Der Schriftsteller Mark Hodkinson, der Jahrzehnte für die Times und andere Zeitungen und Bücher zu Fußball(mannschaften) und Musik geschrieben hat, gründete den Pomona Verlag, in dem er nicht nur seinen eigenen Debütroman The Last Mad Surge of Youth (2009), sondern auch eine sehr gelobte Salinger-Biografie herausgebracht hat. Doch damit nicht genug, seit diesem Jahr liegt auch seine spannende Autobiografie mit dem vielsagenden Titel No one round here reads Tolstoy vor.
The walls are closing in. They used to be over there, a few metres away. Now, if I lean over I can touch them. This is what happens when you collect books and store them on big shelves in a small house. The process occurs imperceptibly, similar to the passing of time, where you think little has changed but then see a picture of yourself from a decade ago and sigh, ‘Bloody Hell!‘ I had no idea that 3,500 books (and ever rising) was an especially large number. The same as I thought having one book in my childhood home wasn‘t particularly unusual either. (Vorwort)
Geboren Mitte der sechziger Jahre, wuchs Mark in Rochdale auf, einer Stadt ca. 16 Kilometer nordöstlich von Manchester, in einem Arbeiterhaushalt, in dem es genau ein Buch gab. Die Wahrscheinlichkeit, eines Tages Vielleser, Schriftsteller, Verleger und Besitzer von über 3500 Büchern zu sein, war also gering.
I had succumbed to what Americans call BABLE: Book Accumulation Beyond Life Expectancy. How did I get here? Asked this on a Friday night after a few pints and I‘m looking for a chair to stand on. Appealing for quiet, please. Amid the chest thuds, quiver in my voice, I‘m telling everyone (two pals and the barmaid) that it‘s because I‘m ambitious and hopeful and ever seeking and each new book bears witness to a restless desire, of wanting, needing more, always more. And, and if I were to divest myself of these books would I not be conceding that my time on earth is finite and that I‘m going to die without everything I own? Who of us can defer so meekly to mortality? (S. 13)
Diesen Weg vom Arbeiterkind aus einem Ein-Buch-Haushalt zum stolzen und manchmal trotzigen Besitzer Tausender von Büchern zeichnet Hodkinson nun in 351 Seiten nach. Am Rande sei erwähnt, dass er sicherheitshalber sogar psychologische Beratung in Anspruch nimmt, um herauszufinden, ob und was mit ihm angesichts seiner Sammelwut möglicherweise nicht stimmt. Lisa erklärt ihm:
On one hand, by having such a collection and planning to read all these books, you are making a fantastic statement of hope and revealing an investment in future self, […] Even if you recognise you probably won‘t have time to read them all, you are already forming a relationship with mortality which we all must do at some point in our lives. The snag is the frustration you say you feel that comes with this realisation. This is something you need to deal with and accept. (S. 313)
Marks Elternhaus ist ganz anders als das in Streulicht von Deniz Ohde, obwohl beide aus einem Arbeiterhaushalt kommen. Der Familienzusammenhalt bei den Hodkinsons ist stark, eher bodenständig mit klar verteilten Geschlechterrollen; Tante, Onkel, Großeltern wohnen um die Ecke.
Parenting wasn‘t a complex issue in the 1970s. They didn‘t fret or read self-help books. The definition of a good parent was feeding and clothing your children, keeping them warm, loving them – what more was there to worry about? (S. 19)
An seiner Gesamtschule gilt er manchen Mitschülern als feiner Pinkel, weil seine Eltern nicht getrennt sind. Niemand aus seinem Bekanntenkreis kommt aus einem Akademikerhaushalt oder arbeitet in einem Büro. Seine Eltern
seldom showed tactile affection but their love and loyalty to me and my sister was constant, absolute. No one I knew owned or played a musical instrument. […] Outside of visiting cafés while on holiday, we never ate out as a family. At home, we had the same meals depending on the day of the week. […] The television was always on. No original artwork was on the walls. […] Dad went to the pub every night. Mum accompanied him to the pub at least once a week. (S. 17-18)
Our house was noisy, busy, messy, neighbours and family passing through (my uncle and aunty lived next door), doors banging, the dog barking, budgie whistling, Mum and Dad bickering, the telly blaring and Elvis crooning everlasting love (S. 27)
Schon als Kind sammelt er Fußballkarten, Kastanien, Bierdeckel, Briefmarken, eben alles, was er in die Hände bekommen kann.
… to this day, I cannot pass a conker (Kastanie) without picking it up and putting it in my pocket. Sunlight reflected in the deep reddish brown of a fresh-from-shell conker is a handful of heaven. (S. 22)
Seine Freunde am Lesen entwickelt Mark vermutlich, als er mehrere Wochen wegen beginnenden Asthmas die Schule versäumt. Seine Schulerfahrungen sind ohnehin eher trübe, Wissensdurst und die Freude am Lernen müssen getarnt werden, damit man nicht in eine Außenseiterrolle gemobbt wird. Die Lehrkräfte desillusioniert, wenig engagiert und wie selbstverständlich davon ausgehend, dass die Kinder allesamt in die Fußstapfen der Eltern treten werden.
Im Elternhaus wird Mark zunächst nicht unterstützt. Den Vater treibt massiv die Sorge um, dass ein Junge, der auch gern mal allein ist und dann noch ständig liest, vermutlich irgendwann schwul wird und folglich keine Freundin findet. Der Vater sieht Lesen vor allem als eine weibliche Beschäftigung an. Männer arbeiten mit den Händen, bauen ein Haus, reparieren Autos, gehen in die Kneipe, sind gesellig und heiraten jung und seine Mutter will ihm tatsächlich lange nicht glauben, dass er eine Brille braucht.
Besonders die Liebe Marks zu seinem Grandad – damit kriegt man mich immer – ist innig und auch deshalb etwas Besonderes, weil der Großvater zeitlebens zum Teil gravierende psychische Probleme hat. Die Spaziergänge mit ihm durch die öden Industrielandschaften gehören für den Enkel zu den wichtigsten Erinnerungen, wird er hier doch von seinem Großvater auf Augenhöhe angesprochen und erhält wichtige Lektionen fürs Leben. Leider kommt Gran, die Großmutter, in diesem Buch viel zu kurz. Die wenigen Szenen mit ihr machen Lust auf nähere Bekanntschaft mit dieser tapferen und loyalen Frau.
Allerdings haben trostlose Schule und sein bildungsfernes Elternhaus den unerwarteten Vorteil, dass Bücher und Musik (Sex Pistols, The Smiths) für den Teenager etwas Cooles und Erstrebenswertes werden, mit denen man – auch bei Gleichgesinnten – seine eigene Identität findet und definiert, eben weil man sie für sich selbst entdeckt, sich unbedarft, aber voller Neugier seine eigenen Pfade anlegen kann.
Nothing was handed down, from either pupils or teachers; I had to find it myself. Maybe, in a world where books, for example, were shared, recommended, deconstructed, they might have become an easy currency and soon felt ordinary, nothing special. Instead, books became crucial in reinforcing my outsider stance, getting me through and forming my personality. (S. 59)
So lehnt er, während er gerade den Punk für sich entdeckt, The Hobbit von Tolkien aus tiefstem Herzen ab, während Catcher in the Rye von J. D. Salinger und A Kestrel for a Knave von Barry Hines zwei seiner Lebensbücher werden.
I opened it [Catcher in the Rye] and read the first page. No book has had the same impact since. I was breathless; within the first few paragraphs it felt like reading a letter sent exclusively to me. I flicked through more pages, unable to believe that a novel could be so consistently truthful and personal. I was unsure at first whether I had enough money to buy it. I decided there and then: if I have to, I will steal this book. (S.81)
Hodkinson entdeckt als Jugendlicher Second-Hand-Läden, den Penguin Verlag, Somerset Maugham, D. H. Lawrence und die Leihbücherei. Von da an ist kein Halten mehr. Und irgendwann verblüfft er seinen Berufsberater mit seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden. Und seine zweite große Liebe, die Musik, wird ebenfalls immer wichtiger, vor allem, wenn sie auch noch mit filmischen oder literarischen Verweisen gespickt ist. Besonders Morrissey, ebenfalls aus einem Arbeiterhaushalt, wird sein Idol.
Selbst Familienurlaube, die man als Teenager ja nicht unbedingt immer begrüßt, sind für ihn eine Wonne, vorausgesetzt, es regnet.
I could think of nothing more blissful than seven days in a caravan, rain lashing on all sides and a pile of thirty-one books. (S. 125)
Hodkinson verschweigt nicht, dass eine solche Entwicklung auch bei ihm notgedrungen eine Distanzierung zu seinem Elternhaus bedeutete. Schon als Kind wusste er, dass er ein bisschen anders als seine übrige Familie tickt, doch als er als Siebzehnjähriger für seine Journalisten-Ausbildung am College von zu Hause wegziehen muss, ist das für die ganze Familie, ihn eingeschlossen, ein großer und schmerzhafter Schritt.
An Beziehungen gewinnen vor allem die zu seinem Großvater und zu seinem guten Freund Pete an Farbe. Man bekommt darüberhinaus einen Einblick in die massiven Veränderungen der britischen Gesellschaft unter Margaret Thatcher. Dazu gibt es manchmal etwas wahllos eingestreute Informationen und Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen, wie zu Klappentexten, dem Standesdünkel bei der Beurteilung von Literatur, zu Autorenfotos, zum Niedergang der Zeitungen, zur Rolle des Internets und zur Schließung zahlreicher Büchereien – in nur 10 Jahren wurden 20 % aller britischen Büchereien geschlossen. Die Entwicklung der verbleibenden Büchereien zu sogenannten „community hubs“, bei denen es um alles Mögliche geht, aber nicht ums Lesen, findet er übrigens grundfalsch.
Sehr schön fand ich seine Liste an Adjektiven auf S. 100, die ihm schon jeden Klappentext verleiden. Ich musste mich sehr zurückhalten, um die hier nicht auch noch zu zitieren.
Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen und seine Auseinandersetzung mit einzelnen Büchern sowie mit den Angry Young Men fand ich besonders prägnant und gelungen. Die weiteren Stationen auf dem Weg zum Journalisten und Schriftsteller waren dann – für mich – nicht mehr ganz so wichtig.
Natürlich erfahren wir, welche SchriftstellerInnen – meist Männer – seine Lesebiografie geprägt haben – nicht ungefährlich, weil man sich dann gleich wieder einige Bücher auf die eigene Leseliste setzen möchte – und eine Antwort auf seine Ausgangsfrage gibt es auch.
I knew it as a child, as I do an adult – why I collect. I wanted to store up sufficient stuff, my stuff, so that tomorrow, next week or at some point in the future, near or distant, I could surround myself with it, submerge myself, become it. I am suspicious of anyone who doesn‘t feel the same way. How can they live so much in the now with no regard to a better, quieter, reflective, rainy day tomorrow – which is what a collection guarantees. (S. 23)
Nachdem Hodkinson spaßeshalber ausgerechnet hat, dass er anscheinend seit seinem 13. Lebensjahr durchschnittlich 1,5 Bücher pro Woche gekauft hat, was ja dann doch gar nicht so viel sei, ist er mit sich und der Welt wieder im Reinen.
In fact, I am mystified how anyone can go through life and manage not to bring home 1.5 books per week. (S. 270)
