfolgsgeschichte von Anfang an einen dunklen Hintergrund. Blanche und Albert hatten vor der Hochzeit vereinbart, dass der Verlag von ihnen gleichberechtigt geführt werden sollte. Nach der Hochzeit wollte der stockkonservative Albert mit den fadenscheinigsten Begründungen nichts mehr davon wissen. Folglich besaß er 75 Prozent des Verlags, sie die übrigen 25 Prozent. Auch ihr Mädchenname Wolf war auf einmal im Firmennamen nicht mehr unterzubringen. Bei Jubiläen und öffentlichen Würdigungen vergass er schon mal, den Namen seiner Frau zu erwähnen, oder brüstete sich mit „ihren“ AutorInnen.

Ihre Zusammenarbeit war dementsprechend – trotz eigentlich klar getrennter Aufgabenbereiche – stürmisch. Er gaukelte ihr vor, dass sie im Falle einer Scheidung nie wieder eine Anstellung in irgendeinem New Yorker Verlagshaus finden würde. Da Blanche jedoch an dieser Arbeit mit ganzem Herzen hing, blieb sie. Die Vorstandssitzungen waren legendär katastrophal, die beiden Eheleute schrieen sich an und provozierten sich bis aufs Blut. Ihr einziger Sohn Pat meinte später, dass der Vater seine Mutter auch geschlagen habe. Doch derlei sei in der feinen Gesellschaft, zu der die Knopfs sich dank ihres unglaublichen Erfolgs emporgearbeitet hatten, immer totgeschwiegen worden.

Ständig war Blanche in Machtkämpfe gegen ihren Mann und ihren Schwiegervater, verwickelt, die sie regelmäßig verlor. Alfred verehrte seinen tyrannischen Vater Sam und wagte keinerlei Widerrede, vielleicht als Überkompensation dafür, dass Sam nicht ganz unschuldig am Selbstmord von Alfreds Mutter gewesen war.

Blanche entwickelte eine Essstörung und hatte irgendwann chronisches Untergewicht, das nie wirklich thematisiert wurde. Sie hatte diverse Liebhaber, während Alfred lieber zu Prostituierten ging, zu denen er dann später auch seinen Sohn mitnahm. Und ganz, ganz selten gibt es Momente, bei denen der Leser denkt, dass der eine gänzlich ohne den anderen wohl auch wieder nicht hätte sein wollen. 

Als Blanche gegen Ende ihres Lebens an Krebs erkrankt, nimmt niemand das Wort in den Mund. Das schickte sich nicht. Sie lässt nur wenige Eingeweihte von ihrer Erkrankung wissen und arbeitet buchstäblich bis zum Schluss für ihre SchriftstellerInnen, ihren Verlag.

Blanche Knopfs Leben ist ein eindrückliches Lehrstück darüber, wie Frauen in der öffentlichen Anerkennung hinter dem Mann zurückstehen mussten, selbst wenn sie – wie in diesem Fall – wohl für mindestens 50 Prozent, wenn nicht mehr, für den gemeinsamen Erfolg verantwortlich waren. Dutzende Nobel- und Pulitzerpreisträger wurden bisher von Knopf verlegt.

Doch gleichzeitig tritt einem auf diesen Seiten eine faszinierende Frau entgegen. Stets in teure Designerkleidung gewandet, großzügig, begabt, einsam, hundeverrückt, gesellig, erfolgreich, belesen, mit den kulturellen Größen ihrer Zeit auf Du und Du, lebenshungrig und absolut beeindruckend.

Dass Blanche Knopf kaum eigene Aufzeichnungen oder Tagebücher hinterlassen hat und man ihren Empfindungen nicht immer nahekommt, habe ich an der ein oder anderen Stelle bedauert. Allerdings lässt sich vieles zwischen den Zeilen erschließen und es ändert nichts daran, wie spannend, wie längst überfällig sich diese Biografie liest.

Hier ein Audio-Interview mit Laura Claridge auf YouTube und zwei Fotos von Blanche und Alfred Knopf.

Wer noch weiterstöbern will, dem sei die Biografie The Tastemaker Carl van Vechten and the Birth of Modern America (2014) von Edward White empfohlen. Anhand dieser schillernden, spannenden, aber keinesfalls immer sympathischen Figur lässt sich tatsächlich Amerikas Weg in die Moderne nachzeichnen. Auch van Vechtens Weg als Förderer und Unterstützer der schwarzen AutorInnen der Harlem Renaissance wird in seiner ganzen Zwiespältigkeit nachgezeichnet. 

Daniela Strigl: Berühmt sein ist nichts – Marie von Ebner-Eschenbach (2016)

Die erste deutschsprachige Biografie zu Marie von Ebner-Eschenbach seit 1920 ist ein sorgfältig recherchierter Brummer von über 400 Seiten.

Daniela Strigl, eine ausgewiesene Kennerin des Ebner-Eschenbach’schen Werkes und Mitherausgeberin der vierbändigen Marie von Ebner-Eschenbach-Leseausgabe im Residenz Verlag, führt die LeserInnen durch das lange Leben der mährisch-österreichischen Autorin, die von 1830 bis 1916 lebte.

Die chronologisch angelegte Biografie las sich für mich zwischenzeitlich, das ist dann aber oft dem Gegenstand geschuldet, etwas langatmig, da Strigl uns ausführlich auch durch jene Jahrzehnte führt, in denen Ebner-Eschenbach der Meinung war, Dramen schreiben zu müssen. Erst als sie auf Erzählungen, Aphorismen und Romane umstieg, kam der Erfolg. Da wurde es auch für mich als Leserin interessanter, sich mit den Inhalten ihrer Geschichten zu beschäftigen. Die Schriftstellerin selbst habe

ihren Weg vom Drama zur Erzählung als Abstieg betrachtet und ihre großen und kleinen Erfolge auf dem Gebiet der Prosa als eine Form des Scheiterns. […] Und in einem abschließenden Superlativ des Understatements spricht die längst als bedeutendste Erzählerin deutscher Zunge anerkannte Marie Ebner sich sogar den Status einer Dichterin ab. ‚In meiner Jugend war ich überzeugt, ich müsse eine große Dichterin werden, und jetzt ist mein Herz von Glück und Dank erfüllt, wenn es mir gelingt, eine lesbare Geschichte niederzuschreiben.‘ (S. 187)

Davon abgesehen ist es aufschlussreich zu lesen, in welch adlig-wohlhabenden Kreisen die Autorin zu Hause war. Ihr Vater hatte sieben Kinder von drei seiner insgesamt vier Ehefrauen – die er alle überlebte – und man gehörte später zur Wiener High Society.

Die Autorin pflegte zahlreiche (Brief-)Freundschaften, die zum Teil Jahrzehnte überdauerten, stand in Kontakt mit literarischen Größen ihrer Zeit. Wir erfahren, wer ihre literarischen Vorbilder waren und welches karikative Engagement aus ihrer sozialen Grundhaltung resultierte.

Darüber hinaus kommt ihre Einstellung, z. B. zur Frauenbewegung, zur Sprache. Aber auch ihre Reitbegeisterung, ihr Vorliebe für Zigarren und ihre späte Liebe zu Rom werden ausführlich gewürdigt. Ebenso geht es um ihre Ehe mit ihrem 15 Jahre älteren Cousin, die kinderlos blieb, und nicht zuletzt um einen umfassenden Einblick in ihr Werk, das oft genug der (adligen) Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorhält. Auch ihr späteres öffentliches Auftreten gegen antisemitische Umtriebe war für „eine katholisch sozialisierte österreichische Aristokratin bemerkenswert genug“. (S. 275)

Insgesamt eine Schriftstellerinnenkarriere, die nach diversen erfolglosen Theaterstücken schon zu Ende schien, bevor sie richtig begonnen hatte, und die dann doch bis zu den höchsten Stufen des Erfolgs führte. Sie erhielt als erste Frau das Ehrendoktorat der philosophischen Fakultät der Universität Wien. Sogar für den Nobelpreis wurde später ihr Name ins Spiel gebracht.

Wenig überzeugend fand ich allerdings die zahlreichen psychoanalytischen Deutungsversuche: Wie hilfreich ist es denn, wenn sich Strigl bei der Frage nach der tiefenpsychologischen „Ursache für Maries fundamentale Verunsicherung“ in ihrer Kindheit auf Georg Groddeck bezieht?

‚Der Säugling, der von der Amme gestillt wird, ist in den Zweifel hineingestellt und wird den Zweifel nie verlieren. Seine Glaubensfähigkeit ist im Fundament erschüttert und das Wählen zwischen zwei Möglichkeiten ist für ihn schwerer als für Andere.“ (S.45)

Auch Kinderlosigkeit wird von Groddeck ratzfatz als eine unbewusste Ablehnung der Schwangerschaft gedeutet, ein Ansatz, den selbst Strigl als „einigermaßen provokant“ (S. 110) empfindet.

Wesentlich lohnender erscheint mir die Biografie unter dem Gesichtspunkt, wie Ebner-Eschenbach damit umging, nahezu ein Leben lang gegen den Wunsch ihrer Familie schriftstellerisch tätig gewesen zu sein. Schon die Großmutter schickt sie grob hinaus, als die kleine Marie ihren Wunsch verkündet, später Dichterin werden zu wollen.

Marie ist nun von der ‚Sündhaftigkeit‘ ihrer Passion überzeugt, sie weint mit ihrer Schwester, die auch nicht mehr weiterweiß: ‚Sprich nicht davon; dann vergeht’s vielleicht.‘ […] Was wie eine komische Grille anmutet, erlebt das Kind als schreckliche Gewissensnot, als ein Verdammtsein zum Ungehorsam. Ganz ernsthaft wünscht Marie sich den Tod. Das Urteil der erwachsenen Frau beschönigt nichts: ‚Gut bei diesem Verfahren der Meinen war bloß die Absicht. Gewollt haben sie mein Bestes und, ohne es zu wissen was sie taten, mir das peinvoll demütigende Gefühl eines angeborenen, geheimen Makels aufgebürdet.‘ (S. 57)

Selbst von der Mode waren schreibende Frauen eigentlich nicht vorgesehen. Die Kopfschmerzen, von denen viele Frauen im 19. Jahrhundert berichten, werden von Evelyne Polt-Heinzl mit der Krinoline erklärt, mit der man nicht am Schreibtisch sitzen konnte, stattdessen mussten die Frauen

in vorgebeugter Haltung mit einem Schreibbrett auf dem Schoß vorlieb nehmen. Der Schmerz der malträtierten Halswirbelsäule habe in den Kopf ausgestrahlt. (S. 93)

Groddeck hat auch hier eine andere Deutung im Angebot:

Die bei Frauen oft mit der Menstruation einhergehende Migräne habe die Funktion, die in dieser Zeit gesteigerte, aber nach der Konvention nicht zu befriedigende Libido abzutöten. (S. 93)

Nicht nur der Ehemann sah das Schreiben seiner Gattin kritisch. Auch bei den Brüdern waren große Widerstände zu überwinden. Die Haltung ihres Ehemanns ist dabei zumindest ambivalent: Ist Marie von Ebner-Eschenbach erfolgreich, freut er sich mit ihr; zerreißt die Kritik das Werk, will er ihr prompt verbieten, weiterhin schriftstellerisch tätig zu sein. Er werde schließlich nicht erlauben, dass sie seinen guten Namen verunglimpfe. Und sie, ganz Ehefrau ihrer Zeit:

‚Er hat das Recht so zu sprechen, ich sehe es ein.‘ (S. 161)

Gleichzeitig habe er sich damit abgefunden, dass sie wohl machtlos gegen den Schreibdrang sei. Seinem Testament liegt ein liebevoller Brief bei, in dem er bekennt, sie nicht gefördert zu haben, sie allerdings auch nie absichtlich behindert zu haben. All ihren Erfolg habe sie ausschließlich der eigenen Kraft zu verdanken. (Vielleicht war dies ja das Hauptproblem, das die männliche Eitelkeit zu verkraften hatte?)

Aufschlussreich wird es immer dann, wenn zeitgenössische Kritiker die vorgeblichen Mängel oder Stärken ihrer Stücke und Erzählungen auf das Geschlecht der Autorin zurückführen. Und so erfuhren die LeserInnen der Presse:

‚Der souveräne Humor ist ein männliches Vorrecht.‘ (S. 174)

Ebner-Eschenbach hat ihr Leben lang erfahren, dass es keineswegs allgemein anerkannt war, dass Frauen menschliche Wesen sind, die die gleichen Bedürfnisse nach Bildung und Selbstverwirklichung haben wie Männer. An einer Stelle schreibt sie:

‚Wie aber, wenn die Frau in erster Reihe ein menschliches, und erst in zweiter ein weibliches Wesen wäre? wenn sie eben so viel individuelles Leben besässe wie der Mann und der Ergänzung durch ihn nicht mehr bedürfte, als er der Ergänzung durch sie; und wenn es doch möglich wäre, dass ein wirkliches, ein grosses und der Expansion fähiges Talent auch in einer deutschen Frau zur Erscheinung käme?‘ (S. 306)

Selbst die Genderdebatte hat Ebner-Eschenbach bereits vorweggenommen:

‚Wenn eine Frau sagt ‚Jeder‘ meint sie: jedermann. Wenn ein Mann sagt ‚Jeder‘, meint er: Jeder Mann.‘

Seien wir ehrlich: Vielen von uns ist die Autorin vermutlich nur noch bekannt durch verschwommene Erinnerungen an Schullektüre; und der ein oder die andere assoziert dabei möglicherweise eine behäbige Frau, die für Mitleid, Treue und weitere vielleicht auch zu Unrecht aus der Mode gekommene Begriffe steht. Dabei sollte man sich laut Strigl keinesfalls von dem betulich wirkenden Altdamen-Image der Milde und ausgleichenden Güte, das die Schriftstellerin später selbst aktiv pflegte, abschrecken lassen. 

Es könnte also lohnen, sich einige ihrer Erzählungen und Romane erneut oder zum ersten Mal überhaupt vorzunehmen. Zugegeben: Man wird bei der Lektüre dann das ein oder andere pathetische Adjektiv ertragen müssen. Die liebliche blonde Frau, das stahlharte Herz, die schaudernden Blicke, die eiskalte Hand, die heißen Lippen, die Frau, die Tausenden zum Heil gewirkt habe, das liest sich heute doch, freundlich gesagt, ermüdend und arg klischeehaft. Oder wie Tilman Spreckelsen es in seiner Besprechung vom 12. März 2016 in der FAZ ausdrückte:

Tatsächlich ist es leicht, den Texten Ebner-Eschenbachs […] auf den Leim zu gehen, schließlich enthalten sie genug an nicht selten süßlichen Floskeln und auch an stereotyp gezeichneten Figuren, um darüber die Abgründe der Handlung zu übersehen, die so gar nicht zu dieser konventionellen Prosa passen wollen und die angesichts der auffälligen Parallelen mancher Konstellationen zum Leben der Autorin die Frage aufwerfen, wer da eigentlich schreibt, aus welcher Warte und mit welchen Erfahrungen hier mit erkennbar realistischem Anspruch von den sozialen Verhältnissen in der Habsburgermonarchie berichtet wird.

In diesem Zusammenhang zitiert Strigl den Beginn der psychologisch feinen Erzählung Das tägliche Leben. Dieser Paukenschlag weckte sofort mein Interesse. Und so wird Das tägliche Leben sicherlich nicht die letzte Geschichte sein, die ich von Ebner-Eschenbach lese.

Am Vorabend der silbernen Hochzeit eines allverehrten Ehepaares, die von einem großen Familien- und Freundeskreise feierlich begangen werden sollte, erschoß sich die Frau.

Wer noch Genaueres wissen möchte, bitte hier entlang:

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Fred Kaplan: Dickens: A Biography (1988)

Es ist doch erstaunlich, wie wenig zwei drei Wochen später manchmal noch von der Lektüre präsent ist, und das liegt keinesfalls immer am Buch.

An der Biografie zu Charles Dickens von Fed Kaplan (*1937) aus dem Jahr 1988 gibt es nämlich gar nichts zu meckern.

Sie ist, wie sich das gehört, chronologisch aufgebaut, enthält viele Zitate, ist umfassend recherchiert (mit Index über 600 Seiten) und selten langweilig – denn dafür, dass Charles Dickens (1812 – 1870)  ständig in geschäftlichen Verhandlungen unterwegs war und so dermaßen viele wichtige Menschen kannte  und ein äußert geselliger Geist war – kann Kaplan schließlich nichts.

Er zeigt immer wieder die Bezüge auf, die zwischen den Traumata der Kindheit des berühmten Schriftstellers, seinem späteren Leben mit seinem schier unglaublichen Arbeitseifer und seinen Werken bestehen. Vor allem gefiel mir, dass Kaplan sich eine eigene Meinung zugesteht, interpretiert und nicht in Heldenverehrung ertrinkt.

Dickens‘ Erfahrungen, als Junge aus der Schule genommen zu werden, um im Schaufenster einer Schuhfabrik eine als zutiefst demütigend empfundene Arbeit verrichten zu müssen, um damit die klammen Familienfinanzen – sein Vater saß zeitweise im Schuldgefängnis ein – zu entlasten, würden ihn für immer prägen, sowohl in seinem Arbeitsethos, aber auch in seinem Drang, keine Möglichkeit des Geldverdienens ungenutzt verstreichen zu lassen. Ein Leben lang würde er sich über seinen Vater und andere Familienmitglieder ärgern, die nicht mit Geld umgehen konnten und später öfter heimlich auf seinen Namen Schulden machten.

Später geht es um sein ungezügeltes Dominanzstreben Freunden und der Familie gegenüber (die Namen seiner Kinder hat allein er entschieden). Die Verachtung, die er seine Ehefrau immer deutlicher spüren ließ, der er übelnahm, dass sie 10 Kinder gebar und sich nicht gleichzeitig zu einer schlanken, ranken Seelengefährtin entwickeln mochte. Sein hässliches Verhalten im Scheidungskrieg, sein viktorianisch heuchlerisches Doppelleben mit einer Geliebten, da man gerade ihm, dem literarischen Verfechter des trauten Heims, eine Scheidung vermutlich übel genommen hätte.

Und dann seine Unrast, immer laufen zu müssen, kilometerweit, stundenlang, auch nachts, dann gern mit Freunden oder in Begleitung von Polizisten, um in den Slumvierteln der Städte das Leben zu studieren. Die Reiseleidenschaft, als er sich das leisten konnte, mit komplettem Hausstand monatelang in Italien oder Frankreich zu verweilen. Seine Begabung für die neu aufkommende Mode, Menschen zu hypnotisieren. Gern auch hübsche junge Frauen. Und auf seinen ausgedehnten Reisen versuchte er, wann immer möglich, auch die Krankenhäuser und die damals sogenannten Irrenanstalten (lunatic asylums) und Gefängnisse von innen zu sehen, um sich auf diese Weise ein Bild von den gesellschaftlichen Zuständen zu verschaffen.

Ebenfalls zu dieser Seite seines Charakters gehört sein lebenslanges soziales Engagement, mit dem er sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Ärmsten der Armen einsetzte. Er wollte Bildung zugänglicher machen, protestierte gegen die Arbeitsbedingungen in den Kohleminen, in denen Kinderarbeit gang und gäbe war, unterstützte ein Haus,  in dem Frauen aus der Prostitution geholt werden sollten, und sprach sich nicht nur gegen die Sklaverei in Amerika, sondern auch gegen die öffentlichen Hinrichtungen in London aus, aus denen volksfestartige Spektakel gemacht wurden. Besonders erschütterten ihn die Gefängnisse in Amerika, in denen die Täter zu Einzelhaft verurteilt wurden und keinerlei Kontakt zu den Mithäftlingen haben durften. Kaplan schreibt, Dickens zitierend:

At the Eastern Penitentiary near Philadelphia he saw the solitary system in operation. On the one hand, it separated criminals from one another’s contaminating contact. On the other, it tortured long-term prisoners into mental anguish so severe that he felt he ’never in [his] life was more affected by anything which was not strictly [his] own grief‘ than by the ‚indescribable something‘ which he saw in such prisoners, ‚distantly resembling the attentive and sorrowful expression you see in the blind – which is never to be forgotten. … This slow and daily tampering with the mysteries of the brain‘ seemed to him ‚immeasurably worse than any torture of the body.‘ A prisoner in solitary confinement ‚is a man buried alive’… (S. 143)

Dickens‘ Theaterleienschaft ist eine weitere Facette dieses umtriebigen und ständig wie unter Strom stehenden Geistes. Er führte mit Freunden und Familienmitgliedern Stücke auf professionellem Niveau auf, zu denen man nur mit persönlicher Einladung zugelassen wurde. Schließlich seine berühmten Lesereisen, auf denen er mühelos Säle mit 2000 Zuhörern und sein Konto mit Reichtum füllte.

Und dann geht es natürlich auch um Dickens‘ verlegerische Aktivitäten, obwohl ihm ein akademischer Bildungshintergrund fehlte, seine streng geregelte Arbeitsweise; seine Empörung über die ungehobelten Amerikaner, die seine Werke in Raubdrucken nachdruckten und gar nicht verstehen mochten, wieso dem Herrn Dickens die Copyright-Verletzungen so zuwider waren.

Alles in allem ist Kaplans Buch ein überzeugender Begleiter, wenn man Dickens‘ gleichsam kometenhaften Aufstieg zum berühmtesten und erfolgreichsten britischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nachvollziehen will. Und die ein oder andere Stelle, in der es um öde Gehaltsverhandlungen geht oder in denen man kurzzeitig den Überblick über seinen ausgedehnten Freundeskreis zu verlieren droht, kann man ja querlesen.

 

 

Ursula März: Tante Martl (2019)

Die Autorin und Literaturkritikerin Ursula März (*1957) hat ein hinreißendes Buch über ihre Patentante geschrieben. Die Eckdaten dieses Lebens werden uns gleich zu Beginn mitgeteilt, nachdem wir im Vorübergehen erfahren haben, wie Telefongespräche mit Tante Martl ablaufen und wie diese zu Thomas Gottschalk steht, den sie nur „de dumm Lackaff“ nennt.

Meine Tante war Lehrerin von Beruf. Sie heiratete nie und hatte keine Kinder. Außer ein paar Jahren während des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit verbrachte sie ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus in der westpfälzischen Kleinstadt Zweibrücken. Der einzige Wechsel ergab sich nach dem Tod ihrer Eltern, als meine Tante aus ihrer Wohnung im Erdgeschoss in das nun frei gewordene Obergeschoss zog. Danach verbrachte sie noch 38 Jahre allein in dem Haus, in dem sie an einem Junisonntag im Jahr 1925 geboren worden war. Sie war eine materiell unabhängige, interessierte und gebildete Frau, die schon in den Fünfzigerjahren ein eigenes Auto und immer ein eigenes Bankkonto besaß, die leidenschaftlich gern verreiste, mit kribbelnder Vorfreude ihre Touren in Mittelmeerländer, ins Gebirge und sogar ans Nordkap plante. Aber sie unternahm nie einen Versuch, sich vom Elternhaus zu lösen, zumal von einem Vater, der sie rücksichtslos spüren ließ, dass er sie nicht gewollt hatte. (S. 8/9)

Tante Martl war die jüngste von drei Schwestern (eine davon die Mutter der Autorin), von denen die zwei anderen immer wie selbstverständlich davon ausgingen, dass Martl eher so Dienstbotenstatus habe und und dass es Martl sei, die sich trotz ihrer Berufstätigkeit um die alten Eltern zu kümmern habe.

Selbst als die drei Schwestern schon ältere Frauen sind, wollen sie Martl nicht erlauben, sich von einer alten Wanduhr in ihrer Wohnung zu trennen, die schließlich schon immer im Elternhaus gestanden habe. So lebt Martl jahrelang mit einem Möbelmonstrum in ihrer Wohnung. Wie sie sich schließlich doch davon befreit, ist nur eine der unterhaltsamen und gleichzeitig anrührenden Geschichten in diesem Buch.

Abgesehen davon, dass schon allein die Bekanntschaft mit der keineswegs immer liebenswürdigen „Tante Martl“ für den Leser/die Leserin lohnt, war für mich eine weitere Besonderheit an diesem Buch, dass ich trotz aller Individualität, die jedes Leben ausmacht, doch viel über die Generation meiner Großeltern darin wiedergefunden habe. Die Frage, welche Schulbildung man seinen Töchtern zubilligt. Die Prägung durch ein autoritäres Elternhaus, in dem der Vater, der es unter Hitler bis zum Gefängnisdirektor bringt, sich unwidersprochen als Despot aufführen darf, sich in seiner Männerehre getroffen fühlt, als Martl die unverzeihliche Schuld auf sich lädt, nicht als Sohn auf die Welt zu kommen. So lässt er sie zunächst auf dem Standesamt als Martin eintragen, in der Hoffnung, dass sich das Universum seinen Wünschen vielleicht doch noch beugt.

Eine Kränkung, die Martl nie verwinden wird, und als sie im Alter langsam dement wird und sie so vieles schon vergessen hat, bricht sich die Traurigkeit darüber, nie vom Vater gewollt und anerkannt gewesen zu sein, noch einmal mit vielen Tränen Bahn.

Sie wird im Gegensatz zur Lieblingstochter füchterlich verprügelt, bis manchmal die Mutter mit den Worten dazwischengeht, er solle jetzt mal besser aufhören, sonst würde er sie noch totschlagen.

Vermutlich ist es ihm nie seltsam erschienen, dass es gerade Martl war, die sich später um ihn kümmerte, als er im Alter auf Pflege angewiesen war.

Die Irrationalität und Ungerechtigkeit im Umgang mit den Töchtern wirken sich natürlich auf deren weiteres Leben aus. Die Lieblingstochter Rosa ist später oft vom Leben überfordert und flüchtet sich lieber in Krankheiten und die Geschichten um den europäischen Adel in diversen Klatschmagazinen, schließlich ist sie auf nichts anderes vorbereitet worden.

Doch auch dieses Frauenschicksal ist nicht ohne den geschichtlichen Hintergrund zu sehen und zu verstehen. Rosa heiratete im Frühsommer 1944. Nach einer Woche Hochzeitsurlaub musste ihr Mann zurück zu seiner Einheit. Rosa erkrankte im Spätherbst 1944 an einer schweren Hepatitis. Als sie im Januar 1945 die Nachricht erhielt, dass er in Oberitalien bei einem Angriff eines Lazaretts – er war Arzt – ums Leben gekommen war, lag sie noch im Krankenhaus.

Ab dieser Zeit nahm sie die Position der überempfindlichen, von jedem Lüftchen bedrohten und kaum belastbaren Frau ein, die um Hilfe ruft, wenn eine große Bratpfanne von der Herdplatte gehoben werden muss. (S. 71)

Auch der Reinlichkeitswahn der ältesten Schwester Bärbel kommt vermutlich nicht von ungefähr. Als erwachsene Frau begeistert sie sich schließlich für das Desinfektionsmittel Sakrotan.

Sie kaufte Flaschen davon im Dutzend und fand im Desinfizieren des Haushalts große Befriedigung. Wenn ich bei ihr in Kaiserslautern zu Besuch war und mir vor dem Essen die Hände wusch, wartete sie ungeduldig, bis ich fertig war, sie einen Putzschwamm mit Sakrotan begießen und das Waschbecken ausreiben konnte. (S. 33)

März schafft es, uns diese Frauen nahezubringen, indem sie Geschichten, die in der Familie überliefert wurden, in Bezug setzt zu ihrer eigenen Beziehung zu Tante Martl und den vielen Gesprächen, die die beiden miteinander geführt haben. Dazu kommen zahlreiche, wunderbar ausgewählte und aussagekräftige Erinnerungen der Autorin, die auch die andauernden und oft nur unterschwellig ausgetragenen Familienkonflikte mit in den Blick nehmen und dem Ganzen eine große Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit verleihen.

Gleichzeitig bleibt das Buch durchlässig auf die Leerstellen und Widersprüchlichkeiten, die sich bei der Beschreibung dieses Lebens zeigen. Wer machte das wunderschöne Foto von ihrer ca. zwanzigjährigen Tante, auf dem sie wie auf keinem anderen glücklich und mit sich im Reinen in die Kamera schaut? Warum hat sie sich selbst als erwachsene Frau von ihren Schwestern den Wunsch nach einem Hund ausreden lassen, von dem sie doch ihr ganzes Leben geträumt hat?

Wie lassen sich die Unterwürfigkeit Tante Martls gegenüber der Familie und ihr Wunsch, in Restaurants immer auf den schlechtesten Plätzen zu sitzen, in Einklang bringen mit ihrer Emanzipation? Sie war die einzige der drei Schwestern, die eine überregionale Zeitung las, Auto fahren, einen Handwerker herbeibeordern und ihre Geldgeschäfte selbstständig regeln konnte. Und überhaupt: Eigentlich hieß sie Martina, wurde aber von allen immer nur als Tante, also in Relation zu ihrer Familie, bezeichnet.

Wie war die oft schroffe Frau als Lehrerin? Schließlich kommen zur Beerdigung viele ihrer ehemaligen HauptschülerInnen, von denen sich einer mit besonderer Dankbarkeit an sie erinnert.

Und manche der Szenen sind einfach unglaublich komisch und zeigen, zu welchen Absurditäten das ganz „normale“ Familienleben immer wieder führen kann.

Eine besonders schöne Stelle beschreibt, wie die Autorin als Kind mit ihrer ca. vierzigjährigen Tante auf einem Jahrmarkt unterwegs ist. Das Kind möchte so gern, dass Tante Martl einmal zusammen mit ihr mit dem Kettenkarussell fährt.

‚Isch will net‘, wehrte sie barsch ab, ‚isch bin doch ke Hanswurscht, wo sisch vor de Leut blamiert.‘ (S. 34)

Das Kind schafft es mit einem Trick, dass der Tante nichts anderes übrigbleibt, als in das Karussell zu steigen, andernfalls wären noch viel mehr Menschen auf das Gerangel der beiden aufmerksam geworden.

Es begann sich zu drehen, nach ein paar Metern schwebten wir über dem Boden, bei der nächsten Runde lag das Kirmesgelände schon weit unter uns. Ich schaute zu meiner Tante hinüber und hoffte, es würde ihr nicht schwindlig oder übel. Mit den Händen umklammerte sie ängstlich die seitlichen Metallgriffe des Sessels, aber in ihrem Gesicht sah ich den lachenden  Jubel, nach dessen Ausdruck ich mich gesehnt hatte. (S. 35)

Auf der Homepage des Deutschlandfunk gibt es ein Interview mit der Autorin.

Und Lena Riess hat das Buch ebenfalls gelesen.

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Steven Naifeh; Gregory White Smith: Van Gogh – Sein Leben (OA 2011)

Vor einigen Jahren kaufte ich im Van Gogh Museum in Amsterdam DIE Biografie von Naifeh und Smith zum Künstler; doch wie so oft, das Buch war gekauft, aber dann verlor sich das Interesse und andere Bücher drängelten sich vor, bis es mir eher zufällig wieder in die Hände fiel. Unlustige Gedanken machten sich breit: Würde mein Interesse an van Gogh und seinen Bildern wirklich über 1000 Seiten tragen? Hätte es der Wikipedia-Artikel nicht auch getan?

Die Antwort ist einfach: Nein, das Buch war hinreißend und so spannend, ja manchmal geradezu nervenaufreibend, dass ich es kaum aus der Hand legen konnte und mein Mann musste sich jeden Abend lange Inhaltsangaben anhören – selbst wenn es einiges gab, was man vielleicht hätte kürzer fassen können.

Den Trumm aus dem Amerikanischen übersetzt haben Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmaier, Sonja Schuhmacher und Rita Seuß.

Alle meine Ansichten, die ich vorher zu van Gogh (1853 – 1890) hatte, warf das Buch über den Haufen; nahezu jede Seite brachte neue Details eines Lebens, das sich zwischen Kunsthandel, Büchern, Museen, Holland, Prostituierten, Großbritannien, Selbstkasteiungen, einem belgischen Steinkohlerevier, Armut, Paris und Südfrankreich entfaltete. Auch die gängige Theorie von Vincents Selbstmord stellen die Autoren zumindest in Frage.

Naifeh und Smith konnten nicht nur auf die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungsarbeit zurückgreifen und auf die Hilfe renommierter Institutionen hoffen, sie haben es neben ihrer schier unglaublichen Recherchearbeit auch verstanden, unzählige Zitate aus den Briefen Vincents und anderer Familienmitglieder – allen voran von Bruder Theo – so organisch einzuflechten, dass man sehr nahe am Geschehen ist.

Die künstlerische Entwicklung van Goghs wird in den gesamtgesellschaftlichen und künstlerischen Rahmenbedingungen verortet und ist auch für Laien gut nachvollziehbar. Das Buch enthält eine ganze Reihe von Abbildungen, von denen man sich, wie könnte es anders sein, natürlich noch wesentlich mehr wünschen würde.

Doch es sind vor allem drei Aspekte, die mich am meisten an dieser unglaublichen und dabei doch immer sachlichen Biografie faszinieren, die weitab von jeglicher Verklärung oder Verkitschung ihres Gegenstandes ist.

Zum einen lässt sich das Buch auch als Psychogramm einer Familie lesen. Der Vater war Pfarrer und in dieser oft sehr verlogenen Welt, die nur auf äußere Wohlanständigkeit schielte, war von Anfang an kein Platz für einen schwierigen und unkonventionellen Sohn. Den Kindern wurde verboten, mit Bauern und armen Leuten Umgang zu haben. Man war schließlich etwas Besseres. Später „durften“ Vincent und sein Bruder Theo zwar Affären haben, selbst dass sie Frauen schwängerten, war nicht das eigentliche Problem. Doch sobald einer der Söhne seine unstandesgemäße Geliebte heiraten wollte, wurden die ganz großen Geschütze aufgefahren.

Zum anderen ist die Bruderbeziehung zwischen Vincent und Theo wesentlich vielschichtiger, als ich mir das so vorgestellt hatte. Und Vincent war allein schon vom Verhalten und den finanziellen Forderungen, die er an Theo stellte, tatsächlich eine unglaubliche Belastung. Vincent war nicht fähig und später auch nicht willens, seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Vor allem, nachdem sich seine Träume, als einfacher Prediger in England Arbeit zu finden, als völlig wirklichkeitsfremd erwiesen hatten. Und zu seinen Lebzeiten ist nur der Verkauf eines einzigen Gemäldes von ihm dokumentiert.

Der dritte Aspekt, der nach der Lektüre nachhallt, ist die schier unfassbare lebenslange Einsamkeit dieses Mannes, der – so erscheint es mir jetzt – eher aus Zufall Künstler geworden ist. Ein Mensch, der ständig von Heimweh nach einer illusionären heilen Vergangenheit und Familie – die später nichts mehr von ihm wissen wollte – geplagt war und in grandiosen Wahnvorstellungen von einer Künstlergemeinschaft geträumt hat und für diese Gemeinschaft vermutlich der allerungeeignetste gewesen wäre. Sämtliche Beziehungen und Freundschaften zerbrachen an seinem unverschämten, distanzlosen und diktatorischen Verhalten. Selten dürften Selbst- und Fremdwahrnehmung bei einem Menschen immer wieder so weit auseinander gelegen haben wie bei Vincent van Gogh.

Seine große Liebe galt der Porträtmalerei, also genau dem Bereich, wo er vermutlich die größten handwerklichen Schwächen  hatte. Seine vielen Selbstporträts sind allerdings auch dem Umstand geschuldet, dass er oft kein Geld hatte, Modelle zu bezahlen.

Seine unbeschwerteste Zeit war womöglich die in der „Irrenanstalt“ in Südfrankreich, wo er einfach – zwischen seinen Wahnschüben – malen konnte, sich nicht um finanzielle Angelegenheiten sorgen und nicht befürchten musste, von Straßenjungen mit faulem Obst beworfen zu werden. Es geht einem nahe, wenn man nach über 1000 Seiten liest, was er kurz vor seinem Tod aus Auvers in einem Brief geschrieben hat:

Ich will nicht sagen, meine Arbeit wäre gut, aber von allem, was ich machen kann, ist sie noch am wenigsten schlecht. Das Übrige, Beziehungen zu Menschen, ist recht zweiten Ranges, denn dazu habe ich kein Talent. Das lässt sich nun mal nicht ändern.

Sein Bruder Theo, ohne dessen finanzielle Unterstützung Vincent nichts hätte malen können, starb nur ein Jahr nach ihm. Dass wir heute van Goghs Gemälde in den Museen der Welt bewundern können, verdanken wir ganz wesentlich seiner Schwägerin und seinem Neffen und Sammlern wie Helene Kröller-Müller.

Und wer mag, hört jetzt noch ein bisschen Don McLean.

 

Merlin Holland: Das Oscar-Wilde Album (OA 1997)

Vor vier Jahren (!) empfahl Petra auf Philea’s Blog Das Oscar-Wilde Album, das Fotos, Karikaturen und andere Bilder zu Wilde enthält. Zusammengestellt wurde es von Merlin Holland, dem einzigen Enkel des weltberühmten irischen Schriftstellers. Ich erstand das Büchlein damals günstig im Antiquariat und seitdem fristete es irgendwo ein Schattendasein in meinen eher unsortierten Bücherregalen. Aber im Urlaub las ich mal wieder Wildes große Gesellschaftskomödien.

Wie keck, wie frisch und frech die sich heute noch lesen! Und wie Wilde es schafft, innerhalb weniger Zeilen die Verlogenheit und die Heuchelei der oberen Gesellschaftsschichten auf den Punkt zu bringen. Und wenn man an seine letzten Lebensjahre denkt, behandelt er in seinen Stücken fast schon hellseherisch die Frage, was die Gesellschaft noch zu tolerieren bzw. zu verzeihen bereit ist oder was einen dauerhaft ins soziale Aus manövrieren wird.

Außerdem wird in den Komödien das Problem, dass man oft einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit unter Verschluss halten muss, um nicht durch das Raster der „Anständigen“ zu fallen, ironisch und wortgewandt verpackt. Aber vor dem Hintergrund von Wildes Homosexualität und den damals dramatischen Folgen (Prozess mit Verurteilung zu Zwangsarbeit, Einzelhaft, Verarmung und gesellschaftlicher Ächtung bis zum frühen Tod) läuft es einem trotz allem Wortwitz schon manchmal kalt den Rücken herunter.

Da passte das von Petra genannte Buch natürlich wie der Topf auf den Deckel. Und gerade bei Wilde (1854 – 1900), einem so an der Selbstdarstellung interessierten Menschen, ist das Visuelle ein ganz wesentlicher Bestandteil. Die Fotos, Karikaturen und Werbeplakate werden erläutert und hangeln sich an der kurz und knackig erzählten Biografie Wildes entlang.

Als Kinder durften Oscar und Willie beim Essen mit am Tisch sitzen und zuhören, ohne zur Unterhaltung beizutragen. Eine frühe Übung darin, den Mund zu halten, was ihm, wie Oscar erklärte, später half, ihn als Erwachsener so wirkungsvoll zu nutzen. (S. 20)

Wilde ließ sich von professionellen Starfotografen gleich in Serie portätieren, in verschiedensten Posen und teuren Kleidungsstücken – er hätte wahrscheinlich heute viel Freude an Facebook und Twitter.

Dabei weist Holland nicht zu Unrecht darauf hin, dass man heute allzu leicht vergesse,

was für ein hervorragender Akademiker er war. Sowohl bei seiner Zwischenprüfung im Jahre 1876 als auch bei seinem Abschlußexamen im Jahre 1878 schnitt er als Bester seines Jahrgangs ab, und bei der mündlichen Prüfung sollen die Prüfer mehr Zeit darauf verwendet haben, ihm zu seiner Leistung zu gratulieren, als ihn zu seinen schriftlichen Arbeiten zu befragen. (S. 35)

Schließlich hatte Wilde klassische Sprachen und Literatur, moderne Philosophie, Philologie und Geschichte zunächst in Dublin und später in Oxford studiert.

Aber es gibt auch anrührende Bilder in diesem Band: Als Oscar Wilde dreizehn Jahre alt ist, stirbt seine drei Jahre jüngere Schwester. Oscar bemalt einen Briefumschlag und bewahrte darin eine Locke ihres Haares bis zu seinem eigenen Tod. Oder die Porträts seiner großen und verhängnisvollen Liebe, des sechzehn Jahre jüngeren Lord Alfred „Bosie“ Douglas, den Wilde kennenlernt, als er 37 ist.

Das Album ist für alle geeignet, die etwas über Wilde erfahren möchten, sich aber nicht gleich den Ziegelstein von Ellmann mit knapp 900 Seiten antun möchten.

Ansonsten empfehle ich auch Petras Artikel zu Oscar Wilde selbst.

Hazel Hutchison: Henry James (2015)

Henry James‘ früheste Erinnerung beruht auf einer Kutschfahrt mit seinen Eltern: in einem langen Kinderkleidchen saß er da, mit den Beinen baumelnd, als sein Blick aus dem Fenster auf einen großen Platz fiel, auf dem sich eine steinerne Säule in den Himmel reckte. Man schrieb das Jahr 1844, und die Familie James weilte gerade in Paris, nachdem sie mehrere Monate in London verbracht hatte. Wie ihm seine Eltern später bestätigten, waren sie damals die Rue st. Honoré hinuntergefahren und hatten dabei auch den Place Vendôme passiert mit der Colonne Vendôme, der Siegessäule mit dem Standbild Napoleons. Es war, so schrieb er später in seiner Autobiografie, ein ‚Mirakel‘ der Erinnerung. Er war noch nicht einmal zwei Jahre alt, aber das Bild der Siegessäule, die im Rahmen des Kutschenfensters über der Silhouette der Stadt aufragte, hatte sich ihm tief ins Gedächtnis eingeprägt.

Mit diesen Sätzen beginnt die Biografie zu Henry James von Hazel Hutchison, deren deutsche Übersetzung von Ute Astrid Rall im Parthas Verlag veröffentlicht wurde. Die Originalausgabe erschien 2012.

An dieser Stelle möchte ich mich für die Überlassung eines Besprechungsexemplars bedanken.

Zum Inhalt

Auf 192 Seiten verfolgen wir den Werdegang des Autors, der 1843 in New York in wohlhabenden, aber einengenden Familienverhältnissen zur Welt kam. Sein Großvater väterlicherseits, der als Achtzehnjähriger aus Irland eingewandert war, ließ sich 1793 in Albany nieder

und gab der Stadt Jamesville, New York, seinen Namen. Als er 1832 starb, hinterließ er ein Vermögen von drei Millionen Dollar. (S. 9)

Henry James‘ Vater, ein glühender Anhänger der Lehren Swedenborgs, brauchte aufgrund dieses Erbes niemals für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Er veranlasste auch die ständigen Schulwechsel seiner Söhne, wobei sich die Schulen mal in Amerika, mal in Europa befanden. Dabei hatte sich schon der Beginn von Henrys Schulbildung nicht eben vielversprechend angelassen:

Albany war auch der Sitz einer Grundschule namens Dutch House, in die er zunächst eingeschult werden sollte. Doch niemand brachte es fertig, den kleinen, schreienden und um sich tretenden Jungen über die Schwelle zu zerren, und so musste man ihn wieder nach Hause bringen. (S. 15)

Überhaupt werden die häufigen Orts- und Kulturwechsel zwischen Italien, Frankreich, England und der „Neuen Welt“ Amerika zu einem bestimmenden Lebensmotiv, dem die feinfühlige Beobachtungsgabe, die Sprachkenntnisse und die Werke des später weltberühmten Literaten wesentliche Impulse verdanken.

Schon als Sechsjähriger erliegt Henry der Faszination der Literatur.

Als seine Mutter sich hinsetzte, um einem älteren Cousin die erste Folge von David Copperfield vorzulesen, verrieten den sechsjährigen Harry [wie Henry genannt wurde], der ins Bett geschickt worden war, sich zum Zuhören aber unter einem Tisch versteckt hatte, lauthalse Schluchzer angesichts der Leiden von Dickens jugendlichem Helden. Als er älter wurde, las James sämtliche Werke Dickens, derer er habhaft werden konnte, und wartete begierig auf das Erscheinen neuer Fortsetzungen der späteren Romane. (S. 17)

Ein Jura-Studium wird begonnen, dann abgebrochen. Henry James Junior, wie er sich bis zum Tode seines Vaters nennt, entwickelt eine tiefe Liebe zur Literatur, schreibt erste Kritiken für diverse Zeitschriften, knüpft Freundschaften zu wichtigen Mentoren und hat Kontakt mit der kulturellen Elite seiner Zeit. In London beispielsweise lernt er John Ruskin, Dante Gabriel Rossetti, Charles Darwin und William Morris kennen. Er besucht auch George Eliot, über die er in einem Brief schreibt:

Insgesamt  hat sie einen größeren Umfang, als ich es je bei einer Frau gesehen habe. (S. 55)

James vermeidet feste Liebesbeziehungen, obwohl er im Laufe seines Lebens mit mehreren Frauen freundschaftlich verbunden sein wird, z. B. mit Edith Wharton.

Früher oder später werde ich ein Haus beziehen, aber es ist keinerlei Eile geboten, und wenn ich einen Hausstand gründe, ist Mrs. H[enry]. nicht Teil des Mobiliars, das ich da hineinstellen werde. (S. 91)

Schließlich siedelt er dauerhaft nach England über, auch wenn die Beziehungen zu seiner Familie, und ganz besonders die zu seinem älteren Bruder William, sehr eng bleiben. 1915 nimmt er die britische Staatsbürgerschaft an.

James entwickelt sich zu einem geachteten Autor von Erzählungen und Romanen, die gerade auch in ihrer Darstellung der Frauengestalten neue Maßstäbe setzen. Der große Durchbruch bei der Masse des Publikums, von dem er träumt, bleibt ihm jedoch versagt, daran ändern auch einige Ausflüge in die Theaterwelt nichts.

Fazit

In diesem Fall wäre ein Vergleich mit der englischen Originalversion vielleicht aufschlussreich. Liest sich auch die englische Fassung über weite Strecken so leblos, enthält schon das Original die sachlichen Fehler, auf die Bonaventura  hinweist?

Dazu kommen dermaßen viele Druck- und Rechtschreibfehler (dass/das), fehlende oder falsch gesetzte Kommata (besonders gern vor „sowie“) und schiefe Satzkonstruktionen, dass man kaum glauben mag, dass das Buch ein Lektorat durchlaufen hat.

Und in diesem Fall hätte mich das Cover vermutlich davon abgehalten, das Buch zu kaufen, weil es so freudlos und trist daherkommt. Ein unscharfes Foto und alles Grau in Grau. Warum dann nicht wenigstens eine Farbabbildung des Sargent-Porträts?

Wer sich tiefergehend mit James‘ Biografie befassen möchte, den wird dieses Buch an manchen Stellen unbefriedigt zurücklassen. Sein Stottern wird von Hutchison überhaupt nicht erwähnt. Und die Theorie, dass James homosexuell war – siehe seine Briefe an junge Männer – wird von ihr mit wenigen Sätzen ad acta gelegt. Auch die Bemühungen der Familie, nach dem Tode des Autors unliebsame Informationen und Briefe der interessierten Öffentlichkeit vorzuenthalten, werden verschwiegen.

Daneben gibt es aber immer wieder zumindest Ansätze, z. B. der komplizierten Familienstruktur oder James‘ Kunstverständnis Rechnung zu tragen. Auch die Veröffentlichungsgeschichte des Œuvre dürfte verlässlich nachgezeichnet sein.

Und quasi im Vorbeigehen werden noch weitere interessante Aspekte gestreift, so z. B. die Lebensgeschichte von Henry James‘ Schwester Alice.

Eine unmittelbare Aussicht auf Heirat, die in den 1870ern immer noch der einzig wünschenswerte Werdegang für eine Frau der Mittelklasse war, bestand nicht. Alice indes scheint eine Reihe intensiver Freundschaften zu jungen Frauen ihres Alters vorgezogen zu haben. (S. 61)

Hutchison schreibt, dass die Ärzte 1868 bei der Zwanzigjährigen einen Nervenzusammenbruch diagnostizierten, und diese irgendwann ihren Vater um Erlaubnis bat, sich das Leben zu nehmen (und diese auch erhielt). Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass die damalige Diagnose „Hysterie“ lautete.

Alice starb 1892 an Brustkrebs. Erst 1934 wurde eine „poorly edited version“ ihres Tagebuchs veröffentlicht (gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Familie), eine umfangreichere Ausgabe erschien 1964.

Henry hat übrigens seine Ausgabe des schwesterlichen Tagebuchs verbrannt.

The diary has made [Alice] James something of a feminist icon: she was seen as struggling through her illnesses to find her own voice. (Wikipedia)

Weitere Besprechungen

buecherrezension zeigt sich von dieser Einführung angetan, eine wesentlich bissigere Besprechung gibt es auf dem Blog Bonaventura.

Mirko Bonné bemängelt in der FAZ vor allem die „nicht selten haarsträubende Übersetzung von Hutchisons Buch, die hölzern am Unlesbaren dahinschrammt“.

Linktipps

Auf Seitengang findet sich ein Beitrag zu Eine Dame von Welt.

Elmar Krekeler veröffentlichte in der WELT den Artikel Man nehme Klatsch und mache große Literatur daraus.

Lust auf die Werke des Literaten macht auch der Beitrag Fancywork in der Taz von Ulrich Rüdenauer.

Colm Tóibín beschreibt in seinem Artikel im Guardian „how Henry James’s family tried to keep him in the closet“.

Bill Bryson: Shakespeare (2007)

Before he came into a lot of money in 1839, Richard Plantagenet Temple Nugent Brydges Chandos Grenville, second Duke of Buckingham and Chandos, led a largely uneventful life. He sired an illegitimate child in Italy, spoke occasionally in the House of Commons against the repeal of the Corn Laws, and developed an early interest in plumbing (his house at Stowe […] had nine of the first flush toilets in England), but otherwise was distinguished by nothing more than his glorious prospects and many names. But after inheriting his titles and one of England’s great estates, he astonished his associates, and no doubt himself, by managing to lose every penny of his inheritance in just nine years through a series of spectacularly unsound investments.

Mit diesen Sätzen beginnt die fröhliche Suche des Erfolgsautors Bill Bryson nach dem, was wir nachweislich über Shakespeare wissen oder eben auch nicht. Die deutsche Übersetzung Shakespeare – wie ich ihn sehe stammt von Sigrid Ruschmeier.

Bekanntermaßen ist fürchterlich wenig Biografisches über Shakespeare bekannt, und Margret Fetzer  fragt in ihrer Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen denn auch etwas bissig, „warum ausgerechnet Bill Bryson, alles andere als ein Literaturexperte, sich jetzt in die Legendenschreiberei einreiht.“

Nun, die Antwort ist klar: Weil er’s kann und ihn das Thema interessiert. Oder in Brysons Worten:

To answer the obvious question, this book was written not so much because the world needs another book on Shakespeare as because this series does [gemeint ist die Serie Eminent Lives]. The idea is a simple one: to see how much of Shakespeare we can know, really know, from the record. (S. 21)

Unter anderem geht Bryson auf folgende Fragen ein:

  • Wissen wir wirklich, wie Shakespeare ausgesehen hat? Und was weiß man über seine Erziehung und seinen Bildungsgrad?
  • Welche gesicherten Informationen gibt es zu seiner Familie und seiner Ehe? Weshalb hat er in seinem Testament seiner Frau das zweitbeste Bett vermacht?
  • Mit was haben sich die Forscher schon alles in Bezug auf Shakespeare beschäftigt? (Zum Beispiel mit der Frage, wie viele Kommas und Fragezeichen seine Texte enthalten.)

Shakespeare, it seems, is not so much a historical figure as an academic obsession. A glance through the indexes of the many scholarly journals devoted to him and his age reveal  such dogged investigations as ‚Linguistic and Informational Entropy in Othello‘, ‚Ear Disease and Murder in Hamlet‘, ‚Poisson Distributions in Shakespeare’s Sonnets‘, ‚Shakespeare and the Quebec Nation‘, ‚Was Hamlet a Man or a Woman?‘ and others of similarly inventive cast. (S. 20)

  • Wie waren die gesellschaftlichen und religiösen Rahmenbedingungen unter Elizabeth I und später unter ihrem Nachfolger James I? (Man denke nur an den Sieg über die spanische Armada oder den Gunpowder-Plot.)

It was also an age that gave rise to the Puritans, a people so averse to sensual pleasure that they would rather live in a distant wilderness in the New World than embrace tolerance. Puritans detested the theatre and tended to blame every natural calamity, including a rare but startling earthquake in 1580, on the playhouses. (S. 71)

  • Wie sahen die Lebensbedingungen damals aus? Wie sah London aus?
  • Wie war die Gesellschaft strukturiert und wie war das Zusammenleben geregelt?
  • Wie sahen die Theater der damaligen Zeit aus?
  • Wie war die Aufführungspraxis in den Theatern?
  • Weshalb hatten die meisten Theatertruppen einen adligen Gönner?
  • Wem verdanken wir, dass wir heute überhaupt so viele von Shakespeares Stücken kennen?
  • Welchen Beitrag hat Shakespeare zur Entwicklung des Theaters und der englischen Sprache geleistet?
  • Worüber rätselt man bei den Sonetten bis heute?
  • Welche „Verbesserungen“ nahmen spätere Schriftsteller und Theaterdirektoren an seinen Werken vor?
  • Wie hat sich sein Ruhm im Laufe der Jahrhunderte entwickelt?
  • Was hat es mit der Folger Shakespeare Library in Washington, DC, auf sich?
  • Und warum können sich Touristen und Literaturfans glücklich schätzen, dass Shakespeares Geburtshaus heute nicht in Amerika steht?

Wenn man bedenkt, dass allein über die Frage, ob wirklich Shakespeare die Stücke geschrieben hat, die ihm zugeschrieben werden, mehr als 5000 Bücher geschrieben wurden und dass pro Jahr ca. 4000 neue Texte über Shakespeare veröffentlicht werden, dann ist offensichtlich, dass ein einzelner die komplette Forschungslage zu Shakespeare ohnehin nicht mehr überblicken kann.

Muss Bryson aber auch nicht, denn er ist ein kluger Kopf, kann lesen, recherchieren und seine Reputation (man lese nur mal in der englischsprachigen Wikipedia, welche universitären Ehren er bisher eingeheimst hat) erlaubt ihm, diverse Koryphäen zu interviewen und Einblick in Archive zu erhalten, die Normalsterblichen wohl auf immer verschlossen bleiben.

Dass dabei auf 195 Seiten nicht unendlich in die Tiefe gegangen werden kann, dürfte sich von selbst verstehen, und natürlich wird die Leserin an der ein oder anderen Stelle das Bedürfnis haben, etwas nachzuschlagen und zu vertiefen.

Das Buch ist eine Einführung – nicht mehr und nicht weniger – und in seinen persönlichen Wertungen völlig unakademisch. Mit Brysons Blick für die interessante und manchmal einfach skurrile Anekdote, seinem Humor und seiner Informationsfülle ist es aber genau deshalb wunderbar lesbar.

Mir persönlich hat das neunte Kapitel am besten gefallen. Dort geht Bryson kopfschüttelnd und bestimmt leise kichernd der Frage nach, wo die Theorien, dass auf keinem Fall Shakespeare seine Stücke geschrieben haben könne, herkommen und was von ihnen zu halten ist.

Even ‚Scientific American‘ entered the fray with an article proposing that the person portrayed in the famous Martin Droeshout engraving might actually be – I weep to say it – Elizabeth I. […]

Shakespeare ’never owned a book‘, a writer for the ‚New York Times‘ gravely informed readers in one doubting article in 2002. The statement cannot actually be refuted, for we know nothing about his incidental possessions. But the writer might just as well have suggested that Shakespeare never owned a pair of shoes or pants.  (S. 180)

Besonders interessant dabei die Rolle von Delia Bacon, die nachweisen wollte, dass u. a. Francis Bacon der wahre Urheber der Stücke sei. Eine Theorie, die auch heute noch ihre Anhänger hat.

Bacon’s research methods were singular to say the least. She spent ten months in St Albans, Francis Bacon’s home town, but claimed not to have spoken to anyone during the whole of that time. She sought no information from museums or archives, and politely declined Carlyle’s offers of introduction to the leading scholars. Instead she sought out locations where Bacon had spent time and silently ‚absorbed atmospheres‘, refining her theories by a kind of intellectual osmosis. (S. 183)

One obvious objection to any Baconian theory is that Bacon had a very full life already, without taking on responsibility for the Shakespearean canon as well, never mind the works of Montaigne, Spenser and the others. (S. 186)

A third – and for a brief time comparatively popular – candidate for Shakespearean authorship was Christopher Marlowe. He was the right age […] had the requisite talent and would certainly have had ample leisure after 1593, assuming he wasn’t too dead to work. (S. 189)

Rezensionen

Irritiert hat mich hingegen die Kritik in der FAZ: Fast enttäuscht konstatiert Fetzer: Der „Vorwurf mangelnder historischer Informiertheit [ist] einer der wenigen, den man Bryson nicht machen kann.“, dafür missfällt ihr etwas anderes: Sie bezieht sich auf den Untertitel der deutschen Ausgabe „Shakespeare – Wie ich ihn sehe“ und moniert dann

dass man hier vergeblich auf Anflüge von Selbsterkenntnis wartet. […]. Davon abgesehen lässt der Titel eine programmatische These erwarten, aber leider fällt Bryson so gar nichts Eigenes ein. Am Ende weiß man nicht nur immer noch nicht, wie er Shakespeare sieht, sondern auch nicht, warum er dieses Buch überhaupt geschrieben hat. Bryson ist bemüht, sich das Faszinosum Shakespeare zu erschließen – doch immer wieder ertappt man ihn dabei, wie er ungläubig und kopfschüttelnd davorsteht und nicht die leiseste Ahnung hat, warum sich alle Welt für den Sohn eines Handschuhmachers begeistert.

Ist es nicht verblüffend, dass Fetzer den Untertitel der deutschen Ausgabe Bryson zum Vorwurf macht?

Und dass Bryson nicht wüsste, warum sich alle Welt für Shakespeare begeistert, ist schlicht Unsinn. Zum einen geht es ihm in diesem Buch gar nicht um die einzelnen Werke. Zum anderen erklärt er, nachdem er beschrieben hat, wie groß vermutlich Shakespeares Wortschatz war und welche Wörter und Redewendungen die englische Sprache dem Barden aus Stratford-upon-Avon verdankt:

Anyway, and obiously, it wasn’t so much a matter of how many words he used, but what he did with them – and no one has ever done more. It is often said that what sets Shakespeare apart is his ability to illuminate the workings of the soul and so on, and he does that superbly, goodness knows, but what really characterizes his work […] is a positive and palpable appreciation of the transfixing power of language. (S. 109)

We thrill at these plays now. But what must it have been like when they were brand new, when all their references were timely and sharply apt, and all the words never before heard? Imagine what it must have been like to watch Macbeth without knowing the outcome, to be part of a hushed audience hearing Hamlet’s soliloquy for the first time, to witness Shakespeare speaking his own lines. There cannot have been, anywhere in history, many more favoured places than this [gemeint ist das Globe Theatre]. (S. 125)

Anmerkungen

Abgesehen von der Besprechung in der FAZ hüllt sich das deutsche Feuilleton in vornehmes Schweigen. Im englischsprachigen Raum liest man derlei Flott-Intelligentes einfach lieber.

If a trio of witches were cooking up this book in a cauldron, there’d be a pinch of P.G. Wodehouse, a soupçon of Sir Osbert Lancaster and a cup of Sir Arthur Conan Doyle. One can be firm of purpose and blithe at the same time, it turns out; one can write a seriously entertaining book. Shakespeare: The World as Stage is aimed at general readers, not Shakespeare scholars, though the latter do make appearances now and then, not always is a flattering light, but always entertainingly. […]

Mr. Bryson goes off at times on amusing tangents […] and is otherwise completely charming and conversational, like a good host. The pleasure of his company cannot, to borrow a phase from him, “be emphasized too strenuously.” (Nancy Dalva, The New York Observer)

Hier geht es lang zu einer Besprechung von Tom Payne im Telegraph.

Veit-Jakobus Dieterich: Johann Amos Comenius (1991)

Wenn man bedenkt, was für ein umtriebiger, kluger und interessanter Mensch Comenius gewesen sein muss, ist es doch erstaunlich, dass die einzige Biografie von ihm der schmale Band von Veit-Jakobus Dieterich aus der Reihe der rowohlt monografien ist (1991).

Dieterich geht kurz auf den biografischen Hintergrund ein, vor dem Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens gesehen werden muss: Comenius (*1592 in Mähren) hat 1622 seine erste Frau und kurz danach seine zwei Söhne verloren. Er musste aufgrund seiner protestantischen Überzeugung in den politisch-religiösen Wirren während des Dreißigjährigen Krieges in den Untergrund und zu allem Überfluss fiel ein großer Teil seines Besitzes noch einem Brand zum Opfer.

Die Ansicht, dass ausschließlich ein sehr nach innen gerichteter Glaube, wie er im Labyrinth der Welt als Lösung propagiert wurde, sinnvoll sei, wurde später von Comenius selbst revidiert bzw. erweitert.

Sein ganzes Leben wies Comenius darauf hin, daß Welt und Mensch in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht in Ordnung sind. Diesem verkehrten Wesen von Welt und Mensch stellt er in einem zweiten Schritt stets den idealen, von Gott gewollten Zustand gegenüber. Auf einer dritten Stufe betont Comenius, daß der Mensch in einer doppelten Bewegung aus seinem falschen Zustand herausgehen und sich ins richtige Verhältnis zu Gott, zu sich selbst und zur Welt setzen muß. Eine Entwicklung zeigt sich bei der Frage nach dem Weg, der vom falschen zum richtigen Zustand von Welt und Mensch führt. Hier, in den Frühschriften, verweist Comenius auf den Weg nach innen, auf den mystischen Gedanken der Welt- und Selbstentfremdung, auf die wahre Herzensfrömmigkeit. Später wird ihm die Verbesserung des gesamten Menschen und der ganzen Welt zum zentralen Anliegen, und er entdeckt an diesem Punkt eine pädagogische und politische Aufgabe. (Dieterich, S. 43 f)

Der Christ muss also auch handeln, um die Welt und die in ihr herrschenden Zustände zu verbessern. Deshalb auch Comenius‘ unermüdliches Bemühen um eine kindgerechte Pädagogik. Er schrieb Schulbücher, plädierte für eine allgemeine Schulpflicht – auch für Mädchen – und wollte harschen Zwang und Angst am liebsten ganz aus den Schulen verbannen.

Das Waisenkind aus einfachen Verhältnissen wurde zu einem international hoch angesehenen Gelehrten, der im Laufe seines Lebens „ein großartiges, geschlossenes Gedankensystem ausgearbeitet“ hat (Dieterich, S. 8). Comenius schrieb, philosophierte und stand im Austausch mit vielen Geistesgrößen seiner Zeit, wurde als Berater an verschiedene Höfe Europas eingeladen, nahm regen Anteil am politischen Leben, musste ins Exil, heiratete dreimal und setzte sich vehement für Frieden – auch zwischen den Religionen und Konfessionen – ein, fand Krieg bestialisch und ermahnte die Herrschenden, die Armen nicht zu unterdrücken und zu knechten. Die letzten 14 Jahre seines Lebens verbrachte er in Amsterdam, wo er 1670 starb.

Linda Lear: Beatrix Potter (2007)

It was a cold, wet November day in 1918. The frosty air had settled just above the lake. Soon it would be dark. Through the gloom the figure of a woman could just be made out. She was on her hands and knees scrabbling about in the stubble of the harvested cornfield, searching for something. Close up she was a handsome woman with noticeably high colour in her cheeks, deep-set brilliant blue eyes and unruly brown hair pulled back haphazardly from her face.

Mit diesen Sätzen beginnt Linda Lear die bisher umfangreichste und leider auch ziemlich dröge Biografie zu Beatrix Potter, einer der bekanntesten Kinderbuchautorinnen Großbritanniens.

Beatrix Potter (1866-1943) entstammte einer wohlhabenden Unitarier-Familie. Ihr Großvater väterlicherseits, Edmund Potter, war ein erfolgreicher Unternehmer und späteres Parlamentsmitglied.

As an enlightened employer, Edmund was concerned for the welfare and education of his employees, many of whom were children under the age of 13. He built a large dining room in the mill which could serve a hot meal to three hundred and fifty people at one time. He converted part of a nearby mill into the Logwood School, where the children of his workers, as well as the child labourers, could learn reading, writing and basic hygiene. He also built a reading room and library which was kept well stocked with books and newspapers. Edmund Potter believed in the necessity of educating the working classes […] but he had no sympathy for trade unionism. (S. 12)

Auch ihr Großvater mütterlicherseits, John Leech, schuf mit seinen Tuchfabriken die Grundlage für einen Generationen überdauernden Wohlstand.

Beatrix und ihr Bruder Bertram wachsen folglich in einem behüteten und finanziell privilegierten Umfeld auf. Beatrix besucht als Mädchen keine Schule, sondern wird zu Hause von einer Reihe von Gouvernanten unterrichtet. Ihr zeichnerisches Talent wird früh von der Familie gefördert. Sie bekommt Zeichenunterricht und ihr Vater schenkt ihr teure Bücher und alles, was sie für ihr „Hobby“ benötigt. Die Kinder dürfen eine Reihe von Haustieren, wie z. B. Mäuse, halten, die dann von Beatrix hingebungsvoll gezeichnet werden.

Rabbits were also favourite subjects. […] Both rabbits were drawn in every imaginable position and attitude. She observed how they rested, how they nested or hibernated, and the characteristics of their play. (S. 44)

Nach dem Tod der Mäuse, Kaninchen oder Fledermäuse interessieren sich die Kinder aber auch für deren genaue Anatomie, kochen die Knochen aus und stellen Skelettstudien an. Beatrix beginnt mit Begeisterung zu mikroskopieren.

Man verbringt monatelange Ferien in gemieteten Landhäusern in Schottland und später auch im Lake District. Hier dürfte die Liebe Beatrix zum Landleben ihren Ursprung haben, genießt sie auf dem Land doch mehr Freiheiten als in der Stadt und kann sich leichter ihren naturwissenschaftlichen Interessen widmen.

Gleichzeitig ist es aber auch ein sehr eingeschränktes Leben. Denn die Eltern von Beatrix waren – man kann es wohl kaum anders nennen – unglaubliche Snobs. Niemand ist – gerade der Mutter – für den gesellschaftlichen Umgang mit ihrer Tochter gut genug, sodass Beatrix keine gleichaltrigen Spielkameraden oder Freundinnen hat. Noch als erwachsene Frau wird ihr das Recht abgesprochen, selbst über die Kutsche zu verfügen, ihre Cousinen einzuladen oder ihren gesellschaftlichen Umgang selbst zu wählen. Ihr späterer Verleger Norman Wayne, mit dem sie sich als 39-Jährige verlobt, wird ebenfalls als nicht ebenbürtig akzeptiert und als potentieller Schwiegersohn abgelehnt.

Mit 24 veröffentlicht sie erste Zeichnungen, die als Grußkarten auf den Markt kommen. Gleichzeitig vertieft sich ihr Interesse an Pilzen und Fossilien.

By the early 1890s Beatrix’s interests as an artist and naturalist had converged on fungi and, to a lesser degree, on fossils. Such enthusiasms were typical of the Victorian craze for natural history which, […] affected everyone from aristocrat to artisan. Women in particular were drawn to the study of insects, shells, ferns, fossils and fungi, and to their naming, classification, collection and frequently their illustration. Like many of her contempories, Beatrix was first drawn to natural history as a way to relieve the boredom that beset affluent Victorians, and for the measure of personal freedom it brought. (S. 76)

Dazu gehören auch häufige Besuche im Natural History Museum, wo Beatrix Spinnen, Insekten und Schmetterlinge zeichnet.

1892 lernt sie den Briefträger und begeisterten Naturkundler Charlie McIntosh kennen, der sie bei ihren Pilzforschungen tatkräftig unterstützt, indem er ihr immer wieder Pilze schickt und ihre Zeichnungen kommentiert. In ihrem Tagebuch hält sie die erste Begegnung fest:

He was quite painfully shy and uncouth at first, as though he was trying to swallow a muffin, and rolling his eyes about and mumbling. […] I would not make fun of him for worlds but he reminded me so much of a damaged lamp post. He warmed up to his favourite subject, his comments terse and to the point, and conscientiously accurate. (S. 82)

1893 schickt sie einen illustrierten Brief an den kleinen Sohn ihrer ehemaligen Gouvernante Annie Moore. In dieser Urfassung ihrer später weltberühmten Kaninchen-Geschichten erzählt sie von den Abenteuern ihren neuen Kaninchens Peter Piper.

Im gleichen Jahr wird sie gebeten, 12 Lithografien* für eine naturwissenschaftliche Vorlesungsreihe anzufertigen. Dank ihres einflussreichen Onkels erhält sie eine Eintrittskarte, die sie berechtigt, ihre Pilzstudien im berühmten Kew Gardens fortzusetzen, der damals für die Allgemeinheit nur eingeschränkt zugänglich war. Allerdings trifft sie dort sie als Amateurin, die vielleicht auch ein bisschen undiplomatisch vorgeht, auf wenig Gegenliebe.

Ihre Forschung, was die Keimung von Sporen anbelangt, wird stark von ihrem Onkel, der selbst Chemiker ist, unterstützt. 1897 werden ihre Erkenntnisse, vermutlich von einem Mitarbeiter von Kew Gardens, der Linnean Society in London präsentiert, denn Frauen hatten dort keinen Zutritt. Die Linnean Society hatte darüber zu befinden, ob eingereichte Artikel veröffentlichenswert waren. Potters Arbeit On the Germination of the Spores of Agaricineae wird freundlich ignoriert. 1997 hat sich die Linnean Society übrigens für den „sexism displayed in its handling of her research“ entschuldigt.

Darüber hinaus widmet sich Beatrix Potter mit großer Akribie der Frage, ob es sich bei Flechten nicht um ein symbiotisches System zwischen Algen und Pilzen handele. Ihre Hoffnung, von den Mitarbeitern des Natural History Museum in ihren Forschungen unterstützt zu werden, erfüllen sich nicht. Zum einen ist sie eine Frau, zum anderen weiß sie zu viel und zum dritten wird sie vom Direktor des Museums ignoriert, u. a. deshalb weil sie nicht begreift, wie sehr sie Mr Fowler dadurch verärgert hat, dass sie – wie alle Frauen ihrer Gesellschaftsschicht – Vogelfedern als Hutschmuck verwendet.

Die nächste große Etappe in Potters Leben wird bestimmt von den Veröffentlichungen ihrer Kinderbücher, von denen eine ganze Reihe auf die illustrierten Briefe zurückgehen, die sie an Kinder ihrer Freunde und Verwandten schickt.

Most of her picture letters describe her holiday activities: the weather, the pets she has with her, the animals she sees, farming practises, family gossip and local lore. Each letter was suited to the age and interests of the child, revealing her instinctive ability to match story to audience. (S. 132)

1901 lässt sie auf eigene Kosten eine Schwarz-Weiß-Ausgabe von 250 Exemplaren von The Tale of Peter Rabbit drucken. 1902 folgt dann die farbige Ausgabe im Frederick Warne & Co Verlag. Sie besteht darauf, dass die Bücher in einem kleinen Format erscheinen, sodass auch Kinder die Bücher mühelos halten können. Obwohl sie 35 Jahre alt ist, muss ihr Vater seine Erlaubnis zu den entsprechenden Verträgen geben. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung hat das Buch eine Auflage von über 56.000 erreicht und Beatrix schreibt:

The public must be fond of rabbits! what an appalling quantity of Peter. (S. 152)

Lear erklärt den durchschlagenden Erfolg folgendermaßen:

Beatrix Potter had in fact created a new form of animal fable: one in which anthropomorphized animals behave always as real animals with true animal instincts and are accurately drawn by a scientific illustrator. (S. 153)

1902 heiratet ihr Bruder Bertram seine geliebte Mary, doch aus Angst vor der Ablehnung seiner Eltern hält er die Ehe elf Jahre geheim.

1903 folgen die Bände The Tale of Squirrel Nutkin und The Tailor of Gloucester. 1904 erscheinen The Tale of Benjamin Bunny und The Tale of Two Bad Mice. Überhaupt erweist sich Beatrix als begabte Geschäftsfrau, die schon rasch erkennt, dass sich auch Merchandise-Produkte wie Puppen, Malbücher oder Tapetenbordüren hervorragend vermarkten lassen. Dabei hat sie ständig gegen Produktpiraterie und unautorisierte Nachdrucke etc. zu kämpfen.

Beatrix gewinnt mit ihrer Autorentätigkeit zunehmend finanzielle Unabhängigkeit von ihren Eltern, denen das überhaupt nicht recht ist, fürchten sie doch, dass ihre Tochter ihre familiären Verpflichtungen vernachlässigen und insgesamt zu unabhängig werden könnte. Auch die ständigen Kontakte mit Norman Wayne, ihrem Hauptansprechpartner im Verlag, sind den Eltern ein Dorn im Auge.

1905 verloben sich Beatrix und Norman. Ihre Eltern untersagen ihr, die Verlobung öffentlich bekanntzugeben. Der plötzliche Tod Normans – einen Monat nach der Verlobung – dürfte den Eltern als eine glückliche Fügung erschienen sein.

Im Verlag ist nun Harold, der Bruder Normans, ihr neuer Ansprechpartner. Jahre später wird sich herausstellen, dass er große Summen aus dem Verlag veruntreut hat, Beatrix und andere um viel Geld betrogen und den Verlag an den Rand des Ruins gebracht hat. Als Harold zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, übernimmt der dritte Bruder Fruing die Geschäfte.

Mit den Erlösen aus ihren Büchern kauft Beatrix Hill Top Farm, ihre erste Farm im Lake District. Vermutlich hatte sie dort zusammen mit Norman leben wollen. Doch noch mehrere Jahre nach dem Kauf der Farm kann sie nur tageweise dort sein, da ihre Eltern von ihr erwarten, dass sie weiterhin bei ihnen in London wohnt und sie ihre Eltern auch weiterhin auf ausgedehnten Ferienaufenthalten begleitet.

The happy challenge provided by Hill Top Farm – the necessity of overcoming her grief and getting on with her life – inspired a remarkable outburst of creativity. She produced thirteen stories over the next eight years, including some of her best work. In the course of this creative outburst, Beatrix Potter was transformed into a countrywoman. (S. 207)

Und so beginnt der dritte große Abschnitt im Leben dieser bemerkenswerten Frau, der gekennzeichnet ist von ihrer Liebe zum Lake District. Mit Hingabe und zunehmendem Sachverstand widmet sie sich dem Fell Farming. Sie entwickelt sich zu einer angesehenen Expertin im Hinblick auf ihre geliebten Herdwick Sheep. Vor allem der Schutz der einzigartigen Landschaft liegt ihr am Herzen. Sie kämpft gegen die Errichtung einer Flugzeugfabrik, gegen Wasserflugzeuge auf den Seen und gegen Zersiedelung und Bauprojekte, die den Charakter dieses Landstriches zerstören würden. Schon 1909 erwirbt sie die zweite Farm, der noch viele weitere folgen sollten. Sie arbeitet dabei eng mit dem National Trust zusammen und schon früh ist klar, dass sie nach ihrem Tod ihre ausgedehnten Ländereien dieser Organisation vermachen will.

Gleichzeitig setzt sie sich für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung auf dem Land ein und ist die treibende Kraft, als es darum geht, eine gut ausgebildete Krankenschwester einzustellen, denn viele der Farmer und Landarbeiter können es sich nicht leisten, bei Krankheiten einen Arzt kommen zu lassen. Sie lässt die Schwester mietfrei in einem ihrer Häuser wohnen und kauft ihr schließlich sogar ein Auto für die Wege, die mit dem Fahrrad dann doch zu beschwerlich wären.

Sie unterstützt die Pfadfinder, die jedes Jahr auf ihren Feldern zelten dürfen, und unterhält rege Brieffreundschaften mit Lesern aus aller Welt, vor allem aus Amerika, von denen etliche sie und ihren Mann im Lake District besuchen und um Autogramme bitten.

Unterstützt wird sie in allem von ihrem Mann William Heelis, den sie – natürlich gegen den erklärten Willen der Eltern – 1913 heiratet. Überraschenderweise bekommt sie Rückendeckung von ihrem Bruder, der den konsternierten Eltern erklärt, dass er schon seit Jahren verheiratet sei und auch Beatrix heiraten solle, wen sie wolle.

William Heelis ist Anwalt und teilt ihre Interessen. Die beiden führen bis zu Beatrix Tod im Jahr 1943 eine glückliche Ehe.

Fazit

Beatrix Potter war ein faszinierende Frau mit vielfältigen Interessen und einem eigenwilligen Lebenslauf. Dennoch musste ich mich manchmal zum Weiterlesen zwingen – gerade in Beatrix‘ Pilzphase wurde das Buch arg anstrengend. Linda Lears Stil ist nicht gerade prickelnd und Fragen, die mich stärker interessiert hätten, wie z. B. die Ehe mit William oder wie sie auf Nachbarn und Verwandte wirkte oder wie genau die Dynamik zwischen Beatrix und ihrer Mutter war, wurden eher kurz abgehandelt. Dafür wurden andere Dinge, zweifellos akribisch recherchiert, sehr in die Länge gezogen. Ich fürchte, Lear hat die Frage, wie umfangreich über bestimmte Themen berichtet wird, ausschließlich von der Recherchelage abhängig gemacht.

Und manchmal hat es den Eindruck, als ob Lear nur ungern über die unsympathischen, auch herrischen Seiten dieser ungewöhnlichen Frau berichtet. Nur en passant erfahren wir dann, dass sie ihren Pächtern keine WCs im Haus oder Elektrizität in den Farmhäusern erlaubt hat, während sie in ihren zwei Häusern natürlich Toiletten mit Wasserspülung hatte.

Kathryn Hughes bringt es im Guardian auf den Punkt, wenn sie schreibt:

This is the first full-length biography that has been written of Potter, so it is a shame that it should be such a dull one. Where Potter had an exquisite sense of how language works, Lear has none.

Anmerkungen

Ihre Portfolios mit den naturkundlichen Zeichnungen hat Beatrix Potter übrigens dem Armitt Museum in Ambleside vermacht, dessen Homepage einen schönen Eindruck von ihren Zeichnungen vermittelt, die auch heute noch von Pilzkundlern zur Bestimmung benutzt werden.

Auch Peggy hat uns Beatrix Potter auf ihrem Blog Entdecke England bereits vorgestellt.

Da ich keine Bildrechte verletzen möchte, verlinke ich jetzt einfach mal auf eine Seite, auf der man die z. T. wunderschönen Illustrationen zu The Tailor of Gloucester bewundern kann. Potter hat ihre Arbeit immer sehr ernst genommen und für die Weste eine Vorlage aus dem South Kensington Museum, dem späteren Victoria and Albert Museum, verwendet.

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Barbara Reynolds: Dorothy L. Sayers – Her Life and Soul (1993) – 3. Teil

Hier nun also der dritte und letzte Teil meiner Reihe zu Reynolds Biografie. Die Ausführlichkeit ist der Tatsache geschuldet, dass ich diesen Beitrag auch als Gedächtnisstütze für mich selbst nutzen möchte, da ich die wenigsten Biografien ein zweites Mal lese.

Wer einfach wissen möchte, wie mir die Biografie gefallen hat, wird im ersten Teil der Reihe fündig. Dort steht mein Fazit gleich am Anfang. Hier gibt es den zweiten Teil.

Privatleben

Wo waren wir stehengeblieben? Dorothy Leigh Sayers (auf ‚Leigh‘, den Nachnamen der Mutter, legte sie immer besonderen Wert, da er ihrer Meinung nach dazu beitrug, dass die Leute Sayers richtig aussprachen) war zweimal verliebt in einen Mann, der sich mit ihr keine Zukunft vorstellen konnte, und hat einen unehelichen Sohn mit einem Mann, mit dem nie eine feste Beziehung geplant war. Sie arbeitet immer noch in einer Werbeagentur und schreibt ihre Peter Wimsey-Krimis, als sie 1925 Captain Oswald Atherton „Mac“ Fleming kennenlernt. Fleming ist 12 Jahre älter als Dorothy, attraktiv, Kriegsveteran (zwei seiner Brüder sind im Krieg gefallen, ein dritter kehrt schwer verletzt nach Hause zurück), Schotte, Journalist, geschieden und Vater zweier Töchter.

In 1919 he had published an excellent little book, How to See the Battlefields, containing  a vivid account of the conditions under which the R.A.S.C. had to function in the field. He had a number of talents apart from writing: he painted well, he was a photographer […] and he was an expert cook. He was an amusing raconteur and fun to be with … (S. 154)

Die beiden heiraten im April 1926. Er akzeptiert, dass Dorothy einen Sohn hat. Später adoptieren sie ihn ganz offiziell, doch John Anthony wird nie bei ihnen leben, da beide weiterhin arbeiten wollen und davon ausgehen, dass der Junge bei Ivy am besten aufgehoben ist. Dorothy hat ihm gegenüber wohl auch nie zugegeben, seine Mutter zu sein, obwohl er das schon sehr früh geahnt hat. Die erhaltenen Briefe zeigen, dass sie ihren Sohn zwar mochte, vor allem, als er älter wird und sie stolz auf seine schulischen und universitären Erfolge sein kann, doch von Mutterliebe ist da wenig zu spüren, genauso wie ihr „family ties“ nichts bedeuten. Als Ivy ihr Fotos von John Anthony schickt, als er vier Jahre alt ist, schreibt sie: He

looks quite a credit to us! I must really try to feel thrilled about him – but I don’t believe I ever should about any child under whatever circumstances […] He seems to be turning out a good sort of kid, and I’m disposed to like him – but for no other reason. (S. 199)

Ihren Eltern schreibt sie erst kurz wenige Tage vor dem Termin, dass eine Heirat ins Haus steht, ist ihr zukünftiger Mann doch geschieden und damit eine kirchliche Hochzeit ausgeschlossen. Man erinnert sich, ihr Vater war Pfarrer. Doch da ihre Eltern keinerlei Einwände erheben, ihre Mutter ihr sofort brieflich Glückwünsche übermittelt und ihr Vater ein Geldgeschenk sendet, scheint eher Dorothys Furcht vor ungebetener Einmischung ein ausschlaggebender Faktor gewesen zu sein. Sie lässt sich ungern in ihre eigenen Angelegenheiten hineinreden, egal wie offen die Briefe sind, die sie ihren Eltern schreibt.

Zunächst ist die Ehe durchaus glücklich. Sie arbeiten und genießen das Leben. Neben ihrer Arbeit als Werbetexterin veröffentlicht Sayers allein zwischen 1923 und 1928 vier Romane und 12 Geschichten und sie gibt den ersten Band der Anthologie „Great Short Stories of Detection, Mystery and Horror“ heraus.

Außerdem beginnt sie eine (nie fertiggestelle) Biografie zu Wilkie Collins, deren Roman The Moonstone sie bewundert. In diesem Entwurf findet sich die folgende Passage, die Sayers auch für ihr Schreiben als grundlegend ansieht:

In order … to gain the reader’s attention in the first place, and in order to secure his belief in far more astonishing parts of the narrative, the writer, if he knows his business, will strive for the utmost and most exact realism in the details of everything that happens ‚within the reader’s own experience‘. (S. 169)

Darüber hinaus sollte der Kriminalschriftsteller immer die „fair play rule“ berücksichtigen, d. h. dem Leser müssen alle Informationen zur Verfügung gestellt werden, aus denen dann auch der Detektiv seine Schlussfolgerungen zieht.

1928 stirbt ihr Vater, woraufhin Dorothy und ihr Mann ein Haus in Witham kaufen, sodass dort ihre Mutter und ihre Tante mietfrei leben können. Dorothy schreibt gänzlich unsentimental:

He bored her to death for forty years, and she always grumbled that he was no companion for her – and now she misses him dreadfully. (S. 210)

Doch schon zehn Monate später stirbt auch ihre Mutter, woraufhin Dorothy und Mac nun selbst nach Witham ziehen, sodass Tante Maud dort weiterhin wohnen kann. Mac ist oft krank und sie reisen, weil ihm das Klima gut tut, oft nach Schottland, ihr Sohn ist jedoch nie dabei.

1929 kündigt sie ihre Stelle als Werbetexterin, um endlich mehr Zeit für ihr eigenes Schreiben zu haben. Dabei ist die finanzielle Lage immer wieder angespannt, nicht nur trägt Mac kaum noch etwas zum Familieneinkommen bei, sie haben ihre Wohnung in London durch Zukauf einer darüberliegenden Wohnung vergrößert, das Haus in Witham gekauft und vor allem wird John Anthony’s Schulbildung mit zunehmendem Alter teurer.

1934 erscheint ihr neunter Wimsey-Roman The Nine Tailors, das Buch wird ein Bestseller, mit dem ihr der endgültige Durchbruch gelingt. Sie schreibt für die Bühne und wird für Vorträge eingeladen, in Oxford referiert sie zu Aristotle and the Art of Detective Fiction.

Sayers und Fragen des Glaubens

1936 beginnen die Proben für ihr erstes Theaterstück Busman’s Honeymoon, das später ebenfalls ein Wimsey-Roman werden sollte. Sayers liebt die Atmosphäre des Theaters und geht in den Proben und den Vorbereitungen völlig auf. Das ist auch das Jahr, in dem Sayers aufgrund persönlicher Empfehlungen die ungewöhnliche Anfrage erhält, ob sie sich vorstellen könne, für 1937 ein Stück für das Canterbury Festival zu schreiben. Also ein religiöses Stück.

By then the name of Dorothy L. Sayers was renowned, certainly, but only as a writer of detective fiction. At that point, she had neither written articles nor given talks on religious subjects: that phase of her work was all in the future. Though the theatre had long been one of her enthusiasms, she had made no public pronouncement of her views on drama, religious or secular. Few people were aware that she had written a play: Busman’s Honeymoon had not even gone into rehearsal … (S. 273)

Sie nimmt die Herausforderung an und die Uraufführung von The Zeal of Thy House findet am 12. Juni 1937 statt. Damit ändert sich noch einmal alles. Sayers wird zu einer öffentlichen Person, einer Autorität, deren Meinung nun nicht nur zum Thema Kriminalliteratur gefragt ist. Sie bezieht mehr und mehr Stellung zu Glaubensfragen und den Glaubenssätzen der Anglican Church, ihre Artikel erscheinen in der Sunday Times und eine Flut an Leserbriefen setzt ein. Sie ist verblüfft, wie wenig die Menschen eigentlich über ihr eigenes Glaubensbekenntnis wissen und wie wenig sie es durchdacht haben.

The dogma of the Incarnation is the most dramatic thing about Christianity, and indeed, the most dramatic thing that ever entered into the mind of man; but if you tell people so, they stare at you in bewilderment…  (S. 287)

But if God has really been through the grim business Himself, then He’s fairly won the right and one must give in – and that’s why it’s so exciting and dramatic, and why anybody should think that sort of doctrine DULL passes my comprehension. You may call it a fairy-tale, but it’s ridiculous to call it dull. (S. 288)

Es folgt eine Einladung der BBC, ein Weihnachtsstück für das Kinderprogramm zu schreiben. In dem Stück He That Should Come wagt sie es, die Alltagssprache zu verwenden, was für die Hörer tatsächlich unerhört war.

His Manhood was a real manhood, subject to the common realities of daily life; that the men and women surrounding Him were living beings, not just characters in a story; that, in short, He was born, not into ‚The Bible‘, but into the world. (S. 290)

1939 schreibt sie ein kleines Buch Begin here, in dem sie sich mit der Frage beschäftigt, wie ihrer Meinung nach eine (christliche) Gesellschaft strukturiert sein müsse, die dem Feind standhalten könne. Zunächst müsse sich die Gesellschaft die Frage nach dem ihr zugrunde liegenden Menschenbild stellen. Da Sayers davon überzeugt ist, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, folgt für sie daraus, dass nur der schöpferisch tätige Mensch zu seiner eigentlichen Bestimmung finden könne. Das war zwar nicht neu, doch sie führt das Bild weiter und sieht in schöpferischer Tätigkeit eine Analogie für die Dreifaltigkeit Gottes. Später formuliert sie das folgendermaßen:

If man’s fulfilment of his nature is to be found in the full expression of his divine creativeness, then we urgently need a Christian doctrine of work, which shall provide, not only proper conditions of employment, but also that the work shall be such as a man may do with his whole heart, and that he shall do it for the very work’s sake. (S. 335)

Sayers arbeitet unermüdlich:

Her own sense of responsibility was titanic. She took part in conferences, she gave talks to the Forces, she broadcast, she wrote letters to the press, she wrote articles, she formed a group for knitting socks and sweaters for trawlermen (and took the Government to task for their inefficient distribution of the right kind of knitting wool), she became an air-raid warden and took her share of fire-watching. From November 1939 to January 1940 she wrote eleven letters for the Spectator, in which members of the Wimsey family and their friends discussed the black-out, food rationing, the housing shortage evacuation and other war-time conditions. (S. 297/298)

1941 erscheint The Mind of the Maker, in dem sie den Zusammenhang zwischen Trinität und schöpferischem Tätigsein weiter vertieft.

Ab Dezember desselben Jahres erscheint dann ihr bekanntestes religiöses Werk, das schon vor dem ersten Sendetermin für landesweite Diskussionen sorgte, nämlich The Man Born to be King, eine zwölfteilige Hörspielreihe, die den Lebensweg Jesu Christi bis zur Auferstehung nacherzählt. Genüsslich wurde die Aufregung in den Zeitungen zelebriert. Die einen hielten die Dramen für Blasphemie, weil auch die Rolle des Jesus von einem menschlichen Sprecher besetzt wurde und weil die Sprecher eben nicht die gepflegte Diktion der King James Bibel sprachen, sondern die gebräuchliche Umgangssprache. Man schickte Petitionen an den Premierminister und an den Erzbischof von Canterbury, um dem ungebührlichen Treiben ein Ende zu bereiten.

Andere witterten christliche Propaganda, die dringend verboten gehöre. Die Zeitungen, die BBC und auch Sayers selbst wurden mit Leserbriefen überflutet, doch allmählich änderte sich der Tenor und mehr und mehr Menschen waren dankbar und überwältigt, weil ihnen zum ersten Mal die Lebensgeschichte Jesu so nahe kam. Die Stücke wurden von vielen als ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der BBC angesehen und Sayers wurde sogar ein Doktortitel der Theologie angeboten, den sie jedoch höflich ablehnte.

Danach war kein Halten mehr und viele Organisationen baten Sayers um Stellungnahmen, Artikel und Vorträge. So erbat man auch ihre Mitarbeit bei einem Projekt, das sich das Ziel gesetzt hatte, antichristlichen Ansichten in den Zeitungen Paroli zu bieten. Ganz wohl war ihr nicht dabei, da sie kaum mehr zu anderer Arbeit kam und sie das auch gar nicht als ihre eigentliche Aufgabe ansah.

I’ve got wound up accidentally into this theological business, and I feel more and more ridiculous as it goes rollicking along. I only started by writing a play and trying to make its theology coherent and orthodox, and look what’s happened to me. (S. 333)

Sie sieht ihren Erfolg als Apologetin in der unzureichenden Lehre und Predigt der Kirche begründet, die die Menschen im Stich lasse und in ein Durcheinander stürze, ja

in a nightmare of muddle out of which [they] have to be hauled by a passing detective novelist in a hurry and with no proper tackle. (S. 333)

Dante

1943 liest sie The Figure of Beatrice von Charles Williams. Damit ist klar, dass sie die Göttliche Komödie von Dante lesen muss. 1944 kommt sie endlich dazu und damit ist es um sie geschehen.

I can remember nothing like it since I first read ‚The Three Musketeers‘ at the age of thirteen… However foolish it may sound, the plain fact is that I bolted my meals, neglected my sleep, work and correspondence, drove my friends crazy, and paid only a distracted attention to the doodle-bugs which happened to be infesting the neighbourhood at the time, until I had panted my way through the Three Realms of the dead from top to bottom to top.

Und so beginnt ihre letzte große schriftstellerische Arbeit, die sie selbst als ihre beste und wichtigste angesehen hat: Sie übersetzt das Werk ins Englische, da sie der Überzeugung ist, dass Dante den Menschen etwas zu sagen hat und den Menschen einfacher und preisgünstiger zugänglich gemacht werden müsse. 1949 erscheint Hell. 1955 folgt Purgatory. 

Sieben Jahre nach dem Tod ihres Mannes stirbt auch Dorothy L. Sayers, die im Laufe der Jahrzehnte stark übergewichtig geworden war und immer viel geraucht hat, im Dezember 1957 an einem Herzinfarkt, bevor sie den dritten Teil der Übersetzung beenden kann. Reynolds – die Biografin – wird sich der Aufgabe annehmen und 1962 erscheint der dritte, von Reynolds fertiggestellte Teil Paradise. 

1984 stirbt ihr Sohn John Anthony Fleming im Alter von 60 Jahren.

Schlussbemerkung

Jetzt, am Ende meiner Inhaltszusammenfassung, hat sich mein Eindruck verfestigt, dass Reynolds ein bisschen sehr mit dem Weichzeichner der Diskretion gearbeitet hat. Kritische Stimmen kommen nicht vor und einige Fragen bleiben offen:

  • Was genau hat ihr Sohn, den sie Freunden gegenüber als Neffen bezeichnete, von seiner Mutter gedacht?
  • Gibt es einen Artikel von ihr mit eindeutig antisemitischen Thesen, der allerdings nie veröffentlicht wurde, wie eine seriöse Internetquelle behauptet?
  • Warum sind Dorothy und ihr Mann nicht am selben Ort begraben?

Aber vermutlich kann es nie die perfekte, alle Bereiche abdeckende Biografie geben. Reynolds selbst zitiert am Anfang ihres Vorworts Ralph E. Hone mit den Worten: „Every biographical study is an interim report“ und lohnenswert war die Lektüre allemal.

Wer noch mehr erfahren möchte, kann hier ein wenig weiterstöbern.

Barbara Reynolds: Dorothy L. Sayers – Her Life and Soul (1993) – 2. Teil

Heute nun also der zweite Teil zu der Dorothy L. Sayers-Biografie von Barbara Reynolds, die 1993 erschien.

Reynolds, geboren 1914, war übrigens ein Patenkind von Sayers und kann selbst auf eine beeindruckende Karriere als Sprach- und Literaturwissenschaftlerin zurückblicken.

Sayers als Lehrerin

1916 beginnt Sayers an der High School in Hull zu unterrichten. Zunächst Französisch, später kommt noch Deutsch dazu. Sie scheint dabei recht erfolgreich zu sein und versucht alles, um den Schülern abzugewöhnen, Dinge einfach auswendig zu lernen, stattdessen führt sie mit ihnen kleine Stücke auf und gründet sogar einen Schulchor. Aber ihr Herz ist nicht dabei.

… it has been related that one of her pupils overheard her saying, ‚I’d rather sweep streets than teach children.‘ (S. 74)

Sie schreibt weiterhin Gedichte und für die Sommerferien wird ihr eine Leseerlaubnis für die Cambridge University Library bewilligt, sodass sie sich weiterhin mit französischen Texten des Mittelalters und der Renaissance beschäftigen kann.

Ausbildung im Verlagshaus Blackwell

Bereits nach einem Jahr kündigt sie ihre Stelle in Hull, da ihr Vater ihr eine Lehrstelle bei dem Verleger Basil Blackwell finanziert, der ihren ersten Gedichtband veröffentlicht hatte. So kann sie in ihr geliebtes Oxford zurückkehren. Und jetzt genießt sie das Leben in vollen Zügen. Doreen Wallace schreibt über Sayers:

I have never known anyone so brimful of the energy of a well-stocked mind: even at 24, when I knew her first, she knew an enormous amount about all sorts of subjects … and nothing would content her but fact. There was, however, a lighter side to this impressive character. Long and slim in those days, small head held alert on slender neck, she loped around Oxford looking for fun. (S. 76)

Sie singt im Chor, spielt verschiedene Instrumente und kauft sich zusammen mit einer Freundin ein Boot. Der Geistliche Leonard Hodgson macht ihr einen Heiratsantrag. In einem Brief schildert Sayers ihre Reaktion:

My elegant and maidenly reply, to the best of my recollection, was ‚Oh Lord!‘ – and I very nearly fainted into the nearest chair – seeing that I’ve met him four or five times at most, and only twice to talk to at any length. (S. 78)

Allerdings gibt Hodgson nicht auf und erreicht natürlich nur, dass Sayers wütend wird. Sie weiß, dass gerade seine Ergebenheit sie so abstößt:

To have somebody devoted to me arouses all my worst feelings. I loathe being deferred to. I abominate being waited on. It infuriates me to feel that my words are numbered and my actions watched. I want somebody to fight with. (S. 78)

Doch als sie den Mann gefunden hat, der mit ihr „kämpft“, wird daraus eine der Katastrophen ihres Lebens.

1918 wird ihr zweiter Gedichtband veröffentlicht. Als Sayers erfährt, dass ein Rezensent vorhat, diese negativ zu besprechen, überredet sie eine Freundin Leserbriefe unter falschem Namen zu schreiben, auf die dann wiederum Dorothy – ebenfalls unter falschem Namen – antworten wird. Die Freundin nimmt dabei sogar mehrere Identitäten an. Sayers hält diese Scheindiskussion, in die sich natürlich auch nichtsahnende Leser einschalten, für eine gelungene Werbeaktion.

1918 bringt nicht nur das Ende des Ersten Weltkrieges, sondern auch den Terror der sich in rasender Geschwindigkeit ausbreitenden Spanischen Grippe, an der allein in Großbritannien bis zu 250.000 Menschen sterben. Dorothy sagt eine geplante Feier ab:

One cannot give hilarious parties when people are dropping dead all round one! Lots and lots of people are dropping dead – they get pneumonia and are never seen alive again. It’s like being in London when the plague was on. (S. 85)

Das Trauma vieler Kriegsheimkehrer, im Englischen „shell shock„, wird später in mehreren ihrer Romane um Lord Peter Wimsey eine Rolle spielen.

Frankreich

1919 verliebt sie sich in Erich Whelpton, einen Kriegsheimkehrer. Als dieser eine Stelle als Lehrer und Leiter eines Schüleraustauschbüros in Frankreich annimmt, bittet sie ihn darum, ihr ebenfalls eine Arbeit zu besorgen. Und so kündigt sie ihre Stelle bei Blackwell, die ihr ohnehin zu eintönig geworden war, und arbeitet als seine Sekretärin in Frankreich. Viele seiner Eigenschaften finden sich später bei Lord Peter Wimsey wieder. Whelpton verliebt sich anderweitig und kehrt nach England zurück. Sie übernimmt seine Aufgaben an der Schule, bis der Direktor einen Ersatz gefunden hat. Im September 1920 kehrt auch sie nach England, und zwar nach London, zurück, ohne Geld und ohne Job.

London und ein neuer Detektiv

It was 1920 – a time of economic depression, widespread unemployment, and ex-service men selling matches in the street. The loss of life in the war had upset the demographic balance and there were two million „surplus“ women, as they were called. Dorothy was one of them. She was also unemployed. (S. 97)

Doch zunächst gibt es hervorragende Neuigkeiten: Endlich erkennt die University of Oxford die Abschlüsse der weiblichen Graduierten an.

On 14 October 1920 a ceremony was held in the Sheldonian at which the first batch of women – Dorothy L. Sayers among them – were formally invested first with a B.A. and immediately afterwards with an M.A. (S. 97)

Angeblich hat sie eine akademische Karriere nie interessiert. Reynolds vermutet, dass der kreative Impuls bei Sayers immer schon stärker gewesen sei und seit ihrer Rückkehr nach London habe sie die Gesellschaft von Künstlern und Schriftstellern der der Gelehrten vorgezogen. Allerdings hat sie immer den Kontakt zur Welt der Universität gepflegt, schon 1919 tritt sie in die Modern Language Association ein und veröffentlicht dort auch erste Übersetzungen.

Doch als das Geld trotz einzelner Schreibaufträge und Übersetzungsarbeiten nicht länger ausreicht, nimmt sie eine Stelle als Vertretungslehrerin an. Als die Stelle ausläuft, wechselt sie zu einer Schule im Londoner Stadtteil Acton. Die Samstage verbringt sie im Lesesaal des British Museum. Ihre bevorzugte Lektüre sind Bücher zu Kriminologie. Und im Januar 1921 schreibt sie an ihre Mutter:

I have chosen this moment to be visited with ideas for a detective story […] My detective story begins brightly, with a fat lady found dead in her bath with nothing on but her pince-nez. Now why did she wear pince-nez in her bath? If you can guess, you will be in a position to lay hands upon the murderer, but he’s a very cool and cunning fellow. (S. 101)

Die Grundidee für ihren ersten Kriminalroman Whose Body? um Lord Peter Wimsey ist gefunden. Zwar fühlt sie sich an der Schule in Acton wohler als bei ihren vorhergehenden Lehrtätigkeiten, doch richtig enthusiastisch ist sie nicht.

One reason why I am so keen about Lord Peter is that writing him keeps my mind thoroughly occupied, and prevents me from wanting too badly the kind of life I do want, and see no chance of getting. (S. 104)

1922 bewirbt sie sich auf eine Stellenausschreibung als Werbetexterin bei der Agentur S. H. Benson. Sie bekommt den Job und wird ihn bis 1931 ausüben. Einige noch heute bekannte Werbesprüche, z. B. für die Biermarke Guinness,  gehen auf ihr Konto. Damit ist sie finanziell von den Eltern unabhängig. Das erworbene Know-How wird sie für ihren Roman Murder must advertise nutzen, der in einer Werbeagentur spielt und 1933 erscheinen sollte.

Zudem findet sie endlich auch einen Verleger für ihren ersten Krimi. 1923 ist es so weit: Whose Body? erscheint. Alles könnte also wunderbar weitergehen, hätte sich nicht ihr Wunsch nach einem Mann, mit dem sie „kämpfen“ kann, erfüllt.

Liebeswirren

Cournos, ein russischer Jude, wurde 1881 in Kiew geboren. Als er 10 Jahre alt ist, wandert die Familie nach Amerika aus. Mit 12 bricht er die Schule ab, um zu arbeiten. Mit 14 marschiert er in das Geschäftsgebäude einer Zeitung, hält den Besitzer an und schildert ihm die Not seiner Familie. Der will ihn mit einem Dollar abspeisen, doch John lehnt den Dollar ab, er wolle eine Arbeit und kein Almosen. Und so wird er als Laufbursche eingestellt und arbeitet sich bis zum stellvertretenden Chefredakteur hoch. 1912 geht er nach England. Er schreibt Romane und Gedichte, gewinnt Preise und ist auch noch extrem gut aussehend.

Sayers und Cournos lernen sich kennen und verlieben sich. Er wird Dorothys große Liebe. Doch da gibt es das Problem, dass Cournos als Anhänger der so genannten freien Liebe aus Prinzip eine Eheschließung ablehnt, Dorothy jedoch möchte ihn heiraten und die Mutter seiner Kinder sein. Genau deshalb lehnt sie konsequent jegliche Empfängnisverhütung ab, was dann zu dem seltsamen Konstrukt führt, dass sie nackt nebeneinander liegen, ohne miteinander zu schlafen. Er behauptet später, dass er sie geheiratet hätte, wenn sie ihm nachgegeben hätte. Die noch existierenden Briefe und literarischen Verarbeitungen legen die Vermutung nahe, dass er eine kluge und willensstarke Frau neben sich nicht ertragen konnte, es aber ganz angenehm fand, von ihr bekocht zu werden, und wenn das Geld knapp war, auch mal bei ihr übernachten zu können. Cournos hat nur Verachtung für ihre Schriftstellerei übrig, da er Krimis von vornherein jeglichen Anspruch abspricht. Dorothy scheint immer ein bisschen Angst vor ihm gehabt zu haben und versuchte immer, es ihm in allem recht zu machen.

Im Herbst 1922 kehrt er nach Amerika zurück. Es kommt noch zu einem unschönen Briefwechsel und Dorothy erfährt, dass er – seinen angeblichen Prinzipien zum Trotz – geheiratet hat. Diese Beziehungskonstellation verarbeitet Sayers in Strong Poison, dem fünften Band der Wimsey-Reihe.

Danach hat sie von intellektuellen Männern erst einmal die Nase voll und lässt sich auf eine Affäre mit Bill White, einen Mechaniker und Autoverkäufer ein. Er sieht gut aus und ist arbeitslos. White nimmt sie auf seinem Motorrad mit und Dorothy findet Gefallen an der Bewegung, der Geschwindigkeit. Sie kauft sich sogar ein eigenes Motorrad und kann es – dank Bill – selbst reparieren. Sie finden sich sympathisch genug, um miteinander zu schlafen, und Dorothy wird schwanger.

Das Chaos ist perfekt: Ihre große Liebe wollte sie nicht heiraten und jetzt bekommt sie ein uneheliches Kind von einem Mann, den sie sich nie als Vater ihrer Kinder ausgesucht hätte, und zwar trotz der verwendeten Verhütungsmittel. Bill White ist schlicht entsetzt und macht sich aus dem Staub. Dorothy nimmt zwei Wochen Urlaub, in denen sie ganz allein überlegt, wie es weitergehen soll. Sie fasst den folgenschweren Entschluss, dass niemand von ihrer Schwangerschaft erfahren soll, auch ihre fast siebzigjährigen Eltern nicht, denen sie diesen Kummer ersparen möchte.

Als der Geburtstermin näher kommt, nimmt sie unter dem Vorwand, sich krank zu fühlen, acht Wochen Urlaub. Zwei Tage vor der Geburt schreibt sie einen Brief an ihre Kusine Ivy, mit der sie sich schon seit Kindertagen gut versteht. Ivy verdient ihren Lebensunterhalt mit der Pflege und Erziehung elternloser Kinder. Sie fragt Ivy, ob sie noch ein weiteres Kind aufnehmen könne und was die Kosten und Bedingungen sein würden. Es handele sich um das Kind einer guten Bekannten.

Im Januar 1924 bringt Sayers in einem Entbindungsheim einen gesunden Jungen zur Welt, sie gibt ihm den Namen John Anthony. Drei Wochen stillt sie ihn. Als sie die Zusage Ivys hat, zieht Dorothy Ivy ins Vertrauen und gibt zu, dass es sich um ihr eigenes Kind handelt. Ivy wird tatsächlich das in sie gesetzte Vertrauen nie enttäuschen und bewahrt völliges Stillschweigen über die Identität des Kindes. Sayers übernimmt sämtliche finanzielle Verantwortung und legt Wert darauf, dass John materiell nie etwas entbehren muss, doch öffentlich hat sie sich nie zu ihrer Mutterschaft bekannt. Auch ihr Sohn hat sie Jahre lang nur als „cousin Dorothy“ gekannt. Selbst als sie ihn, zusammen mit ihrem späteren Ehemann, adoptiert, hat sie das Geheimnis nicht gelüftet.

Sie kehrt nach London zurück und nimmt ihre Arbeit als Werbetexterin wieder auf. Es folgen schlimme Monate, in denen sie nach wie vor in Cournos verliebt ist und gleichzeitig versucht, ihren Sohn seinem Vater näherzubringen, was aber auf ganzer Linie scheitert. Sie hat Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, weil sie so niedergeschlagen ist, dass sie sich kaum konzentrieren kann.

Doch allmählich wendet sie sich wieder ihren literarischen Interessen zu, z. B. liest und analysiert sie die Romane Wilkie Collins und überlegt mit Chesterton, ob Detektivgeschichten eine Liebesgeschichte enthalten dürfen oder nicht.

Hier geht’s lang zum ersten Teil und hier gibt es den Schlussteil.

Barbara Reynolds: Dorothy L. Sayers – Her Life and Soul (1993)

Dorothy Leigh Sayers was born in Oxford in 1893, on 13 June, […] Her father, the Reverend Henry Sayers, was nearly forty and her mother, Helen Mary, was thirty-seven. They had married on 9 August 1892 and Dorothy was their only child.

So beginnt die Biografie von Barbara Reynolds zu Dorothy L. Sayers, einer der bekanntesten britischen Kriminalschriftstellerinnen des letzten Jahrhunderts.

Fazit

Da ich befürchte, dass mir der eine oder die andere bei meinen diesmal sehr lang geratenen Ausführungen zum Inhalt sanft entschlummert, stelle ich vorsichtshalber mein Fazit an den Beginn und werde mich heute auf Sayers‘ Jugend und ihr Studium beschränken. Die Mutigen mögen dann beim nächsten Mal weiterlesen, um mehr über die Schöpferin der Kriminalromane um den Hobby-Detektiv Lord Peter Wimsey zu erfahren.

Zwar gab es ab und an kleine Ungenauigkeiten und nicht alle Mutmaßungen fand ich schlüssig, doch insgesamt fiel das nicht ins Gewicht. Letztendlich hat Reynolds eine Biografie geschrieben, die ich besonders gern gelesen habe.

Sie ist informativ, ohne dabei überladen zu sein. Ich erinnere mich mit Schrecken an die Biografie zu Oscar Wilde von Ellmann, die wirklich bewundernswert gründlich recherchiert, aber gleichzeitig als Ziegelstein verwendbar war und drohte, mich unrettbar unter einer Informationslawine zu begraben.

Vor allem liegt hier der Glücksfall vor, dass die Biografin aus einem schier unerschöpflichen Fundus von Originalbriefen zitieren kann und Sayers persönlich gekannt hat. Was uns Reynolds allerdings nicht verrät, ist, dass Sayers ihre Patentante war. Das mag zwar der wissenschaftlichen Objektivität abträglich sein, ist aber der Lesbarkeit enorm zuträglich.

Dabei hat Sayers lange nicht erkannt, dass genau dies, eine frische und flotte Prosa, eine ihrer Stärken war. Während ihres Studiums beklagt sie, dass sie keine Prosa schreiben könne:

… in poetry I have to sit upon it, but in prose it ambles away with me. (S. 55)

Was allerdings, je länger, je mehr auffiel, war, dass die Biografin jede kritische Bewertung vermeidet; auch der zwischenzeitlich aufgekommenen Frage, ob man Sayers antisemitische Tendenzen unterstellen könne, weicht sie aus. Allerdings werden den LeserInnen genügend Fakten an die Hand gegeben, um sich selbst ein Bild dieser willensstarken und sicherlich nicht immer liebenswürdigen Frau zu machen.

Und interessant war der Ausflug in die Vergangenheit außerdem, nicht nur, was den Lebensweg Sayers und die Verbindungen zwischen Leben und Werk angeht – als kleines Beispiel sei hier nur erwähnt, dass Sayers sich – wie später auch ihr Ehemann – schon in ihrer Schulzeit mit Fotografie beschäftigt hat. Wer denkt da nicht an Butler Bunter, der seinem adeligen Arbeitgeber mehr als einmal aus der Patsche hilft, auch mit seinen am Tatort aufgenommenen Fotos.

Lesenswert natürlich auch, weil man erfährt, wie ein privilegiertes Mädchen zur Jahrhundertwende aufwachsen konnte und welchen Einschränkungen sie sich als Studentin ausgesetzt sah in einer Zeit, in der man nicht ohne Anstandsdame mit einem männlichen Studenten reden sollte und in der Verstöße gegen diese Regel unangenehme und peinliche Folgen für einen haben konnten. Wir sehen, wie der Lebensweg einer Frau verlief, die ihre eigentliche Bestimmung – Schriftstellerin, Dramatikerin, Apologetin, Übersetzerin – erst über Umwege fand.

Und wir erfahren etwas darüber, was uns die Brüche in Sayers‘ Biografie, wie z. B. ihr Umgang mit ihrem unehelich geborenen Sohn, über eine Zeit erzählen, die längst vergangen ist und in der die Menschen erst lernen mussten, auf einer Rolltreppe zu stehen, ohne dass ihnen übel dabei wurde.

Im letzten Drittel der Biografie, das ein wenig unpersönlicher als die anderen Teile ausfällt, lernen wir zudem eine kluge, streitbare Christin kennen, die sich – obwohl das ihr keineswegs so recht war – während des Zweiten Weltkrieges irgendwann in der Rolle der Apologetin wiederfand und mit ihren Theaterstücken, zum einen für das Canterbury Festival und zum anderen für Radiosendungen der BBC, zu einer nationalen Berühmtheit wurde und dabei sogar – wie man heute sagen würde – regelrechte Shitstorms entfachte.

Für die LeserInnen ihrer Kriminalromane sind natürlich die Bedingungen, unter denen diese entstanden, und die biografischen Fakten, die sich in den Krimis widerspiegeln, von Interesse. Dabei geht Reynolds auch der Frage nach, wie aus dem manchmal leicht nervtötenden Dandy Wimsey der ersten Bände ein immer runderer, komplexer Charakter wird und wie anhand dieser Figur nachzuzeichnen ist, wie Sayers das Schema des Krimis verändert, verfeinert und letztlich auf eine psychologische Höhe hebt, die den Unterschied zu „anspruchsvolleren“ literarischen Romanen mehr und mehr verwischt.

Zum Inhalt

Das Elternhaus

Sayers wurde zwar in Oxford geboren, doch als sie viereinhalb war, nahm ihr Vater die Pfarrstelle in Bluntisham-cum-Earith in Huntingdonshire an.

The house was large enough for Dorothy to have a night and a day nursery. There was room for Grandmother Sayers and Aunt Mabel Leigh, who both lived there permanently, and for Aunt Gertrude Sayers who came on long visits. The servants who had chosen to accompany them from Oxford comprised a cook, a manservant and three maids. There was also Dorothy’s nurse, later to be replaced by a series of governesses. A gardener, John Chapman, was engaged locally. His wife Elizabeth  was the laundry-maid and later took over as cook. Their son Bob was the houseboy and helped his father in the garden. (S. 9)

Dorothy ist das einzige Kind des Paares. Dabei ist von Anfang an beeindruckend, wie selbstverständlich die Eltern die Entwicklung ihrer Tochter fördern. Klein Dorothy kann lesen und hat eine gute Handschrift, bevor sie fünf Jahre alt ist. Unterrichtet wird sie zunächst zu Hause von einer Gouvernante, nach festgelegtem Stundenplan und mit regulären Ferienzeiten. Und noch vor ihrem siebten Geburtstag beginnt der Vater, sie in Latein zu unterrichten. Als sie sechseinhalb ist, liest sie ihrer Großmutter den Leitartikel der Zeitung vor.

Sie wird dabei nicht gedrängt oder streng diszipliniert, eher scheint sie die Inhalte aufgesogen zu haben. Auch hat sie Kontakt mit anderen Kindern, die entweder aus der Nachbarschaft kommen oder als „boarder“ im selben Haushalt wohnen und ebenfalls am Unterricht teilnehmen. Doch auch das Künstlerisch-Musische kommt dabei nicht zu kurz: Sie bekommt Geigen- und Tanzunterricht. Als sie beginnt, kleine Gedichte und später sogar Theaterstücke zu schreiben, wird auch dieses von den Eltern unterstützt. Dorothy schreibt dazu die Programme, bastelt die Requisiten und Eltern und Bedienstete hatten dann Rollen zu übernehmen. Abends vor dem Einschlafen erzählt sie sich selbst Geschichten; Großmutter und Tante lesen ihr die Klassiker wie Scott oder Dickens vor. Dorothys Belesenheit nimmt hier ihren Anfang. Da ihre Eltern das Theater lieben, fährt die Familie einmal im Jahr nach London, um sich dort eine Aufführung anzusehen.

She drew and painted well and made her own Christmas cards. Out of doors, she collected botanical specimens and insects and worked at classifying them. She had an appetite for exact information and enjoyed passing it on to other people. She also liked to know how things worked. Aunt Mabel […] taught her to knit. (S. 16)

She played tennis and croquet in the garden, skated on the river in winter, went for country walks and rode a bicycle. She sang in the church choir and played her violin at village concerts. She began to learn French and progressed rapidly once she had a French governess […] She also learned German and could converse fluently in that language with her governess, with whom she read a good deal of German Romantic poetry. (S. 17)

Später wird sie sagen, dass ihre Eltern sie zu sehr verwöhnt haben. Das nenne ich Jammern auf hohem Niveau.

Ganz selbstverständlich wächst Dorothy Sayers in die religiöse Prägung ihres Elternhauses hinein.

It was a conventional household. The family gathered in the dining-room at eight-fifteen in the morning, the servants entered and the rector said prayers. (S. 13)

Jahrzehnte später meint sie, dass sie nie eine Bekehrung erlebt habe, da sie von Anfang an „inside“ gewesen sei. Sie liest Chesterton und betont, wie wichtig es sei, „to worship with the understanding“. Mit pietistisch-gefühlvollem Christentum kann sie nichts anfangen, und so findet sie später ihre geistliche Heimat im katholisch orientierten Teil der Anglican Church, der High Church.

Später schreibt sie über den von ihr verehrten Chesterton:

To the young people of my generation, G.K.C. was a … Christian liberator. Like a beneficient bomb, he blew out of the Church the quality of stained glass of a very poor period and let in gusts of fresh air in which the dead leaves of doctrine danced. … It was stimulating to be told that Christianity was not a dull thing, but a gay thing … and adventurous thing … not an unintelligent thing, but a wise thing … (Dr. Art Lindsley: Profiles in Faith – Dorothy Sayers)

Schon als junges Mädchen schreibt und dichtet sie, was das Zeug hält, und übt sich in verschiedenen Themenkreisen und Lyrikformen.

Schulzeit

Da ihre Eltern davon ausgehen, dass Dorothy intelligent genug ist, um später in Oxford an einer der neu gegründeten colleges for women zu studieren, schicken sie sie ab 1909 ins Internat, um ihr die Zugangsvoraussetzungen für Oxford zu ermöglichen.

It has been said that she was unpopular at school and a misfit. It is true that she was not the conventional type of schoolgirl, good at games and experienced in communal living. Nevertheless, she had a great deal to offer. Her command of French was exceptional […], she played the piano  and the violin, she could sing, act and produce plays, she could write, she was lively and exuberant, above all, she enjoyed sharing enthusiasms with her friends … (S. 29)

Seit dieser Zeit schreibt Dorothy regelmäßig bis weit in ihr Erwachsenenalter Briefe an ihre Eltern (wie es damals auch für Söhne keineswegs unüblich war), die in ihrer Offenherzigkeit den modernen Leser verblüffen. Diese haben von Anfang an den lebhaften, begeisterungsfähigen und manchmal auch bissigen Stil mit dem Blick fürs Detail, den ihre Leser aus ihren Lord Peter Wimsey-Romanen kennen.

Sie verwendet wohl nicht allzu viel Zeit und Energie aufs Lernen, da ihr gute Noten ohne viel Mühe zufliegen. Auch hier verbringt sie einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit mit Theaterspielen und Musizieren und noch nach dem Zweiten Weltkrieg bemüht sie sich, etwas über das Schicksal ihrer ehemaligen Musiklehrerin aus Deutschland in Erfahrung zu bringen, um sie bis zu deren Tod 1948 mit Kleidung und Lebensmitteln zu unterstützen.

1911 erkrankt Dorothy lebensgefährlich, nachdem Masern bei ihr zu einer schweren Lungenentzündung geführt haben. Für mehrere Monate kehrt sie nach Hause zurück. Aufgrund der Krankheit verliert sie ihre Haare und muss für längere Zeit eine Perücke tragen. Zurück im Internat ist sie, wie der Rest der Schule auch, begeistert von den Auftritten einer französischen Theatergruppe. Dabei bringt sie jedoch die gesellschaftliche Heuchelei ganz fürchterlich auf die Palme, denn während die Aufführung in den höchsten Tönen gelobt wird, darf man sich als Schülerin auf gar keinen Fall mit den Schauspielern unterhalten, da dies als anstößig galt.

Oxford

Im März 1912 schafft sie es, ein Stipendium für Somerville College in Oxford zu bekommen, das 1879 für Frauen gegründet worden war. (Seit 1994 werden auch Männer zugelassen.) Sie studiert moderne Sprachen und mittelalterliche Literatur. Das bedeutet Unterricht in Griechisch, Latein, Französisch, Italienisch und Deutsch. Und so beginnt eine lange Liebesbeziehung zu dieser Stadt. Sie raucht – ihre Eltern schicken ihr 1912, als das nun für eine Neunzehnjährige wirklich nicht üblich war, sogar die Zigaretten. Sie flirtet, lernt, erfreut sich an schöner Kleidung und exzellenter Kirchenmusik. Sie tritt dem Oxford Bach Choir bei, was Reynolds als eine der prägendsten ästhetischen Erfahrungen für Sayers deutet.

Mit einer Freundin gründet sie schon 1912 die „M.S.A“ (Mutual Admiration Society), in der sich die Mitglieder aus ihren eigenen Werken vorlesen. Auch am College überarbeitet sie sich nicht, bekommt trotzdem exzellente Noten und im dritten Term schreibt sie an ihre Eltern:

Do you know, it is dreadful, but the longer I stay in Oxford, the more certain I am that I was never cut out for an academic career – I was really meant to be sociable. (S. 53)

Im Brief an eine Freundin heißt es:

Elsie makes me quite ill. She is steadily working through all those books we had to take home, and I simply daren’t tell her I’ve done practically nothing! It’s not exactly that I am idle, but I’m interested in something else the whole time. At present I am deep in the writing of an allegorical epic… (S. 54)

Das ändert aber nichts daran, dass sie 1915 ein hervorragendes Examen ablegt. (Erst einige Jahre später bekommen die Absolventinnen dann auch den entsprechenden Abschluss zuerkannt. Vorher war das für Frauen gar nicht üblich.) Sie lehnt das großzügige Angebot ihres keineswegs wohlhabenden Vaters ab, ihr noch ein weiteres Jahr in Oxford zu finanzieren.

Ihre Versuche, sich als Krankenschwester ausbilden zu lassen und so in Frankreich ihren Beitrag während des Krieges zu leisten, scheitern. Stattdessen nimmt sie im Januar 1916 eine Stelle als Lehrerin in Hull an, wobei sie alles andere als entzückt von diesem Beruf ist. Vermutlich ist das der Grund, dass sie für sich keine akademische Karriere in Betracht zieht.

1916 wird ihr erster Gedichtband in einer Auflage von 350 Stück veröffentlicht.

Hier geht’s lang zum zweiten und hier zum dritten Teil.

Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter (2013)

Wir hatten als einzige einen Kirschbaum.

Er stand in der Mulde neben dem Haus,

ein wenig geschützt vor dem eisigen Wind.

Um ihn durchzubringen, ging mein Vater in den Frostnächten hinaus,

ein kleines Feuer anzuzünden, das rauchte weiß wie die Blüten. 

So steht es auf der zweiten Seite des faszinierenden Buches Dieses Buch gehört meiner Mutter (2013) von Erich Hackl.

Zum Autor

Erich Hackl wurde 1954 in Österreich geboren. Stefan Howald schreibt in der Wochenzeitung am 2. September 2010 über ihn:

Seit seinem Erstling vor über zwanzig Jahren hat Erich Hackl praktisch ein eigenes Genre entwickelt und gepflegt. Auf historisch-dokumentarischen Recherchen aufbauend, vergegenwärtigt er Geschichte durchs Einzelschicksal. […] Den Sprachlosen und Vergessenen verleiht er eine Stimme und hält sie im kollektiven Gedächtnis.

Eva Menasse hat ihn 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einmal als diesen“ besessene(n) Rechercheur und Grenzgänger zwischen Literatur und literarisch-historischer Reportage“ bezeichnet.

In Dieses Buch gehört meiner Mutter verdichtet Hackl die Erinnerungen seiner Mutter Maria an ihre ersten 25 Jahre als Bauerstochter in der österreichischen Provinz nahe der tschechischen Grenze so sehr, dass man stellenweise meint, ein einziges langes Gedicht mit vielen Strophen zu lesen. Das genaue Geburtsdatum der Frau findet sich leider nirgendwo. Vermutlich zwischen 1920 und 1930.

Dabei wird keine fortlaufende Handlung geschildert. Stattdessen werden bestimmte Schlaglichter gesetzt, die zusammen betrachtet so etwas wie das Panorama einer untergegangenen Epoche ergeben. Beschönigt wird hier nichts: Die Tante Marias starb während einer Zwangsabtreibung, das nahm eine gute katholische Familie eher in Kauf als die Schande eines unehelichen Kindes.

Die Arbeit auf dem Feld, die Armut, besonders in den Familien mit zehn und mehr Kindern; Klassenkameraden Marias, die oft nur verschimmeltes Essen mit in die Schule bringen konnten. Die Mäuse im Haus, die Ratten im Stall. Hartherzige Priester, die Züchtigungen in der Schule. Der Nachbar, von dem alle wussten, dass er seine Töchter vergewaltigte, und der trotzdem keine Anzeige fürchten musste. Die Männer, von denen mehr als einer sein Hab und Gut versoffen hat. Der große Brand, der viele im Dorf obdachlos machte. Später dann die Machtübernahme der Nazis, die ersten Zwangsarbeiter, die marodierenden Russen bei der Befreiung.

In dieser harschen und abgeschiedenen Welt gilt zunächst einmal alle Kraft dem wirtschaftlichen Überleben. Schon der Vater Marias sollte als Sechsjähriger einer kinderlosen Verwandten „geschenkt“ werden, damit er deren Hof erbt. Als er von dort wegläuft und wieder nach Hause kommt, schämen sich seine Eltern.

Eine eigene Stimme, ein eigenes Empfinden wird gleich unter Generalverdacht gestellt und so ist der Vater ganz und gar nicht begeistert, als Maria ihre Schwester und eine Tante in Wien besucht, die dort als Dienstmädchen arbeiten. Als sie zurückkommt und voll Verzückung ob all des unerhört Neuen und Schönen dem Vater gesteht, in Wien sei es gerade wie im Paradies, kann der nur kontern mit Beschimpfungen und der guten Luft, die sie auf dem Lande doch hätten.

Ich war noch nicht einmal siebzehn,

trug Zöpfe, lief barfuß, betete dreimal am Tag    

und ehrte den Vater in Wort und Werk.                      

Dagegenreden, wie meine Schwester,                     

übte ich erst nach seinem Tod.

Für viele Worte und Gefühle ist in dieser Welt kein Platz. Nur durch Zufall kann Maria ihren alt und deshalb nutzlos gewordenen Hund Lord vor dem Abdecker retten. Und Worte für Gefühle gibt es schon gar nicht.

Ich weiß, was Liebe ist, aber ich konnte sie nie benennen, auch nicht für mich. Gernhaben und Mögen, andere Wörter hatten wir nicht.

Daneben und mittendrin gibt es aber auch das Andere, das Gewitzte, Lebenslust und Freude, z. B. an der ruhigen Stunde nach getaner Arbeit oder an den Bällen, wo man auch schon einmal zwei Paar Schuhe durchtanzt, und eine unglaubliche Schönheit.

Fazit

Es war bedrückend, von den Härten zu lesen, die in einer bäuerlichen Gemeinschaft auszuhalten waren. Die Armut, die Sprachlosigkeit, der unbarmherzige Katholizismus, die z. T. mörderischen Moralvorstellungen. Die starren Rollenbilder, aus denen weder Mann noch Frau ungestraft ausbrechen konnten.

Das Buch zwang mich, genau und noch genauer hinzuhören, viele Stellen mehrmals zu lesen, denn Maria spricht leise und scheint sich kaum vorstellen zu können, dass man ihr wie gebannt zuhört und sich kaum lösen kann, dabei scheint sie doch immer wieder hinter dem Erzählten und Erinnerten zu verschwinden, diskret, kunstlos, schnörkellos, alltäglich wie sie ist.

Hackl hat hier etwas geschrieben, was ich in dieser Form noch nie gelesen habe und was ich uneingeschränkt empfehle. Am liebsten würde ich seitenlang zitieren. Die folgende Passage hat mich sofort an Brechts Vergnügungen erinnert.

Schlitten fahren.
Die jungen Katzen im Korbwagen spazierenfahren.
Auf dem Jahrmarkt mit dem Ringelspiel fahren.
Ein Rehkitz mit der Flasche aufziehen.
Das Roß striegeln.
Der alten Einlegerin die weißen Haare kämmen.
Von der Störschneiderin ein Märchen erzählt bekommen.
Dem Edi beim Faxenmachen zuschauen.
Den Schaum vom Bierglas schlecken.
Auf dem Dachboden alte Bücher finden.
Neben dem Fluder kleine Wasserräder laufen lassen.
Beim Brotbacken helfen.
Aufs Christkind warten.
Ans Christkind glauben (ein Mädchen wie ich, nur blond).
Das Christkind sehen (einen Zipfel seines himmelblauen Nachthemds).
Wenn es regnet, trocken bleiben.
Zum Essen sich Zeit nehmen dürfen.
Früh ins Bett gehen dürfen.
Beten.
Einen Schutzengel haben.
Ein gutes Wort hören.
Sich freuen.
 Anmerkungen
 

Hackl erklärt in seiner Nachbemerkung, dass er sich den Titel des Buches von Bettina von Arnims Dieses Buch gehört dem König ausgeborgt habe. Aber außerdem habe er zeigen wollen, wie es Menschen trotz Armut und Mühsal gelingt, sich über die fremdbestimmten wie selbstverschuldeten Verhältnisse zu erheben, für einen Moment oder länger. […] Ich halte mich dabei an die Geschichten meiner Mutter, nehme mir aber die Freiheit, ihr Einsichten zu gestatten, die sie nicht auszudrücken vermochte oder zu denen sie nie gelangt ist. Die Freiheit, ihr mein Gewissen anzudichten. Ich glaube nicht, daß sie oder mein Vater dagegen Einspruch erheben würde.

Ich gab immer zuviel auf das,

was die anderen sagten.

Das war mein Fehler

mein Lebtag lang

und schon damals.

Mag sein, dass mich an einigen Stellen das Hinzugedichtete – gerade in der sprachlichen Rhythmisierung – ein bisschen gestört hat, aber viel mehr bedauere ich, dass ich nicht mehr mit meiner Großmutter – Jahrgang 1919 – über dieses Buch sprechen kann. Ob sie nicht vieles ganz ähnlich erlebt hat? Hackl hat in den Erinnerungen seiner Mutter viel mehr verdichtet als die Geschichte einer einzelnen Frau.

Hier geht’s lang zur Besprechung von Tobias Becker auf Spiegel online. Dort gibt es auch ein schönes Kinderfoto Marias mit ihrem Hund Lord.

Astrid Lindgren: Das entschwundene Land (OA 1975; deutsche Ausgabe 1977)

Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern nur eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe. Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, daß sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten.

So beginnt das einzige Buch, das die vielleicht berühmteste Kinderbuchautorin der Welt für ein erwachsenes Publikum geschrieben hat. Die deutsche Ausgabe wurde von Anna-Liese Kornitzky übersetzt. Das Original erschien 1975 unter dem viel nüchternen Titel Samuel August från Sevedstorp och Hanna i Hult.

Zum Inhalt

Der nur 126 Seiten schmale Band – überdies in großer Schrift – umfasst sechs Kapitel. Das erste und mit ca. 45 Seiten längste Kapitel schildert die Liebesgeschichte von Samuel August von Sevedstorp und Hanna in Hult, also den Eltern von Astrid Lindgren (1907– 2002). Die Kinderbuchautorin „wurde als zweites Kind des Pfarrhofpächters Samuel August Ericsson (1875–1969) und seiner Ehefrau Hanna Ericsson (1879–1961) geboren. Sie hatte einen älteren Bruder, Gunnar (1906–1974), und zwei jüngere Schwestern, Stina (1911–2002) und Ingegerd (1916–1997).“ (Wikipedia)

In der Liebe dieser Eltern sah Lindgren das Fundament ihrer glücklichen Kindheit.

Es war schön, dort Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. (S. 44 der dtv-Ausgabe)

Und tatsächlich weht den Leser da noch etwas an von einer anscheinend wahrhaft idyllischen Kindheit:

Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiß wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, so daß es das reine Wunder ist, daß wir uns  nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, daß unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluß, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten. (S. 44 – 45)

Gehorsam gegenüber den Eltern und Mithilfe sowohl im Haushalt als auch auf dem Feld waren dabei von klein auf selbstverständlich.

Daß wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache von der Welt. Schon mit sechs Jahren mußten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen. Mit dem Heranwachsen wurden wir auch, sofern es nötig war, bei der Erntearbeit eingespannt. […] Was einem aufgetragen war, das hatte man zu tun. Ich glaube, es war eine nützliche Lehre, die einem später im Leben half, auch mit eintöniger Arbeit ohne allzuviel Gestöhne und Gejammer fertig zu werden. (S. 46)

Schön war auch die Beschreibung der Familienfeste. Zu denen musste man oft ja erst stundenlang mit dem Pferdewagen anreisen. Und dann gingen die Erwachsenen sozusagen nahtlos von einer guten Mahlzeit zur anderen über, während die Kinder die Gelegenheit ergriffen, mit all ihren Kusinen und Vettern so viel Unsinn wie möglich zu treiben.

Im nächsten Kapitel erzählt Lindgren dann noch ein wenig mehr aus dem Alltag des elterlichen Pachthofes mit seinen Mägden und Knechten, die ein karges Leben fristeten und kaum etwas ihr Eigen nennen konnten. Aber vor allem gelten ihre Erinnerungen der Natur.

Sie umschloß all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, daß man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann […] In der Natur ringsum war auch all das angesiedelt, was unsere Phantasie zu erfinden vermochte. Alle Sagen und Märchen, alle Abenteuer, die wir uns ausgedacht oder gelesen oder gehört hatten, spielten sich nur  dort ab, ja sogar unsere Lieder und Gebete hatten dort ihren angestammten Platz.  (S. 78)

Und die kleine Astrid war höchst empört, als sie erfuhr, dass ihr Bruder Gunnar das Gebet „Ein reines Herz“ immer mit dem Weg hinterm Kuhstall verknüpfte.

Wie gut hatte es da doch mein „Ein reines Herz“, das so fromm den kleinen Pfad zwischen Faulbaum und Haselstrauch dahinwandern durfte, den Bach entlang, wo im Frühling die Sumpfdotterblumen gelb leuchteten, am Feldrain vorüber mit all den Walderdbeeren und danach an der Quelle, der tiefen und geheimnisvollen, wo in der Sommerhitze die Milch gekühlt wurde, bis hin zu dem uralten Waschhaus, das dort so einsam im Grünen versteckt lag, um schließlich – amen! – am Graben aufzuhören, wo das Goldmilzkraut wuchs. (S. 79)

Im dritten Kapitel erfahren wir, das ihre Leseleidenschaft den Anfang in der Küche einer armen Bauernfamilie nahm. Dort nämlich las die Häuslertochter der kleinen Astrid Märchen vor und von da an war es um Astrid geschehen und als sie selbst lesen konnte und ab und an der Luxus möglich wurde, nicht nur Bücher auszuleihen, sondern sich sogar eines zu kaufen, war die Freude grenzenlos.

Ein Buch ganz für sich allein zu besitzen – daß man vor Glück nicht ohnmächtig wurde! (S. 86)

Zu ihren familiären Pflichten gehörte, ihre kleine Schwester in den Schlaf zu singen, da diese sonst nicht einschlafen wollte. Um trotz der knappen Freizeit Zeit fürs Lesen zu finden, sang Astrid kurzerhand dem Schwesterchen die Bücher vor, die sie gerade las.

Natürlich wird auch – was für ein Zeitsprung – jener Märztag 1944 erwähnt, an dem Lindgren mit verstauchtem Fuß liegen musste und vor Langeweile die Geschichten um Pippi Langstrumpf aufschrieb, die sie sich 1941 für ihre Tochter ausgedacht hatte.

Im vierten Teil des Buches hält sie ein leidenschaftliches Plädoyer fürs Lesen als dem grenzenlosesten aller denkbaren Abenteuer.

Heutzutage wissen ja wohl alle Eltern, daß ihre Kinder Bücher brauchen … oder etwa nicht? Ich weiß zwar nicht, was ihr euch für euer Kind erträumt und erhofft, aber ich weiß, daß es für alle Wechselfälle des Lebens besser gerüstet ist, wenn es lesehungrig ist. (S. 98)

Das vorletzte Kapitel ist überschrieben mit „Kleines Zwiegespräch mit einem künftigen Kinderbuchautor“. Darin finden sich Banalitäten wie die Empfehlung, so zu schreiben, dass die Sprache für die Zielgruppe verständlich sei, und das ironische „Rezept“, mit dem sich Lindgren von modernen Kinder- und Jugendbüchern absetzt.

Nimm eine geschiedene Mutti – möglichst Klempnerin von Beruf, aber eine Atomphysikerin tut es notfalls auch, Hauptsache, sie „näht“ nicht und ist auch nicht „lieb“ – vermische diese Klempnermutti mit ein paar Teilen Dreckwasser und ein paar Teilen Luftverschmutzung, füge ein paar Teile weltweiten Hunger sowie ein paar Teile Elterntyrannei oder Lehrerterror hinzu, ziehe einige Löffel voll Geschlechterdiskriminierung darunter und streue schließlich reichlich Beischlaf und Drogensucht darüber, dann hast du ein deftiges und gepfeffertes Gulasch … (S. 107)

Im letzten Teil geht sie kurz der Frage nach, wo eigentlich ihre ganzen Einfälle herkommen.

Fazit

Dieser Band zerfällt in völlig disparate Teile, wobei der erste Teil der eigentlich lesenswerte war. Die Liebesgeschichte ihrer Eltern hat mir in ihrer Innigkeit und Schlichtheit sehr gefallen. Ein bisschen, als ob die alten Fotos, die wir alle aus irgendwelchen Familienalben kennen und bei denen wir manchmal nicht einmal mehr wissen, wer die Personen waren, plötzlich zum Leben erwachen. Eine märchenhaft schöne und ganz zeitlose Liebesgeschichte, zumal Lindgren noch aus den Briefen ihrer Eltern zitiert, die diese sich während ihrer langen Brautwerbezeit geschrieben haben. Das Ganze garniert mit ein wenig trockenem Humor.

Noch immer kutschierte er den Pfarrer […] und bisweilen auch die Witwe des Propstes, da Hanna in einem Brief besonders betont: ‚ Wenn Du willst, kannst Du am Sonntag auch ohne Pröpstin kommen.‘ Man hat Verständnis dafür, bei einem Stelldichein sind Pröpstinnen bestimmt nur im Wege. (S. 31)

Aber vor allem fand ich es anrührend, weil diese Liebe über all die Jahrzehnte gehalten hat. Selbst als hochbetagter Witwer hat Samuel August noch immer dankbar der großen Liebe seines Lebens gedacht.

… beide alterten, doch das änderte nichts. Ich erinnere mich ihrer, als sie beide schon die Achtzig überschritten hatten und das Leben um sie herum still geworden war, wie er dort saß und ihre Hände hielt und so zärtlich sagte: ‚Meine kleine Inniggeliebte, hier sitzen wir nun, du und ich, und haben’s schön.‘ (S. 48)

Doch die übrigen Kapitel weisen zwei große Mankos auf: Zum einen verrät Lindgren wenig über sich und ihre tatsächliche Biografie, schwierige Zeiten und konkrete Rahmenbedingungen werden ausgeblendet, und zum andern rutscht ihr Stil oft ins unpassend Simple ab. Ihr Rat, dass ein Kinderbuchautor den sprachlichen Horizont seiner Leser berücksichtigen müsse, kehrt sich hier gegen sie selbst. Ein Buch für erwachsene Leser sollte sich auch einer erwachsenen Sprache bedienen und auch die Gedanken dürften den Schwierigkeitsgrad und die Psychologie eines Pippi Langstrumpf-Bandes übersteigen. Ich möchte da nicht in so einer pseudokindlichen tantenhaften Sprache mit Belanglosigkeiten angesprochen werden.

Anmerkungen

Literaturwissenschaftler haben herausgearbeitet, dass Lindgren keine autobiografischen Schriften im herkömmlichen Sinne verfasst habe. Es sei ihr nicht um die chronologisch angeordnete Darstellung bestimmter Entwicklungsschritte gegangen. Eher entwerfe sie ein bestimmtes Bild ihrer Kindheit, das bewusst bestimmte Aspekte und wichtige Fragestellungen ausklammere. So ist das Kind in den autobiografischen Erinnerungen alterslos und wird nirgendwo mit Namen angeredet, die Geschwister werden nur beiläufig erwähnt, der Schulbesuch wird höchstens gestreift. Betont werden stattdessen die Intensität der Naturerfahrung und die Bedeutung von Spiel und Imagination. Manche deuten das als Fortführung des romantischen Kinderbildes, wie es sich in E.T.A. Hoffmanns Märchen Das fremd Kind (1817) verkörpert (vergl. die von Frauke Schade herausgegebene Textsammlung: Astrid Lindgren – ein neuer Blick, 2008, S. 68).

Die Vermeidung konkreter Zeit- und Ortsangaben sorgt dabei für eine gewisse atmosphärische Zeitlosigkeit und gleichzeitig dafür, dass man als Leserin, als Leser doch nun gern der Autorin die ein oder andere Frage stellen würde.

Und in diesen Zusammenhang gehört auch der Titel der deutschen Ausgabe. Lindgren selbst zitiert das Gedicht „Das entschwundene Land“ von Alf Henrikson, das eine Grunderfahrung Lindgrens in Worte fasst. Nicht nur der Verlust der unwiederbringlich verlorenen Kindheit wird besungen, sondern auch der Wandel der Zeit, der sich für Lindgren im Verschwinden der Landstreicher, der Kutschen, der bäuerlichen Hofgemeinschaften und der freien Kinderspiele manifestiert. Nur in der Erinnerung kann das Verlorene noch einmal aufleben. Der dritte Vers des Gedichts lautet:

Weich wie Seide lag der Staub des Weges unter den Kinderfüßen …

In den Worten Astrid Lindgrens klingt das so:

Aber noch habe ich nicht alles vergessen, noch kann ich sehen und den Duft spüren und mich der Seligkeit des Heckenrosenbusches auf der Rinderkoppel erinnern, der mir zum erstenmal gezeigt hat, was Schönheit ist. Noch kann ich an Sommerabenden den Wiesenknarrer im Roggen hören und in den Frühlingsnächten das Rufen der Käuzchen auf dem Eulenbaum, noch spüre ich, wie es ist, aus Schnee und beißender Kälte in einen warmen Kuhstall zu kommen, ich weiß, wie sich eine Kälberzunge auf der Hand anfühlt, wie Kaninchen riechen, wie es im Wagenschuppen duftet und wie es sich anhört, wenn die Milch in den Eimer zischt, und noch kann ich die winzigen Krallen frisch ausgeschlüpfter Küken auf der Hand spüren. Der Erinnerung wert ist dies alles wohl nicht. Das Besondere daran ist die Intensität, mit der man es erlebte, als man noch jung war. Wie lange her das sein muß! Wie hätte sich die Welt sonst so unglaublich verändern können? Konnte das alles wirklich in einem kurzen halben Jahrhundert so anders werden? Meine Kindheit verlebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt, aber wohin ist es entschwunden? (S. 81)

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Christian Grawe: Darling Jane (2010)

Jane Austens Lebenszeit umfasst eine der ereignisreichsten und turbulentesten Epochen der europäischen Geschichte. Sie wurde am 16. Dezember 1775 geboren und starb mit nur 41 Jahren am 18. Juli 1817. In dieser Zeit wurde in Frankreich von 1789 bis 1799 durch die Revolution der Staat vollständig umgeformt und durch die Herrschaft Napoleons von 1799 bis 1815 Europa in Krieg und Chaos

Grawe (*1935), ein deutscher Germanist und Übersetzer, hat zusammen mit seiner Frau sechs Romane Jane Austens übersetzt und legt nun hier auf 245 Seiten eine im Wesentlichen chronologisch aufgebaute Biografie Austens vor, in der er auch die gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Hintergründe miteinbezieht, die für ein tieferes Verständnis der Romane hilfreich sein können.

Er gibt also nicht nur Informationen zu ihrer Familie und zu den Jugendwerken der Autorin, sondern geht beispielsweise auch auf Details wie die Erbrechtregelung des Fideikommiss (entail) ein, die in Pride and Prejudice eine so wichtige Rolle spielt.

Grawe erläutert nicht nur die Berufswahl der Söhne aus der Gentry, die damaligen politischen Verhältnisse in England, sondern arbeitet auch Austens soziale Stellung als gesellschaftlich angesehene ‚gentlewoman‘ heraus. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bis wenige Jahre vor ihrem Tod finanziell so abhängig von ihren Brüdern war, dass sie nicht einmal selbstständig ihre Reisen und Besuche planen konnte.

Austens Romane sind aufgrund ihrer Kunst der Charakterisierung und Dialoggestaltung auf den ersten Blick für viele LeserInnen scheinbar mühelos zugänglich, doch Grawes Hintergrundinformationen z. B. zum hochgradig formalisierten Umgang – selbst innerhalb der Familie – in der Schicht der Gentry sind für eine Lektüre der Romane durchaus erhellend.

Er arbeitet außerdem heraus, worin das eigentlich Neue, ja literarisch geradezu Revolutionäre der Romane Austens liegt. Sie sei die erste Schriftstellerin, die – noch bevor der Begriff überhaupt auf Literatur bezogen wurde – den Anspruch hatte, realistisch zu schreiben. Kein Grusel, keine Sensationen, keine Sentimentalitäten, keine engelgleichen Heldinnen, die immer an der passenden Stelle in Ohnmacht fallen, keine fremden Länder, Räuber und Entführungen, kurzum keine Unwahrscheinlichkeiten mehr, die doch typisch für die Romanproduktion der damaligen Zeit waren. Stattdessen psychologisch glaubwürdige Charaktere in dem ihnen gemäßen sozialen Raum:

Gesprochene Worte müssen dem Sprecher, der Situation und dem sozialen Milieu angemessen sein, Charaktere entsprechend ihrer Anlage als Person handeln, und dieses Handeln muss motiviert sein, damit es menschlich überzeugend erscheint. (S. 175)

Dieser Anspruch auf Natürlichkeit und Stimmigkeit gehe einher mit einer zutiefst ironischen Weltsicht. Die Wirklichkeit werde in ihren Romanen noch einmal auf das Wesentliche hin gefiltert. „Jane Austens Geschichten von den Liebes- und Lebenssorgen junger Damen sind eingehüllt in eine bezaubernde Atmosphäre des Komödiantischen, das Ausdruck einer ironischen Weltsicht ist.“ (S. 182)

Das dürfe aber nicht dazu führen, dass man Austens Gesellschaftskritik übersehe, denn in den Romanen

erscheint trotzdem die soziale Welt als ein Jahrmarkt der Eitelkeit, der Selbstsucht, Gedankenlosigkeit und Dummheit. […] Heute herrscht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass Austen eine bissige Gesellschaftskritikerin war, die ihrer Umgebung sehr viel distanzierter gegenüberstand, als das auf den ersten Blick erscheint. (S. 184)

Zwar stelle Austen die Gesellschaftsordnung nicht grundsätzlich in Frage, doch kritisiere sie leidenschaftlich deren Missstände und menschliches Fehlverhalten.

Interessant auch, wie Grawe die Happy Ends der Austenschen Romane deutet, nämlich als „Erfüllung des Menschen aus der schlechten, korrupten, selbstischen Alltagswelt“ und nicht als Eskapismus oder romantische Schönfärberei. Das glückliche Ende sei „ein zentrales Element ihrer Menschensicht, nach der die liebende Beziehung den Hoffnungsschimmer in einer ungenügenden Welt ausmacht.“ (S. 190)

So werde Austen zur Vorläuferin des später entstehenden bürgerlichen Familienethos, das dem traditionellen, aristokratischen Verständnis von Ehe als einem Mittel der Familienpolitik diametral entgegenstehe.

Außerdem arbeitet Grawe heraus, dass Austens Romane als ’novels of manner‘ mit ihrem „Gewicht, das darin den Lebens- und Umgangsformen für das reibungslose Funktionieren des häufigen Miteinanderumgehens“ zugeschrieben wird, „Jane Austens eigene soziale Welt und ihre eigenen moralischen Maßstäbe“ widerspiegeln. (S. 90)

Er versteht Austen als eine Autorin in der Tradition der Aufklärung:

Vertrauen auf den gesunden Menschenverstand und den Wert der Kultur, Unsentimentalität und Toleranz, die Überzeugung von der Selbstbestimmung der menschlichen Vernunft und ihrer Fähigkeit, die Leidenschaften zu kontrollieren, und das Streben nach einer Balance zwischen Individuum und Gesellschaft sind für diese Tradition wesentlich. (S. 189)

Grawe selbst betont immer wieder, wie schwierig es gewesen sei, dem Menschen Jane Austen gerecht zu werden, da so unbefriedigend wenig persönliche Zeugnisse von ihr überlebt haben. Ihre Schwester Cassandra hatte nach dem Tode Janes viele Briefe vernichtet oder Stellen in den noch erhaltenen Briefen geschwärzt. Spätere Erinnerungen der Nichten und Neffen sind ebenfalls von Familiendiskretion und dem Wunsch geleitet, ein möglichst gefälliges Bild zu entwerfen.

Trotz dieser Einschränkung ist Grawe eine knappe, gut lesbare und informative Einführung in die Welt Austens gelungen, auch wenn ich manchmal seinen Stil etwas trocken fand. So schreibt Grawe – akademisch korrekt – von sich als dem „Verfasser der vorliegenden Biografie“ und spricht davon, dass Austen, wäre sie nicht so früh gestorben, sicherlich eine „Zelebrität“ hätte werden können.

Meine Lieblingsstelle beschäftigt sich mit dem Ideal „der gesellschaftlich geformten Persönlichkeit“, an dem sich die Figuren Austens messen lassen müssen. Dieses Ideal

umfasste auf eine für uns heute nur noch schwer vorstellbare Weise das ganze körperliche und geistig-seelische Wesen des Menschen. Gang, Gestik, Haltung, Eleganz, geschmackvolle und der Situation angemessene Kleidung, Gesichts- und Augenausdruck, sprachliche Gewandtheit und die Fähigkeit, sich in jeder Gesellschaft je nach dem erforderlichen Verhalten leutselig, zwanglos oder respektvoll zu bewegen, machten zusammen mit geistiger Lebhaftigkeit, höflichem Umgangston, menschlichem Empfinden, künstlerischem Interesse und Gespür, seelischem Feingefühl die Gesamtheit der ‚manners‘ aus. […] Schon eine laute  Stimme, eine indiskret wiederholte Frage, ein undelikates Gesprächsthema, eine brutale Wahrheit gegenüber einem wehrlosen Menschen […] können einen bedauerlichen Mangel an gesellschaftlicher Vollkommenheit bedeuten. (S. 90/91)

Und hier geht’s weiter:

Will Schwalbe: The End of your Life Book Club (2012)

We were nuts about the mocha in the waiting room at Memorial Sloan-Ketteridge’s outpatient care center. The coffee isn’t so good, and the hot chocolate is worse. But if, as Mom and I discovered, you push the „mocha“ button, you see how two not-very-good things can come together to make something quite delicious. The graham crackers aren’t bad either.

So beginnt das Buch, in dem der Amerikaner Will Schwalbe die letzten zwei Jahre seiner an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Mutter Mary Anne verarbeitet, die 2009 im Alter von 75 Jahren verstarb:

Will Schwalbe: The End of your Life Book Club (2012)

Die deutsche Übersetzung von Henriette Zeltner erschien unter dem Titel An diesem Tage lasen wir nicht weiter.

Zum Inhalt

Das Buch ist der Tribut eines Sohnes an seine außergewöhnliche Mutter. Mary Anne Schwalbe war berufstätig, als das noch unüblich war, und schließlich in der Universitätsverwaltung in leitender Stellung tätig. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in Thailand engagierte sie sich in ihren letzten zwei Jahrzehnten vor allem für die Belange von Flüchtlingen weltweit. Sie war u. a. Gründungsdirektorin der Women’s Refugee Commission und Wahlbeobachterin in Bosnien. Nebenbei organisierte sie das Leben der eigenen Familie mit drei Kindern, gründete den britischen Ableger des International Rescue Commitee und setzte sich bis kurz vor ihr Lebensende noch für die Gründung von mobilen Bibliotheken in Afghanistan ein.

If our family was an airline, Mom was the hub and we were the spokes. You rarely went anywhere nonstop; you went via Mom, who directed the traffic flow and determined the priorities: which family member was cleared for takeoff or landing. Even my father was not immune to Mom’s scheduling, though he was given more leeway than the rest of us. (S. 10)

Im Sommer 2007 kommt sie nach einer ihrer zahlreichen Reisen nach Pakistan und Afghanistan nicht wieder richtig auf die Füße, doch erst im Oktober wird eine unheilbare Bauchspeicheldrüsenerkrankung diagnostiziert. Ihr Sohn Will erfährt das, während er beruflich bedingt in Frankfurt auf der Buchmesse ist.

I realize now that all of us had reached a mad, feverish pitch of activity in the days leading up to Mom’s diagnosis. Dinners, drinks, visits, benefits, meetings, scheduling, picking up, dropping off, buying tickets, yoga, going to work, cardio at the gym. We were terrified to stop, stop anything, and admit that something was wrong. Activity, frenzied activity, seemed to be the thing we all felt we needed. […] Everything would be all right, everything would be possible, anything could be salvaged or averted, as long as we all kept running around. (S. 23)

Später erzählt er seiner Mutter, dass er sich in dieser Nacht nur noch durch die Fernsehprogramme gezappt hat. Sie findet das höchst merkwürdig:

Throughout her life, whenever Mom was sad or confused or disoriented, she could never concentrate on television, she said, but always sought refuge in a book. Books focused her mind, calmed her, took her outside of herself; television jangled her nerves. (S. 25)

Eigentlich ist auch Will, sowohl aufgrund der familiären Prägung als auch durch seine langjährige Arbeit im Verlagswesen, begeisterter Leser. Und immer, wenn Will in den kommenden Monaten seine Mutter bei den mehrstündigen Aufenthalten im Krankenhaus begleitet, bei denen sie ihre Chemo-Infusionen bekommt, tauschen sie sich aus über die Bücher, die sie gelesen haben und noch lesen wollen. Das wird dann als „End of your Life Book Club“ mit nur zwei Mitgliedern hochstilisiert.

Diese Gespräche über Bücher haben den beiden sicherlich viel gegeben und in einem Interview erläutert Will Schwalbe die Bedeutung, die das gemeinsame Lesen für die beiden hatte:

… for as long as I can remember, we always talked with each other about books. So the main thing the book club did was kept our relationship the way it always had been. When we were reading, we weren’t a sick person and a well person but a mother and son exploring books together. The book club also allowed us to tackle painful and difficult subjects—big topics like death and courage and loneliness. Books gave us a way to talk about those subjects obliquely, not head-on. We could talk about them by talking about characters in books who were dealing with similar issues. Finally, the book club was a source of pleasure—while we were reading, we were discovering new writers, new voices, new characters, new worlds. Reading was one of the ways Mom continued to live even as she was dying, and our discussions about books gave me new memories not directly connected to her illness that I would be able to have and share as long as I live.

Ich selbst fand die Abschnitte, in denen sie über Bücher gesprochen haben, nicht immer sehr tiefsinnig. Manchmal ging das Ganze über Name Dropping nicht hinaus. Mary Anne war beispielsweise der Meinung, dass man durchs Lesen lernen könne, Grausamkeit schneller zu erkennen.

… when you read about it, it’s easier to recognize. […] But people can be cruel in lots of ways, some very subtle. I think that’s why we all need to read about it. […] You need to learn to recognize these things right from the start. Evil always starts with small cruelties. (S. 151)

Will Schwalbe schreibt ehrlich über seinen anfänglichen Aktionismus, das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, um so dem Unausweichlichen nicht ins Gesicht zu sehen, hatte man ihnen doch mitgeteilt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung nach der Diagnose drei bis sechs Monate betrage, da der Krebs schon gestreut hatte.

Will ist es auch, der seiner Mutter vorschlägt, einen Blog zu betreiben, um so ihre vielen Freunde, ehemaligen Kollegen und Schüler in aller Welt auf dem Laufenden zu halten, da eine individuelle Korrespondenz sicherlich bald zu anstrengend würde. Sie stimmt dem zu, doch unter dem Vorbehalt, dass Will den Blog schreiben solle. Das führt dann zu der merkwürdig Verrenkung, dass sie zwar die Posts schreibt, jedoch aus der Perspektive Wills.

Fazit

Abgesehen vom Stil, der manchmal schlicht und anrührend, manchmal aber auch nur simpel und weitschweifig war, hat das Buch eine große Schwäche. Es krankt ab und zu an Heldenverehrung, die hart an der Kitschgrenze vorbeischrammt. Man sieht den Sohn dann förmlich zu Füßen seiner Mutter sitzen und ihr die letzten Fragen stellen. Dabei stilisiert er sich als jemand, der vorher noch nie über bestimmte Fragen nachgedacht hat, was ich kaum glauben mag. Dürfe man – wenn man sich denn sozial engagiere – überhaupt noch ein teures Restaurant besuchen? In einem anderen Gespräch versucht er beispielsweise sie dazu zu bewegen zuzugeben, dass sie eine mutige Frau sei, was sie aber völlig unbeeindruckt verneint. Stattdessen nennt sie Beispiele von Menschen, die ihrer Meinung nach mutig gewesen sind.

Ihre eigenen Ängste und die Trauer, vom Leben Abschied nehmen zu müssen, werden nur kurz gestreift, allerdings gibt ihr der christliche Glaube existenziellen Trost und Gewissheit:

‚I do know that there is life everlasting.‘ Usually Mom said believe. Recently, I noted, she said know. (S. 170)

Das ist zwar ein Punkt, den der Sohn nicht nachvollziehen kann, doch beide akzeptieren sich in ihren jeweiligen Sichtweisen.

Die Ecken und Kanten der Hauptperson dürfen nur sehr dezent durchschimmern, dabei hätten gerade sie dem Buch mehr Tiefe verliehen. Wie zum Beispiel Wills Erinnerung daran, dass Mary Anne gerade das Lieblingsstofftier ihres sechsjährigen Sohnes spendet, als eine ihrer Studentinnen Spielzeug für ein Waisenhaus sammelt. Als er sie nun Jahrzehnte später auf den „Tod“ von Turtle, der Riesenschildkröte, anspricht, gibt sie ehrlich zu: „You had so many stuffed animals! I didn’t really think about it. But I also didn’t give any thought to what we were going to tell you.“ (S. 87)

Vielleicht wollte der Autor auch noch nach dem Tod der Mutter ihre Privatsphäre respektieren, das ist zu loben, sorgt aber auch für eine gewisse Beliebigkeit, wenn man eben kein begnadeter Biografienschreiber ist, zumal er sich sicherlich oft nur noch auf seine Erinnerungen berufen kann, da er nicht jedes Wort mitprotokolliert haben dürfte.

Mom went on to tell me, as we sat there, that she really believed your personal life was personal. Secrets, she felt, rarely explained or excused anything in real life, or were even all that interesting. People shared too much, she said, not too little. She thought you should be able to keep your private life private for any reason or no reason. (S. 58)

Das Buch hat aber auch eine große Stärke: Eine zweifelsohne faszinierende Hauptperson: Nicht nur ihr beruflicher Lebenslauf und ihre vielfältigen sozialen Engagements, ihre Reisen in die Flüchtlingslager der Welt, ihre Rolle als Ehefrau und Mutter und nicht zuletzt auch Leserin wären allein schon Stoff genug für ein Buch.

Vor allem eines hat mich aber beeindruckt und nachdenklich gemacht: Weder lamentiert sie, nachdem sie die Diagnose erhalten hat, noch verfällt sie in Selbstmitleid. Weder hadert sie pausenlos mit dem Schicksal noch kreiselt sie nur noch um sich und ihren Gesundheitszustand. Stattdessen kümmert sie sich um ihre Projekte, pflegt ihre zahlreichen Freundschaften, gewinnt neue Freunde, nimmt Anteil am Leben ihrer Kinder und Enkelkinder, ist dankbar für das, was sie hat, betet, liest, reist, solange es eben geht, und bis zum Schluss bleibt ihr Horizont herrlich weit. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich das Buch keinesfalls als auf „die Tränendrüse drückend“ empfunden habe. Ganz im Gegenteil.

Aus literarischer Sicht hätte ich mir so ein Buch als Autobiografie oder von einem Außenstehenden gewünscht, sodass ihre eigene Stimme deutlicher zu hören gewesen wäre. So bleibt das Buch eine merkwürdige Mischung aus sorgfältig ausgewählten Erinnerungsstücken, Nabelschau des Sohnes und einer Biografie, die bewusst wesentliche Teile ausklammert. Wills Geschwister und der Ehemann der Verstorbenen spielen nur am Rande eine Rolle. Und auch wie Mary Anne als Christin mit dem eigenen Sterben zurande kommt, erschließt sich eher indirekt, indem wir z. B. erfahren, welche Bücher und Menschen ihr geholfen und gut getan haben. Nur an den wenigen Stellen, an denen wir glauben, sie direkt zu hören, gewinnt das Buch eine Eindrücklichkeit, die mir den Menschen Mary Anne Schwalbe wirklich näher gebracht hat. So heißt es bei der ersten Präsidentschaftskandidatur Obamas:

She told all of us that if Obama didn’t win, she was leaving the country, cancer or no. (S. 190)

Sie geht vorbereitet: Selbst den Text für die Karten hat sie bereits formuliert, mit denen ihre Familie sich für die zu erwartende Kondolenzpost bedanken soll, und benutzen möge die Familie dazu bitte blaue Tinte, keine schwarze.

‚The black is too somber.‘ (S. 171)

Anmerkungen

Am Ende findet sich eine Liste mit all den Titeln, die Mutter und Sohn gelesen haben. Darunter sind natürlich eine Reihe von Büchern, die man sich selbst sofort auf die Wunschliste setzen kann.

Schließen möchte ich mit einem Fazit Will Schwalbes:

We’re all in the end-of-your-life book club, whether we acknowledge it or not; each book we read may well be the last, each conversation the final one. (S. 281)

Eine faire, aber zu Recht kritische Rezension von Christopher R. Beha findet sich in der New York Times. Gern verweise ich außerdem auf die Besprechungen auf aus.gelesen, bei der Lesenden Stillwasserquelle und auf Buzzaldrins Blog.

Klaus Modick: Sunset (2011)

Zwischen Himmel und Meer gähnt der Morgennebel, zieht Strand und Uferstraße in seinen silbergrauen Schlund, scheint aber vor den Palmen zurückzuweichen. Die hageren Stämme recken sich wie Wesen aus mythischen Zeiten, archaische Wächter des Landes, die mit scharf gefiederten Lanzen dem Nebel Einhalt gebieten.

So – in der Bildhaftigkeit ein bisschen bemüht und gekünstelt – beginnt der Roman um einen Tag im Leben des alternden Schriftstellers Lion Feuchtwanger:

Klaus Modick: Sunset (2011)

Kurz zum Hintergrund

Feuchtwanger, 1884 in München geboren und Sohn eines begüterten Margarine-Fabrikanten, fühlte sich schon früh zur Schriftstellerei hingezogen. Er studierte und promovierte, nahm jedoch wegen seiner jüdischen Abstammung Abstand von einer Habilitation.

Mit seinen historischen Romanen wurde er einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits 1918 erkannte er das Talent Brechts, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und Arbeitsbeziehung verbinden sollte, was die beiden jedoch nicht daran hinderte, sich bis zum Tode Brechts zu siezen.

Klaus Modick, Schriftsteller und Übersetzer, hat 1980 mit einer Arbeit zu Lion Feuchtwanger promoviert.

Zum Buch

Das Werk schildert einen einzigen Tag im Leben Feuchtwangers, und zwar im August 1956, als er in seiner amerikanischen Wahlheimat in Los Angeles das Telegramm vom Tode Brechts erhält.

Feuchtwanger ist allein zu Haus, da seine Frau Martha wegen Fragen zur Einbürgerung bei einem Anwalt ist. Die Nachricht vom Tode seines vielleicht einzigen Freundes löst nun eine Flut an Erinnerungen und Reflexionen auch über das eigene Leben und Schreiben aus. Er erinnert sich z. B. an den Tag, als er den jungen Brecht kennengelernte, an ihre nicht immer unkomplizierte Beziehung und ihre Exilantengemeinschaft in Amerika, die keineswegs frei von Tratsch und Spannungen und Eifersüchteleien war.

Zu diesem Kreis gehörten auch Werfels, Heinrich und Thomas Mann und Arnold Zweig. Doch im Laufe der Zeit sterben die ehemaligen Freunde und Weggefährten oder sie kehren nach Europa zurück, während Feuchtwanger unter den Argusaugen der McCarthy-Hysterie versucht, für sich und seine Frau Martha die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Im Laufe dieses Tages muss er nicht nur von seinem Freund Abschied nehmen, sondern sich auch Rechenschaft über sein eigenes Werk und Schreiben geben und sich eingestehen, dass er selbst nun alt ist und die Kräfte schwinden. Andauernde Magenschmerzen machen ihm zu schaffen…

Fazit

Interessant ist das Buch, wenn man der Beziehung zwischen Brecht und Feuchtwanger nachgehen möchte. Als Roman selbst hat mich das Buch kalt gelassen. Es wirkt auf mich an vielen Stellen gekünstelt und „nachempfunden“ und ich habe selten vergessen, dass sich da einer eben vorstellt, wie dieser Tag im Leben Feuchtwanger  ausgesehen haben könnte. Das wirkt kenntnisreich und vorzüglich recherchiert und doch arg blutarm.

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Andreas Montag: Lothar König (2012)

Lothar König? Natürlich hatte ich den Namen schon gehört. Er stand ja in allen Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten über ihn. Der Mann aus Jena war im Februar des Jahres 2011 als evangelischer Pfarrer bei einer Demonstration gegen Rechtsextremismus in Dresden mit der sächsischen Polizei  zusammengeraten. Oder die Staatsmacht mit ihm?

So beginnt die leider sehr dürftige Biografie von Andreas Montag zu einem spannenden Leben Lothar König: Eine rebellische Seele (2012). Vorsichtshalber schreibt Montag, der vom Kreuz Verlag angefragt worden war, ob er nicht Lust habe, über den evangelischen Pfarrer König zu schreiben, gleich in der Einleitung:

Die hier vorliegenden Anmerkungen zur Person wird man als eine Annäherung an Lothar König verstehen müssen, eine umfassende Biografie ist es nicht, schon gar keine letztgültige. (S. 10)

Ich habe mich über dieses Büchlein von 160 Seiten vor allem geärgert. Lothar König ist aus mancherlei Gründen ein interessanter Mensch, über den ich gern etwas erfahren hätte. Ein Glaubender, der sich einmischt, der nicht wegguckt, wenn die Rechten aufmarschieren, der nun wegen Landfriedensbruch angeklagt ist, einer, der immer wieder auf das Problem der „Mittelextremisten“ aufmerksam macht, die durch ihr Schweigen das Tun der Randalierer und Rechtsextremen gutheißen und in der Mitte der Gesellschaft salonfähig machen, einer, der schon so rein äußerlich weder in konservative noch evangelikale Schubladen passt und der die Junge Gemeinde in Jena leitet.

(Quelle: Wikipedia; Fotograf: Ingo Jürgensmann,  CC-BY-3.0)

Doch das ist eben das Dilemma des Buches. Man liest Heldenverehrung. Allgemeinplätze und nebulöse Andeutungen. Wenn Lothar König keine Lust hat, über sein Privatleben zu sprechen, dann ist für Herrn Montag das Thema sofort vom Tisch.

Montag bescheinigt ihm tiefe Spiritualität. Doch woran soll die der Leser festmachen? Belege und Beispiele: Fehlanzeige. Auch falls der Leser etwa wissen möchte, was nun genau auf dieser verhängnisvollen Demo passiert ist, Montag wird es ihm nicht verraten. Das muss man sich dann schon selbst im Internet zusammensuchen, hingewiesen sei hier beispielsweise auf die Reportage bei Frontal 21.

Spannend und konkret wurde es dort, wo nicht Herr Montag schreibt, sondern Originalquellen zitiert werden, z. B. der Brief des Jenaer Oberbürgermeisters an den Ministerpräsidenten von Sachsen und die Antwort des sächsischen Generalstaatsanwaltes, nachdem die Durchsuchung der Wohnung des Stadtjugendpfarrers König durch die Dresdener Staatsanwaltschaft im August 2011 große öffentliche Empörung ausgelöst hatte.

Ich wünschte, Montag hätte sich die Worte Königs zu Herzen genommen:

Du musst schärfer fragen, ermahnt er seinen Gesprächspartner gern. (S. 31)

Außer seiner Tochter wurde niemand sonst von Montag zu König befragt. Sinnvollerweise hätte man die Interviews aufzeichnen sollen oder König hätte das Buch selbst schreiben müssen, stattdessen muss der Leser nun seitenweise indirekte Rede und salbungsvolle Interpretationen des Autors lesen. Schade, denn es könnte stimmen:

Christen, Gläubige überhaupt, können sich in ihrem Gottvertrauen als äußerst harte Nüsse erweisen. Und sie müssen deshalb keine Fundamentalisten sein. Fundamentalismus ist antiaufklärerisch, borniert und engstirnig. Auf Lothar König trifft nichts von alledem zu, im Gegenteil. Denn er hat ein großes Herz und so viel Liebe darin, wie man es jedem Zeitgenossen wünschen sollte. (S. 9)

Selbst der Wikipedia-Artikel zu König ist aussagekräftiger als dieses Büchlein. Schade. Chance verschenkt.

Volker Weidermann: Max Frisch: Sein Leben, seine Bücher (2010)

Nein, das geht natürlich nicht. Eine Biografie über Max Frisch – das ist ja genau der Schrecken, gegen den er ein Leben lang angeschrieben hat. Das fest gefügte Gebäude eines Lebens, zusammengefügt aus unverrückbaren Bausteinen, die Stein für Stein den lebendigen Menschen einmauern, bis die Wände ihn schließlich ganz umschließen und jede Bewegung unmöglich machen.

So beginnt

Volker Weidermann: Max Frisch: Sein Leben, seine Bücher (2010)

Die Biografie Weidermanns zu Max Frisch (1911 – 1991) liest sich interessant, flüssig, und die Auswahl der Zitate aus Frischs Werken und (ebenfalls veröffentlichten) Tagebüchern und Briefen ist so gelungen, dass einem Frisch nahekommt. Weidermann scheut sich nicht, Stellung zu beziehen, das genau gibt dem Ganzen eine angenehme Frische. Was für ein Unterschied zu dem drögen Machwerk, das ich vorher über Anne Morrow Lindbergh gelesen habe.

Im Vorwort zitiert er ein bekanntes Wort von Frisch aus dessen Tagebuch, was Weidermann wohl als Motto seiner Biografie verstanden wissen wollte:

Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur. Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und für den Standort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, daß man übermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klüger sei. Man ist, was man ist. […] Schreiben heißt, sich selber lesen. Was selten ein reines Vergnügen ist; man erschrickt auf Schritt und Tritt, man hält sich für einen fröhlichen Gesellen, und wenn man sich zufällig in einer Fensterscheibe sieht, erkennt man, daß man ein Griesgram ist. Und ein Moralist, wenn man sich liest.  Es läßt sich nichts machen dagegen. Wir können nur, indem wir den Zickzack unserer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennenlernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können, nicht von einem einzelnen Augenblick aus –  (zitiert nach Weidermann, S. 10)

Manchmal wäre ein bisschen mehr interpretatorische Tiefe bei den Werkbesprechungen schön gewesen, aber das kann man ja auch anderswo nachlesen. Ansonsten schon interessant, wie Frisch seine Lebenserfahrungen, seine Lieben – gern mit Frauen, die ca. 30 Jahre jünger waren – in Literatur umgesetzt hat. Und mit wem er in Freundschaft, Liebe und Feindschaft verbunden war, Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson. Auffällig fand ich, welch geringe Rolle Frischs Kinder in dieser Biografie spielen. Vielleicht sollte ich doch das Buch der Tochter Ursula Priess Sturz durch alle Spiegel lesen.

Und Max Frisch hat sich im Laufe der Jahre ja zu einem politisch wachen Menschen und Schriftsteller entwickelt, was ihm dann mit Jahrzehnten der Bespitzelung durch sein eigenes Land gedankt wurde.

Emil Staiger und Elisabeth Frenzel

Was noch genauer zu recherchieren bliebe, ist der Zürcher Literaturstreit um den Literaturprofessor Emil Staiger und seine höchst bedenkliche Rede vom 17. Dezember 1966 im Zürcher Schauspielhaus, auf die Max Frisch mit Entsetzen reagierte.

Als junger Studentin waren mir diese Zusammenhänge unbekannt, sie wurden, soweit ich mich erinnere, auch nie thematisiert.

Genauso wie die stramm nationalsozialistische Vergangenheit der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel (geboren 1915), die 1938 mit dem antisemitischen Machwerk „Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne“ promovierte. Der Doktortitel wurde ihr übrigens nie aberkannt.

Ihre „Daten deutscher Dichtung“, geschrieben zusammen mit ihrem Mann, gehörten gar jahrzehntelang zu den Standardwerken der nachkriegsdeutschen Germanistik. Diese Chronik deutschsprachiger Literatur erschien erstmals 1953 und enthielt sehr auffällige Lücken für die Jahre 1933 bis 1945 über Schriftsteller, die den Nazis nicht genehm waren, während nationalsozialistische Dichter zum Teil breite Erwähnung fanden. Das Buch wurde immer wieder aufgelegt und nur geringfügig modifiziert, erlebte 35 Auflagen und wurde erst 2009 endgültig vom Markt genommen. Aber erst, nachdem Volker Weidermann am 11. Mai 2009 den Artikel „Standardwerk mit Lücken: Ein grotesker Kanon“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht hatte.

Allerdings weist Tilman Krause in der WELT am 16. Mai 2009 bissig darauf hin, dass Frenzel schon vorher so ca. alle fünf Jahre als „alte Nazisse“ enttarnt worden sei und dass es ja nun kein Heldenstück sei, einer im Altersheim dahindämmernden 94-Jährigen quasi den Todesstoß zu versetzen. Er stellt außerdem die unangenehmen Fragen, warum nie etwas ähnlich Grundlegendes mal von der Germanistenzunft erstellt worden ist. Und wieso die Verlage, die zwar viele Jahre bereit waren, die Gewinne des sich prächtig verkaufenden Werkes einzustecken, nie auf eine tiefgreifende Überarbeitung drängten und dann 2009 plötzlich sang- und klanglos ihre Autorin fallen ließen. Die Vermutung liegt nahe: Im Zeitalter des Internets war das Buch keine Goldgrube mehr.

Auch wenn Krauses Einwände sicherlich berechtigt sind, finde ich es unerheblich, dass Frenzel zum Zeitpunkt ihrer Dissertation erst 23 war. Die Frage ist doch, ob sie irgendwann einen Erkenntnisprozess durchlebt und sie ihre tiefbraune, und nicht nur „angebräunte“, Denkweise wirklich hinter sich gelassen hat. Dafür finden sich aber weder in den diversen Zeitungsartikeln noch im Internet irgendwelche Belege, also wäre eine bloße Überarbeitung der „Daten deutscher Dichtung“ nur alberne und irreführende Kosmetik gewesen.

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Dorothy Herrmann: Mit den Wolken will ich ziehen (1993)

Es ist schon fast wieder ein Kunststück, das interessante Leben der Anne Morrow Lindbergh (1906 – 2001) zu so einer unfassbar klebrigen und öden Biografie zu vermurksen, aber der amerikanischen Journalistin Dorothy Herrmann ist genau das gelungen. Das Original erschien 1993 unter dem Titel  Anne Morrow Lindbergh. A Gift for Life.

Da heiratet die junge Botschaftertochter den über Nacht zum Nationalhelden gewordenen Charles Lindbergh, erwirbt als erste Frau in den USA den Segelschein und begleitet ihren Mann auf Expeditionen über Kontinente hinweg. Sie erlebt die Entführung und Ermordung ihres erstgeborenen Sohnes, den anschließenden Prozess und die Widerlichkeit der Presse – Journalisten brechen in das Leichenschauhaus ein, um noch Fotos der kleinen verwesten Leiche ihres Sohnes zu machen, den man erst zwei Monate nach seiner Ermordung aufgefunden hatte.

Anschließend verbringt sie mit ihrer Familie auf der Flucht vor der Öffentlichkeit ein längeres Exil in England und Frankreich, wird zu einer der beliebtesten Schriftstellerinnen Amerikas, bekommt fünf weitere Kinder, verstrickt sich – wenn auch nicht so stark wie ihr Mann, der überzeugter Sozialdarwinist war – in merkwürdige Versuche, den Amerikanern den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg auszureden, schafft es, nach dem Krieg ihr angekratztes Image wieder aufzupolieren und genießt sagenhaften Reichtum, um schließlich 2001 in hohem Alter zu sterben.

Darüber hinaus hat sie über Jahrzehnte Tagebuch geführt und war mit vielen wichtigen und einflussreichen Menschen bekannt.

Es ist einfach erstaunlich, was für eine anödende Biografie man über so ein Leben schreiben kann. 

Vielleicht liegt es daran, dass Anne Morrow Lindbergh zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch lebte und die Autorin zu feige war, Butter bei die Fische zu tun. Als solle um jeden Preis der Mythos der Lindberghs erhalten werden: kein Wort über die Affäre Anns mit ihrem Arzt, stattdessen der Versuch, ihr Leben als einen nicht enden wollenden Dienst am Image ihres Mannes zu stilisieren. Das Buch wirkt schwammig und vage, die Person Annes bleibt weit weg. Alles in allem: angekitschte Verehrung.

2003 kam dann durch die Enthüllung einer unehelichen Tochter von Charles Lindbergh auch noch heraus, dass Charles drei weitere Familien in Europa gegründet hatte, mit insgesamt sieben unehelichen Kindern. Vaterschaftstests haben das zweifelsfrei bewiesen. Siebzehn Jahre hat er sein Doppelleben mit jeweils ein paar Tagen pro Jahr bei seinen Geliebten und deren Kindern geführt. Zumindest diese Erkenntnis ist Anne erspart geblieben.

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Allen Foster: Around the world with Citizen Train: The sensational adventures of the real Phileas Fogg (2002)

George Francis Train’s birth was every bit as dramatic as his life. He came into the world during a snowstorm on March 24, 1829, at No. 21 High Street, Boston.

So beginnt die Biografie über eine besonders schillernde Gestalt im Amerika des 19. Jahrhunderts:

Allen Foster: Around the world with Citizen Train: The sensational adventures of the real Phileas Fogg (2002)

Zum Inhalt

George Francis Train (1829 – 1904) arbeitete sich als Waisenjunge aus armen Verhältnissen zu einem reichen Geschäftsmann mit Verbindungen in die besten gesellschaftlichen Kreise auf mehreren Kontinenten empor.

Er war exzentrisch, landete in mehreren Gefängnissen, war ein begnadeter Redner und Alleinunterhalter, der auf einer Rednertribüne Hunderte in seinen Bann ziehen konnte, ein glückloser Präsidentschaftskandidat, ein Unterstützter der Frauenbewegung und ein unverbesserlicher Anhänger der Rassentrennung.

1870 unternahm er seine erste Reise rund um die Welt, die drei Jahre später Jules Verne zu In achtzig Tagen um die Welt inspirieren sollte.

Später weigerte er sich, anderen die Hand zu geben, am Ende umgab er sich am liebsten mit Kindern, Gerichtsverfahren erklärten ihn für verrückt. Er starb verarmt und sein Abgang sorgte noch einmal für ein riesiges Medienecho in den Zeitungen.

Er wiederholte noch zweimal seine Weltreise, immer mit dem Ziel, diese noch schneller mit den sich ständig verbessernden Transportmöglichkeiten und Verbindungen zu absolvieren.

In 1890, Train completed his third circumnavigation of the earth in 67 days, a world record at the time. (Wikipedia)

Er sah voraus, dass unser Wirtschaftssystem genau diese Schnelligkeit brauchen würde. Und er war es, der 1850 in Liverpool darauf bestand, dass im Hafen nicht nur tagsüber, sondern auch nachts gearbeitet werden müsse, um unproduktive Wartezeiten für die Schiffe und die Ladung zu verkürzen.

Fazit

Heute scheint mir das Umgekehrte das viel Wertvollere zu sein, schön ist es, die Welt eben NICHT in wenigen Wochen bezwingen zu müssen, sondern die Muße zu haben, aufmerksam dort zu verweilen, wo man bleiben möchte. Und heute haben wir Schichtarbeit und menschliche Hamster, die aus ihrem Hamsterrad nicht mehr herauskönnen, und wenn sie doch mal rauskommen, wissen sie nicht, was sie mit sich anfangen sollen.

Bei aller Anerkennung für die Recherchearbeit des Autors, die an vielen Informationen und all den Zitaten aus Zeitungen und Briefen spürbar wird, es ist eine Biografie wie durch ein umgedrehtes Fernrohr, die Hauptperson bleibt weit weg. Ein bisschen ermüdend.

cnz 026

Frederik Sjöberg: Der Rosinenkönig (2009)

Frederik Sjöberg: Der Rosinenkönig (2009)

Was für eine Enttäuschung…

So ein bisschen Biografie des Gustav Eisen, der bestimmt eine interessantere Gestalt war, als es das Buch vermuten lässt – Regenwurmforscher, Traubenzüchter in den USA und einer der Mitbegründer des zweitältesten National Parks in den USA – vermischt mit ganz viel Erinnerungen des Autors, der den Leser beschwören möchte, eine Seelenverwandtschaft zwischen ihm und Eisen festzustellen.

Leider sind selbst die komischen Stellen nicht lustig. Interessanter sind Bücher von Leuten, die wirklich einer Person nachforschen und sich zwar dabei auch in ihrer Suche reflektieren, die aber sich nicht dauernd mit dem Objekt ihrer Betrachtungen verwechseln.

Schade, hätte bestimmt ein tolles Buch werden können.

Jon Krakauer: Into the Wild (1996)

Hier erzählt der erfahrene Bergsteiger Jon Krakauer die Lebensgeschichte von Christopher McCandless nach, eines amerikanischen Jungen, der rebelliert, durchs Land zieht und schließlich beim Trampen in der Wildnis von Alaska zuerst die Freiheit findet und dann dort verhungert. McCandless lebte von 1968 bis 1992.

Das Buch ist an einigen Stellen fürchterlich in die Länge gezogen, da Krakauer der Versuchung nicht widerstehen kann, sich auch immer wieder selbst zum Thema des Buches zu machen, es ist sprunghaft erzählt und doch unglaublich faszinierend und entsetzlich. Es ließ mich kaum los, jemand, der so klar wusste, was er wollte, diesen Traum kompromisslos, man kann auch sagen entsetzlich naiv gelebt hat. Ob er wirklich bereit war, diesen Traum mit seinem Leben zu bezahlen, ich glaube es nicht.

Wenn man etwas recherchiert, merkt man, dass Krakauer den Jungen wohl ein bisschen zum Thoreauschen Helden gemacht hat. Doch diejenigen, die mit der harschen Gegend und den Witterungsbedingungen dort vertraut sind, sind eher entsetzt gewesen, dass jemand, der ohne ausreichend Proviant, ohne Kompass, vernünftige Klamotten und ohne jemandem Bescheid zu sagen, einfach in die Wildnis Alaskas zieht, dann auch noch zum Helden stilisiert wird.

Trotzdem: ein verstörendes Buch, das einem die letztendliche Deutung schwer macht. Wirft es die Frage auf, wofür es sich zu leben lohnt, oder schildert es den Lebensweg eines verwirrten Menschen?

Das Foto, das Christopher, schon vom Verhungern gezeichnet, noch von sich aufgenommen hat und natürlich in der Grube des Internets zu finden ist, verfolgte mich noch Tage später.

Anmerkung

Auch Jahrzehnte später lässt die Frage, woran genau denn Christopher gestorben sei, die Menschen nicht los. Diverse Theorien wurden entwickelt und wieder verworfen. Den letzten Stand kann man bei awesomatik nachlesen.