In den letzten Wochen, in denen ich mich vorzugsweise am „Korrekturrand der Gesellschaft“ (Herr Schröder) aufgehalten habe, kamen Lesen und Bloggen naturgemäß zu kurz. Doch ganz ohne Bücher ging’s natürlich trotzdem nicht. So habe ich mich beispielsweise erneut mit Vergnügen durch alle sechs Bände um den sympathischen Pfarrer und Hobby-Ermittler Sidney Chambers geschmökert, die inzwischen verfilmt und ins Deutsche übersetzt worden sind und die ich heute noch einmal in überarbeiteter Fassung vorstellen möchte.
Canon Sidney Chambers had never intended to become a detective. Indeed, it came about quite by chance, after a funeral, when a handsome woman of indeterminate age voiced her suspicion that the recent death of a Cambridge solicitor was not suicide, as had been widely reported, but murder. It was a weekday morning in October 1953 and the pale rays of a low autumn sun were falling over the village of Grantchester.
Zum Inhalt
In Sidney Chambers and the Shadows of Death sind die sechs ersten Geschichten um Sidney Chambers versammelt, der seinen Dienst an der Kirche St Andrew and St Mary im – real existierenden – Dorf Grantchester ganz in der Nähe zu Cambridge versieht. Im ersten Fall, dem das Buch auch seinen Titel verdankt, kommt im Oktober 1953 nach der Beerdigung eines Anwalts dessen Geliebte zu Sidney und bittet ihn, sich einmal umzuhören. Sie ist sicher, dass ihr Geliebter keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde. Zur Polizei möchte sie nicht, da sie ihre Affäre vor ihrem Mann geheim halten will.
Und so löst Sidney, zusammen mit seinem guten Freund, Inspector Keating, mit dem er jeden Donnerstag ein paar Bierchen trinkt und Backgammon spielt, seinen ersten Fall, dem – sehr zu Sidneys Leidwesen – rasch weitere folgen sollen.
Nun muss er seine Nase in Dinge hineinstecken, die ihn eigentlich gar nichts angehen, und mehr als einmal lenken ihn seine inoffiziellen Gespräche, die er im Laufe der Ermittlungen führen muss, auch über Gebühr von seinen eigentlichen Gemeindeaufgaben und Familienpflichten ab.
Hier noch ein paar Worte zur Hauptperson:
Sidney was a tall, slender man in his early thirties. A lover of warm beer and hot jazz, a keen cricketer and an avid reader, he was known for his understated clerical elegance. His high forehead, aqualine nose and longish chin were softened by nutbrown eyes and a gentle smile, one that suggested he was always prepared to think the best of people. He had had the priestly good fortune to be born on a Sabbath day and was ordained soon after the war. After a brief curacy in Coventry, and a short spell as domestic chaplain to the Bishop of Ely, he had been appointed to the church of St Andrew and St Mary in 1952.
Fazit
Zuerst war ich enttäuscht, dass das Buch gar kein ausgewachsener Kriminalroman war, sondern eine Sammlung von sechs Erzählungen, die immer so um die 60 bis 70 Seiten umfassen. Aber diese bauen aufeinander auf und in den Folgegeschichten treffen wir immer wieder Personal, das wir schon kennen. So entsteht allmählich ein Kosmos, in dem man immer wieder gute alte Bekannte trifft, sich auskennt und doch stets auf Neue überrascht wird.
So kann es passieren, dass Sidney mit der Witwe aus der ersten Geschichte später einen regen Briefwechsel unterhält, seine Dauerfreundin Amanda in einem Fall kräftig zur Aufklärung beiträgt, um dann im nächsten selbst ins Visier des Täters zu rücken. Ebenfalls zum Stammpersonal gehört die rabiate Haushälterin Mrs Maguire, deren Herrschaftsanspruch später durch den Einzug eines Vikars und einen Labrador immer wieder an seine Grenzen stößt.
Der Handlungsort ist geschickt gewählt. Da Sidney nur 20 Minuten mit dem Fahrrad nach Cambridge braucht und London nur eine Stunde Zugfahrt entfernt ist, können die Fälle abwechslungsreich und mit liebevoll gezeichnetem Zeitkolorit gestaltet werden. Schön auch, wenn sich plötzlich literarische Spiegelungen ergeben. In einer Geschichte im zweiten Band wird Sidney als Laienschauspieler für die Verfilmung eines Dorothy Sayers-Krimis engagiert, in einer anderen nimmt er teil an der Trauerfeier von C. S. Lewis. Die Bandbreite der Themen reicht dabei – wenn man alle Bände miteinbezieht – vom Kunstraub, Gewalt in der Ehe, dem Diebstahl einer kostbaren Bibelhandschrift, Missbrauch, einem Mord in einem Londoner Jazz-Lokal über die Spionageaffäre in den Fünfzigern an der University of Cambridge bis hin zu der repressiven Haltung gegenüber Homosexuellen und einem plötzlich verschwundenen Verlobungsring. Manchmal kann sich der geerdete Kirchenmann nur wundern:
‚What a mess people make of their lives,‘ he thought. (S. 13)
Sidneys Beruf, seine Berufung als Pfarrer, ist dabei keine bloße Staffage. Oft erfahren wir sogar, zu welchen Predigtthemen ihn seine Detektivarbeit anregt oder welche Fragen er sich im Bezug auf seinen Glauben stellt. Gerade in diesen Fragen und scheinbar beiläufigen Gedanken liegt ein großer Reiz der Geschichten.
Als er am 7. Mai 1954 im Radio vom Rekord Roger Bannisters hört, philosophiert er darüber, was alles in dieser kurzen Zeitspanne möglich ist. Man könne ein Ei kochen, einen Rekord aufstellen oder wie Sidney Bechet Summertime auf dem Saxofon spielen.
Runcie weiß selbst:
I have to confess there is perhaps an element of preachiness to it all. My editor once said to me: “These are disguised sermons, aren’t they?” I am not ashamed of that and I am hopeful that the television series, as well as being dramatic, consists of thoughtful and moral meditations on subjects such as loyalty, friendship, deceit, cruelty and generosity. There are all the usual human fallibilities and they are taken seriously; but they are also viewed, wherever possible, with a kindly eye. (Hate the sin, but love the sinner.) (Telegraph, 5. Oktober 2014)
Darüber hinaus ist Sidney belesen und kann in einem Gespräch mit seinem Vikar, in dem es darum geht, welche Schriftsteller auf eher seltsamem Weg den Tod fanden, locker mithalten.
And didn’t the Chinese poet Li Po drown while trying to kiss the reflection of the moon in water? (S. 119)
Das Ganze ist hin und wieder von dezentem Humor untermalt. Als sein Freund Inspector Keating ihn dazu bringen möchte, einem verlobten Paar etwas genauer auf den Zahn zu fühlen, entspinnt sich folgender Dialog.
‚When people come to you to be married, you tend to put the couple through their paces beforehand, don’t you?‘
‚I give them pastoral advice.‘
‚You tell them what marriage is all about; warn them that it’s not all lovey-dovey and that as soon as you have children it’s a different kettle of fish altogether… […] There’s the money worries, and the job worries and you start to grow old. Then you realise that you’ve married someone with whom you have nothing in common. You have nothing left to say to each other. That’s the kind of thing you tell them, isn’t it?’
‚I wouldn’t put it exactly like that …‘
‚But that’s the gist?‘
‚I do like it to make it a bit more optimistic, Geordie. How friendship sometimes matters more than passion. The importance of kindness…‘
‚Yes, yes, but you know what I’m getting at.‘ (S. 153)
Kurzum: Ideal für LeserInnen wie mich, die keinen Wert auf ausgedehnte Schilderungen von Brutalität in ihren Krimis legen, die Krimis eher zur Entspannung lesen und dabei trotzdem nicht für blöd verkauft werden wollen.
Gleichzeitig bieten die sechs Bände viele Anregungen und Informationen, denen man nachgehen kann. Ist Sidneys spätere Ehefrau doch Pianistin, sein erster Vikar großer Dostojewski-Fan und seine beste Freundin Amanda Kunsthistorikerin.
Im Telegraph hat Runcie einmal gesagt, dass er mit der Reihe „a moral history of post-war Britain“ habe schaffen wollen. Und tatsächlich hat Runcie hier ein Sittengemälde der fünfziger bis siebziger Jahre geschaffen, das sich eher ruhig und mäandernd entwickelt. Und in allen Geschichten geht es nicht nur um die Auflösung, um den Täter, sondern immer auch darum, wie es den Opfern geht.
Manchmal gibt es auch gar keine eigentliche Krimi-Handlung, sondern Sidney holt einfach den von zu Hause abgehauenen Neffen zurück, der sich von seinen Eltern nicht verstanden gefühlt hat.
Beziehungen und Loyalität gegenüber seinen Freunden spielen überhaupt eine wichtige Rolle, genauso wie die Frage nach dem angemessenen Verhalten, nach der persönlichen Moral, nach Anstand. Und Sidney ist dabei ein geduldiger und aufmerksamer Zuhörer, der den Menschen helfen möchte, sich für das das jeweils Richtige zu entscheiden.
Dachte ich zwischendurch, dass die Tiefe der Charakterisierungen vielleicht nicht gerade die Stärke dieser Bücher sei, holt Runcie im sechsten Band noch einmal aus und ich bin beeindruckt, wie feinfühlig und treffend er das Wesen der Trauer beschreibt. Ein sehr würdiger Abschluss der Reihe, obwohl ich trotzdem hoffe, dass sich Runcie das doch noch mal überlegt und der menschenfreundliche Sidney, der inzwischen Archdeacon von Ely ist, weitere Fälle lösen darf.
Perhaps the rest of his life should be like this? he thought. It would involve a concentration on things close to the heart; a dedicated care of friends and family; a quieter existence, one that depended on listening harder and loving better; never resting in complacency; acknowledging faults, doubts and insecurities; the balance between solitude and company, the wish to escape and the need to come home: a loving attention. (James Runcie: Sidney Chambers and the Persistence of Love, S. 266)
Anmerkungen
Der Autor James Runcie scheint ein umtriebiger, kluger und kreativer Kopf zu sein. Hier lohnt ein Blick auf den Wikipedia-Eintrag. Auch die Rezensenten waren angetan. Hier geht’s lang zur Besprechung im Independent und Ausschnitte vieler anderer Besprechungen sammelt die Homepage zur Serie. Dort findet sich außerdem ein schöner Eintrag, der erklärt, nach wem Sidney benannt wurde, und hier gibt es ein paar Fotos von einigen Plätzen in und um Grantchester.
Runcie, der seinen Protagonisten einmal als anglikanischen Father Brown bezeichnet hat, sagt im Telegraph:
Like my father, Chambers fought against evil in the war; now, he has to confront different evils in the ensuing peace. What keeps him going, apart from a strong faith, is both his love of intrigue and his compassion. The paradox is simple: as a clergyman, he has to think the best of people; as a detective, he must assume the worst.
The Fifties setting offers a more closed world than the one we know today. This is a time of tact, reticence and, for want of a better word, manners. It is far from shouty modern life in which people declare their most intimate secrets either on Facebook or over their second pint of lager. Sidney has to decode conversations in which privacy is fiercely held and secrets are dangerous. He has to understand both what drives people to commit acts of desperation (sex, money, betrayal, revenge) and what may eventually redeem them.
His talent as a detective lies in his ability to listen and to understand far more than he is being told. People share confidences that they wouldn’t with anyone else (particularly the police)…
Mai 2019 erschien der Prequel-Band The Road to Grantchester.
