Agatha Christie: The Mysterious Affair at Styles (1920)

The Mysterious Affair at Styles, der erste Krimi um den belgischen Privatdetektiv Hercule Poirot setzte die unglaubliche Karriere von Agatha Christie (1890 – 1976) in Gang. Geschrieben 1916, aber erst 1920 als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht, war der Krimi das erste Buch von Christi, das von einem Verlag angenommen wurde, alle früheren Publikationsversuche waren gescheitert.

Zu ihrem ersten Giftmord inspiriert haben Christie sowohl die belgischen Flüchtlinge in Torquay als auch ihre Arbeit als ausgebildete Apothekenhelferin während des ersten Weltkrieges.

So wird der Held bei seinem ersten Auftreten beschrieben:

He was hardly more than five feet four inches but carried himself with great dignity. His head was exactly the shape of an egg, and he always perched it a little on one side. His moustache was very stiff and military. Even if everything on his face was covered, the tips of moustache and the pink-tipped nose would be visible. The neatness of his attire was almost incredible; I believe a speck of dust would have caused him more pain than a bullet wound. Yet this quaint dandified little man who, I was sorry to see, now limped badly, had been in his time one of the most celebrated members of the Belgian police. (S. 23)

Auf dem Landsitz Styles, auf dem der zur Selbstüberschätzung neigende Captain Arthur Hastings, der uns die Geschichte erzählt, gerade zu Gast weilt, wird die vermögende Familienpatriarchin tot aufgefunden. Ein Arzt, der schon früh morgens ganz überraschend in der Nähe weilt, vermutet, dass die alte Dame vergiftet worden sei. Zum Glück kann Hastings seinen alten Freund Poirot, der zufällig in just diesem Dorf als belgischer Flüchtling – der Roman spielt während des Ersten Weltkrieges – untergebracht ist, dazu überreden, sich des Falls anzunehmen.

Christie hatte einfach eine Begabung, ihre Leser*innen sofort in das Geschehen hineinzuziehen; und auch wenn einige Figuren schon sehr holzschnittartig, manchmal auch mit leicht rassistischen Untertönen geschildert werden, bin ich der Handlung lange Zeit halbwegs vergnügt gefolgt. Die Auflösung am Ende wirkte auf mich allerdings wie eine sehr lange und sehr langweilige Vorlesung, die Poirot vortragen muss, da nicht alle Handlungsfäden organisch angelegt wurden.

Dem kleinen belgischen Detektiv kann ich immer noch nicht besonders viel abgewinnen. Das Gute daran: Ich muss jetzt nicht alle weiteren Poirot-Bände – insgesamt 33 an der Zahl – lesen, denn ich bin und bleibe Anhänger der Miss Marple-Fraktion.

Auch Agatha Christie hat im Laufe der Jahrzehnte nicht nur sehr bereut, ihn nicht von Vornherein als jüngeren Mann angelegt zu haben, sie hätte ihn auch gern selbst gemeuchelt, beugte sich jedoch dem Geschmack ihrer Leser*innen.

Mehr Spaß als an Poirot hatte ich an den Seitenhieben auf den Ich-Erzähler Hastings.

[Poirot sagt] ‚… But we must be more intelligent. We must be so intelligent that he [the murderer] does not suspect us of being intelligent at all.‘ I acquiesced. ‚There, mon ami, you will be of great assistance to me.‘ I was pleased with the compliment. There had been times when I hardly thought that Poirot appreciated me at my true worth. (S. 142)

Zum Weiterstöbern: Das Kapitel in Christies Autobiografie  über die Entstehung von The Mysterious Affair at Styles liest sich sehr fluffig.

Kulturbowle hat, was ich sehr reizvoll fand, diesen ersten Band um Poirot gelesen und im Anschluss daran den letzten Band, in dem Poirot ermittelt.

Krimi-Tüte mit Cozy Mysteries

In der letzten Zeit habe ich einige Cozy Mysteries gelesen, also Krimis, die mit wenig Gewalt und blutigen Details auskommen und stattdessen möglichst unterhaltsam, aber dennoch spannend daherkommen, vielleicht sogar ein bisschen Screwball Comedy enthalten und die geneigte Leserschaft dabei nicht mit schlechtem Stil oder lieblos zusammengestöppelter Handlung verärgern.

Christianna Brand: Heads you lose (1988) 

Heads you lose von Christianna Brand spielt während des Zweiten Weltkrieges und ist der erste Band um Inspector Cockrill.

Die 38-jährige Grace Morland macht sich illusorische Hoffnungen auf einen Heiratsantrag ihres Nachbarn, den attraktiven und wohlhabenden Stephen Pendock und seines Zeichens Herrenhausbesitzer. Doch der wird sich gerade seiner Zuneigung zu der jüngeren und hübschen Francesa Hart bewusst, die er seit deren Kindheit kennt. Als an einem Dezemberabend Francesca in geradezu kindlicher Freude vor allen ein neues Hütchen präsentiert, kann Grace ihre Eifersucht nicht länger zügeln und lässt sich zu der Bemerkung hinreißen, dass sie mit einem solch liederlichen Fetzen nicht mal tot im Graben liegen möchte. Ein paar Stunden später ist Grace tot, sie liegt im Graben und trägt sogar den Hut Francescas.

Der Kreis der Tatverdächtigen ist klein, sind doch nur Francesca, ihre Schwester Venetia und deren Mann Henry Gold und die Großmutter der beiden jungen Frauen sowie James Nicholl, ein gerade zu Wohlstand gekommener Bekannter, über die Feiertage zu Besuch bei Stephen.

Alles ein bisschen düsterer als bei Agatha Christie, die unangenehmen Seiten und blinden Flecken der Beteiligten werden schärfer akzentuiert, wodurch das Erzählen moderner wirkt. Ein gelungener Auftakt, auf dessen Fortsetzung ich gespannt bin.

Lawrence Block: Burglars can‘t be Choosers (1977)

Lawrence Blocks (*1938) Krimis um den hauptberuflichen Einbrecher und Dieb Bernard G. Rodenbarr, der sich darauf versteht, unbemerkt in Wohnungen und Villen einzudringen und jedes noch so sichere Schloss zu knacken, machen Spaß, auch wenn der Aufbau der Bücher sich immer wieder ähnelt. Denn jedes Mal gerät Bernie bei seinen Beutezügen vom Regen in die Traufe und er hat auch schon einige Zeit hinter Gittern verbracht, eine Erfahrung, die er ungern wiederholen möchte.

Oft wird er von jemandem „gebucht“, in dessen Auftrag er wertvolle Gegenstände und Preziosen erbeuten soll.

I turned the knob, eased the heavy door inward half an inch or so. My blood was really up now. You never know for certain what‘s going to be on the other side of the door. That‘s one of the things that makes it exciting, but is also makes it scary, and it‘s still scary no matter how many times you‘ve done it. Once the lock‘s open, though, you can‘t do it an inch at a time like an old lady slipping into a swimming pool. So I pushed the door open and went inside. (S. 4)

Diesmal geht es um eine blaues Behältnis, nur zigarrenkistchengroß, in blaues Leder eingeschlagen, das sich im Apartment eines Mr. Flaxford, und zwar in dessen Schreibtisch, befinden soll. Dieser scheinbar kleine Auftrag soll ihm 5000 Dollar einbringen. Doch so gründlich Bernie den ganzen Schreibtisch durchsucht, es ist kein blaues Kästchen zu finden. Just als er die Wohnung unauffällig und bedauerlicherweise unverrichteter Dinge verlassen will, hört er einen Schlüssel in der Tür. Und ehe er sich versieht, stehen zwei Polizisten in der Wohnung, die von Nachbarn alarmiert worden sind, die seltsame Geräusche gehört hätten. Doch damit nicht genug des Schlamassels, als die Polizisten die Wohnung kontrollieren, entdeckt der jüngere der beiden eine Leiche im Schlafzimmer und fällt vor Schreck in Ohnmacht. In Sekundenbruchteilen entschließt sich Bernie, den zweiten Polizisten niederzuschlagen, zu flüchten und auf eigene Faust auf Mördersuche zu gehen. Was nicht unwesentlich dadurch erschwert wird, dass die ganze New Yorker Polizei nach ihm sucht und sein Konterfei am nächsten Tag die Titelseiten sämtlicher Zeitungen ziert.

Spritzige Dialoge, spannend und eine ordentliche Auflösung. Kann man mehr von lesen. Inzwischen gibt es bereits zwölf Bücher und einige Erzählungen um Bernie und seine illegalen Aktivitäten.

2020 ist eine deutsche Neuauflage der Übersetzung von Sepp Leeb unter dem Titel Ein Einbrecher zum Verlieben erschienen, bei der mir allerdings nach dem Vergleich der ersten Absätze schon nicht wohl war. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ganze Sätze und Satzteile in der Übersetzung einfach unter den Tisch fallen, Bedeutungen verändert werden oder die gehobene Ausdrucksweise Bernies sehr reduziert, ja plump wiedergegeben wird.

Richard Coles: Murder before Evensong (2022)

Der umtriebige und inzwischen pensionierte Kirchenmann Richard Coles legt hier den ersten Band um Pfarrer Daniel Clement vor, der seit acht Jahren seinen Dienst in Champton versieht. Der Mittvierziger lebt mit seiner verwitweten, aber durchsetzungsfreudigen Mutter und zwei mäßig erzogenen Dackeln im Pfarrhaus und ab und an kommt sein jüngerer Bruder, ein Schauspieler, zu Besuch, meist dann, wenn es gar nicht passt.

Die Geschichte spielt 1988 und Coles nimmt sich viel Zeit und noch mehr Seiten, das Dorf, seine BewohnerInnen, deren Tratschereien, den Standesdünkel des örtlichen Adligen Bernard de Floures und den Streit zu schildern, den die Idee des Pfarrers, im Kirchengebäude endlich eine Toilette einzubauen, im Dorf auslöst.

Doch eines Abends wird der Cousin Bernards mit eingeschlagenem Schädel in der Kirche aufgefunden. Niemand kann sich vorstellen, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, diesen friedfertigen, wenn auch sehr dem Alkohol zugeneigten Heimatforscher den Garaus zu machen. Als ein weiterer Toter zu beklagen ist, steht das Dorf Kopf.

Gefielen mir zunächst der ruhige Erzählton, das Verweilen bei Details und den zahlreichen Dorfbewohnern, die alle irgendwann ihren kleinen oder größeren Auftritt haben, so fehlte mir doch irgendwann etwas Entscheidendes. Hier wird quasi gar nicht oder eher im Vorbeigehen ermittelt. Nur zaghaft werden falsche Fährten gelegt und gegen Ende fällt die Auflösung des Falls dem Pfarrer arg unvermittelt wie Schuppen von den Augen. Ein bisschen mehr Plot, ein bisschen mehr Entwicklung bei den Handlungsfäden hätte dem Buch doch sehr gut getan. Und die Verankerung des Geistlichen in seinem Glauben und der daraus resultierenden Weltsicht fand ich in den Kriminalgeschichten James Runcies um Sidney Chambers wesentlich tiefgründiger.

Fiona Veitch Smith: The Jazz Files (2015)

War Murder before Evensong mir oft zu statisch und fiel die Lösung am Ende etwas hilflos vom Himmel, begibt sich Fiona Veitch Smith mit The Jazz Files ans andere Ende des Spektrums. Handlung und Tempo satt, was wiederum etwas auf Kosten der Charakterisierung geht. Aber der erste Band um die junge Poppy Denby, die 1920 aus ihrem methodistischen Elternhaus irgendwo auf dem Lande nach London kommt, ist dafür sehr hübsch ins Zeitgeschehen eingebettet.

Poppy, die davon ausgegangen ist, dass sie ihre auf den Rollstuhl angewiesene Tante Dot im Haushalt unterstützen soll, erfährt bei ihrer Ankunft in London, dass das nur ein Vorwand war, um Poppys Eltern zu beruhigen. Tante Dot, eine ehemalige Schauspielerin, und ihre Freundin Grace Wilson, die vor dem Krieg zu einem Kreis streitbarer Suffragetten gehörten, ermuntern Poppy stattdessen, sich nach einer beruflichen Tätigkeit umzusehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Und siehe da, sie bekommt die Stelle als Assistentin des kleinwüchsigen Chefredakteurs der Globe Mail.

Eigentlich soll Poppy das Büro des Redakteurs entrümpeln und dort endlich mal für Ordnung sorgen. Stattdessen findet sie sich, schneller als sie Hatschi sagen kann, in rasante und nicht ungefährliche Ermittlungen verwickelt, die sich um Skandale in höchsten Kreisen drehen, um korrupte Polizisten und eine adlige Tochter, die zu Unrecht in einem „mental asylum“ weggesperrt wurde.

Ist die Charakterzeichnung auch nicht gerade subtil, so machen dies Tempo und vor allem Zeitkolorit wieder wett. In einem aufregenden Jazzclub trinkt Poppy das erste Mal Champagner. Eine aufstrebende Schauspielerin am Old Vic wird bald bald zu Poppys bester Freundin. Und der Fotoreporter Daniel ist – wie könnte es anders sein – schon von der ersten Begegnung an ganz reizend und immer, wenn Not am Mann ist, zur Stelle.

Doch vor allem habe ich viel gelernt und nebenbei noch weiter recherchiert, was die britische Frauenbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts anging. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Krimi zu lesen. Flotte Unterhaltung mit Mehrwert. Ob man nun auch die fünf Folgebände lesen muss, steht vielleicht auf einem anderen Blatt.

F0EB6860-2154-4053-9B9A-653391A66778

June Wright: Reservation for Murder (1952)

Es war mal wieder Zeit für ein Krimi-Schätzchen á la Agatha Christie. Und da kam die Neuauflage von Reservation for Murder, ursprünglich 1952 erschienen, der australischen Schriftstellerin June Wright (1919-2012) gerade recht.

Der Schauplatz des Romans ist Kilcomoden, ein Wohnheim für junge berufstätige Frauen, fünf Meilen von Melbournes Zentrum entfernt, das von Nonnen unter der Leitung von Mother Mary St. Paul of the Cross geführt wird.  (In Melbourne gab es damals mehrere dieser Wohnheime oder „hostels“ für junge Frauen vom Land, die zum ersten Mal weit entfernt von ihren Familien wohnten, weil sie studierten oder ihrer ersten Arbeit nachgingen.) Kilcomoden

was one of those fine old colonial-style houses built to weather the passing of years – but unfortunately not of domestic staff. Once the family home of a rich draper, and no doubt intended by him to be the home of his descendants, it now sheltered twenty-five business girls from shrewish landladies, malnutrition and week-end boredom. […] the waiting list for admission was long. (S. 21)

So muss sich die geneigte Leserin zwar zunächst einmal darum bemühen, den Überblick über die Namen der Bewohnerinnen zu behalten, doch die Ich-Erzählerin Mary Allen ist eine angenehme, schlagfertige und zuweilen scharfzüngige Begleiterin durch alle Krisen (ausgelöst durch anonyme Briefe, Eifersüchteleien und persönliche Befindlichkeiten) und Mördereien.

For eight years now I had been catching the eighty-twenty bus to the city […], where I was an unenterprising, but adequate, secretary to an even more unenterprising firm of solicitors, and returning home on the five-thirty. Over the weekend I played a little diffident golf or tennis, worked in a frustrated sort of way on two crossword puzzles, and enjoyed the mild courtship of a slightly balding young  man called Cyril. (S. 22)

Mary Allen ist es auch, die nachts am Eingangstor buchstäblich über die erste Leiche, einen unbekannten Mann, stolpert.

Die nach außen hin immer leicht abwesend wirkende, aber in Wirklichkeit natürlich scharf beobachtende Mother Paul – für viele Kritiker die heimliche Protagonistin – zieht derweil im Hintergrund ihre Fäden und sorgt u. a. dafür, dass Mary Allen den sympathischen Ermittler O‘Mara mit allen notwendigen Insider-Informationen aus dem Wohnheim versorgt.

Ich fand den ersten Band von dreien um Mother Paul ausgesprochen vergnüglich. Die jungen Frauen wirken in ihren Auseinandersetzungen und ihrer Lebensgestaltung (sie haben keinen eigenen Schlüssel für die Haustür und müssen spätabends von der jeweils dazu Beauftragten hereingelassen werden) manchmal zwar eher wie biestige Teenager, doch das hat die Spannung und den Unterhaltungsfaktor nur unwesentlich beeinträchtigt. Daneben erlaubt der Krimi kleine Einblicke in einen Alltag vor 70 Jahren.

Und die Frage, wie intelligente Frauen sich ihre Zukunft vorstellen, taucht auch hier auf. Fenella, eine berufstätige Freundin Marys, findet es ganz und gar deprimierend, als sie im Laufe der Ermittlungen eine gewisse Rhoda Baker besuchen. Diese wohnt in einem schäbigen Vorstadtviertel, ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder.

‘Can you imagine anything more deadly, Mary? Born, bred and married all in the one place – and what a place! I bet she never ventures further than town and then only for the summer sales, and her husband potters in the garden all the week-end.‘ When she saw the few depressed-looking shrubs struggling for life in the Baker garden, and the sun-burnt couch-lawn, she added: ‚Or tinkers with the radio wearing a waistcoat and no collar.‘ (S. 132)

Im interessanten, elfseitigen Vorwort zu Reservation for Murder von Derham Groves erfahren wir nicht nur, woher die Inspiration für eine Nonne als Ermittlerin stammt, sondern auch, dass June in ihrer Ehe mit Stewart Wright nicht glücklich war. Sie hatten zwar sechs Kinder zusammen, aber Stewart wollte immer, dass sie aufhört zu schreiben, dabei waren ihre Romane sehr erfolgreich. Ihr Mann dürfte sich mit dieser Meinung nicht allein gewusst haben, selbst in den Kritiken von damals war es immer wieder ein Thema, wie man zugleich erfolgreiche Schriftstellerin und eine gute Mutter sein könne.

Ich freue mich über die Neuauflage der insgesamt sieben Krimis von June Wright bei Dark Passage, einem Imprint von Verse Chorus Press. Die übrigen müssen nun auch noch her.

Wrights Lieblingskrimi war übrigens Gaudy Night von Dorothy Sayers.

Hier geht‘s lang zum Nachruf im Sydney Morning Herald.

Constanze Scheib: Der Würger von Hietzing (2021)

Der Kulturbowle verdanke ich den schönen Hinweis auf eine neue Ermittlerin im Krimibereich: Die Wiener Schauspielerin und Autorin Constanze Scheib (*1979) schickt Helene Ehrenstein, eine  32-jährige Dame aus den feinsten Kreisen, im Wien der siebziger Jahren auf Verbrecherjagd.

Helene langweilt sich schon lange in ihrer Ehe mit dem steifen, aber wohlhabenden Oskar. Auch die gelegentlichen Zoo-Besuche mit ihrem Sohn Willi, Shoppingtouren mit ihren zwei Freundinnen und die morgendliche Inspektion des Dienstpersonals lasten sie längst nicht mehr aus. Da erfährt sie von einer Einbruch- und Mordserie, die gar nicht weit von ihrer Villa schon mehrere ältere Frauen das Leben gekostet hat.

Der „Würger von Hietzing“ hat auch die Tante ihres Dienstmädchens Bianca auf dem Gewissen. Also beschließt Helene kurzerhand, ausgestattet mit Stöckelschuhen, Perlenkette, reichlich Naivität und Unternehmungslust sowie der Hilfe ihres bodenständigen zweiten Dienstmädchens Marie den Täter dingfest zu machen.

‘Jemand muss etwas unternehmen! Und was ich auf den Tod nicht leiden kann, sind Leute, die sich nur aufpudeln und sich zu fein sind, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.‘ (S. 40)

Das allerdings erweist sich als schwieriger als gedacht und die Lektüre vieler Krimis und eine Vorliebe für Whisky und Miss Marple sind dabei gar nicht immer so hilfreich. Dass man dabei sogar in Gefahr kommen und – noch viel schlimmer – andere in Gefahr bringen kann, zeigt sich im Laufe der etwas chaotisch geführten Ermittlungen immer deutlicher. 

Das Aufeinanderprallen der verschiedenen sozialen Schichten, die Situationskomik und das Lokalkolorit machen einfach Laune. So habe ich zum Beispiel gelernt, was eine Bassena ist. Und Marie hat mehr als einmal den berechtigen Eindruck, dass ihre „Gnä’ Frau“ doch weit weg vom Leben der normalen Leute ist. Aber Helene lernt dazu und lässt sich auf neue Milieus mit Begeisterung und echtem Interesse ein, selbst wenn das bedeutet, mal skandalös angeschickert bei ihrer Frisörin aufzutauchen.

Zwar hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin ihre Hauptfigur besonders in den ersten Kapiteln etwas ernster genommen hätte und die Schreibung der Anredepronomen vom Kampa Verlag sorgfältiger lektoriert worden wäre. Aber das wurde wieder wettgemacht durch die geschickte Verwendung des Wiener Dialekts, der nicht nur die Personen charakterisiert, sondern mir als Unkundiger einfach auch viel Spaß gemacht hat. Allein das Verb „aufpudeln“ ist doch schon großes Kino. Definitiv ein unterhaltsamer Krimi für ein verregnetes Wochenende.

 

Amanda Cross: In the Last Analysis (1964)

Durch die deutsche Neuauflage von Die letzte Analyse im Dörlemann Verlag bin ich überhaupt erst aufmerksam auf dieses Krimi-Schätzchen aus den Sechzigern geworden. Was für ein Glück. Dabei konnte man die Bände um die resolute Literaturprofessorin Kate Fansler schon vor über 20 Jahren in Deutschland erstehen.

Der ursprüngliche deutsche Titel des ersten Bandes lautete Gefährliche Praxis. Ansonsten wurde die Übersetzung von Monika Blaich (*1942) und Klaus Kamberger (*1940) vom Dörlemann Verlag beibehalten. Meine Besprechung bezieht sich allerdings auf die englische Neuausgabe von 2018.

Kurz zum Inhalt:

Die ältere Studentin Janet Harrison fragt Professorin Kate Fansler, ob diese ihr einen guten Therapeuten empfehlen könne. Und so kommt es, dass Janet eine Psychoanalse bei Emanuel Bauer beginnt, einem anerkannten Analytiker und sehr guten Freund von Kate. Die beiden waren auch mal ein Liebespaar, aber das ist lange her.

They had been lovers for a time – they had no one but themselves to consider – yet this had been far from central to their mutual need. After that first year,  they would no more have considered making love than of opening a mink ranch together […] (S. 46)

Wenige Wochen später wird nun jene Studentin ermordet aufgefunden, auf der Analysecouch Emanuels. Erstochen mit einem Messer aus Bauers Küche. Sonnenklar, dass Kate alles in ihrer Macht Stehende unternehmen muss, um Emanuel, seine entzückend planlos schwatzende Frau Nicola und schließlich sogar sich selbst von dem ungeheuerlichen Verdacht reinzuwaschen, die junge Frau getötet zu haben. Dabei spannt sie ihren guten Bekannten Reed Amhearst, seines Zeichens Staatsanwalt mit besten Kontakten zur Polizei, und Jerry, den jungen und äußerst abenteuerlustigen Verlobten ihrer Nichte, ein.

Mag Kate die Idee zur Klärung des Falls auch etwas unmotiviert aus heiterem Himmel überkommen, war mir das dann schon völlig egal, weil man bis dahin so viel Spaß am intelligenten und literarischen Schlagabtausch der Beteiligten hatte und Kate und ihre Freunde schon längst ins KrimileserInnenherz geschlossen  hat.

‚I don’t think this case is helping your disposition – you’re beginning to sound petulant. What you need is a vacation.‘ (S. 119)

Dass das Buch mit seiner emanzipierten und belesenen Protagonistin dabei ein bisschen Retro-Charme versprüht und gleichzeitig zeitlose Kritik an der Bürokratisierung des Universitätsbetriebs und Einblicke in die menschlichen Natur liefert, macht die Lektüre umso lohnender.

‚Oh, dear, I keep forgetting about the police. Are they getting restive?‘ (S. 96)

Oder wie Andrea Gerk feststellt: „Screwball Comedy mit Mehrwert“.

Ich jedenfalls habe die nächsten Bände schon geordert.

Die Autorin Carolyn Gold Heilbrun (1926 – 2003), eine feministische, amerikanische Literaturprofessorin an der Columbia University in New York, legte sich für ihre 15 Bände um Kate Fansler das Pseudonym Amanda Cross zu, um ihr Renommee als Literaturwissenschaftlerin nicht zu gefährden. Ihre Krimis waren unglaublich erfolgreich und wurden weltweit übersetzt. Ihr erster Band kam in der Kategorie „Bestes Debüt“ sofort auf die Shortlist für den Edgar Award.

Mit 77 beging sie Suizid, da sie nach Aussage ihres Sohnes sicher war, die Reise sei vorüber, ihr Leben habe sich erfüllt, aber nicht weil sie erkrankt oder depressiv gewesen sei. Dazu passt der längere Essay  A Death of One’s Own von New York.

 

Richard Osman: The Thursday Murder Club (2020)

Für Mai 2021 ist die deutsche Übersetzung des herrlich schrägen und filmreifen Krimis The Thursday Murder Club (2020) von Richard Osman angekündigt, auch wenn sich mir nicht erschließt, warum aus dem englischen Thursday im Deutschen dann der Montagsmordclub werden muss, aber das nur am Rande.

Die Ausgangslage ist erfrischend anders: Elizabeth, Ron (ehemals Gewerkschafter), Ibrahim (Psychiater im Ruhestand) und Joyce (ehemalige Krankenschwester) sind rüstige Senioren jenseits der 70 und wohnen in einem luxuriösen Seniorenzentrum in Kent auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters (Swimmingpool, Bibliothek und Zumba inclusive).

Donnerstagabends treffen sich die Herrschaften, um ungeklärte Kriminalfälle aus der Vergangenheit aufzurollen. Das Ganze ein intellektueller Zeitvertreib. Begonnen hatte es damit, dass Penny, ehemalige Ermittlerin und ebenfalls Mitglied im Donnerstagsclub, bei ihrer Pensionierung unerlaubterweise Akten solcher Cold Cases mitgenommen hatte. Doch inzwischen ist Penny schwer dement und liegt schon seit längerem im der benachbarten Krankenstation der Einrichtung.

Doch dann, wie könnte es anders sein, wird tatsächlich jemand umgebracht, und zwar der Unsympath Tony Curran, frisch gefeuerter Geschäftspartner des Investors Ian Ventham, der gleich neben dem Seniorendorf eine weitere Anlage bauen lassen will.

Natürlich ist die Seniorentruppe auf die Zusammenarbeit mit der Polizei angewiesen. Erste Kontakte werden geknüpft, als die neue Polizistin Donna den üblichen Vortrag über Sicherheitsfenster etc. halten will. Die alten Herrschaften machen Donna mit Charme und Beharrlichkeit schnell klar, dass sie nichts mehr darüber hören wollen, dass man sich den Ausweis des Stromablesers zeigen lassen solle, erstens könnten einige sowieso nicht mehr so gut sehen und überhaupt:

I’d welcome a burglar. It would be nice to have a visitor. (S. 9)

Donna freut sich, dass sie keinen langweiligen Vortrag halten muss und so beginnt eine ungewöhnliche und nicht immer unproblematische Zusammenarbeit.

Osman schafft es, hier so viele Handlungsfäden zu verwickeln, aufzudröseln, nur um sie gleich wieder anders zu verknoten, dass es eine wahre Freude ist. Selbst wenn es gegen Ende auch ein Faden weniger hätte sein dürfen, auch ein Quentchen weniger Melodramatik an einer Stelle wäre in Ordnung gewesen. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

Osman haut hier eben keinen Klamauk raus. Er nimmt seine Figuren ernst; die Einsamkeit, die Traurigkeit der Verwitweten und das Wissen der Alten darum, dass man sich auf der letzten Strecke des Lebens befindet, grundieren das Buch und erden es.

Außerdem gefiel mir, wie auch Donna und ihr Chef Chris mit ihren privaten Sorgen und Ängsten geschildert werden. Und wer in seinen Krimis keine unappetitlichen Splatterszenen lesen möchte, ist hier ebenfalls gut aufgehoben.

Gleichzeitig ist das Buch hinreißend komisch und dazu ein echter Krimi, der immer neue Haken schlägt. Also, unbedingte Schmökerempfehlung.

Die Kritiker sind begeistert und, kein Wunder, die Filmrechte wurden bereits an Steven Spielberg verkauft.

 

James Runcie: Sidney Chambers and the Shadow of Death (2012)

In den letzten Wochen, in denen ich mich vorzugsweise am „Korrekturrand der Gesellschaft“ (Herr Schröder) aufgehalten habe, kamen Lesen und Bloggen naturgemäß zu kurz. Doch ganz ohne Bücher ging’s natürlich trotzdem nicht. So habe ich mich beispielsweise erneut mit Vergnügen durch alle sechs Bände um den sympathischen Pfarrer und Hobby-Ermittler Sidney Chambers geschmökert, die inzwischen verfilmt und ins Deutsche übersetzt worden sind und die ich heute noch einmal in überarbeiteter Fassung vorstellen möchte.

Canon Sidney Chambers had never intended to become a detective. Indeed, it came about quite by chance, after a funeral, when a handsome woman of indeterminate age voiced her suspicion that the recent death of a Cambridge solicitor was not suicide, as had been widely reported, but murder. It was a weekday morning in October 1953 and the pale rays of a low autumn sun were falling over the village of Grantchester.

Zum Inhalt

In Sidney Chambers and the Shadows of Death – auf Deutsch unter Die Schatten des Todes erschienen – sind die sechs ersten Geschichten um Sidney Chambers versammelt, der seinen Dienst an der Kirche St Andrew and St Mary im – real existierenden – Dorf Grantchester ganz in der Nähe zu Cambridge versieht. Im ersten Fall, dem das Buch auch seinen Titel verdankt, kommt im Oktober 1953 nach der Beerdigung eines Anwalts dessen Geliebte zu Sidney und bittet ihn, sich einmal umzuhören. Sie ist sicher, dass ihr Geliebter keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde. Zur Polizei möchte sie nicht, da sie ihre Affäre vor ihrem Mann geheim halten will.

Und so löst Sidney, zusammen mit seinem guten Freund, Inspector Keating, mit dem er jeden Donnerstag ein paar Bierchen trinkt und Backgammon spielt, seinen ersten Fall, dem – sehr zu Sidneys Leidwesen – rasch weitere folgen sollen.

Nun muss er seine Nase in Dinge hineinstecken, die ihn eigentlich gar nichts angehen, und mehr als einmal lenken ihn seine inoffiziellen Gespräche, die er im Laufe der Ermittlungen führen muss, auch über Gebühr von seinen eigentlichen Gemeindeaufgaben und Familienpflichten ab.

Hier noch ein paar Worte zur Hauptperson:

Sidney was a tall, slender man in his early thirties. A lover of warm beer and hot jazz, a keen cricketer and an avid reader, he was known for his understated clerical elegance. His high forehead, aqualine nose and longish chin were softened by nutbrown eyes and a gentle smile, one that suggested he was always prepared to think the best of people. He had had the priestly good fortune to be born on a Sabbath day and was ordained soon after the war. After a brief curacy in Coventry, and a short spell as domestic chaplain to the Bishop of Ely, he had been appointed to the church of St Andrew and St Mary in 1952.

Zuerst war ich enttäuscht, dass das Buch gar kein ausgewachsener Kriminalroman war, sondern eine Sammlung von sechs Erzählungen, die immer so um die 60 bis 70 Seiten umfassen. Aber diese bauen aufeinander auf und in den Folgegeschichten treffen wir immer wieder Personal, das wir schon kennen. So entsteht allmählich ein Kosmos, in dem man immer wieder gute alte Bekannte trifft, sich auskennt und doch stets auf Neue überrascht wird.

So kann es passieren, dass Sidney mit der Witwe aus der ersten Geschichte später einen regen Briefwechsel unterhält, seine Dauerfreundin Amanda in einem Fall kräftig zur Aufklärung beiträgt, um dann im nächsten selbst ins Visier des Täters zu rücken. Ebenfalls zum Stammpersonal gehört die rabiate Haushälterin Mrs Maguire, deren Herrschaftsanspruch später durch den Einzug eines Vikars und einen Labrador immer wieder an seine Grenzen stößt.

Da Sidney nur 20 Minuten mit dem Fahrrad nach Cambridge braucht und London nur eine Stunde Zugfahrt entfernt ist, können die Fälle abwechslungsreich und mit liebevoll gezeichnetem Zeitkolorit gestaltet werden. Schön auch, wenn sich plötzlich literarische Spiegelungen ergeben. In einer Geschichte im zweiten Band wird Sidney als Laienschauspieler für die Verfilmung eines Dorothy Sayers-Krimis engagiert, in einer anderen nimmt er teil an der Trauerfeier von C. S. Lewis. Die Bandbreite der Themen reicht dabei – wenn man alle Bände miteinbezieht – vom Kunstraub, Gewalt in der Ehe, dem Diebstahl einer kostbaren Bibelhandschrift, Missbrauch, einem Mord in einem Londoner Jazz-Lokal über die Spionageaffäre in den Fünfzigern an der University of Cambridge bis hin zu der repressiven Haltung gegenüber Homosexuellen und einem plötzlich verschwundenen Verlobungsring. Manchmal kann sich der geerdete Kirchenmann nur wundern:

‚What a mess people make of their lives,‘ he thought. (S. 13)

Sidneys Beruf, seine Berufung als Pfarrer, ist dabei keine bloße Staffage. Oft erfahren wir sogar, zu welchen Predigtthemen ihn seine Detektivarbeit anregt oder welche Fragen er sich im Bezug auf seinen Glauben stellt. Gerade in diesen Fragen und scheinbar beiläufigen Gedanken liegt ein großer Reiz der Geschichten.

Als er am 7. Mai 1954 im Radio vom Rekord Roger Bannisters hört, philosophiert er darüber, was alles in dieser kurzen Zeitspanne möglich ist. Man könne ein Ei kochen, einen Rekord aufstellen oder wie Sidney Bechet Summertime auf dem Saxofon spielen.

Runcie weiß selbst:

I have to confess there is perhaps an element of preachiness to it all. My editor once said to me: “These are disguised sermons, aren’t they?” I am not ashamed of that and I am hopeful that the television series, as well as being dramatic, consists of thoughtful and moral meditations on subjects such as loyalty, friendship, deceit, cruelty and generosity. There are all the usual human fallibilities and they are taken seriously; but they are also viewed, wherever possible, with a kindly eye. (Hate the sin, but love the sinner.) (Telegraph, 5. Oktober 2014)

Darüber hinaus ist Sidney belesen und kann in einem Gespräch mit seinem Vikar, in dem es darum geht, welche Schriftsteller auf eher seltsamem Weg den Tod fanden, locker mithalten.

And didn’t the Chinese poet Li Po drown while trying to kiss the reflection of the moon in water? (S. 119)

Das Ganze ist hin und wieder von dezentem Humor untermalt. Als sein Freund Inspector Keating ihn dazu bringen möchte, einem verlobten Paar etwas genauer auf den Zahn zu fühlen, entspinnt sich folgender Dialog.

‚When people come to you to be married, you tend to put the couple through their paces beforehand, don’t you?‘
‚I give them pastoral advice.‘
‚You tell them what marriage is all about; warn them that it’s not all lovey-dovey and that as soon as you have children it’s a different kettle of fish altogether… […] There’s the money worries, and the job worries and you start to grow old. Then you realise that you’ve married someone with whom you have nothing in common. You have nothing left to say to each other. That’s the kind of thing you tell them, isn’t it?’
‚I wouldn’t put it exactly like that …‘
‚But that’s the gist?‘
‚I do like it to make it a bit more optimistic, Geordie. How friendship sometimes matters more than passion. The importance of kindness…‘
‚Yes, yes, but you know what I’m getting at.‘ (S. 153)

Kurzum: Ideal für LeserInnen wie mich, die keinen Wert auf ausgedehnte Schilderungen von Brutalität in ihren Krimis legen, die Krimis eher zur Entspannung lesen und dabei trotzdem nicht für blöd verkauft werden wollen.

Gleichzeitig bieten die sechs Bände viele Anregungen und Informationen, denen man nachgehen kann. Ist Sidneys spätere Ehefrau doch Pianistin, sein erster Vikar großer Dostojewski-Fan und seine beste Freundin Amanda Kunsthistorikerin.

Runcie hat einmal gesagt, dass er mit der Reihe „a moral history of post-war Britain“ habe schaffen wollen. Und tatsächlich hat Runcie hier ein Sittengemälde der fünfziger bis siebziger Jahre geschaffen, das sich eher ruhig und mäandernd entwickelt. Und in allen Geschichten geht es nicht nur um die Auflösung, um den Täter, sondern immer auch darum, wie es den Opfern geht.

Manchmal gibt es auch gar keine eigentliche Krimi-Handlung, sondern Sidney holt einfach den von zu Hause abgehauenen Neffen zurück, der sich von seinen Eltern nicht verstanden gefühlt hat.

Überhaupt spielen Beziehungen und Loyalität gegenüber seinen Freunden eine wichtige Rolle, genauso wie die Frage nach dem angemessenen Verhalten, nach der persönlichen Moral, nach Anstand. Und Sidney ist dabei ein geduldiger und aufmerksamer Zuhörer, der den Menschen helfen möchte, sich für das jeweils Richtige zu entscheiden.

Dachte ich zwischendurch, dass die Tiefe der Charakterisierungen vielleicht nicht gerade die Stärke dieser Bücher sei, holt Runcie im sechsten Band noch einmal aus und ich bin beeindruckt, wie feinfühlig und treffend er das Wesen der Trauer beschreibt. Ein sehr würdiger Abschluss der Reihe, obwohl ich trotzdem hoffe, dass sich Runcie das doch noch mal überlegt und der menschenfreundliche Sidney, der inzwischen Archdeacon von Ely ist, weitere Fälle lösen darf.

Perhaps the rest of his life should be like this? he thought. It would involve a concentration on things close to the heart; a dedicated care of friends and family; a quieter existence, one that depended on listening harder and loving better; never resting in complacency; acknowledging faults, doubts and insecurities; the balance between solitude and company, the wish to escape and the need to come home: a loving attention. (James Runcie: Sidney Chambers and the Persistence of Love, S. 266)

Anmerkungen

Der Autor James Runcie scheint ein umtriebiger, kluger und kreativer Kopf zu sein. Hier lohnt ein Blick auf den Wikipedia-Eintrag. Auch die Rezensenten waren angetan. Hier geht’s lang zur Besprechung im Independent.

Mai 2019 erschien der Prequel-Band The Road to Grantchester.

a-Scotland0215

Christopher Huang: A Gentleman’s Murder (2018)

A Gentleman’s Murder ist eine so lohnende Entdeckung im Krimi-Bereich, dass ich dringend hoffe, dass es sich dabei um den Auftakt einer Serie handelt.

1924 in London: Im Britannia, einem dieser gediegenen Herrenclubs, in den nur Gentlemen aufgenommen werden können, die irgendwann ihrem Land als Soldat gedient haben, passiert ein Mord. Interessanterweise ist das Opfer, ein junger Mann namens Benson, erst kurz zuvor überhaupt Mitglied geworden. Etwas widerstrebend hatte er sich auf eine Wette eingelassen, dass es nämlich Woolfe, einem arroganten Schnösel, nicht bis zum nächsten Mittag gelingen würde, einige Wertsachen aus Bensons Schließfach im Tresorraum des Clubs zu entwenden. Leutnant Eric Peterkin wird gebeten, als Schiedsrichter zu fungieren.

Peterkin lässt sich, um den Gewinner unparteiisch ermitteln zu können, vorsichtshalber von Benson die in seinem Schließfach befindlichen Gegenstände zeigen. Dabei handelt es sich wider Erwarten gar nicht um wertvolle oder seltene Dinge, allerdings um Gegenstände, die laut Benson dazu dienen sollen, ein großes Unrecht zu sühnen. Doch am nächsten Morgen liegt Benson erstochen vor dem geöffneten Schließfach.

Peterkin bezweifelt, dass die Angelegenheit in den Händen von Scotland Yard gut aufgehoben ist, beobachtet er doch zufällig, wie der zuständige Kommissar Parker etwas aus dem Zimmer des Ermordeten verschwinden lässt. Und warum wollen alle, dass Peterkin der Sache nicht weiter nachgeht? Doch stur und ehrenhaft wie er nun einmal ist, möchte er nicht nur den Mörder Bensons überführen, sondern am besten noch das große Unrecht ans Licht holen, von dem Benson gesprochen hatte und von dem er nicht im Geringsten weiß, was es damit auf sich hat. Und so nehmen über 300 spannende Krimiseiten ihren Lauf.

Es ist tatsächlich beeindruckend, wie Christopher Huang hier mehreres miteinander ausbalanciert, ohne dass das eine auf Kosten des anderen geht. Da ist zum einen die Hauptperson, Leutnant Peterkin, der zwar einen britischen Vater hat, aber eine chinesische Mutter. Das sieht man ihm auch an. Und wie er mal subtil, mal eklig mit Ressentiments konfrontiert wird, das spiegelt zeitlose Gegebenheiten, mit denen sich Menschen auseinandersetzen müssen, die aufgrund ihres Äußeren zunächst einmal als „anders“ wahrgenommen werden.

The only thing Eric missed about the War was that one had slightly more pressing things to worry about than blood heritage. The respect he’d received from his comrades had not been immediate, but after enough shells and sorties and gas attacks, no one cared anymore who your grandparents were – as long as you did your job well and kept your men alive. (S. 15)

In den ersten Entwürfen war Peterkin noch ein durch und durch weißer Brite, doch Huang, ein chinesischer Architekt, der inzwischen in Kanada lebt, fand es schließlich spannender, seiner Hauptperson Anteile von sich selbst mitzugeben, die ihm gleichzeitig ermöglichten, gängige Klischees zu beleuchten, wie sie gegenüber Chinesen in den zwanziger Jahren gang und gäbe waren. Huang sagt in einem Interview der Washington Post:

I soon came to realize that Eric’s half-and-half heritage said more about me than any direct representation of myself could. He’s not so much me as he is my cultural experience, this combination of Asian blood and European culture.

Dazu kommt ein dezent eingesetzter Humor, der uns dann wieder an die leichten Cozy Crimes erinnert, und Peterkins Freund Avery, der sehr dem Esoterischen zugeneigt ist, hat hier klar die Aufgabe, für ein bisschen Erheiterung in den durchaus auch gefährlichen Ermittlungen zu sorgen.

Doch was diesen Krimi vor allem von gut gemachter Unterhaltungsliteratur unterscheidet und ihn in einer anderen Liga spielen lässt, ist die sorgfältige und immer respektvolle Einbettung in einen bestimmten geschichtlichen Kontext. Dieser taucht in den Krimis, die tatsächlich in den zwanziger oder dreißiger Jahres des letzten Jahrhunderts geschrieben wurden, meist nur als Randbemerkung auf, nämlich die Situation der ehemaligen Soldaten, die in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges gekämpft und gelitten haben. Die, so sie denn überhaupt überlebt hatten, nicht nur Gliedmaßen verloren haben, sondern auch Traumata, Alpträume und Schwierigkeiten bei der Rückkehr in ein ziviles Leben immer mit im Gepäck haben. Auch sechs Jahre nach Kriegsende.

In dem feinen Austarieren dieser verschiedenen Elemente mit einer wirklich spannenden und immer wieder Haken schlagenden Krimi-Handlung hat mich das Debüt Huangs an die besten Bücher Dorothy Sayers erinnert.

Hier gibt es ein Interview mit dem Autor auf der Homepage der Los Angeles Public Library.

Interessant ist vielleicht auch, dass Huangs Krimi bei Inkshares veröffentlicht wurde. Dieser Verlag lässt quasi die LeserInnen entscheiden, was gedruckt wird. Hat ein Buch die erforderliche Anzahl an verbindlichen Vorbestellungen – normalerweise 750 -, dann wird das Buch verlegt.

Doch noch viel besser ist, dass Huang uns Anlass zur Hoffnung gibt, dass wir Eric Peterkin irgendwann wiedertreffen.

IMG_2641

Alan Bradley: The Sweetness at the Bottom of the Pie (2009)

Wie bei meinem letzten Blogbummel schon angedeutet, steht mir der Sinn zurzeit nicht nach „gehobenerer“ Lektüre. Die Korrekturenstapel häuften sich bedenklich und dann die Blogs, auf denen in rasanter Folge neue bummeltaugliche Beiträge erscheinen … Da bleibt also nur der Griff ins Cozy Crime Regal, da das herrlich entspannt.

Und genau darum geht es heute, um den ersten Band einer Serie, der mir beim Wiederlesen richtig Spaß gemacht hat und den ich deshalb, wenn auch reichlich verspätet, heute vorstellen möchte.

Die Handlung beginnt mitten in einer der zahlreichen Auseinandersetzungen dreier Schwestern:

It was as black in the closet as old blood. They had shoved me in and locked the door. I breathed heavily through my nose, fighting desperately to remain calm. I tried counting to ten on every intake of breath, and to eight as I released each one slowly into the darkness. Luckily for me, they had pulled the gag so tightly into my open mouth that my nostrils were left unobstructed, and I was able to draw in one slow lungful after another of the stale, musty air.

Die elfjährige Flavia, die Ich-Erzählerin, hat bei dem Streit den kürzeren gezogen und wurde im Schrank eingesperrt, doch ihre Rache wird nicht lange auf sich warten lassen.

Der Kanadier Alan Bradley (*1938) hat seine Romane um Flavia im England der fünfziger Jahre angesiedelt. Dort lebt sie mit ihren Schwestern Daphne (Daffy, 13) und Ophelia (Feely, 17) und ihrem Vater Colonel Haviland de Luce in dem großen alten Herrenhaus Buckshaw, das praktischerweise auch ein fantastisch ausgestattetes Chemielabor – eingerichtet von einem der Vorfahren – enthält, denn Flavia ist mit ganzem Herzen Chemikerin. Die Fehden zwischen ihr und den Schwestern enden schon mal damit, dass sie Ophelia ein bisschen Gift des Kletternden Giftsumachs in ihren Lippenstift schmuggelt und sie die allergischen Beschwerden fein säuberlich protokolliert.

Vervollständigt wird die Truppe von Arthur Dogger, einem mal mehr, mal weniger unter seinen Kriegstraumata, dem Zittern und den Gedächtnisaussetzern leidenden Butler, Gärtner, Chauffeur und Mädchen für alles. Im Krieg hat er Flavias Vater das Leben gerettet und ist der Familie der de Luces treu ergeben. Außerdem kommt täglich Mrs Mullet aus dem Dorf, Haushälterin und Klatschbase in einem, deren Kochkünste wohl als unterirdisch zu bezeichnen sind.

Harriet, die Mutter der Mädchen, starb, als Flavia ein Jahr alt war, und der Vater nimmt seine Töchter kaum wahr und kümmert sich stattdessen um seine große Leidenschaft, die Welt der Briefmarken, was wiederum der finanziellen Lage der de Luces nicht unbedingt zuträglich ist.

Im ersten Band der inzwischen auf zehn Bände angewachsenen Reihe gerät Flavias Vater unter Mordverdacht, als einer seiner ehemaligen Mitschüler, Horace Bonepenny, tot im Gurkenbeet der de Luces aufgefunden wird. Zunächst schweigt sich der Vater aus, da er befürchtet, dass Dogger für den Mord verantwortlich sein könnte, denn der hatte, zusammen mit Flavia, heimlich gelauscht, als Bonepenny versucht hatte, Flavias Vater zu erpressen.

So liegt es nun an Flavia, ihren Vater von diesem schrecklichen Verdacht reinzuwaschen und herauszufinden, was wirklich passiert ist.

Dass sie bei der Auflösung des Falles dem sympathischen Inspector Hewitt immer einen Schritt voraus ist und sich dabei auch noch in Lebensgefahr begibt, erfreut  Hewitt nur bedingt.

Das Buch wimmelt von gelehrten Anspielungen, bei denen man sogar das ein oder andere nachschlagen kann, sei es zu Naturwissenschaften oder Büchern. Das zeigt sich schon am englischen Originaltitel, einem Zitat von William King „Unless some sweetness at the bottom lie, who cares for all the crinkling of the pie“ (The Art of Cookery, 1708).

Manchmal wird die Geduld des Lesers schon strapaziert, denn wie glaubwürdig sind die folgenden Sätze aus dem Mund einer Elfjährigen?

As I expected, Father’s room war in near-darkness as I stepped inside. […] From inside, it possessed all the gloom of a museum after hours. The strong scent of Father’s colognes and shaving lotions suggested open sarcophagi and canopic jars that had once been packed with ancient spices. The finely curved legs of a Queen Anne washstand seemed almost indecent beside the gloomy Gothic bed in the corner, as if some sour old chamberlain were looking on dyspeptically as his mistress unfurled silk stockings over her long, youthful legs. (S. 146 – 147)

Zudem weist auch die Handlung selbst, gerade was die Motive des Bösewichts angeht, einige logische Löcher auf.

Allerdings schafft es Bradley, für seine jugendliche Ich-Erzählerin einen ganz eigenen Ton zu finden, frech, altklug und vorlaut, ihren Schwestern in inniger Hassliebe verbunden, aber letztlich mit dem Herz am richtigen Fleck.

Flavias Schwestern verbünden sich ständig gegen sie, bringen sie zum Weinen mit der Geschichte, dass sie adoptiert und so wenig liebenswert sei, dass sie quasi schuld am Tod der Mutter sei.

Dabei scheint immer wieder Flavias Verletzlichkeit, ihre Einsamkeit und den Wunsch nach familiärer Geborgenheit hinter der altklugen und ruppigen Fassade durch.

Here we were, Father and I, shut up in a plain little room, and for the first time in my life having something that might pass for a conversation. We were talking to one another almost like adults; almost like one human being to another; almost like father and daughter. And even though I couldn’t think of anything to say, I felt myself wanting it to go on and on until the last star blinked out. I wished I could hug him, but I couldn’t. For some time now I had been aware that there was something in the de Luce character which discouraged any outward show of affection towards one another; any  spoken statement of love. […] And so we sat, Father and I, primly, like two old women at a parish tea. It was not a perfect way to live one’s life, but it would have to do. (S. 191)

Ganz unverstellt erscheint uns Flavia, wenn sie Dogger in einem seiner schlimmen Momente antrifft. Sie tut und sagt und unternimmt sofort etwas, um ihm behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen dabei zu helfen, sich wieder in der Gegenwart verankern zu können.

Wie schrieb Laura Wilson im Guardian so nett:

The Sweetness at the Bottom of the Pie reads like a cross between Dodie Smith’s I Capture the Castle (posh family fallen on hard times, dead mother, disengaged father, crumbling pile) and the Addams family (Flavia has a well-appointed laboratory where she makes poisons to test on her spiteful elder sisters). A strong plot, involving philately, ornithology and prestidigitation, and a wonderful supporting cast make this Canadian novelist’s debut delightfully entertaining.

Fazit: Preisgekrönte Krimi-Unterhaltung, skurril, frech und spannend, ansprechend, wie gemacht für dunkle Novembertage.

Der zweite Band The Weed that Strings the Hangman’s Bag um den Tod eines Puppenspielers hat mir ebenfalls gefallen.

Die Bücher erscheinen auch auf Deutsch.

Fundstück von J. Jefferson Farjeon

Der Krimi Seven Dead von Joseph Jefferson Farjeon, erschienen 1939 und 2017 in der Reihe der British Library Crime Classics neu aufgelegt, macht einfach Spaß.  Schon mit den ersten Sätzen hatte mich der Autor am Haken:

This is not Ted Lyte’s story. He merely had the excessive misfortune to come into it, and to remain in it longer than he wanted. Had he adopted Cardinal Wolsey’s advice and flung away ambition, continuing his illegal acts to the petty pilfering and pickpocketing at which he was fairly expert, he would have spared himself on this historic Saturday morning the most horrible moment of his life. The moment was so horrible that it deprived him temporarily of his senses. But he was not a prophet; all he could predict of the future was the next instant, and that often wrongly; and the open gate, with the glimpse beyond of the shuttered window tempted him.

Leider hat die Logik des Plots fußballfeldgroße Löcher, doch da der Autor schreiben konnte, die Dialoge vergnüglich und die Charaktere nett ausgearbeitet sind, bleibt man als Leser dabei, ohne sich allzu sehr zu grämen, wie abgrundtief hanebüchen die Auflösung ist.

 

Elizabeth Daly: Unexpected Night (1940)

Es ist verhängnisvoll: Bei Reihen bin ich eine zwanghafte Immer-von-vorn-anfangen-Leserin – und so habe ich wieder einmal Band 1 einer älteren Krimireihe von Elizabeth Daly aus dem Regal gefischt. Das sind unterhaltsame und spannende Krimis mit verwickelten Plots, einer feindosierten Portion Humor und Charakteren, denen man in den Folgebänden gern wiederbegegnet.

Auch beim zweiten Lesen macht es Spaß, Henry Gamadge, einem Experten für Handschriften und alte Bücher, bei seinen unfreiwilligen Ausflügen in die kriminellen Irrungen und Kirrungen in und um  New York zu folgen. Die Geschichten spielen in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, vorzugsweise im familiären Umfeld, vor allem wenn bei Erbschaften viel Geld zu erwarten ist.

Der erste Band Unexpected Night (1940) beginnt mit den Sätzen:

Pine trunks in a double row started out of the mist as the headlights caught them, opened to receive the car, passed like an endless screen, and vanished. The girl on the back seat withdrew her head from the open window. „We’ll never get there at this rate,“ she said. „We’re crawling.“

The older woman sat far back in her corner, a figure of exhausted elegance. She said, keeping her voice low: „In this fog, I don’t think it would be safe to hurry.“

Gamadge besucht im Sommer 1939 eine befreundete Familie im Sommerurlaub in Maine, Colonel Barclay, dessen Ehefrau Lulu und ihren Sohn. Und während man sich den Abend mit Kartenspielen vertreibt und auf die Ankunft von Lulus Schwägerin und deren zwei Mündeln wartet, erzählen die Barclays, was es mit Schwägerin Eleanor und ihren zwei Schützlingen auf sich hat.

Alma und Amberley sind Geschwister und Amberley wird einen Tag später volljährig, das bedeutet, er wird ein Vermögen von einer Million Dollar erben. Doch Amberley ist todkrank und alle Anverwandten haben Angst, dass er seinen Geburtstag nicht mehr erlebt, dann würde nämlich das gesamte Vermögen irgendwelchen fremden Verwandten in Frankreich zufallen.

Am nächsten Morgen findet man Amberleys Leiche am Fuße der Klippen, ganz in der Nähe des Hotels, vermutlich eines natürlichen Todes gestorben, doch was wollte Amberley mitten in der Nacht an den Klippen?

Gamadge wird von dem zuständigen Kommisar Mitchell gebeten, ihn bei den Untersuchungen zu unterstützen. Und so kommt Gamadge eher unfreiwillig zu seinem ersten Fall. Er ist Anfang dreißig, finanziell unabhängig und äußerlich eher unauffällig und unscheinbar.

Mr. Henry Gamadge […] wore clothes of excellent material and cut; but he contrived, by sitting and walking in a careless and lopsided manner, to look presentable in nothing. He screwed his grey tweeds out of shape before he had worn them a week. […] People as a rule considered him a well-mannered, restful kind of young man; but if somebody happened to say something unusually outrageous or inane, he was wont to gaze upon the speaker in a wondering and somewhat disconcerting manner. (S. 6)

Gamadge hat ein Faible für Literatur, alte Handschriften und Bücher und ist – wie könnte es anders sein – ein intelligenter und aufmerksamer Zuhörer.

He did not object to his own society. (Deadly Nightshade, S. 2)

Die Schauplätze, eine Straße im Nebel, ein Hotel, ein Dorf, das eine Schauspielertruppe beherbergt, sind hier nicht bloße Staffage. Die Handlungsfäden fließen am Ende alle natürlich zusammen und es gibt kein weißes Kaninchen, das am Ende aus dem Hut gezaubert wird. Ich habe – erfolglos – fröhlich mitgerätselt. Und in einem der letzten Kapitel, als dem bis dahin ahnungslosen Familienanwalt erzählt wird, was sich zugetragen hat, läuft Daly sogar zu echtem Screwball Comedy-Format auf.

Mein momentaner Lieblingssatz aus Band 3 (insgesamt gibt es 16 Bände) fällt, als Henry zum zweiten Mal eine junge Frau trifft, in die er sich schon beim ersten Mal verliebt hat:

They exchanged a long, friendly gaze.

Ich finde es unerhört, dass es von dieser Krimireihe keine hübschen Schwarzweiß-Verfilmungen gibt.

Elizabeth Daly lebte übrigens von 1878 bis 1967. Es heißt, sie sei die Lieblings-Krimischriftstellerin Agatha Christies gewesen.

John Bude: The Cornish Coast Murder (1935)

The Reverend Dodd, Vicar of St. Michael’s-on-the-Cliff, stood at the window of his comfortable bachelor study looking out into the night. It was raining fitfully, and gusts of wind from off the Atlantic rattled the window-frames and soughed dismally among the the sprinkling of gaunt pines which surrounded the Vicarage. It was a threatening night. No moon. But a lowering bank of cloud rested far away on the horizon of the sea, dark against the departing daylight.

Noch einen alten Cozy Crime gelesen. Unter dem Pseudonym John Bude veröffentliche Ernest Carpenter Elmore 1935 seinen ersten Krimi The Cornish Coast Murder.

Und wir haben all die Ingredienzien, die zu einem guten Cozy Crime gehören. Eine stürmische Gewitternacht, in der unter dem Schutz des Donnergrollens ein unsympathischer Landbesitzer erschossen wird, einen Detektiv, der immer, wenn er meint, den Mörder zweifelsfrei identifiziert zu haben, von neuen Indizien gezwungen wird, seine Ermittlungen von vorn zu beginnen. Und den freundlichen, dem guten Essen zugeneigten Reverend Dodd, der letztlich dem überforderten Detektiv zur Seite springt.

Die Handlungsstränge sind nett, nicht zu überdreht und werden gemächlich entwirrt. Ein Pluspunkt war, darauf weist auch Martin Edwards in seinem Vorwort der Neuauflage in der Reihe der British Library Crime Classics hin, der sorgfältig ausgearbeitete Schauplatz an der Küste.

Mein einziger Kritikpunkt ist, dass Bude im Verlauf der Handlung leider über weite Strecken den sympathischen Reverend Dodd und seinen Freund Dr. Pendrill etwas aus den Augen verliert, die er uns doch im ersten Kapitel so reizend vorstellt. Sie haben nämlich ein festes Montagabendritual. Jede Woche bestellt einer der beiden einige Kriminalromane von einer Leihbücherei, die sie dann während der Woche lesen. Der Karton mit den Büchern wird nach einem guten Abendessen im Arbeitszimmer des Reverend feierlich geöffnet.

With a leisurely hand, as if wishing to prolong the pleasures of anticipation, the Vicar cut the string with which the crate was tied and prised up the lid. Nestling deep in a padding of brown paper were two neat piles of vividly coloured books. One by one the Vicar drew them out, inspected the titles, made a comment and placed the books on the table beside his chair.

‚A very catholic choice,‘ he concluded. ‚Let’s see now – an Edgar Wallace – quite right, Pendrill, I hadn’t read that one. What a memory, my dear chap! The new J. S. Fletcher. Excellent. A Farjeon, a Dorothy L. Sayers and a Freeman Wills-Croft. And my old friend, my very dear old friend, Mrs. Agatha Christie. New adventures of that illimitable chap Poirot, I hope. I must congratulate you, Pendrill. You’ve run the whole gamut of crime, mystery, thrills and detection in six volumes!‘ (S. 15)

Stattdessen folgen wir viele Kapitel lang einem eher uninteressanten Inspector. Erst am Ende hat Reverend Dodd dann seinen großen Auftritt.

Und im letzten Kapitel – eine Woche nach dem Mord – sehen wir Dodd und seinen Freund, Doktor Pendrill, wieder. Nach einem guten Essen fachsimpeln sie im Pfarrhaus über den Fall. Vor sich – wie seit vielen Jahren – die neue Kiste mit den nächsten Krimis.

Doch diesmal ist die Stimmung des Reverend eher verhalten.

‚Really, Pendrill. Somehow … dear me … I feel that I never want to read another crime story as long as I live. I seem to have lost my zest for a good mystery. It’s strange how contact with reality kills one’s appreciation of the imaginary. No, my dear fellow, I’ll never get back my enthusiasm for thrillers. I’ve decided to devote my energies for worthier problems.‘ (S. 285)

Alles in allem kann ich mich der Einschätzung von Martin Edwards nur anschließen:

Bude’s aims were not as lofty as Sayer’s; his focus was on producing light entertainment, and although his work does not rank with Sayers’s for literary style or with Agatha Christie’s for complexity of plot, it certainly does not deserve the neglect into which it has fallen. (S. 9)

Molly Thynne: The Draycott Murder Mystery (1928)

The wind swept down the crooked main street of the little village of Keys with a shriek that made those fortunate inhabitants who had nothing to tempt them from their warm firesides draw their chairs closer and speculate as to the number of trees that would be found blown down on the morrow.

Nach den letzten eher schwergewichtigen Büchern war mir nach Cosy Crime zumute und der neu aufgelegte erste von insgesamt sechs Krimis der britischen Autorin Mary „Molly“ Thynne (1881 – 1950) war da ein richtig guter Griff.

Der junge John Leslie kommt abends im Sturm zu seinem Farmhaus zurück, nur um dort zu seinem Entsetzen eine schöne Unbekannte im Wohnzimmer zu finden, offensichtlich erschossen. Da die Polizei die in seinem Schlafzimmer gefundene Waffe für die Tatwaffe hält und er kein Alibi vorweisen kann, muss er damit rechnen, als Täter zum Tode verurteilt zu werden.

Doch seine Verlobte, die patente Cynthia, und alle Freunde des jungen Paares, wie der kürzlich aus Indien zurückgekehrte Fayre, der väterliche Freund Cynthias, sind von der Unschuld Johns überzeugt.  Fayre betätigt sich also notgedrungen als Hobby-Detektiv und stolpert dabei schon rasch über die ersten Ungereimtheiten. Alle sind froh, den eminenten Strafverteidiger Edward Kean und dessen schwerkranke Frau zu den Freunden zählen zu können, die nichts unversucht lassen werden, die Unschuld des jungen Mannes zu beweisen. Doch welches Urteil wird die Jury beim Prozess fällen?

Ein ganz reizendes Exemplar des Cosy Crime, und das, obwohl ich – zum ersten Mal – schon nach dem ersten Viertel den Täter zweifelsfrei identifiziert hatte. Doch die Handlung schlägt noch diverse Haken, es gibt dezenten Humor und die Charaktere sind durchaus als eigenständige Personen gezeichnet.

Eine Verfilmung wäre nett.

a-Scotland0157

Margery Allingham: The Crime at Black Dudley (1929)

Margery Allingham (1904-1966) war eine der vier Queens of Crime des Golden Age of detective fiction – neben Agatha Christie, Ngaio Marsh und Dorothy L. Sayers.

Diese sich an bestimmen Konventionen und Spielregeln orientierenden Krimis mit britischem Lokalkolorit, Humor und vielen einsam gelegenen Landhäusern, die ihre Blütezeit vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hatten, haben weltweit ihre LeserInnen, und es gibt, wie uns der Wikipedia-Eintrag verrät, sogar japanische Autoren, die in diesen Spuren wandeln.

Wenn mir Zeit und Konzentration für längere oder anspruchsvollere  Bücher fehlen, dann sind solche Krimis wie die um den adligen Albert Campion genau das Richtige, obwohl sein Einstand in The Crime at Black Dudley zunächst etwas holprig verläuft. Man versäumt also nichts, wenn man bei dieser Reihe erst bei dem zweiten Band einsteigt, da Campion bei seinem Debut schrecklich viel albernes Zeug schwatzt und ganz offensichtlich zunächst als Nebenfigur angelegt ist. Auf den ersten Blick wirkt er wie eine arglose Nervensäge und nicht besonders intelligent, was für seine Nachforschungen wiederum natürlich oft von Vorteil ist.

‚His name is Albert Campion,‘ she said. ‚He came down in Anne Edgeware’s car, and the first thing he did when he was introduced to me was to show me a conjuring trick with a two-headed penny – he’s quite inoffensive, just a silly ass.‘ Abbershaw nodded and stared covertly at the fresh-faced young man with the tow-coloured hair and the foolish, pale-blue eyes behind tortoiseshell-rimmed spectacles, and wondered where he had seen him before. The slightly receding chin and mouth so unnecessarily full of teeth was distinctly familiar.

Doch die Verleger fanden rasch Gefallen an ihm und so geht Allingham in den nächsten Büchern auch ein bisschen gnädiger mit seinem Äußeren um.

Sein Butler und Leibwächter ist ein ehemaliger Krimineller und hört auf den hübschen Namen Magersfontein Lugg. Campion hat, wie könnte es anders sein, beste Kontakt zu Scotland Yard.

Die Plots bei Allingham sind oft durchdachter und schlagen mehr Haken als bei Agatha Christie. Alles in allem eine schöne, entspannende Entdeckung im Cosy Crime Bereich.

Und die Hauptrolle in der BBC-Serie (1989/1990) spielte Peter Davison. Ja, genau, der, der auch Tristan Farnon in All Creatures Great and Small gespielt hat. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.

 Nachtrag

Im vierten Band Police at the Funeral (1931) gibt es eine miese Szene, in der eine der Hauptfiguren sich unverhohlen rassistisch äußert, doch Albert Campion scheint das überhaupt nicht problematisch zu finden, er nimmt es als gegeben hin und freut sich einfach an dem ihm entgegengebrachten Vertrauen.  An dieser Stelle ging es mir dann wie Heavenali, die in ihrer Besprechung des Buches schreibt:

There was a rather unsettling moment at the end – which I can’t say too much about for obvious reasons – but suddenly out of nowhere came a rather unpleasant piece of casual racism which really left a sour taste. There have been lots of occasions when I have come across slight racist references before in old vintage mysteries – I tend to know already to expect them if there is a character in the story from another country for instance- and steal myself accordingly but this one caught me off guard rather and slightly spoiled a book I had otherwise thoroughly enjoyed.

Laurie R. King: The Beekeeper’s Apprentice (1994)

I was fifteen when I first met Sherlock Holmes, fifteen years old with my nose in a book as I walked down the Sussex Downs, and nearly stepped on him. In my defence I must say it was an engrossing book, and it was very rare to come across another person in that particular part of the world in that war year of 1915. In my seven weeks of peripatetic reading amongst the sheep (which tended to move out of my way) and the gorse bushes (to which I had painfully developed an instinctive awareness) I had never before stepped on a person.

Auf Deutsch erschien der erste Band Amerikanerin Laurie R. King um die junge Mary Russell und den fast 40 Jahre älteren Sherlock Holmes unter dem Titel Die Gehilfin des Bienenzüchters.

Zum Inhalt

Sherlock Holmes, der sich inzwischen in die ländliche Idylle von Sussex zurückgezogen hat, um sich dort der Bienenzucht und seinen chemischen Experimenten zu widmen, lernt also 1915 die Vollwaise Mary Russell kennen. Es dauert nur wenige Minuten und die beiden stellen zu ihrer großen Verblüffung fest, dass sie anscheinend sehr ähnlich ticken. Folglich nimmt Holmes das junge Mädchen, das bei einer unfreundlichen Tante lebt, unter seine geistigen Fittiche und zieht sich so eine kluge Auszubildende heran.

Natürlich lassen die ersten zu lösenden Fälle nicht lange auf sich warten.  So müssen sie zum Beispiel die entführte kleine Tochter eines amerikanischen Senators in Wales aufspüren. Mary, die später in Oxford studieren wird, entwickelt sich dabei allmählich zu einer ebenbürtigen Partnerin des berühmten Detektivs.

Im (chronologisch) zweiten Band O Jerusalem (der allerdings später veröffentlicht wurde), müssen sie sogar ein Attentat in Palästina verhindern, das den fragilen Frieden nach dem Ersten Weltkrieg zunichte machen könnte. Recherchiert bis ins Kleinste und so anschaulich, dass man schließlich das Gefühl hat, mit ihnen durch die Gassen Jerusalems zu eilen.

Der dritte Band A Monstrous Regiment of Women spielt vor dem Hintergrund der erstarkenden Frauenbewegung in Großbritannien. Im Umfeld einer charismatischen Frauenrechtlerin kommt es zu mehreren Todesfällen. Dabei haben reale  Persönlichkeiten wie Marie Stopes ihre Gastauftritte und die Debatten um eine feministische Lesart der Bibel sind mehr als nur Fassade. Die den jeweiligen Kapiteln vorangestellten Zitate bekannter Autoren erinnern daran, dass im Westen Frauen Jahrhunderte lang als minderwertig bzw. dem Mann eindeutig nachgeordnet angesehen wurden.

Im vierten Band A Letter of Mary findet sich ein köstlicher kurzer Auftritt von Lord Peter Wimsey, der während einer Art Hausparty spontan von Mary gebeten wird, ihr zwei Frauen vom Leib zu halten, die ihre Tarnung auffliegen lassten könnten.

I paused, struck by a thought. ‚I might, actually, ask a small favour.‘

‚But of course – gallant is one of my overabundant middle names. What dragon does milady wish slain, what chasm spanned? A star pluck’t from the heavens, a cherry that hath no stone? Some shag for your pipe, perhaps?‘

‚Nothing so simple as dragons or bridges, I fear. I need two young ladies removed so that I might get at the groaning board where they stand waiting to recognise me for whom I am not […]‘

‚You wish me to murder two women so that you can eat lunch?‘ he asked with one politely raised eyebrow. ‚It seems just a bit excessive when there are servants willin‘ and able to bring you a tray […]‘

‚No, you idiot,‘ I said over the giggles he always managed to draw from me. ‚Just remove them for twenty minutes. Take them to view the peacocks, or see the etchings, or […]‘ (S. 215/215)

Fazit

Diese Pastiche-Krimis machen Spaß. Sie leben von dem freundlich-bissigen Austausch der beiden Protagonisten, abwechslungsreichen und sorgfältig in die Zeitgeschichte eingebetteten Fällen und genügend Charakterschilderung, sodass man den beiden eigenwilligen Figuren gerne auf ihren Streifzügen gegen das Verbrechen folgt. Garniert ist das Ganze mit Ironie und Augenzwinkern.

I was due to enter my college at Oxford in the autumn of 1917. I had been with Holmes for two years, and by the spring of 1917 could follow a footprint ten miles across country, tell a London accountant from a Bath schoolmaster by their clothing, give the physical description of an individual based on his shoe, disguise myself well enough to deceive Mrs Hudson, and recognise the ashes from the 112 most common brands of cigarettes and cigars. In addition, I could recite whole passages of the Greek and Latin classics, the Bible, and Shakespeare, describe the major archeological sites in the Middle East, and, thanks to Mrs Hudson, tell a phlox from a petunia. (S. 63)

Doch dann wechselt der Ton wieder zu  ganz glaubhaften ruhigen Passagen, in denen es u. a. um die Ursache von Marys Alpträumen oder die Entwicklung der Beziehung zwischen Mary und Holmes geht. Und ein paar Seiten später befindet man sich plötzlich in einer Dan-Brown-artigen Verfolgungsjagd.

Wer ein bisschen Hintergrundwissen zu Holmes und seinen Fällen mitbringt, freut sich an der ein oder anderen Anspielung. So tarnt sich Holmes einmal beispielsweise als Lieutenant-Colonel William Gillette.

The original William Gillette was an American actor who had cobbled together one of the first stage plays about Holmes, using bits of the Conan Doyle stories [dem Herausgeber der von Watson verfassten Geschichten] and adding a romantic interest. Holmes‘ opinion of the production was what one might expect. (O Jerusalem, S. 333)

Und an kleinen Seitenhieben auf den zunehmend spiritistisch angehauchten Conan Doyle, der hier als Herausgeber für die Werke Watsons fungiert, fehlt es ebenfalls nicht.

Selbstverständlich sind auch Mycroft und Mrs Hudson mit von der Partie. Und  man kann sich von Holmes so schöne Sätze anstreichen wie diesen, als Mary ihn fragt, ob er sie eigentlich sehr ungern an ihrem zweiten gemeinsamen Fall habe mitarbeiten lassen.

I was indeed filled with a singular lack of enthusiasm at the prospect. (S. 196)

Oder den hier:

‚Good evening, Mycroft,‘ said Holmes. ‚I apologise for intruding on your quiet reading with my little problem, but unfortunately it appears that someone is attempting to exterminate Miss Russell and myself. I thought you might be willing to be of assistance.‘ (S. 234)

 

James Runcie: Sidney Chambers and The Shadow of Death (2012)

In den letzten Wochen, in denen ich mich vorzugsweise am „Korrekturrand der Gesellschaft“ (Herr Schröder) aufgehalten habe, kamen Lesen und Bloggen naturgemäß zu kurz. Doch ganz ohne Bücher ging’s natürlich trotzdem nicht. So habe ich mich beispielsweise erneut mit Vergnügen durch alle sechs Bände um den sympathischen Pfarrer und Hobby-Ermittler Sidney Chambers geschmökert, die inzwischen verfilmt und ins Deutsche übersetzt worden sind und die ich heute noch einmal in überarbeiteter Fassung vorstellen möchte.

Canon Sidney Chambers had never intended to become a detective. Indeed, it came about quite by chance, after a funeral, when a handsome woman of indeterminate age voiced her suspicion that the recent death of a Cambridge solicitor was not suicide, as had been widely reported, but murder. It was a weekday morning in October 1953 and the pale rays of a low autumn sun were falling over the village of Grantchester.

Zum Inhalt

In Sidney Chambers and the Shadows of Death sind die sechs ersten Geschichten um Sidney Chambers versammelt, der seinen Dienst an der Kirche St Andrew and St Mary im – real existierenden – Dorf Grantchester ganz in der Nähe zu Cambridge versieht. Im ersten Fall, dem das Buch auch seinen Titel verdankt, kommt im Oktober 1953 nach der Beerdigung eines Anwalts dessen Geliebte zu Sidney und bittet ihn, sich einmal umzuhören. Sie ist sicher, dass ihr Geliebter keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde. Zur Polizei möchte sie nicht, da sie ihre Affäre vor ihrem Mann geheim halten will.

Und so löst Sidney, zusammen mit seinem guten Freund, Inspector Keating, mit dem er jeden Donnerstag ein paar Bierchen trinkt und Backgammon spielt, seinen ersten Fall, dem – sehr zu Sidneys Leidwesen – rasch weitere folgen sollen.

Nun muss er seine Nase in Dinge hineinstecken, die ihn eigentlich gar nichts angehen, und mehr als einmal lenken ihn seine inoffiziellen Gespräche, die er im Laufe der Ermittlungen führen muss, auch über Gebühr von seinen eigentlichen Gemeindeaufgaben und Familienpflichten ab.

Hier noch ein paar Worte zur Hauptperson:

Sidney was a tall, slender man in his early thirties. A lover of warm beer and hot jazz, a keen cricketer and an avid reader, he was known for his understated clerical elegance. His high forehead, aqualine nose and longish chin were softened by nutbrown eyes and a gentle smile, one that suggested he was always prepared to think the best of people. He had had the priestly good fortune to be born on a Sabbath day and was ordained soon after the war. After a brief curacy in Coventry, and a short spell as domestic chaplain to the Bishop of Ely, he had been appointed to the church of St Andrew and St Mary in 1952.

Fazit

Zuerst war ich enttäuscht, dass das Buch gar kein ausgewachsener Kriminalroman war, sondern eine Sammlung von sechs Erzählungen, die immer so um die 60 bis 70 Seiten umfassen. Aber diese bauen aufeinander auf und in den Folgegeschichten treffen wir immer wieder Personal, das wir schon kennen. So entsteht allmählich ein Kosmos, in dem man immer wieder gute alte Bekannte trifft, sich auskennt und doch stets auf Neue überrascht wird.

So kann es passieren, dass Sidney mit der Witwe aus der ersten Geschichte später einen regen Briefwechsel unterhält, seine Dauerfreundin Amanda in einem Fall kräftig zur Aufklärung beiträgt, um dann im nächsten selbst ins Visier des Täters zu rücken. Ebenfalls zum Stammpersonal gehört die rabiate Haushälterin Mrs Maguire, deren Herrschaftsanspruch später durch den Einzug eines Vikars und einen Labrador immer wieder an seine Grenzen stößt.

Der Handlungsort ist geschickt gewählt. Da Sidney nur 20 Minuten mit dem Fahrrad nach Cambridge braucht und London nur eine Stunde Zugfahrt entfernt ist, können die Fälle abwechslungsreich und mit liebevoll gezeichnetem Zeitkolorit gestaltet werden. Schön auch, wenn sich plötzlich literarische Spiegelungen ergeben. In einer Geschichte im zweiten Band wird Sidney als Laienschauspieler für die Verfilmung eines Dorothy Sayers-Krimis engagiert, in einer anderen nimmt er teil an der Trauerfeier von C. S. Lewis. Die Bandbreite der Themen reicht dabei – wenn man alle Bände miteinbezieht – vom Kunstraub, Gewalt in der Ehe, dem Diebstahl einer kostbaren Bibelhandschrift, Missbrauch, einem Mord in einem Londoner Jazz-Lokal über die Spionageaffäre in den Fünfzigern an der University of Cambridge bis hin zu der repressiven Haltung gegenüber Homosexuellen und einem plötzlich verschwundenen Verlobungsring. Manchmal kann sich der geerdete Kirchenmann nur wundern:

‚What a mess people make of their lives,‘ he thought. (S. 13)

Sidneys Beruf, seine Berufung als Pfarrer, ist dabei keine bloße Staffage. Oft erfahren wir sogar, zu welchen Predigtthemen ihn seine Detektivarbeit anregt oder welche Fragen er sich im Bezug auf seinen Glauben stellt. Gerade in diesen Fragen und scheinbar beiläufigen Gedanken liegt ein großer Reiz der Geschichten.

Als er am 7. Mai 1954 im Radio vom Rekord Roger Bannisters hört, philosophiert er darüber, was alles in dieser kurzen Zeitspanne möglich ist. Man könne ein Ei kochen, einen Rekord aufstellen oder wie Sidney Bechet Summertime auf dem Saxofon spielen.

Runcie weiß selbst:

I have to confess there is perhaps an element of preachiness to it all. My editor once said to me: “These are disguised sermons, aren’t they?” I am not ashamed of that and I am hopeful that the television series, as well as being dramatic, consists of thoughtful and moral meditations on subjects such as loyalty, friendship, deceit, cruelty and generosity. There are all the usual human fallibilities and they are taken seriously; but they are also viewed, wherever possible, with a kindly eye. (Hate the sin, but love the sinner.) (Telegraph, 5. Oktober 2014)

Darüber hinaus ist Sidney belesen und kann in einem Gespräch mit seinem Vikar, in dem es darum geht, welche Schriftsteller auf eher seltsamem Weg den Tod fanden, locker mithalten.

And didn’t the Chinese poet Li Po drown while trying to kiss the reflection of the moon in water? (S. 119)

Das Ganze ist hin und wieder von dezentem Humor untermalt. Als sein Freund Inspector Keating ihn dazu bringen möchte, einem verlobten Paar etwas genauer auf den Zahn zu fühlen, entspinnt sich folgender Dialog.

‚When people come to you to be married, you tend to put the couple through their paces beforehand, don’t you?‘
‚I give them pastoral advice.‘
‚You tell them what marriage is all about; warn them that it’s not all lovey-dovey and that as soon as you have children it’s a different kettle of fish altogether… […] There’s the money worries, and the job worries and you start to grow old. Then you realise that you’ve married someone with whom you have nothing in common. You have nothing left to say to each other. That’s the kind of thing you tell them, isn’t it?’
‚I wouldn’t put it exactly like that …‘
‚But that’s the gist?‘
‚I do like it to make it a bit more optimistic, Geordie. How friendship sometimes matters more than passion. The importance of kindness…‘
‚Yes, yes, but you know what I’m getting at.‘ (S. 153)

Kurzum: Ideal für LeserInnen wie mich, die keinen Wert auf ausgedehnte Schilderungen von Brutalität in ihren Krimis legen, die Krimis eher zur Entspannung lesen und dabei trotzdem nicht für blöd verkauft werden wollen.

Gleichzeitig bieten die sechs Bände viele Anregungen und Informationen, denen man nachgehen kann. Ist Sidneys spätere Ehefrau doch Pianistin, sein erster Vikar großer Dostojewski-Fan und seine beste Freundin Amanda Kunsthistorikerin.

Im Telegraph hat Runcie einmal gesagt, dass er mit der Reihe „a moral history of post-war Britain“ habe schaffen wollen. Und tatsächlich hat Runcie hier ein Sittengemälde der fünfziger bis siebziger Jahre geschaffen, das sich eher ruhig und mäandernd entwickelt. Und in allen Geschichten geht es nicht nur um die Auflösung, um den Täter, sondern immer auch darum, wie es den Opfern geht.

Manchmal gibt es auch gar keine eigentliche Krimi-Handlung, sondern Sidney holt einfach den von zu Hause abgehauenen Neffen zurück, der sich von seinen Eltern nicht verstanden gefühlt hat.

Beziehungen und Loyalität gegenüber seinen Freunden spielen überhaupt eine wichtige Rolle, genauso wie die Frage nach dem angemessenen Verhalten, nach der persönlichen Moral, nach Anstand. Und Sidney ist dabei ein geduldiger und aufmerksamer Zuhörer, der den Menschen helfen möchte, sich für das das jeweils Richtige zu entscheiden.

Dachte ich zwischendurch, dass die Tiefe der Charakterisierungen vielleicht nicht gerade die Stärke dieser Bücher sei, holt Runcie im sechsten Band noch einmal aus und ich bin beeindruckt, wie feinfühlig und treffend er das Wesen der Trauer beschreibt. Ein sehr würdiger Abschluss der Reihe, obwohl ich trotzdem hoffe, dass sich Runcie das doch noch mal überlegt und der menschenfreundliche Sidney, der inzwischen Archdeacon von Ely ist, weitere Fälle lösen darf.

Perhaps the rest of his life should be like this? he thought. It would involve a concentration on things close to the heart; a dedicated care of friends and family; a quieter existence, one that depended on listening harder and loving better; never resting in complacency; acknowledging faults, doubts and insecurities; the balance between solitude and company, the wish to escape and the need to come home: a loving attention. (James Runcie: Sidney Chambers and the Persistence of Love, S. 266)

Anmerkungen

Der Autor James Runcie scheint ein umtriebiger, kluger und kreativer Kopf zu sein. Hier lohnt ein Blick auf den Wikipedia-Eintrag. Auch die Rezensenten waren angetan. Hier geht’s lang zur Besprechung im Independent und Ausschnitte vieler anderer Besprechungen sammelt die Homepage zur Serie. Dort findet sich außerdem ein schöner Eintrag, der erklärt, nach wem Sidney benannt wurde, und hier gibt es ein paar Fotos von einigen Plätzen in und um Grantchester.

Runcie, der seinen Protagonisten einmal als anglikanischen Father Brown bezeichnet hat, sagt im Telegraph:

Like my father, Chambers fought against evil in the war; now, he has to confront different evils in the ensuing peace. What keeps him going, apart from a strong faith, is both his love of intrigue and his compassion. The paradox is simple: as a clergyman, he has to think the best of people; as a detective, he must assume the worst.

The Fifties setting offers a more closed world than the one we know today. This is a time of tact, reticence and, for want of a better word, manners. It is far from shouty modern life in which people declare their most intimate secrets either on Facebook or over their second pint of lager. Sidney has to decode conversations in which privacy is fiercely held and secrets are dangerous. He has to understand both what drives people to commit acts of desperation (sex, money, betrayal, revenge) and what may eventually redeem them.

His talent as a detective lies in his ability to listen and to understand far more than he is being told. People share confidences that they wouldn’t with anyone else (particularly the police)…

Mai 2019 erschien der Prequel-Band The Road to Grantchester.

a-Scotland0215

Martin Edwards: The Coffin Trail (2004)

‚Forget about the murder‘. It’s history. Daniel tightened his grip on the steering wheel as the Audi jolted over potholes in the winding lane, his palms sweating. Miranda thought he was so cool, so relaxed, but it was an illusion. Might a conjurer feel like this when walking onto the stage? Fearing that his magic wouldn’t work, that when he whipped the cloak away, his audience wouldn’t gasp, but merely yawn? The car eased over the top of the fell and Daniel held his breath. At last Brackdale revealed itself. Unfolding beneath them, luxuriating in the sunshine.

So beginnt der erste im Lake District in Großbritannien spielende Kriminalroman um den Historiker Daniel Kind und DCI Hannah Scarlett von Martin Edwards, der auf Deutsch unter dem Titel Tote schlafen nicht veröffentlicht wurde.

Daniel Kind und seine neue Partnerin Miranda beschließen aus privaten Gründen Oxford den Rücken zu kehren. Bei einem Kurzurlaub im traumhaft schönen Lake District finden sie ein Cottage, das ihnen mit seiner idyllischen Lage an einem kleinen See gefällt, und kaufen es. Daniel kennt das Haus noch aus seiner Kindheit: Während eines Familienurlaubs im Lake District hatte er sich mit dem damals dreizehnjährigen Barrie Gilpin angefreundet, der allein mit seiner Mutter eben in jenem Haus lebte. Barrie war ein bisschen sonderbar, was aber der Kinderfreundschaft keinen Abbruch tat.

Nun ca. 20 Jahre später: Barrie gilt den meisten im Dorf als der Mörder einer jungen, schönen Touristin, deren Leiche man vor sieben Jahren brutal zugerichtet auf einem uralten Stein oberhalb des Dorfes gefunden hatte. Barrie selbst konnte nicht mehr vor Gericht gestellt werden, da er nur wenige hundert Meter vom Fundort der Leiche in eine Felsspalte gestürzt war, aus der er sich nicht mehr hatte befreien können.

Daniel kann den Mord nicht so recht in Einklang bringen mit dem sanften Jungen, den er als Kind kennengelernt hatte, und ist unvorsichtig genug, das überall im Dorf herumzuposaunen.

Zeitgleich wird eine neues Team bei der Polizei zusammengestellt, das sich alten, aber niemals aufgeklärten Verbrechen widmen soll. Aufgrund eines anonymen Anrufs wird die Einsatztruppe unter Leitung von Hannah Scarlett auf genau diesen Touristenmord aufmerksam. Und so werden die Geschichten von Hannah, ihrem Partner und Daniel und Miranda und den anderen Dorfbewohnern immer enger miteinander verknüpft, zumal Hannah früher unter dem Vater Daniels ihr Polizistenhandwerk gelernt hat.

Ein solide gemachter Krimi, der es über weite Strecken schafft, die Gattung des cozy mystery in die Moderne zu bringen. Kein Ausmalen blutiger und unappetitlicher Einzelheiten, ein gemächliches Tempo, es dauert über 100 Seiten, bis Hannah überhaupt am Fall arbeitet. Daniel selbst macht sich vor seiner Einladung bei dem reichen Immobilienhändler Dumelow lustig:

So this is our first toe in the water, so far as integrating with the local community goes? A dinner party with the local squire and his wife. Very traditional. Except that he only keeps a farm as a write-off against tax and she’s a townie who plays at being an artist. (S. 126)

Die Dialoge sind lebhaft und gut geschrieben. Das Setting mit dem Lake District schön gewählt und den uralten sogenannten Coffin Trail gibt es wirklich. Auf ihm wurden die Toten auf Pferden von Rydal Mount nach Grasmere gebracht, da es dort eine Kirche gab. Hier kann man ein bisschen Wanderfernweh schnuppern und nebenbei noch etwas über Wordsworth erfahren.

Allerdings habe ich die Auflösung schon ca. 40 Seiten vor dem Ende geahnt und die Schönheit des Lake District erschloss sich mir eher aufgrund eigener Urlaubserinnerungen, weniger durch sprachlich gelungene Beschreibungen. Auch dass wildfremde Menschen schon gleich bei ihrem ersten Treffen über sehr persönliche Dinge sprechen, war nicht immer so ganz nachvollziehbar und eher dem Vorantreiben der Handlung geschuldet. Bei dieser Art von Kriminalroman hätte ich mir auch ein bisschen mehr Humor vorstellen können.

Also: Kein neuer Chandler, aber solide Krimi-Unterhaltung, nicht mehr, nicht weniger.

IMG_4632