Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf (2021)

Der Filmemacher Andreas Fischer (*1961) geht in seinem ersten Roman Die Königin von Troisdorf – Wie der Endsieg ausblieb den Themen nach, die ihn auch schon in mehreren seiner Filmprojekte beschäftigt haben: Wie sind wir zu denen geworden, die wir heute sind? Wie sah eine Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus? Welche eigenen Traumata und Verkrüppelungen haben Eltern und Großeltern an die Kinder bzw. Enkel weitergegeben, die während der Wirtschaftswunderzeit aufgewachsen sind?

Das mag zunächst vielleicht nicht nach spannender Literatur klingen, doch ich habe dieses autobiografisch grundierte Buch regelrecht inhaliert. Es ist irritierend, dass Fischer keinen Verlag für dieses unfassbar gute Buch gefunden und es deshalb schließlich selbst verlegt hat.

Fischer schreibt nicht chronologisch, sondern reiht kurze Szenen in überraschenden Zeitsprüngen aneinander, die – wie in einem ungeordneten Kasten voller Fotos – ein Schlaglicht auf eine bestimmte Situation werfen. Und diese Form samt der unsentimentalen Sprache, die Fischer für seinen Inhalt gewählt hat, sorgen dafür, dass sich das Buch weit über das Niveau bloßer Erinnerungsbücher erhebt. Zeigt doch dieses Mosaik, dass immer alles in uns zeitgleich gegenwärtig ist, die kleinen, die großen, die hässlichen und die schönen Momente.

1969. Troisdorf. Ich bin 8 Jahre alt. 3. Schuljahr.

Viele andere Kinder haben Geschwister, Einzelkinder wie ich sind eher selten. Mich beginnt die Frage zu beschäftigen, warum ich keine Geschwister habe. Ich weiß nicht, ob ich es mir schön vorstellen soll. Müsste ich meine Spielsachen teilen? Stünde noch ein Bett für einen Bruder oder eine Schwester in meinem Zimmer? Hätte ich dann noch Platz, um mit meinen Matchboxautos auf dem Boden Zusammenstoß spielen zu können? An einem Abend frage ich meine Mutter, warum ich keine Geschwister habe. ‚Einer von deiner Sorte hat uns gereicht‘, sagt Mutter. (S. 37)

Der collagenartige Aufbau passt natürlich zu seinem familiären Hintergrund. Seine Eltern betrieben ein gut gehendes Fotogeschäft in Troisdorf. Sie arbeiteten so hart, dass der einzige Sohn da eher ein Störfaktor war und tagsüber viel Zeit bei seiner Tante Hilde und seinem Onkel verbringen musste. Die Großmutter mütterlicherseits, Oma Lena, lebte ebenfalls mit im elterlichen Haus und war, man kann es nicht anders sagen, von ausgesuchter Bösartigkeit. Die freundlichen Worte gegenüber ihrem Enkel dürften sich an einer Hand abzählen lassen.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank. (S. 117)

Sie hat vermutlich den Tod ihres einziges so überaus braven Sohnes nie verwunden, der sehr jung und voller Begeisterung für Hitler in den Krieg gezogen war. So schreibt der 19-jährige Günther an seine Eltern im Januar 1940 aus Königsberg, nachdem er und seine Kameraden bei 28 Grad unter Null bereits die ersten Erfrierungen davongetragen hatten:

Ich bin riesig stolz, in dieser großen Zeit Soldat sein zu dürfen. Keine Härte, keine Kälte, darf größer werden als mein Stolz. Nie werde ich klagen. (S. 99)

Also kein Zufall, wenn sich der Ich-Erzähler erinnert, wie seine Oma Lena über ihn irgendwann zu seiner Mutter gesagt hat:

‘Bei Günther hat die Saat meiner Erziehung gefruchtet. Bei dem Bengel ist alles hoffnungslos.‘ (S. 109)

Die Fischers im Troisdorf der sechziger und siebziger Jahre sind eine Familie, wie es damals unzählige gegeben haben muss, nach außen hin wird eine biedere, spießige Wohlanständigkeit mit üppiger Schrankwand, finanziellem Erfolg, Arbeitsethos und neuem Auto präsentiert; irgendwann konnten sich die Eltern sogar leisten, ein Mietshaus zu bauen, die Frauen der Familie streng katholisch.

Was jedoch nicht außen dringen durfte: Bei dieser Form des Katholizismus ging es nie um spirituelle Fragen. Der Sohn wurde auch mal zum Gottesdienst geprügelt, Hauptsache, die Fassade, die man den Nachbarn gegenüber zeigte, stimmte.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich … (S.246)

Dann der Rassismus: Man freute sich zwar über die Gastarbeiter, die gute Kunden im Fotogeschäft der Eltern waren, doch privat sah man auf sie herab. Nie hätten Mutter und Oma Lena später mal einen Gyros aus dem neu eröffneten griechischen Restaurant probiert.

Die abendliche Sauferei des Vaters, der den Untergang des Nazi-Reiches nie verwunden hat. Das Ableugnen der deutschen Verbrechen.

Das absolute Desinteresse an dem, was ihren Sohn interessiert, oder an dem, was er kann. Jahrzehnte später ist der Vater fassungslos, als er Andreas am Telefon Englisch sprechen hört. Er hat nicht einmal gewusst, dass Englisch einer der Leistungskurse seines Sohnes gewesen war. Doch genauso gibt es die Erinnerung an den Moment, als der Vater mit dem Dreizehnjährigen, der sich sehnlichst ein Jugendlexikon gewünscht hatte, in die große Buchhandlung geht und seinem Sohn dort die zwanzigbändige Ausgabe der Brockhaus Enzyklopädie zeigt.

Eine Woche später liefert uns der Inhaber der Buchhandlung persönlich die zwanzig Bände der Enzyklopädie ins Haus.

Vater hatte recht. Der Brockhaus wird mich die Schulzeit und das Studium hindurch begleiten, mir bei unzähligen Hausaufgaben und Referaten hilfreich sein. Ich habe den Brockhaus heute noch, im Zeitalter von Wikipedia und Google, ich bin zwölfmal mit ihm umgezogen, die blauen Schutzumschläge habe ich nie entfernt, alle Bände befinden sich noch in ihren Pappschubern, das sieht nicht so gut aus, aber so wertvoll sind sie mir. (S. 317)

Nie fuhr die Familie gemeinsam in Urlaub. Und nur in anderen Familien sieht der Junge, wie Familienleben auch gelebt hätte werden können. Und nur bei seiner Tante Hilde findet Andreas Anerkennung und Wärme.

1971. Ich bin 10 Jahre alt. 5. Schuljahr.

Am nächsten Tag gehe ich in das Juweliergeschäft und kaufe die Seepferdchenbrosche. Tante Hilde freut sich sehr. ‚Wie komme ich denn dazu?‘, fragt sie […] ‚Einfach so‘, sage ich. Tante Hilde gibt mir einen Kuss auf die Backe. Dann geht sie zur Garderobe, sie holt ihren feinen Pelzmantel und befestigt die Seepferdchenbrosche am Kragen. Während der nächsten vierzig Jahre trägt sie die Brosche, bis ich das Seepferdchen vorsichtig vom Kragen ihres letzten, dunklen Wintermantels ablöse und einstecke, bevor ich den Mantel in den großen Pappkarton packe, der für die Kleiderkammer der Caritas bestimmt ist. (S. 177/178)

Durch die mosaikartige Anlage des Buches bleibt man als Leserin die fast 500 Seiten anteilnehmend dabei, erkennt mit Schrecken Dinge aus der eigenen Familiengeschichte wieder und möchte wissen, wie und ob es Andreas gelingt, sich ohne gar zu schlimme Blessuren aus dieser ungesunden Familie zu befreien. Man freut sich bei den seltenen Momenten mit, wenn Andreas etwas Schönes mit seinem Vater unternehmen kann oder ausnahmsweise von ihm den Rücken gestärkt bekommt und wenn man spürt, dass hier einer mit wachem Blick beobachtet, sich die Werte der Familie nicht einfach zu eigen macht, sich eben nicht wie Onkel Günther in blindem Gehorsam anpasst, sondern trotz aller Verletzlichkeit rebelliert und kleine und irgendwann größere Fluchten wagt.

Gleichzeitig nimmt Fischer einen weiten Blick ein. Dadurch dass er den entscheidenden Momenten auch im Leben seiner Eltern und Großeltern nachgeht, z. B. aus alten Familienbriefen zitiert, begreifen die Leser*innen, wie beispielsweise enttäuschte Hoffnungen auf nationalsozialistische „Größe“ gekoppelt mit privater Trauer die vorangegangenen Generationen seelisch verkrüppelt haben. All die nie aufgearbeiteten Erfahrungen und verdrängte Schuld haben seine Großmutter und seine Eltern zu den oftmals unerträglichen Menschen gemacht, die selbst keine Verbindung mehr zu ihren eigenen Gefühlen hatten und wohl meist nicht anders konnten, als dem Sohn und Enkel mit Enttäuschung, Lieblosigkeit, Härte und Unverständnis zu begegnen.

Daneben ist dem Autor aber auch eine kleine Sittengeschichte der Sechzigerjahre gelungen. Es geht um Cola und Gyros, um Jeans und die Frage nach der Haarlänge bei den Jungen oder die zwiespältige Haltung zu Wehrdienstverweigerern. Genauso lesen wir aber auch von der noch nicht hinterfragten Rolle der katholischen Kirche, latentem Rassismus, dem Einzug moderner Luxusgüter in die bundesdeutschen Haushalte und den technischen Neuerungen wie dem Kassettenrekorder, mit dem man die Lieblingstitel aus dem Radio mitschnitt.

Hier ein kurzes Interview mit dem Autor.

Sebastian Schoepp schreibt im Dezember 2022 in der Süddeutschen Zeitung:

Andreas ist der mangelhafte Ersatz [für den gefallenen Günther], wie diese ganze verhasste Bundesrepublik, mit der man sich hatte zufriedengeben müssen, nachdem der Endsieg ausgeblieben und die kleinbürgerlich-spießigen Träume davon ausgeträumt waren, was alles aus einem hätte werden können in diesem Reich bis hinter dem Ural. Gesprochen wird darüber natürlich nicht. Die Verluste, die uneingestandene, verdrängte, in Arbeitswut erstickte Schuld schweben nur ständig über allem. In dieser Familie geschehen keine Brutalitäten, kein sexueller Missbrauch, keine Gewalt, es ist nur eine alltägliche Kette von Mikrograusamkeiten, wie eine Tropfenfolter. […] Jeder, der so was auch nur im Ansatz selbst erlebt hat, wird von Fischers so nüchterner wie wirkungsvoller Prosa tief in der Seele angefasst.

Usama Al Shahmani: In der Fremde sprechen die Bäume arabisch (2018)

Usama Al Shahmani ist mir erst seit dem Literaturclub vom 31. Mai 2022 ein Begriff. Der 1971 in Bagdad geborene Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer flüchtete 2002 in die Schweiz, lebte fast zwei Jahre in Flüchtlingsheimen, brachte sich selbst Deutsch bei und lebt heute mit seiner Familie in Frauenfels. Und jetzt möchte ich jedes seiner Bücher lesen.

Doch zunächst zu dem nur 189 Seiten umfassenden zweiten Buch, das Al Shahmani auf Deutsch veröffentlicht hat, das zuerst im Limmat Verlag erschien, später auch im Unionsverlag.

Es ist ein leises, sehnsüchtiges, ein widerständiges, trauriges und hoffnungsvolles Buch über Flucht, Verlust, Bäume und Heimat von einem, der lernen musste, die aberwitzigsten Gegensätze, die ein Menschenleben ausmachen können, auszubalancieren. Dass man sich während und nach der Lektüre mit Schrecken die Eckdaten der neueren irakischen Geschichte in Erinnerung ruft, wird wohl nicht ausbleiben.

Al Shahmani erzählt schlicht, ohne die große Geste, ohne den Leser*innen eine Bewertung oder Beurteilung aufzuzwingen, vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb sein Buch so eindrücklich ist.

In der Fremde sprechen die Bäume arabisch beginnt mit einer im Nachhinein witzigen Szene kurz nach seiner Ankunft in der Schweiz. Die schon seit Jahrzehnten in der Schweiz lebende Tante seines ebenfalls im Flüchtlingsheim untergebrachten Freundes fragt die beiden Männer, ob sie Lust haben, mit ihr einmal wandern zu gehen. Die beiden sind entsetzt. Wandern ist allenfalls noch als Bestandteil einer Pilgerreise vorstellbar, ansonsten fährt man lieber mit dem Auto oder bleibt daheim.

Es war für mich unbegreiflich zu hören, dass die Leute in der Schweiz einfach so zu Fuß gehen – in den Wäldern, Bergen, Tälern, auf schwierigen Wegen, um einfach nur zu wandern. Ich dachte, sie erzählt uns einen Witz, als sie uns berichtete, dass sie mit ihrem Mann fast jedes Wochenende wandern gehe. (S. 7, Taschenbuchausgabe des Unionsverlages)

Nun, bei dieser reflexhaften Ablehnung wird es nicht bleiben. Al Shahmani probiert es dann doch irgendwann aus und findet, was er vermutlich nicht erwartet hat. Das Wandern, genauer gesagt die Natur und vor allem die Bäume, trösten ihn. Ihnen kann er auf Arabisch erzählen, was ihn bedrückt, besorgt, beglückt und ängstigt. Seine große Freude, als er unvoreingenommenen SchweizerInnen begegnet, die ihm vertrauen und versuchen, ihm zu helfen und Mut zu machen, aber auch die Erfahrung, fremd zu sein, ausgebeutet zu werden, seine Verzweiflung, die Probleme beim innerlichen Ankommen in einem fremden Land und vor allem sein Heimweh.

Wenn ich das Wort ‚Heimat‘ ausspreche, steht vor meinem inneren Auge eine Dattelpalme. […] Dass die Dattelpalme aus meinem Leben verschwunden ist, seit ich in der Schweiz lebe, hat bei mir eine Lücke hinterlassen. (S. 124)

Seine ersten Arbeitserfahrungen als Hilfsarbeiter in verschiedensten Jobs bis hin zu der Tätigkeit in einem Beschäftigungsprogramm, bei dem forstwirtschaftliche Arbeiten im Wald erledigt werden müssen.

Ein Tauchgang in den Wald hilft mir immer wieder, die Vergangenheit ruhen zu lassen und an einen neuen Anfang zu denken. Neige dich und schwanke, sei wie die Bäume im Wind, verhalte dich wie ein Baum und lass alles fließen, denn alles wird vergehen. Auch das, womit du dich jetzt beschäftigst, ist vergänglich, sagte ich mir und betrachtete die Knospen an den Zweigen. (S. 80)

Dann die Erinnerungen an seine Kindheit und seine Geschwister. Besonders an seinen Bruder Ali, der sich weigert, Bagdad zu verlassen, wo er Französisch studiert und seine Freunde hat. Unter anderem deshalb will er nicht zu seiner Familie zurück in den Südirak, auch wenn es dort weniger gefährlich ist. Niemand in der Familie hat das notwendige Geld, um Ali ebenfalls zur Flucht ins Ausland zu verhelfen. Doch dann erfährt Al Shahmani im April 2006 von Naser, seinem zweiten Bruder, dass Ali verschwunden ist. Wie so viele im Irak, vermutlich direkt von der Straße weg verhaftet, verschleppt. Ein Trauma, mit dem nun die Familie im Irak und Al Shahmani in der Schweiz umgehen müssen.

Auf einem meiner Fotos steht der junge Ali in einer unermesslichen Wüste namens hemade. Der weite Horizont verleiht dem Bild eine große Tiefe, und der Horizont zwischen dem Blau des Himmels und der hemade sieht aus wie eine Linie zwischen Traum und Wahrheit. Er war im ersten Jahr seines Studiums. Sein ganzes Wesen strahlte eine bedingungslose Liebe zum Leben aus. Er freute sich, die französische Sprache und Literatur zu studieren. Einmal im Leben wollte er nach Paris reisen. (S. 176)

Alle Versuche, das Schicksal Alis in diesem vom Bürgerkrieg zerrissenen und korrupten Land aufzuklären, scheitern. Egal, wie häufig Naser die Gefängnisse, Krankenhäuser, Polizei, den Geheimdienst oder die Leichenhäuser aufsucht, in denen Menschen nach ihren zu Tode gefolterten Angehörigen suchen. Egal, ob man wertvolles Land verkauft, um Geld für einen Scharlatan zu haben, der sich brüstet, mit seinen guten Kontakten vielleicht doch etwas über den Verbleib des Verschwundenen herauszufinden. Die Mutter Alis wird über dem ungeklärten Schicksal ihres Sohnes fast verrückt.

Nicht nur der Regen, der Schnee und die Sonne, auch die Zeit hat im Wald eine andere Dimension. Den Regen im Wald zu erleben, hat meine Seele erfüllt, ich kam wie neugeboren heraus und fühlte mich erleichtert. Viele Schichten meines Leidens hat dieser Regen weggewaschen. (S. 110)

Die vernünftige Erkenntnis, dass man als Exiliraker nicht mehr davon träumen kann, irgendwann zurück in die Heimat zu gehen, da das Land so tiefgreifend zerstört ist. Dennoch sehne sich die Seele nach der Heimat. In den Worten eines irakischen Künstlers:

Meine Beziehung zum Irak habe ich für immer beendet – wie wenn man ein Grab zuschüttet. Frag mich nicht wieso, du musst selbst dorthin gehen. Die Diktatur lebt weiter in der Politik wie im sozialen Gewebe, und der Krieg hat die Menschen bis einem Grad verstümmelt, dass selbst der Gedanke, eine Reform zu versuchen, eine Art Verrücktheit geworden ist. (S. 106)

Weder hat Al Shahmani die Angst vor dem irakischen Sicherheitsdienst oder  den schwarzen Regen vergessen, der 1991 fiel, als Saddams Truppen beim Rückzug aus Kuweit die Ölquellen in Brand stecken ließ, noch den Fundamentalismus im Irak. Sein guter Freund Meran musste seine Geige immer bei den Nachbarn verstecken, da dessen Vater so religiös war, dass er weder Musik noch Instrumente duldete. Aber es geht auch um die Dankbarkeit und Hoffnung, mit der er sein Leben in der Schweiz gestaltet.

Ich bin der Fremde.
Ich habe Hoffnung
und einen Koffer voller Geheimnisse.
Beides trage ich und gehe,
wie ein Sufi, der geduldig
zu blühen versucht, wo immer
der Herr ihn hingepflanzt hat.
(S. 17)
Hier lang zu einem Interview mit Usama Al Shahmani.

Stefan Schwarz: Bis ins Mark – Wie ich Krebs bekam und mein Leben aufräumte (2022)

Ich bin kein Jürgen von der Lippe-Fan, aber sein Programm Lippes Leselust, das er zusammen mit Torsten Sträter auf die Bühne gebracht hat, war großes Kino (problemlos auf YouTube zu finden). Ich habe vor mich hin gekichert und – bitte nicht weitersagen – die Sendung am nächsten Tag gleich noch mal angeschaut. Im Anschluss habe ich unverzüglich eines der Bücher bestellt, die Sträter und von der Lippe vorgestellt haben, nämlich Bis ins Mark – Wie ich Krebs bekam und mein Leben aufräumte von Stefan Schwarz

Der Kolumnenautor Schwarz (*1965), Sohn eines Stasi-Generals, ehemaliger Mitarbeiter der TAZ, dann von dieser als ehemaliger Informeller Mitarbeiter enttarnt, erkrankte mit Mitte 50 unheilbar an Knochenmarkkrebs und hat darüber nun ein Buch geschrieben, von dem Schwarz in einem Interview selbst sagt:

Es ist keine fiktionale Geschichte, jedoch auch kein Tatsachenbericht. Knochenmarkkrebs ist nicht heilbar, aber am Horizont erscheinen Therapien, die eine sogenannte Chronifizierung ermöglichen, sodass man ein ordentliches Alter erreichen kann. Darüber schreiben wollte ich zunächst nicht, weil das mit einer Retraumatisierung einhergeht. Aber der Verlag hat mich ermutigt, ich könnte Humor und Verzweiflung an den richtigen Stellen einsetzen. Vielleicht wird es dadurch ja auch eine Handreichung für Menschen, die ebenfalls durch so was durch müssen. Man hat viel Zeit, über sein Leben nachzudenken, und mir tut es gut, mal draufzugucken, wie unentspannt ich durch mein Leben gegangen bin. Außerdem wollte ich, dass meine Kinder einen Vater haben, der da schließlich etwas buddhistischer rausgeht.

Ich finde, man wird diesem Buch nur gerecht, indem man es liest. Wie macht der Autor das bloß? Es ist so lebensvoll, lebendig. 

Ich bin ausgeschlossen aus dem Kreis der Gesunden, der nachlässig durch ihr Leben eilenden oder schlendernden Existenzen, die eine gefühlte Unendlichkeit vor sich herschieben. (S. 33)

Außerdem ist das Buch so allgemeingültig menschlich und ständig zog ich Querverbindungen zu meinem Leben, dabei haben unsere Lebenswege so gut wie nichts gemeinsam.

Das ist ja die schlimmste Nebenwirkung der Schriftstellerei, dass man sich beim Schreiben so unvermeidlich auf die Schliche kommt. […] Man schreibt sich auf und liest sich durch und lernt sich kennen, besser, als man sich je kennenlernen wollte. (S. 111)

Daneben ist es eine knallehrliche Bestandsaufnahme, ein Blick auf die Vergangenheit mit schmerzhaften Erinnerungen an Mutter und Vater, an Katastrophen, an den jahrelangen Sorgerechtsstreit mit seiner ehemaligen Frau und Fehler in der  Kindererziehung. Es geht um das Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit, um die Verluste, die das Älterwerden mit sich bringt. Und um unser aller Endlichkeit.

Genauso erlaubt das Werk aber auch ein Blick auf unser großartiges und dann wieder ganz gruseliges Gesundheitssystem und auf die Torturen und die Schmerzen bei der Chemotherapie und Stammzellenbehandlung, die Ängste, die Begrenzung des Raums und des Horizonts und die Verlangsamung, die die Krankheit einem aufnötigt.

‘Ihr Krebs ist unheilbar‘, sagt der Arzt. ‚Sie werden folglich daran sterben.‘ Gesprächseröffnung nach Dr. Doom. (S. 182)

Und jetzt, in diesem Moment vor diesem Arzt, bemerke ich gerade, dass ich von einer gewaltigen Aggressionswelle geflutet werde. Dass ich ganz neutral in mir Aggressionswellen bemerke, erkennt man bei mir übrigens daran, dass ich lächle. Sie werden auch an irgendwas sterben, denke ich lächelnd. Und weder Sie noch ich wissen, woran und wann. (S. 183)

Schließlich die Dankbarkeit, als er nach den vielen harten Krankenhauswochen zum ersten Mal wieder draußen für ein paar Minuten einfach in der Sonne sitzen kann. Prioritäten, die sich völlig verschieben.

Und uns, den Leserinnen und Lesern, wird gehörig die Brille geputzt. 

Wenn man gesund ist, weiß man ja alles besser. […] Krebs stopft einem das große Maul. (S. 132)

Das ist doch der ganze Sinn von Krebs. Dass man aufhört, sich und anderen was vorzumachen, dass man innehält und sich die Augen reibt. (S. 201)

Und vielleicht das Erstaunlichste daran: Das Werk ist alles andere als ein „Doom and Gloom“-Buch. Es ist berührend, aber nicht larmoyant, es ist bissig, sarkastisch und wütend, ein Kampf um Würde und darum, nicht zu verzweifeln – auch nicht im Angesicht hilfloser und manchmal auch komplett empathiefreier Kommentare seiner Mitmenschen.

‘Was haben Sie eigentlich für einen Krebs?‘, fragt mich ein Gartenfreund über den Zaun, der schon vorab Nachricht von meiner Frau bekommen hatte.    ‚Knochenmarkkrebs!‘    ‚Ach, das hatte ein Freund von mir auch. Vor zwei Jahren. Ist aber schon tot.‘    ‚Na, das ging ja schnell‘, sage ich freundlich. Der Gartenfreund lebt auf. Offenbar konnte er mein Interesse an diesem Fall wecken. (S. 259)

Dann wieder liest es sich liebevoll und tröstlich und an anderen Stellen auch sehr, sehr komisch, mit einem Blick fürs Absonderliche, Schräge und Allzumenschliche. Und der Begriff „Raumteiler“ ist ab sofort nicht nur für x-beliebige Regale reserviert…

Das enge Herz der Welt wird einmal weit, und blumigere Naturen als ich fragen sich an dieser Stelle, warum wir uns nicht immer wie Todgeweihte (was wir sind, ist nur eine Zeitfrage) behandeln. (S. 151)

Hier gibt es ein Interview mit dem Autor auf SWR2.

 

Mariana Leky: Kummer aller Art (2022)

Da mich die Drolligkeit samt Okapi in Mariana Lekys Bestseller Was man von hier aus sehen kann (2017) eher irritiert und mit Misstrauen erfüllt hatte, war ich zunächst skeptisch ob all der begeisterten Stimmen zu ihrem neuesten Buch.

Doch was soll ich sagen: Nachdem ich Lekys gesammelte und bearbeitete Kolumnen aus Psychologie Heute, die jetzt unter dem Titel Kummer aller Art erschienen sind, gelesen habe, gelobe ich, auch alle eventuellen Folgebände unverzüglich anzuschaffen und zu lesen.

Hier werden unsere alltäglichen Kümmernisse und Freuden in kurzen Geschichten liebevoll aufgefächert, wir haben Flugangst, der Nachbar ist ein Scheusal, der geliebte Onkel wird irgendwann sterben. Aber – selten genug –  kann es auch passieren, dass wir plötzlich jemanden treffen, von dem wir gar nicht wussten, dass wir schon immer nach ihm gesucht haben, und dann denken wir:

‚Da bist du ja wieder‘ (S. 157)

Weitere Kümmernisse, die mit Lekys Buch ein wenig kleiner werden: Wir haben eine mittelprächtige Phobie, der Teenager hat den ersten weltgroßen Liebeskummer oder wir fragen uns, was wohl ein verpasstes Leben sein könnte. Manchmal können wir auch einfach nicht einschlafen und die richtigen Antworten auf Grobheiten und Unhöflichkeit fallen uns natürlich erst Stunden oder Tage später ein.

Die unangenehmste Phase [der schlaflosen Nächte], auch da sind sich Frau Wiese und ich einig, ist die, in der die Sorgen zuschlagen. Sorgen haben in durchwachten Nächten bekanntlich sehr, sehr leichtes Spiel, wie Halbstarke, die auf dem Schulhof einen Erstklässler vermöbeln. Bei Übermüdung kommt einem die Verhältnismäßigkeit abhanden: Alles ist plötzlich gleich furchtbar, die Weltlage genauso wie die unbeglichene Rechnung der GEZ. (S. 17)

In den Texten begegnen uns Menschen, die uns lieb und wert werden, wie Onkel Ulrich, ehemals Psychoanalytiker und Onkel der Ich-Erzählerin. Die reizenden Nachbarn Frau Wiese oder Herr Pohl mit seiner ständig zitternden Zwergpinschermischung Lori. Überhaupt tummeln sich im Familienkreis der Erzählerin so einige Psychologen und Therapeut*innen.

Als ich ein Kind war, sind wir oft mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Wenn mein Bruder und ich auf dem Rücksitz zu quengeln anfingen und meine Eltern die ewigen Benjamin-Blümchen-Kassetten nicht mehr hören konnten, sagte mein Vater oft: ‚Macht einfach die Augen zu und unterhaltet euch mit Bruder Innerlich.‘ Wir hatten keine Ahnung, wer Bruder Innerlich war, aber wir hatten sehr guten Kontakt zu ihm. (S. 19)

Der ein oder die andere Leserin mag die Geschichten möglicherweise als zu harmlos und betulich empfunden haben; Themen wie Gewalt, Krieg, Armut oder Menschenfeindlichkeit spielen hier allesamt keine Rolle. Doch es darf auch mal eine Nummer kleiner sein. Denn Leky schreibt so wunderbar emphatisch, freundlich, witzig, liebevoll, tröstlich und mit wunderschön schrägen Bildern, dass ich drohe, komplett im Kitsch zu versinken, wenn ich hier auch nur einen Satz mehr schreibe.

In der Ruhe liegt die Kraft, da liegt sie momentan nicht besonders günstig, denn die Ruhe habe ich offenbar zu Hause gelassen, deshalb habe ich auf die darin befindliche Kraft keinen Zugriff. (S. 69)

Aus aktuellem Anlass hier ein letztes Zitat:

Er [Onkel Ulrich] erzählt, dass früher, als er noch Psychoanalytiker war, die Friseurbesuche seiner Patientinnen oft mindestens eine Therapiesitzung in Anspruch nahmen. […] Für Frauen, erzählte Ulrich, spiele sich beim Friseur mitunter das Drama ihres Lebens nach. Man hat dem Friseur genau gesagt, wie man sein Haar haben möchte, aber er hat nicht zugehört oder einen nicht verstanden und hat einem etwas ganz anderes  an den Kopf geschnitten, und dann läuft man unverstanden und entstellt und wie mit Pech begossen nach Hause. (S. 59)

Das Fazit von Annemarie Stoltenberg auf NDR:

Das alles ohne Kitsch, liebenswürdig, fragil. Mariana Leky hat die Gabe, uns zu vermitteln, wie es gelingen kann, jeden Menschen so wahrzunehmen, wie er ist, ohne Besserwisserei, ohne „Ich würde doch nie“-Gemurmel. Das ist schön.

Ferdinand von Saar: Requiem der Liebe und andere Novellen (1958)

Wie das so ist, da laufen einem Bücher zu und Jahre später weiß man nicht mehr, wie, woher, wann und wozu. So ging es mir auch mit der antiquarischen Ausgabe der Novellensammlung Requiem der Liebe und andere Novellen des österreichischen Dichters Ferdinand von Saar, die ich jetzt endlich mal aus dem Regal gefischt habe. Die dreizehn Erzählungen dieses Bandes erschienen ursprünglich zwischen 1865 und 1905. 

Hatte ich zunächst einfach Lust auf „alte“ Literatur und eine entsprechende Sprache, war ich zunehmend gefesselt von der Frage, welches Ehe- und Frauenbild eigentlich in diesen Novellen vermittelt wird, die oft aus der Sicht eines männlichen Ich-Erzählers überliefert werden. So viel vorweg: Glücklich wird hier kaum jemand. Es wird entsagt, gemordet, geeifert, gesehnt und  fröhlich den eigenen Illusionen hinterhergerannt. Auch die Gesellschaft selbst ist dem Glück des einzelnen nicht gewogen. Ganz im Gegenteil.

Als ich um die Kirche bog, die gleichfalls geschlossen war, hatte ich den Friedhof voll schattender Weiden und Lebensbäume zur Seite. […] Ein einsamer Falter flatterte mir still über den Blumen voran, während ich hier und dort die Inschriften und Namen auf den schlichten Kreuzen las. Unter den Monumenten, deren es hier nur wenige gab, zog mich eines durch edle und ergreifende Einfachheit besonders an. Es war ein kleiner Obelisk aus weißem Marmor und stand, etwas abseits von den übrigen, unter einer breitästigen Tränenweide. Die Inschrift war in römischen Lettern, deren Vergoldung schon etwas gelitten hatte, eingehauen und lautete: Friederike Friedheim, geb. 16ten Januar 1829, gest. 30ten Mai 1846. Vor diesem Grabe stand ich lange. Wer war dieses Mädchen, das der Tod so früh gebrochen, das man vor mehr als einem Jahrzehnt hier bestattet hatte? Lebte ihr Angedenken fort im Herzen trauernder Eltern, im Geiste eines Mannes, dessen Jünglingsideal sie gewesen? Oder war sie verweht wie ein Duft, ein Klang im Gewühl und im Lärm des rastlos vorwärts drängenden Lebens, und nannte nurmehr der Marmor ihren Namen? (aus: Innocens, S. 67/68)

Immer dann, wenn ich schon mit den Augen rollen wollte angesichts scheinbar nicht hinterfragtem Chauvinismus und einengenden Frauenbildern, schafft es von Saar mit einer kleinen, aber wichtigen Wendung, manchmal sogar nur wenigen Worten der Geschichte eine ganz neue Bedeutungs- und Deutungsebene zu geben, die plötzlich Brücken in unsere Gegenwart schlägt und männliche Überheblichkeit und Illusionen entlarvt. Und Männer, die glauben, dass die Ehefrauen ihnen „gehören“ und keinen anderen „anzuschauen“ haben, gibt es schließlich heute wie damals.

Also, sehr gern gelesen; hier bekommt man nichts fertig serviert, sondern wird vermutlich auch beim zweiten Lesen noch Neues entdecken. Zumal die Erzählungen oft in die zeitgeschichtlichen Bedingungen eingebettet sind. Eine Novelle spielt beispielsweise unter den Steineklopfern, die das Material für eine neue Straße brechen, und unwillkürlich ist man bei Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters.

Sowohl Werkinterpretationen als auch die biografischen Angaben, die man im Internet zu dem Wiener Offizier Ferdinand von Saar (1833-1906) findet, sind erstaunlich dürftig; eine Biografie aus dem Jahr 1947 stammt von Marianne Lukas und Ein Poet aus Österreich. Ferdinand von Saar. Leben und Werk von Herbert Klauser erschien 1990. Und das, obwohl nicht nur Wien Geschichte Wiki, sondern auch die deutschsprachige Wikipedia seinen Rang als Erzähler betont, ja, ihn in seiner Bedeutung mit Ebner-Eschenbach vergleicht:

Er war einer der namhaftesten realistischen Erzähler an der Wende zum 20. Jahrhundert, ein Poet von feinster Stimmung und ein Meister novellistischer Technik. Er schilderte die k. u. k. Armee, die Wiener Gesellschaft und die Verfallserscheinungen der alten Monarchie mit psychologischem Scharfsinn. Seine von tiefer Menschlichkeit zeugenden Erzählungen sind meist autobiographisch getönt und stehen dem Stil des Wiener Impressionismus nahe.

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Christa Wolf: Sommerstück (1989)

Doch, doch auf buchpost wird auch noch gelesen.

Heute geht es um das 1989 erschienene Sommerstück von Christa Wolf (1929-2011). Ende der Siebziger hatte sie an der Arbeit zu diesem Buch begonnen, doch erst 1989 gab sie den Text – nach Überarbeitung – zur Veröffentlichung frei.

Es geht um einen Jahrhundertsommer Mitte der siebziger Jahre, bei dem sich nach und nach immer weitere befreundete Künstler und SchriftstellerInnen in und um ein Dorf in Mecklenburg ansiedeln, gemeinsam streiten, einander besuchen, ihre Häuser instandsetzen, nach alten Möbeln in den umliegenden Dörfern suchen und die Abende und Nächte wieder gemeinsam bei Wein und gutem Essen beschließen.

Damals, so reden wir heute, haben wir gelebt. Wenn wir uns fragen, warum der Sommer in der Erinnerung einmalig erscheint und endlos, fällt es uns schwer, den nüchternen Ton zu treffen, der allein den seltenen Erscheinungen angemessen ist, denen das Leben uns aussetzt. (.…] Heute, da die Endlichkeit der Wunder feststeht, der Zauber sich verflüchtigt hat, der uns beieinander und am Leben hielt – ein Satz, eine Formel, ein Glauben, die uns banden, deren Schwinden uns in vereinzelte Wesen verwandelte, denen es freisteht, zu bleiben oder zu gehen: Heute scheinen wir keine stärkere, schmerzlichere Sehnsucht zu kennen als die, die Tage und Nächte jenes Sommers in uns lebendig zu erhalten. (S. 9/10)

Hinter der Ich-Erzählerin Ellen und ihrem Mann Jan verbergen sich Christa und Gerhard Wolf und auch andere wichtige Personen wie Helga Schubert, die an Krebs erkrankte Maxie Wander oder Sarah Kirsch mit ihrem Sohn Moritz tauchen unter Pseudonym auf.

Der Freundeskreis schwelgt in der ländlichen Idylle, erfreut sich an blühenden Obstbäumen, am Säen und Ernten, an den Wegen in der Landschaft und seinen unzähligen Streitgesprächen und den Vorbereitungen des Essens. Gleichzeitig lässt Wolf keinen Zweifel daran, dass es – trotz des ausgekosteten Inselgefühls – keine vollkommene Rückkehr in eine unschuldige Zeit geben kann.

Höfe verfallen und ihr Freund Antonis schwatzt (und kauft) den Bauern alte, wertvolle Möbel ab. Der Dorfpolizist nutzt seine Macht als Vertreter der „Staatsmacht“ aus. Es gibt Tierquäler, die bewusst eine Katze verhungern lassen, oder Vandalen, die in leerstehende Häuser eindringen und aus Spaß die alten Kachelöfen zerstören. Und auf den Dorffesten, bei denen sie als Städter und Akademiker doch nie wirklich dazu gehören, ist für die Männer des Dorfes nichts wichtiger, als sich hemmungslos zu besaufen.

Es fehlt nicht an Hinweisen, dass dieser Sommer der Vergangenheit angehört.

Etwas würde sich verändern, heute sagen wir alle, wir hätten gewußt, daß es so nicht bleiben konnte. Die Häuser sind abgebrannt. Die Freundschaften sind lockerer geworden, als hätten sie auf ein Signal gewartet. Der Schrei, der uns in der Kehle saß, ist nicht ausgestoßen worden. (S. 135)

Außerdem bringt das Wissen, dass ihnen in der DDR doch Grenzen gesetzt sind, dass sie vielleicht gar nicht gebraucht werden, ihre Meinung nicht gehört, ja totgeschwiegen wird, und die Befürchtung,  sich möglicherweise nicht deutlich genug positionieren, einen melancholischen, manchmal auch selbstkritischen Ton in das Ganze.

Die Freunde diskutieren, ob man sich vielleicht gar nur deshalb in eine ländliche Umgebung zurückgezogen habe, da diese

einem nicht mehr melden konnte, wieweit man sich durch Selbstaufgabe verfehlte (S. 105)

Sei man so unbemerkt – in der Unfähigkeit zu handeln, im Zurücknehmen der eigenen Pläne und Entwürfe – schuldig geworden?

Plötzlich rührte sie [eine Trompetenmelodie] die Vergangenheit in ihr auf, ein Heimweh fast bis zu Tränen. Was ist mit mir los, fragte sie sich. Ein Gefühl, das sie vergessen hatte. Was schmerzt mich eigentlich. Daß ich mich gewöhnt habe, wie alle, niemals genau das zu tun, was ich tun will. Niemals genau das zu sagen, was ich sagen will. So daß ich wahrscheinlich, ohne es zu bemerken, auch nicht mehr denke, was ich denken will. Oder denken sollte. (S. 109)

Schließlich wird sich die SED 1976 weigern, die Resolution von diversen DDR-SchriftstellerInnen wie Stephan Hermlin, Sarah Kirsch, Christa Wolf, Gerhard Wolf, Volker Braun, Jurek Becker u.a. zu veröffentlichen, in der sie an die DDR-Führung appellierten, die Ausbürgerung Wolf Biermanns zu „überdenken“.

Sommerstück hat es mir zunächst nicht einfach gemacht. Die Verschlüsselung durch Pseudonyme, die aber wohl für Kenner der damaligen Freundes- und Literaturszene rasch zu entwirren sind, und vor allem das an ein Tagebuch angelehnte Schreiben, bei dem man keinerlei Hinweise oder Einordnungshilfen zu Namen, Orten und Gegebenheiten bekommt, gaben mir das Gefühl, unfreiwillig ein Puzzle legen zu sollen.

Gleichzeitig werden immer wieder die FreundInnen von damals angesprochen, ja geradezu beschworen: „Erinnert ihr euch?“ Das erweckt durchaus den Eindruck, ein persönliches, ein exklusives Buch zu lesen, das eigentlich gar nicht für Außenstehende bestimmt ist.

Aus irgendeinem Zusammenhang, der mir verlorenging, drang das Wort ‚Bewährung’ in mich ein. Ich habe keine Bewährung mehr. Was ich mache oder nicht mache, gilt. Solche Sätze denkt man, wenn der Schreck über sie nicht mehr unerträglich ist. (S. 218)

Dennoch, und es ist ein großes Dennoch: Nachdem ich mich erst einmal eingelesen, keinen Plot oder Handlungsfaden mehr gesucht und mich auf die Zeitsprünge und Andeutungen in der Erinnerung der Erzählerin eingelassen habe, haben das Werk und die Sprache, in der es erzählt wird, einen unwiderstehlichen Sog ausgeübt, nimmt Sommerstück doch das ganze Menschsein in den Blick, sei es unser Sich-Einrichten in zerstobenen Illusionen, die Erinnerungen an einen besonderen Sommer, das Eingestehen des Schuldigwerdens als Eltern, das Leben auf dem Land oder die kleinen und großen Nadelstiche der Freundschaft und schließlich unsere Endlichkeit.

Und allein für Stellen wie diese hat sich für mich die Lektüre schon gelohnt:

Auch die Zeit lief anders. Allmählich erst, wenn wir lange genug geblieben waren, erfuhren wir das neue Zeitmaß am eigenen Leib, nicht ohne ihm Widerstand entgegenzusetzen, denn die Befürchtung, etwas Wichtiges, das Wichtigste zu versäumen, an Tagen, an denen niemand auf uns einstürzt, nichts geschieht, nur die Färbung des Himmels sich ändert und die Stille zum Abend hin zunimmt – diese Angst ist uns tief eingeprägt. (S. 81)

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Ilse Helbich: Das Haus (2009)

Nach dem hinreißenden Ein Haus für einen Sommer von Axel Hacke schien mir  Das Haus von Ilse Helbich, der 1923 in Wien geborenen Publizistin, eine passende Folgelektüre.

Helbich kaufte 1985 nach ihrer Scheidung im österreichischen Schönberg auf Kamp die mehrere hundert Jahre alte, ehemalige Poststation und ließ sie nach und nach renovieren, wobei versucht wurde, den ursprünglichen Zustand behutsam wieder herzustellen.

Diesen Umbau und den Prozess des Sich-allmählich-daheim-Fühlens verarbeitet sie in dem autobiografisch gefärbten Buch Das Haus, das 2009 im Droschl Verlag erschienen ist.

Was sie sich wünscht, als sie jung war: Wäre ich ein Tischler, würde es mich reizen, die Anfertigung eines Tisches in allen Schritten zu beschreiben. Es würde sich um einen gewöhnlichen Esstisch handeln, einen soliden, mit einer Hartholzplatte, vielleicht aus Nussbaum, die Messerschnitte, Speck- und Rotweinflecke verträgt, natürlich mit einer Brotlade, und mit festen, ein wenig ausgestellten Tischbeinen, und vielleicht mit einer Querleiste für die müden Füße. Ein gewöhnlicher Esstisch für alle Tage, von dem ich hoffe, dass er noch Kindern und Kindeskindern dienen kann, wenn dann auch verbannt in ein Kellerstübchen oder eine Werkstatt. (S. 5)

Der schmale Band (140 Seiten) ließ mich allerdings insgesamt eher unbefriedigt zurück. Die einzelnen handwerklichen Schritte und Abschnitte bei der Renovierung des heruntergekommenen Gebäudekomplexes interessierten mich nur am Rande, zumal es im ganzen Buch keinerlei Fotos gibt.

Dazu kommt, dass die Erzählerin immer nur von sich in der Sie-Perspektive spricht, was zu einer Distanz führt, die ich oft als arg trocken empfunden habe. Persönliches, wie die Beziehungen zu Kindern und Enkeln, wird weitgehend ausgespart. Stattdessen werden eher die allmählichen Annäherungen an ihre neuen Nachbarn oder die Handwerker in den Blick genommen.

Was mich letztendlich bis zum Schluss bei der Stange gehalten hat, sind einzelne Sätze und Abschnitte gewesen, in der die Erzählerin etwas von ihrem Innenleben preisgibt, die schön und geerdet waren und eine Gelassenheit des Alters ausstrahlten, die mich sehr angesprochen hat.

Die Stunden rinnen, Minuten wie Tage. Die Ewigkeit eine Minute vorm Tod. Alle Schicksale, auch das ihre, nur eingeritzt in die Außenhaut eines Schweigeraumes. Was ist so anders geworden? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass die alte Hoffnungslosigkeit zergangen ist, die früher, wenn sie ein Herbstblatt zu Boden taumeln sah, sich eisern in ihr Herz grub und flüsterte: ‚Ende, Ende.‘ – Auch wenn dieses Sterben schön war.
Heute sieht sie lächelnd den Blättern zu, die vogelleicht dahinschweben in heiterem Lassen, und unter der neuen Spärlichkeit des Laubwerks der Himmel immer sichtbarer. (S. 136)

Hier gibt es ein lesenswertes Interview mit der Autorin (ab Seite 2).

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Axel Hacke: Ein Haus für viele Sommer (2022)

Ohne die begeisterte Besprechung auf Kulturbowle wäre Ein Haus für viele Sommer von Axel Hacke vermutlich unbemerkt an mir vorbeigezogen und das wäre jammerschade gewesen.

Obwohl ich nicht einmal zu dem Kreis enthusiastischer Italien-Fans gehöre, ist dieses liebenswürdige und rundherum menschenfreundliche Buch wie ein kleiner Urlaub im Geiste, entschleunigend, sonnig, aber auch berührend, poetisch, informativ, respektvoll dem Gastort gegenüber und dabei herrlich selbstironisch und wunderbar reich an Menschen mit ihren Geschichten. Worum geht‘s?

Der Schwiegervater Axel Hackes (*1956) hat vor 50 Jahren einen alten, schiefen und ständig pflegebedürftigen ehemaligen Wehrturm, den torre, auf der italienischen Insel Elba gekauft und eigenhändig renoviert. Seit ca. 30 Jahren verbringt nun Familie Hacke dort mehrmals im Jahr kürzere und längere Urlaube.

Die Insel ist nicht groß, aber sie hat alles, was eine Insel braucht. (S. 16)

Und wir verfolgen nun, wie das ist, wenn der Ich-Erzähler lernen möchte, nichts zu tun, oder bestimmte Mentalitätsunterschiede navigieren muss, Handwerker braucht oder einem Ziegenhalter klarmachen will, dass dessen Ziegen nicht noch einmal den kompletten Hackeschen Garten kahlfressen dürfen, und ihm gerade noch rechtzeitig einfällt, dass man das Gespräch vielleicht nicht auf konfrontativ-deutsche Art angehen sollte.

Ein paar Tage, nachdem Ziegenhalter Dante tatsächlich bereit gewesen war, den Zaun höher zu machen – wenn auch immer noch nicht hoch genug für Ziegen – steht Hacke dem Ziegenbock gegenüber.

Zwei Tage später bin ich wieder oben und krame in der Hütte herum. Als ich herauskomme, steht auf einmal der Ziegenbock vor mir (…) Ein Ziegenbock ist eine imposante Erscheinung. Große Hörner. Ich bin Städter, ich bin Ziegenböcke nicht so gewöhnt. Ich bin also angemessen beeindruckt und trete den geordneten Rückzug an. Ab in die Hütte, Tür zu. Ja, nun, aber so kann das nicht bleiben. Ich muss etwas unternehmen. Ich schnappe mir den Schrubber, der an der Wand lehnt, öffne die Tür wieder und gehe mit dem erhobenen Putzgerät auf die versammelten Tiere zu. (…) der Bock glotzt mich ungerührt an, als hätte er noch nie einen Deutschen mit einem Schrubber in der Hand gesehen. (S. 93)

Hacke möchte sich aber auch ein Beispiel an den stets hilfsbereiten Nachbarn nehmen, die immer Zeit für ein Schwätzchen haben, egal, ob der Deutsche gerade meint, zu ach so wichtigen Besorgungen unterwegs zu sein.

Dieser Raum ist ein Lager für alte, unverbrauchte Zeit. Und von dieser alten, unverbrauchten Zeit verbrauche ich jetzt ein Viertelstündchen mit Pietro. Wenn dir dieser kleine, überaus freundliche Mann auf die Nerven geht, dann stimmt was mit deinen Nerven nicht, denke ich. (S. 10)

Die Idylle wird geerdet durch alltägliche Widrigkeiten. Wildschweine plündern den Schrebergarten der Familie. Das Haus hat immer mal wieder einen Wasserschaden und die Familie muss ins nächste Hotel flüchten, während die Handwerker dem Problem auf den Grund gehen.

Die Straßen im Dorf sind schmal, die Garage liegt in einem arg ungünstigen Winkel, der einem keinen Platz zum Rangieren lässt, und ist ohnehin nur 8 cm breiter als der Fiat 500. Die Möwen hingegen scheinen die Schutzhülle des Schlauchboots zu lieben und dementsprechend vollgekleckert ist sie am nächsten Morgen. Was aber der Freude an den vielen auf dem Wasser verbrachten Tagen keinen Abbruch tut.

Hier, in diesem kleinen Dorf, lässt sich trefflich nachdenken über das Leben.

Aber mir gefällt der Gedanke, dass alles noch da ist, was hier mal war, und dass nur keiner genau weiß, wo. Auch die Zeit des wuchernden Tourismus wird bestimmt eines Tages vorbei sein. Und was dann? (…) Tausende von Jahren. Und jetzt ist das unser Moment hier: die vielen Geschichten, die überall beginnen, vor meinen Augen, aber sie gehen irgendwohin, und ich habe keine Ahnung, wohin. (S. 123)

Genauso lernen wir aber auch etwas über die Geschichte der Insel, über Hippies und Künstler, Dichter, Forscher und Einzelgänger, über Erzabbau und die Entwicklung des Tourismus. Selbst auf die nervtötend lange Autofahrt von Deutschland nach Elba nimmt Hacke uns mit und wir freuen uns mit ihm, wenn alles wieder gut gegangen ist und er wie stets am ersten Urlaubsmorgen übermüdet mit einem Glas Wein am Küchentisch im Torre sitzt.

Was hat mich von anderen Reisen abgehalten? Bequemlichkeit? Lust an der Gewohnheit? Sparsamkeit? Angst vor dem Unbekannten? Vor der Welt? Provinzialität? Spießigkeit? (S. 33)

Am Ende hat sich für mich die Frage geklärt, warum er in den 30 Jahren, in denen er doch auch die Welt hätte bereisen können, immer wieder „nur“ zu seinem Torre in einem Dorf auf Elba gefahren ist.  

Die Antwort hat nichts oder nur sehr wenig mit Gewohnheit oder gar Spießigkeit zu tun. Wir alle kehrten gern in so ein Dorf zurück, wo man ein – hoffentlich – wohlgelittener Gast ist, der zwar das Stadium des Touristen hinter sich gelassen hat, aber dennoch weiß, was er dem Gastgeber schuldig ist. An einen hellen und warmen Ort, an dem man weder fremdbestimmt ist noch irgendwelchen Zielen hinterherrennt, sondern einfach den lieben langen Tag das tut, was man mag. Ein Ort, der dabei genügend Raum für Alleinsein, Familie, Alltag, Begegnungen, Geschichten und Ausgedachtes bietet.

Vorausgesetzt, man hört sich und den Menschen und ihren Geschichten so aufmerksam zu, wie Axel Hacke das hier getan hat. 

So mache ich es jetzt. Ich lege mich aus. Lasse anbeißen, was immer zum Anbeißen vorbeikommt. Vergeude ein paar Stunden. (S. 146)

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Deniz Ohde: Streulicht (2020)

Der Debütroman der 1988 in Sindlingen/Frankfurt geborenen Autorin Deniz Ohde wurde 2020 sowohl mit dem Aspekte-Literaturpreis als auch dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet.

Vermutlich ist vielen der Inhalt zumindest in groben Zügen bekannt: Eine namenlose Ich-Erzählerin, die man keinesfalls einfach mit der Autorin gleichsetzen darf, kehrt an den Ort ihrer Kindheit  in einem Frankfurter Industriegebiet zurück, um an der Hochzeit ihrer zwei Jugendfreunde Mikka und Sophia teilzunehmen. Sie besucht dort ihren inzwischen verwitweten Vater und erinnert sich an ihre maximal trostlose Kindheit in einem kaputten und spracharmen Elternhaus.

Der Vater hat 40 Jahre in einer Fabrik malocht, sich, seiner türkischen Frau und seiner Tochter jedes Wünschen und  Streben nach mehr verboten. Er ist Kettenraucher, wird zum Trinker, geht allen menschlichen Kontakten aus dem Weg und müllt allmählich die ganze Wohnung zu. Er ist jähzornig und gewalttätig. Ständig fliegt Geschirr durch die Küche.

Die Mutter, die einst so mutig aus der Türkei aufgebrochen war, hat keine Ressourcen, ihre Tochter zu schützen oder ihr Möglichkeiten aufzuzeigen. Sie bringt ihr kein Türkisch bei, damit die Tochter ganz deutsch sei und so vor Rassismuserfahrungen geschützt sei. Das funktioniert natürlich nicht und die Tochter wird in der Schule von Lehrkräften und Mitschülern mal subtil, mal weniger subtil mit Vorurteilen, Ausgrenzung und der Haltung konfrontiert, dass man ihr als halber Türkin und Proletenkind keine guten  Schulleistungen zutraut.

Dass der Vater genau das ungewollt stützt, indem er ihr schon früh davon abrät, freiwillige Zusatzaufgaben zu bearbeiten, da sich Anstrengung ja doch nicht lohne und sie eben einfache Leute seien, und indem er so viel raucht, dass ihre Kleidung ständig nach Rauch stinkt, macht den Aufenthalt in der Schule für seine Tochter nach und nach zur Qual. So geht sie irgendwann ohne Schulabschluss ab und schafft es erst Jahre später, doch noch das Abitur nachzuholen und dann sogar ein Studium zu beginnen.

Die Ich-Erzählerin nimmt so etwas wie eine Inventur ihrer Bildungsgeschichte und der äußeren und inneren Hindernisse, die ihr entgegenstehen, vor. Das passiert anschaulich und nachvollziehbar aufgrund ihrer Beobachtungsgabe, der Vergleiche mit dem Zuhause ihrer in bürgerlichen Verhältnissen aufwachsenden Freunde Sophia und Pikka und den vielen, zum Teil berührenden Szenen aus Schule und Freizeit.

Die Zerrissenheit des Kindes, das sich nie ganz sicher und geliebt fühlen darf, die daraus entstehenden Ängste, die Orientierungslosigkeit und Entfremdung werden geradezu schmerzhaft deutlich. In der Schule wird dem Mädchen vorgeworfen, zu still zu sein, sich nicht genügend zu engagieren, doch wie soll das funktionieren, wenn gefühlt das Überleben zu Hause davon abhängt, unsichtbar und unhörbar zu sein, um dem Vater keinen Anlass für einen seiner Ausbrüche zu geben?

Sie kann keine Freunde mit nach Hause bringen, die Wohnung wird gegen Außenstehende regelrecht bewacht und abgeschottet, die kaputte Jalousie nicht repariert, dann kann auch keiner reingucken.

Wie soll das Mädchen in ihr  Frausein finden, wenn die Mutter ihr nicht glaubt, dass sie bereits menstruiert und sie sich zunächst mit kleinen Slipeinlagen behelfen muss, ohne zu wissen, dass es Tampons oder Binden gibt? Also muss sie in der Schule alle paar Minuten zur Toilette.

Das Buch ist nicht perfekt, an manchen Stellen schienen Szenen nur noch wahllos und repetitiv aneinander gereiht, es gab – wenn auch selten – platte Pauschalisierungen, und die Leser*innen können in dieser Traurigkeit kaum einmal aufatmen.

Mir fehlte das Austarieren der verschiedenen Zeitebenen: Blickt die junge Studentin, die nun zur Hochzeit ihrer alten Freunde kurzzeitig zurückkehrt, wirklich mit dem gleichen Blick auf ihre Umgebung und ihren Vater wie sie das als hilfloses Kind getan hat, das es nicht anders kannte?

Und vor allem, was waren – abgesehen von der enormen Beobachtungsgabe und dem Tagebuchschreiben – die Ressourcen der Erzählerin, ihre Kraftquellen, die sie letztendlich doch – wie mühsam auch immer – dazu befähigt haben, den Schulbesuch wieder aufzunehmen und ihr Abitur zu machen? Darüber schweigt sich das Buch leider aus, eine Leerstelle, die ich sehr bedauert habe.

Dennoch pulst eine Energie durch das Werk, die einen weiterlesen lässt, das stille Buch hallt noch Wochen später nach und seine schmerzliche Bestandsaufnahme ärgert mich, macht mich traurig und spricht mich an, spricht zu mir. Es ist unbedingt lesenswert, denn man kann etwas über unsere Gleichgültigkeit lernen, über Schulen, über eine verletzte Kinderseele und beschädigte Identitäten. Man schaut auf einmal ein wenig genauer hin. Eigentlich eine Pflichtlektüre für alle angehenden Lehrer und Lehrerinnen. Für BildungspolitikerInnen sowieso.

Der letzte Satz des Buches gehört übrigens dem Vater. Als seine Tochter nach ihrem Besuch bei ihm wieder aufbricht, sagt er ihr zum Abschied: „Wenn‘s nichts wird, kommst wieder heim.“ Seine Skepsis, dass es jemand aus seiner Familie tatsächlich „schaffen“ könne, und gleichzeitig die geradezu zärtliche Versicherung, dass sie jederzeit wieder zurückkommen dürfe und die Tür ihr offen steht.

Der Vorwurf der Humorlosigkeit und Larmoyanz, den Denis Scheck in der Sendung Lesenswert vom 17. Dezember 2020 erhob, ist absurd. Sein mit unfassbar arroganter Attitüde vorgetragener Verriss, in dem er auch gleich noch seine fundiert argumentierenden KollegInnen Ijoma Mangold, Sandra Kegel und Insa Wilke der Unfähigkeit bezichtigte, zeigt, dass Lesen eben nicht automatisch zu mehr Empathie, Lernbereitschaft oder Weltverständnis führt.

Nicole Seifert vermutet in dem Artikel Schweig, Autorin – Misogynie in der Literaturkritik auf 54 Books, dass sich bei Scheck eine frauenfeindliche Haltung gegenüber jungen und erfolgreichen Autorinnen austobe. Eine weitere Erklärung für seine wilden Behauptungen, die er an keiner Stelle begründet, könnte sein, dass Scheck einfach keine Menschen mag bzw. literarisch kennenlernen möchte, die in solchen Verhältnissen wie die Ich-Erzählerin aufwachsen.

Seine offensichtliche Überzeugung, dass jedem in Deutschland die gleichen Möglichkeiten des Aufstiegs offen stehen, geriete dann möglicherweise ins Wanken, denn wer’s nicht schafft, soll halt – egal, wie jung –  immer schön die Schuld nur bei sich selbst suchen. Mit Juli Zeh einen kleinen Reitausflug zu unternehmen oder Größen wie Peter Bichsel oder gar Margaret Atwood zu besuchen, sagt ihm da vielleicht eher zu. Die Begründung seiner Ablehnung ist und bleibt jedenfalls abenteuerlich:

Dieses Buch ist banal, oberflächlich und unglaublich larmoyant. Diese Autorin ist so humorfrei, so frei von einer Spur von Geist und Eigenständigkeit in der Intellektualität, dass ich ihr eine große Zukunft in der deutschen Gegenwartsliteratur prophezeien kann, solange es solche Kritiker gibt. […] Das ist reiner Sozialkitsch. […] Es ist wirklich unerträglich, dass die Ich-Erzählerin die Gründe für ihr soziales Scheitern, für ihr berufliches Scheitern als Schülerin sozusagen überall sucht, nur nie bei sich selbst. […] Diese Frau kann nicht denken. […] Wir leben hier in einer Gesellschaft, die eine große Möglichkeit des Aufstiegs einräumt. Das möchte ich doch in irgendeiner Weise von einer Figur auch mitreflektiert haben.

Hier noch eine treffliche Besprechung von Ingo Eisenbeiß auf der Seite des Deutschlandfunks und Claudia vom Grauen Sofa geht detailliert auf die unsichtbaren Wände ein, die ein unter solchen Umständen aufwachsendes Kind von der Umwelt trennen.

Zum Schluss, weil die Frage der Autorin immer wieder gestellt wird:

Was hat das traurige Mädchen im Zentrum des Buches mit der Biografie von Deniz Ohde zu tun? „Von mir steckt da vor allem der Blick drin, den ich auf meine Umgebung werfe.“ Doch so traurig wie ihre Hauptfigur sei sie keineswegs. Und sie fühle sich auch nicht „am Nullpunkt“ wie ihre Erzählerin. Und die Figuren der Eltern im Roman entsprächen auch nicht ihrem türkischen Vater und ihrer deutschen Mutter in der Wirklichkeit. Darauf lege gerade ihre Mutter Wert: „Die lebt nämlich noch.“ (Das Glück und das Pech der guten Erinnerung, Frankfurter Rundschau)

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Skulptur am Eingang der Stadtbibliothek in Creglingen

Margrit Baur: Überleben (1981)

Dieses spröde, strenge und doch so spannende Buch der Schweizer Schriftstellerin Margrit Baur (1937 – 2017) mit dem Untertitel Eine unsystematische Ermittlung gegen die Not aller Tage wäre mir ohne die Empfehlung von Magda Birkmann in ihrem Jahresrückblick nie untergekommen. 

Margrit Baur, zu der es im Netz nur dürftige Infos gibt, wird in diversen Literaturgeschichten erst gar nicht genannt. Ihre Werke sind nur noch antiquarisch zu bekommen.

Die Ich-Erzählerin hält quasi protokollarisch fest, wie sie dagegen anrennt, Lohnarbeit verrichten zu müssen, obwohl sie etwas ganz anderes tun möchte, nämlich schreiben. Schon auf der ersten Seite heißt es:

Nächstes Jahr werde ich vierzig. Das Behagen, das ich mir vom Älterwerden erhoffte, hat sich nicht eingestellt. Ich habe mich nicht gewöhnt: nicht an die Welt, nicht an mich in ihr. Ich habe versucht nachzuhelfen, mich einzurichten: fester Wohnsitz, festes Einkommen, fester Freund; ich habe mich mit all dem Festen zusammengerührt und gewartet, daß ein Behagen draus werde. Es wurde nicht. (S. 7)

Die unsystematische Ermittlung hangelt sich assoziativ an ihrem täglichen Ergehen entlang, da geht es immer wieder um die eintönige und verhasste Arbeit als Korrektor für Zeitungsanzeigen. Dieses Nebeneinander von Lohnarbeit und Schreiben kennzeichnete im Übrigen auch das Leben der Autorin.

Ich weiß: Ich und was mir passiert, das ist nichts Besonderes. Doch statt daß mich das tröstet, bringt es mich auf. Ich sehe: die Ohnmacht, die sich aus der Tatsache ihrer Alltäglichkeit und Allgemeinheit selbst sanktioniert. Was alle täglich leiden, kann kein Leiden sein. Das Nicht-Besondere ist nicht der Rede wert. Man kennt es und will es vergessen. (S. 107)

Aber auch der „echolose Raum“ der Einsamkeit wird zum Thema, die Unmöglichkeit, mit Hilfe der Sprache in Kontakt zu kommen, sich so auszudrücken, dass ein Missverstehen ausgeschlossen ist.  Gleichzeitig gibt sie zu: 

Aber es stimmt schon: Ich habe die Menschen nicht sehr gern. (S. 30)

Was mich täglich überrascht, ist die Unbefangenheit, mit der die Leute Gespräche führen. (S. 22)

Die Erzählerin beschreibt das Wetter oder macht sich ihre Gedanken zur Trennung zwischen privat und öffentlich und zur Distanz, die sie gegenüber ihren Kollegen empfindet. Sie versucht der Entfremdung zwischen ihr und ihrem Freund auf den Grund zu gehen, der ansonsten – so wie andere Bekannte oder Familienmitglieder – außen vor bleibt, und erwähnt die Bemühungen um eine andere Arbeitsstelle.

Hier will jemand seiner „Beklommenheit auf die Spur kommen“ (S. 13), und das scheint nur aus einer bestimmten Distanz heraus möglich zu sein. Das liest sich streckenweise spröde, sehr häufig in der „man“-Formulierung und manchmal sich selbst entfremdet, wenn die Ich-Erzählerin beispielsweise einen Kollegenausflug schildert, bei dem die Möglichkeit auf echte oder freundschaftliche Begegnung von vornherein kategorisch ausgeschlossen wird. Sie weiß sowohl um die Gefahr, zynisch zu werden, als auch um die Gefahr des Rückzugs.

Schon fange ich an, mich im Dämmer der verdunkelten Wohnung wohl zu fühlen. Eine Art Höhlengeborgenheit stellt sich ein. Abgeschieden vom Draußen und nun wirklich herausgelöst aus aller Umwelt, entdecke ich den gefährlichen Reiz des Rückzugs. Daß ich den Demütigungen und Verletzungen so gänzlich entzogen bin, scheint sogar den Verzicht auf mögliche Verständigung aufzuwiegen. (S. 43)

Meine freien Tage verbringe ich fast ausschließlich lesend – auch das eine Form der Betäubung und der Flucht. Ich mag mich nicht meinen eigenen Gedanken überlassen; denn am Ende aller Überlegungen steht die Notwendigkeit, mein Leben zu ändern, neben der Unmöglichkeit, es zu tun. Ich sitze fest. Wer würde dieser Einsicht nicht davonlaufen wollen? (S. 93)

Ein Erzählen fast ohne Spannungsbogen, ohne Handlung, aber um jeden Satz, jede Formulierung kämpfend, als ob da jemand ständig mit dem Kopf durch die Wand will und empört darüber ist, dass die Gesellschaft ihr die Zeit mit sinnlosen Tätigkeiten stiehlt, nur damit sie ein halbwegs ausreichendes Einkommen hat. Manchmal scheint sie geradezu beleidigt, dass man ihren wahren Wert nicht besser zu schätzen weiß, ihr mit fast 40 Jahren nichts Adäquates anzubieten hat. Natürlich hat auch sie für dieses Dilemma keine Lösung oder einen neuen Gesellschaftsentwurf parat. Gleichzeitig beeindruckt mich, dass sie sich nicht gewöhnen und abfinden will.

So viel, das ich noch will. Auch in diesen Herbst hinaus will ich, der mir jeden Morgen seine durchsichtigen Nebel vors Fenster hängt. […] Zwischen Wasser und Wald den verschwimmenden Umrissen der Hügel nachsinnen und mich selbst für eine Weile ins Unscharfe betten. Zeit haben. Still das Gesicht hinhalten, wenn beim unvermittelten Durchbruch der Sonne aller Glanz über mich herabstürzt. (S. 178)

Sie besteht auf einem inneren Raum, der nur ihr gehört, auch wenn sie darunter leidet, dass die alltägliche Arbeit im Büro sie müde macht und dann eigene kreative Arbeit kaum mehr möglich ist. Nur selten die Muße, etwas zu tun, was niemandem nützt.

Das Gescheite hängt mir zum Hals heraus. Ich werde mich jetzt über die Ansprüche der seriösen Leute hinwegsetzen und ein Bild malen. In Öl. Das kann ich zwar auch nicht, aber ich mache es gern. (S. 149)

Selten habe ich mir in einem so schmalen Band so viele Stellen markiert wie hier. 

Es ist wahr, meine Situation ist nicht danach, um mit Begeisterung Ich zu sagen. Ich bin nicht sehr überzeugt von der Person, die da in meinen Schuhen herumläuft. Aber trotzdem müßte sie als ein lebendiges, atmendes Wesen in irgendeiner Weise dingfest zu machen sein. Sie kann sich nicht dauernd außerhalb meiner Formulierungen herumdrücken, nur weil sie Angst hat vor dem Befund. (S. 17)

Am Ende möchte man sich in Nachahmung Baurs jeden Tag ein wenig Zeit nehmen und versuchen, so präzise, so unmissverständlich und schonungslos wie einem eben möglich, ein Fazit des Tages zu ziehen.

Weiterreden. Auch wenn mich das Klimpern in den eigenen Sätzen manchmal entmutigt. Das Schwätzen ist nicht so leicht abzustellen. (S. 143)

Man kann sich um das mühsame Schritt-vor-Schritt seiner Tage nicht drücken. Das will nun gelebt sein, und keiner nimmt es uns ab. (S. 167)

Nicht nur in dem zum Ausdruck gebrachten Unbehagen an fremdbestimmter und oft genug sinnfreier Tätigkeit empfinde ich das Buch als zeitlos:

Wenn mich schon vom Montagmorgen an nur die Erwartung eines noch sehr fernen Freitagabends aufrechterhält, […] wenn der ganze Arbeitstag hinterher nur eine Leerstelle im Gedächtnis ist, so kann man das möglicherweise überstehen – leben kann man das nicht. Da erweist sich jeder Tag als ein Loch, am Abend notdürftig zugeschüttet, doch am Morgen fällt man auf neue hinein. (S. 52)

Was für eine Welt, in der für Unzählige der Begriff von Freiheit mit dem Freitagabendgefühl identisch ist. (S. 32)

Kurz gesagt: Das Buch gehört neu aufgelegt. 

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Sven Stricker: Sörensen hat Angst (2016)

Da hatte ich doch im Januar 2021 die Erstausstrahlung von Sörensen hat Angst, des preisgekrönten Regiedebüts von Bjarne Mädel, verpasst. Aber diese Panne ließ sich dank Mediathek beheben, anschließend festgestellt, dass es sich dabei um die Verfilmung eines Kriminalromans des Schriftstellers und Hörspielregisseurs Sven Stricker handelt. Buch gekauft, gelesen und danach die zwei weiteren bisher erschienenen Bände inhaliert.

Ab sofort kann Stricker meinetwegen bis zu meiner und Sörensens Pensionierung Sörensen-Krimis schreiben, denn das dürfte das erste Mal sein, dass ich einen Kriminalroman gleich wieder von vorn beginnen würde, obwohl ich die Auflösung ja jetzt kenne. Vermutlich fallen einem dann noch viele weitere feine Details auf.

Und natürlich müssen die weiteren Bände von und mit Bjarne Mädel verfilmt werden. Doch um was bzw. wen geht es nun eigentlich?

Sörensen ist ein mittelalter Kriminalhauptkommissar mit einer veritablen Angststörung, die ihm schon sein Familienleben geschreddert hat. Seine Frau hat sich von ihm getrennt und seine kleine Tochter Lotta sieht er dementsprechend viel zu selten. Um allmählich wieder Tritt im Berufsleben zu fassen, nachdem er psychisch angeschlagen längere Zeit hatte aussetzen müssen, lässt er sich von Hamburg nach Katenbüll in Nordfriesland versetzen.

Dort, so hofft er, kann er eine ruhige Kugel schieben, doch – wie könnte es anders sein – schon kurz nach seiner Ankunft wird der Bürgermeister Katenbülls in seinem eigenen Pferdestall ermordet aufgefunden. Und so muss Sörensen, der schließlich seine Angststörung immer noch im Gepäck hat, sich möglichst rasch mit seiner Mitarbeiterin Jennifer Holstenbeck und dem Streber-Praktikanten Malte Schuster zusammenraufen, um herauszufinden, was tatsächlich in dieser eher trostlos wirkenden Kleinstadt vor sich geht.

Was mich hier so beeindruckt – und das gilt genauso für die weiteren Bände Sörensen fängt Feuer (2018) und Sörensen am Ende der Welt (2021) – ist diese hinreißend lässige, süchtig machende Mischung aus lakonischem Understatement und den differenziert ausgearbeiteten Figuren, die einem bei der Lektüre unversehens zu Menschen aus Fleisch und Blut werden, an deren Ergehen man Anteil nimmt. Ja, und spannend ist das Ganze natürlich auch, mit toll ausgearbeitetem Plot, zumal der Autor seine Fälle da ansiedelt, wo das gesellschaftliche Grauen hinter unseren spießigen deutschen Fassaden wohnt.

Stricker nimmt sich Zeit für seine Figuren, es geht weder um schnelle Action, Gemetzel oder billigen Klamauk. Selbst im Stau mit Sörensen zu stehen ist nicht langweilig, da Sörensen sein Gedankenkarussell nur ganz schlecht anhalten kann:

Kurz bevor sein Unmut autoaggressive Züge annehmen konnte, versuchte er die andere Seite zu betrachten, wie man es ihm geraten hatte. Vielleicht hatte es einen Unfall gegeben, dachte er. Das war bestimmt kein menschliches Versagen hier, sondern ein Unfall. Genau. Ein Unfall. Stand ja niemand freiwillig dumm in der Gegend herum. Schlimm war das. So ein Unfall. Viel schlimmer, als einfach nur sinnlos herumzustehen und sich selbst auf die Nerven zu gehen. Irgendjemandem da vorne ging es jetzt wahrscheinlich richtig schlecht. Vielleicht sogar mit Blut, Schweiß und Tränen und eingedrückter Windschutzscheibe. Da wollte er mal besser nichts gedacht haben. Und übte sich in Gleichmut, während seine Finger sich ins Lenkrad krallten. (S. 16)

Sörensen ist aber auch ein Kämpfer, der sich nicht von seiner Angst unterkriegen lassen will. Er beobachtet und hinterfragt quasi pausenlos sich und sein Tun und steht sich damit natürlich oft genug selbst in der Sonne, wobei es in Katenbüll sowieso meistens regnet. Und Cord mag ich auch. Natürlich.

‚Denn jeder Kopf ist ein eigenes Universum. Für Menschen, die noch nie in Katenbüll waren und nie etwas darüber gelesen oder gehört haben, existiert das gar nicht. Katenbüll. Unabhängig davon, ob da irgendwo ein paar Steine und Menschen in der Gegend herumstehen oder nicht. Was sich nicht in deinem Gehirn festsetzt, ist nicht da. Zumindest nicht in deiner Welt. Es gibt nichts außerhalb deines eigenen Gehirns. Wir sind alle in sich abgeschlossene Systeme. Verstehst du, was ich meine?‘ Jennifer zeigte ihm den Vogel […] ‚Philosophie-Grundkurs auf der Müllkippe. Super, Sörensen. Ich würd jetzt gerne mal raus hier.‘ Sörensen nickte. Das war eine angemessene Reaktion, das musste man zugeben. (S. 208)

Hier noch ein Interview mit Stricker und Mädel, das auch auf die Rolle der Angststörung, an der Sörensen leidet, näher eingeht.

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Constanze Scheib: Der Würger von Hietzing (2021)

Der Kulturbowle verdanke ich den schönen Hinweis auf eine neue Ermittlerin im Krimibereich: Die Wiener Schauspielerin und Autorin Constanze Scheib (*1979) schickt Helene Ehrenstein, eine  32-jährige Dame aus den feinsten Kreisen, im Wien der siebziger Jahren auf Verbrecherjagd.

Helene langweilt sich schon lange in ihrer Ehe mit dem steifen, aber wohlhabenden Oskar. Auch die gelegentlichen Zoo-Besuche mit ihrem Sohn Willi, Shoppingtouren mit ihren zwei Freundinnen und die morgendliche Inspektion des Dienstpersonals lasten sie längst nicht mehr aus. Da erfährt sie von einer Einbruch- und Mordserie, die gar nicht weit von ihrer Villa schon mehrere ältere Frauen das Leben gekostet hat.

Der „Würger von Hietzing“ hat auch die Tante ihres Dienstmädchens Bianca auf dem Gewissen. Also beschließt Helene kurzerhand, ausgestattet mit Stöckelschuhen, Perlenkette, reichlich Naivität und Unternehmungslust sowie der Hilfe ihres bodenständigen zweiten Dienstmädchens Marie den Täter dingfest zu machen.

‘Jemand muss etwas unternehmen! Und was ich auf den Tod nicht leiden kann, sind Leute, die sich nur aufpudeln und sich zu fein sind, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.‘ (S. 40)

Das allerdings erweist sich als schwieriger als gedacht und die Lektüre vieler Krimis und eine Vorliebe für Whisky und Miss Marple sind dabei gar nicht immer so hilfreich. Dass man dabei sogar in Gefahr kommen und – noch viel schlimmer – andere in Gefahr bringen kann, zeigt sich im Laufe der etwas chaotisch geführten Ermittlungen immer deutlicher. 

Das Aufeinanderprallen der verschiedenen sozialen Schichten, die Situationskomik und das Lokalkolorit machen einfach Laune. So habe ich zum Beispiel gelernt, was eine Bassena ist. Und Marie hat mehr als einmal den berechtigen Eindruck, dass ihre „Gnä’ Frau“ doch weit weg vom Leben der normalen Leute ist. Aber Helene lernt dazu und lässt sich auf neue Milieus mit Begeisterung und echtem Interesse ein, selbst wenn das bedeutet, mal skandalös angeschickert bei ihrer Frisörin aufzutauchen.

Zwar hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin ihre Hauptfigur besonders in den ersten Kapiteln etwas ernster genommen hätte und die Schreibung der Anredepronomen vom Kampa Verlag sorgfältiger lektoriert worden wäre. Aber das wurde wieder wettgemacht durch die geschickte Verwendung des Wiener Dialekts, der nicht nur die Personen charakterisiert, sondern mir als Unkundiger einfach auch viel Spaß gemacht hat. Allein das Verb „aufpudeln“ ist doch schon großes Kino. Definitiv ein unterhaltsamer Krimi für ein verregnetes Wochenende.

 

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785-1790)

Heute mal ein literarischer Ausflug ins 18. Jahrhundert. Es geht um den Entwicklungsroman Anton Reiser (1785-1790) von Karl Philipp Moritz.

Zehn Jahre lang gab Moritz das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde heraus, das sich zum Ziel gesetzt hatte, psychologische Ansätze zu etablieren. In dieser Zeitschrift sollte die Geschichte um Anton Reiser ursprünglich veröffentlicht werden. Anton Reiser wird tatsächlich häufig als erster psychologischer Roman der deutschen Literatur bezeichnet. Schon in der Vorbemerkung des Autors heißt es:

Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt, und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten; denn es soll die vorstellende Kraft nicht vertheilen, sondern sie zusammendrängen, und den Blick der Seele in sich selber schärfen.-

Es überrascht daher nicht, dass die fiktive Geschichte, in der es um die ersten 20 Jahre des Anton Reiser geht, der des Autors in vielerlei Hinsicht ähnelt. Auch Moritz (1756 – 1793) kam aus ärmlichen und stark vom Pietismus geprägten Verhältnissen. Da kein Geld für Schulbildung da war, wurde Moritz – wie seine Hauptfigur – in eine Hutmacherlehre in Braunschweig gegeben, in der er entsetzlich litt, nicht zuletzt, weil die Arbeit körperlich oft über seine Kräfte ging, er den religiös verblendeten Schikanen seines Chefs ausgesetzt war und er es als demütigend empfand, mit Waren beladen wie ein Tragtier durch die Stadt laufen zu müssen.  

Nicht nur auf Karl Philipp Moritz, sondern auch auf die Romanfigur Anton Reiser wird ein Pfarrer aufmerksam. So wird Anton der Besuch des Gymnasiums ermöglicht, doch selbst der so dringlich ersehnte Schulbesuch ist für ihn eine Qual, da er von den Söhnen aus wohlhabenderem Elternhaus nicht akzeptiert und zum Teil gemobbt wird. Ständig wird er von Gefühlen der Unterlegenheit, der Scham und Wut geplagt, vor allem wenn ihm an den täglich wechselnden Freitischen signalisiert wird, dass er für diese Brosamen dankbar zu sein habe und er der Familie, bei der er seine Unterkunft hat, eigentlich doch sehr zur Last falle.

Nur in der Welt der Bücher kann Anton von Kindheit an an dem Leben teilhaben, das ihm vorschwebt, nur dort kann er alle Gefühle ausagieren.

Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche. So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können. (S. 17)

Und so kommt es, dass er sich Jahre später als Gymnasiast immer stärker verschuldet, nur um sich Bücher ausleihen zu können. Er beginnt den Unterricht zu schwänzen und lange Wanderungen zu unternehmen, um wenigstens für ein paar Stunden in seiner idealen Welt zu sein. Schließlich entdeckt er – wie auch der Schriftsteller Moritz – seine Leidenschaft für das Theater. Er ist sich sicher, zum Schauspieler berufen zu sein, doch der allwissende Erzähler lässt schon hundert Seiten vor dem Ende der Geschichte keinen Zweifel daran, dass das eine Illusion ist. Die vermeintliche Berufung ist nichts anderes als eine Folge fehlender Selbsterkenntnis. Nur weil man in der Fantasiewelt der Bücher, des Theaters glücklich sei und mit ihnen der „realen“ Welt entfliehen könne, kurz, weil das Theater die ungestillten Sehnsüchte des Melancholikers nach wirklichen Gefühlen, nach Drama und nach Leben kurzzeitig erfülle, heiße das nicht, dass man das Zeug zum Schauspieler hat.

– das Theater als die eigentliche Phantasiewelt sollte ihm also Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein.- Hier allein glaubte er freier zu atmen und sich gleichsam in seinem Elemente zu befinden. (S. 351)

Es ist meist lohnend, solche literarischen Ausflüge in die Vergangenheit zu unternehmen, zu den oft genug lieblosen religiösen Gruppierungen, den Gebräuchen (siehe die Einrichtung der Freitische) oder den katastrophalen Arbeitsbedingungen während einer Lehre. Und die beißende Kritik an empathielosen, nur mit sich selbst beschäftigen Eltern sowie an einem miserablen Schulsystem und ignoranten und gleichgültigen Lehrern ist tief empfunden und teilweise immer noch gültig. Deutlich zeigt sich, dass ein derlei vernachlässigtes Kind später schlechter mit Problemen und Beschämungen zurechtkommt.

Antons Herz zerfloß in Wehmut, wenn er einem von seinen Eltern Unrecht geben sollte [d. h. wenn er nach einem Streit die Partei des einen gegen den anderen ergreifen sollte], und doch schien es ihm sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete, mehr Recht habe als seine Mutter, die er liebte. So schwankte seine junge Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen, zu seinen Eltern hin und her.

Da er noch nicht acht Jahr alt war, gebar seine Mutter einen zweiten Sohn, auf den nun vollends die wenigen Überreste väterlicher und mütterlicher Liebe fielen, so daß er nun fast ganz vernachlässigt wurde und sich, so oft man von ihm sprach, mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung  nennen hörte, die ihm durch die Seele ging. […]

Am Ende freilich ward dies Gefühl ziemlich bei ihm abgestumpft; es war ihm beinahe, als müsse es beständig gescholten sein, und ein freundlicher Blick, den er einmal erhielt, war ihm ganz etwas Sonderbares, das nicht recht zu seinen übrigen Vorstellungen passen wollte. (S. 14/15)

Aber let‘s face it: Zwischendurch zog sich die Geschichte in ihrem Auf und Ab entsetzlich in die Länge. Manche Szenen aus der Kindheit sind zwar ergreifend und den psychologischen Einsichten des allwissenden Erzählers zur menschlichen Natur kann man nur zustimmen.

Es deuchte Reisern nun viel leichter, mit schönen und angenehmen Aussichten in die weite Welt zu wandern, als [schon] an Ort und Stelle selbst zu sein und diese Aussichten wahr zu machen. (S. 372)

Dennoch ist der Gesamteindruck oft genug der eines steifen, belehrenden und pedantischen Vor-sich-hin-Erzählens. Das ein oder andere Motiv wiederholte sich bis zur Ermüdung. Die erwachsene Hauptfigur ging mir mit ihrem Schuldenmachen, ihrem übersteigerten Selbstwertgefühl, ihrer Stilisierung als einsamer und verkannter Held samt ihrer völligen Planlosigkeit irgendwann auch auf die Nerven. Daran konnten feine Momente, in denen sich der Protagonist seiner selbst bewusst wird, wenig ändern. Erst der letzte Teil, in dem Anton aufgrund  unbezahlter Schulden aus der Stadt flüchtet und versucht in der Fremde sein Glück als Schauspieler zu machen, wurde wieder interessanter.

Er fühlte ungewöhnliche Kraft in seiner Seele, sich über alles  das hinwegzusetzen, was ihn darnieder drückte – denn wie klein war der Umfang, der alle das Gewirre umschloß, in welches seine Besorgnisse und Bekümmernisse verflochten waren, und vor ihm lag die große Welt. […] Alles, was ihn gekränkt hatte, schien ihm klein, unbedeutend und nicht der Mühe des Nachdenkens wert.- Aber nun stiegen andre Zweifel, andre Besorgnisse in seiner Seele auf  […] über den in undurchdringliches Dunkel gehüllten Ursprung und Zweck, Anfang und Ende seines Daseins – über das Woher und Wohin bei seiner Pilgrimschaft durchs Leben – die ihm so schwer gemacht wurde, ohne daß er wußte, warum?  – Und was nun endlich aus dem allem kommen sollte.- (S. 252 und 254)

Hier noch ein schöner Beitrag zu dem Roman von Ludger Menke.

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Jürgen Hosemann: Das Meer am 31. August (2020)

Der sehr fein in Blau gestaltete Band aus dem Berenberg Verlag, das Debüt des Lektors und Herausgebers Jürgen Hosemann, gefiel mir von der Grundidee her zunächst sehr.

Der Ich-Erzähler, im Urlaub unterwegs mit Gattin und Tochter, beschließt, in einem kleinen Badeort an der Adriaküste in der Nähe von Triest 24 Stunden lang allein am Meer zu sitzen.

Als die Reinigungsfahrzeuge abrückten, erschien der Strand trotz der langen Reihen von Sonnenschirmen, Liegen und Badekabinen völlig leer. Als müsste man jeden Augenblick damit rechnen, dass sich dort etwas ereignete. Alles schien vorbereitet, aber wofür? Es gab auch keine Zuschauer, außer mir war niemand da, der sich dafür interessierte. Zeit breitete sich vor mir aus, saubere, unbeschriebene Zeit. Der Tag würde sich hier ereignen. (S. 15)

Seine Erwartungen sind alles andere als bescheiden:

Ich hatte die Hoffnung, dass sich in der Leere und Weite die Gedanken und Phantasien besonders gut ausbreiten konnten und dass man, weil nichts den Blick verstellte, hier alles sehen konnte. Dass mit etwas Glück das Meer einer jener Orte war, an denen der Blick, vom Wasserspiegel reflektiert, auf einen selbst zurückfallen würde. (S. 24)

Doch dass er sich dafür ausgerechnet einen belebten Badestrand mitten im Ort aussucht, an dem frühmorgens zwei Radlader den Strand herrichten, unzählige Liegen ausgerichtet und die Sonnenschirme geöffnet werden müssen, fand ich eher bizarr.

Und so lesen wir, wie sich die Farben des Himmels verändern, welche Passanten an ihm vorbeiflanieren oder wie die Menschen aussehen, die eine Runde schwimmen gehen, wie der Tag zunehmend heißer wird und der Erzähler hin und wieder ins nahe gelegene Café geht oder sich ärgert, dass er grauslich bunte und überzuckerte Limonade gegen den Durst gekauft hat. Und abends kommen die Teenager mit ihren Handys.

Zwar gibt es immer wieder zitierenswert traumschön formulierte Sätze und wir wünschen uns sicherlich alle hin und wieder Zeiten und Tage, an denen wir so entschleunigt und behutsam dem Treiben um uns herum zuschauen und – falls nötig – im wahrsten Sinne zur Besinnung kommen könnten:

Der Wind so sachte, als schiebe er ein Mädchen auf einem Kinderfahrrad (S. 55)

Allerdings ist nicht jede Beobachtung automatisch bedeutungsvoll, was den Erzähler aber nicht daran hindert, sie uns mitzuteilen. Und wer nun auf besondere Erinnerungen, tiefe Erkenntnisse oder überhaupt auf irgendetwas hofft, wird enttäuscht. Auch der Erzähler selbst merkt zwischendurch, dass sich nicht alle Erwartungen an seinen Tag am Meer erfüllen. Fast klingt es wie eine Mahnung:

Ich halte es für möglich, am Meer zu sein und es nicht zu sehen.

Manchmal wird ihm langweilig, er weiß nicht, wohin mit all der Zeit, beobachtet die Wolken, die Möwen, kontrolliert, ob seine Armbanduhr oder sein Handy schneller geht, freut sich, als ihm ein kleines Mädchen begegnet, wiegt minutenlang die Limonadenflasche in den Händen und fragt sich, was passiert, wenn nichts passiert.

Langweilte mich mein großartiger Plan, mich einen Tag und eine Nacht ans Meer zu setzen, in dem ich jetzt etwas Verbissenes und Verbohrtes erkannte, eine besonders prätentiöse Weise, mich meiner sozialen Verpflichtungen zu entziehen? (S. 65)

Insgeheim staunte ich darüber, wie lange man am Meer sitzen und wie wenig einem dabei auffallen konnte. (S. 84)

Vielleicht hätte ich lieber gelesen, wie der Erzähler einen Urlaubstag mit seiner Familie verbringt, möglicherweise hätte ich auch gleich Ænglisch von Sarah Kirsch wiederlesen sollen.

Hier eine ganz andere Lesart von Constanze auf Zeichen & Zeiten.

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Kleine gemischte Tüte

Auch wenn die Fotos hier auf dem Blog nahelegen, dass ich nur noch spazierengehe, nein, ich lese auch noch, aber manche Titel lohnen die Erwähnung nicht und bei anderen reicht nicht immer die Zeit, die Ruhe oder die Lust für einen längeren Beitrag. Deswegen heute eine kleine gemischte Dezembertüte.

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet (2020)

Wieder sehr gern gelesen, das neueste Buch von Meyerhoff, der sich ja schon mit seinen ersten drei Bänden seiner Alle Toten fliegen hoch-Reihe in mein Lieblingsregal geschrieben hat. In Hamster im hinteren Stromgebiet erzählt der Schauspieler nun, wie das ist, wenn man vier Monate nach seinem 51. Geburtstag einen Schlaganfall erleidet und sich ziemlich viel verändert. Das Buch ist wieder mit diesem fassungslos staunenden und punktgenau beobachtenden Blick geschrieben, komisch, verwundbar, ehrlich, spannend und anrührend.

Bei Meyerhoff hat das Wort Selbstdarsteller auf einmal gar nichts Negatives mehr. Wäre er keiner, könnte er uns nicht so mitreißend in seinen Kosmos ziehen. Er ermöglicht ein empathisches Lesen, bei dem man in dem einen Moment ebenfalls im Notartzwagen sitzt, dann über die trefflichen Charakterskizzen seiner Mitpatienten kichert, Anteil an seinem Ergehen und dem seiner Familie nimmt, um im nächsten Moment zu überlegen, was man in seinem eigenen Leben langsam mal auf die Kette kriegen sollte. Und wie unfassbar zerbrechlich wir doch alle sind.

Eine meiner Lieblingsstellen schildert übrigens, wie seine damals vierzehnjährige Tochter glückselig nigelnagelneue schneeweiße Sneaker gegen ein abgelatschtes verdrecktes Paar eintauscht. Es hätte ihr viel zu lange gedauert, bis ihre neuen Schuhe so schön alt ausgesehen hätten.

Dorothy Evelyn Smith: O, The Brave Music (1943)

Smith (1893-1969) erzählt hier aus der Ich-Perspektive die Kindheit und Jugend von Ruan Ashley, einer fantasiebegabten und lebhaften Predigertochter, die durchaus Mühe hat, sich immer in den von den Konventionen  und ihrem Vater festgezurrten Grenzen zu bewegen, die vor dem Ersten Weltkrieg für junge Mädchen galten.

Ich habe schon lange keine schönere und warmherzigere Schilderung einer Kindheit gelesen, die – auch aufgrund der unglücklichen Ehe der Eltern – nicht ungefährdet war, aber Ruan wäre nicht Ruan, wüßte sie nicht, dass Bücher, das Moor und bestimmte Menschen  wie z. B. Rosie Day immer auch eine Zuflucht in so mancher Misere bieten können. Und auch wenn das Buch nicht alle Melodramatikfallen umschifft, hat hier der Verlag British Library mit der Neuauflage alles richtig gemacht.

Buchhandlung Almut Schmidt

Und das wäre schon vor Monaten dran gewesen: Im Sommer habe ich es endlich geschafft, im Urlaub mal den rasenden Buchhändler Hauke Harder live und in Farbe in seinem Laden in Kiel anzutreffen und ihn und seine Frau um diverse Bücher zu erleichtern. Es ist ziemlich cool und inzwischen eher selten, dass mir Buchhändler, egal, was ich da aus dem Regal fische, etwas Hilfreiches zu dem jeweiligen Buch sagen können und auch gleich noch der nächsten Kundin zurufen, was eventuell für sie passen könnte. Und auch wenn die Ladenfläche nicht riesig ist, war das Sortiment anregender und vielfältiger als in vielen wesentlich größeren Buchhandlungen.

Würde ich nicht so viel auf Englisch lesen, wäre es wohl nicht bei der einen Tüte geblieben. Beim nächsten Kielbesuch bin ich wieder dort, auch wenn eine Frage unbeantwortet bleibt: Wie machen die das? Wann liest Hauke das? Die sind ja nicht nur im Internet unterwegs, sondern im Radio, im Fernsehen, in der Zeitung, auf YouTube. Vielleicht gibt er heimlich auch noch Zeitmanagement-Seminare?

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Thomas Hettche: Herzfaden (2020)

Ein Buch über die Familie Oehmichen, der wir die Augsburger Puppenkiste verdanken; das fand ich zunächst eine ausgesprochen reizvolle Idee. Doch nach der Lektüre des Werkes, das es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, keinerlei Begeisterung meinerseits, eher verwunderte Enttäuschung, mit der ich anscheinend allein auf weiter Flur stehe, wenn ich mir so die zahlreichen Kritiken anschaue.

Schon mit dem Stil konnte ich mich nicht anfreuden. Der sollte vermutlich schlicht, märchenhaft nostalgisch und ein wenig kindlich klingen, hat mich aber oft nur an Zuckerwatte erinnert. Mit Details ohne Funktion. Manchmal plakativ. Als die  achtjährige Hannelore ihrer Schwester ein Geheimnis anvertrauen möchte, heißt es:

‘Was denn für ein Geheimnis?‘ flüstert die Schwester zurück, ganz dicht an ihrem Ohr. Sie spürt den heißen Hauch ihres Atems. (S. 14)

Und viele Jahre später, als die Puppenspieler zu einer Aufnahme nach Hamburg fahren:

Auf ihrer langen Fahrt in den Norden, die sie an diesem Januartag durch das ganze Land führt, geht es zunächst über kleine Straßen nach Nürnberg, da kommt die Sonne hervor. Über den Hügeln von Würzburg liegt Schnee.  Hier erreichen sie die Bundesstraße, die sie weiter nach Bad Hersfeld zur Autobahn bringt. Wie eine immer dünner werdende Schraffur verschwindet der Schnee. (S. 233)

Und die Soldaten der Wehrmacht sind plötzlich einfach ‚harte Kerle‘, als Walter Oehmichen erzählt, wie er im Krieg Kameraden mit selbstgebastelten Puppen unterhält:

Ich hatte die Puppen aus allem zusammengebaut, was sich eben finden ließ, klapprige Dinger waren das, ganz unansehnlich, mit ein paar Stofffetzen behangen. Und doch waren sie lebendig. Und meine Kameraden, alles harte Kerle, die grauenvolle Dinge erlebt hatten, wurden plötzlich wieder zu Kindern. (S. 42/43)

Stellen, die sich stärker auf die geschichtlichen Hintergründe des Nationalsozialismus beziehen, wirken auf mich manchmal nachgerade hilflos, verkleistertverkitscht, auch wenn sie vermutlich das Verdrängte, das Totgeschwiegene veranschaulichen sollen. So erklärt Walter Oehmichen seiner Tochter Hannelore, genannt Hatü, dass er als ehemaliger Landesleiter der Reichstheaterkammer nicht entnazifiziert werde und deshalb nicht zurück ans Theater könne.

‚Warum warst du Landesleiter der Reichstheaterkammer?‘

‚Ach, Hatü.‘

Der Vater schüttelt mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. Hatü wartet, dass er weiterspricht, doch er schweigt. (S. 117)

Hettches eigene Klarstellung am Ende des Buches, dass es ihm „nicht vor allem um Fakten“ gegangen sei, „sondern um ein Porträt der Puppenschnitzerin Hannelore Marschall, die für die junge Bundesrepublik so wichtig gewesen ist“, möchte ich mit deutlich hochgezogenen Augenbrauen versehen.

Zumindest irritiert es mich, dass beispielsweise die Rede Ernst Wiecherts am 11. November 1945, die er in München gehalten hat, kurzerhand in den Ludwigsbau nach Augsburg verlegt wird. Und die Person der Hannelore, ach, eigentlich alle Personen, bleiben so seltsam vage, wattig.

Am Ende weiß ich weder, welche der Geschichten stimmen, noch konnte mich das Buch so in seinen Bann ziehen, dass die Frage nach Fakt oder Fiktion unwichtig geworden wäre. Letztendlich empfand ich das Buch als eine Art von Edelkitsch, den ich unangenehmer als echten Kitsch finde, weil Edelkitsch vorgibt, mehr zu sein, als er tatsächlich ist.

Wenig hilfreich auch die in die Haupterzählung eingestreute Geschichte eines modernen Teenagers mit iPhone, der erkennt, wie tröstlich und real die Marionetten sind; ich fand sie plakativ und äußerst unspannend.

Ich wünschte, jemand aus der Augsburger Puppenspielerdynastie, die ein so schönes Stück bundesrepublikanischer Zeitgeschichte geschaffen haben, hätte selbst das Buch geschrieben.

Märchenhaft sind nicht die Geschichten, die wir erzählen, ein Märchen ist das Erzählen selbst. (S. 167)

Ein Augenschmaus zur Augsburger Puppenkiste ist übrigens diese Seite.

Und hier noch ein Interview mit Hettche auf der Seite des Deutschlandfunk.

Aber wie gesagt, allen anderen hat das Werk wohl ausnehmend gut gefallen. Wiebke Porombka beispielsweise steigt in ihrer positiven Besprechung des Werks gleich auf der höchsten Metaebene ein, die sie zur Hand hatte. Das war mir für dieses Buch dann wirklich „too much“ …

Über Traumata, geleugnete oder verdrängte Schuld oder die mehr oder mitunter subkutanen oder nicht sanktionierten Kontinuitäten nationalsozialistischer Gesinnung – über die Mentalität der frühen Bundesrepublik mithin ist viel geschrieben worden. Wohl selten aber so vielschichtig und reflektiert und im besten Sinne so wundersam, so ernst und gleichzeitig so sprühend albern wie Thomas Hettche dies in seinem Roman „Der Herzfaden“ vermag.

Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001)

Lommer jonn, sagte der Großvater, laßt uns gehen, griff in die Luft und rieb sie zwischen den Fingern. War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten? Lommer jonn. Ich nahm mir das Weidenkörbchen unter den Arm und rief den Bruder aus dem Sandkasten. Es ging an den Rhein, ans Wasser. Sonntags mit den Eltern blieben wir auf dem Damm, dem Weg aus festgewalzter Schlacke. Zeigten Selbstgestricktes aus der Wolle unserer beiden Schafe und gingen bei Fuß. Mit dem Großvater liefen wir weiter, hinunter, dorthin, wo das Verbotene begann, und niemand schrie: Paß op de Schoh op! Paß op de Strömp op! Paß op! Paß op! Niemand, der das Schilfrohr prüfte für ein Stöckchen hinter der Uhr.

Mit diesen ersten Sätzen hatte Ulla Hahn mich gleich auf ihrer Seite bzw. auf der der Ich-Erzählerin, der kleinen Hildegard, die in einer armen, streng katholischen Arbeiterfamilie in Dondorf am Rhein aufwächst. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei. Der Vater Hilfsarbeiter, die Mutter Putzfrau. Mit dem jüngeren Bruder Bertram muss sie sich ein Zimmer teilen, bis sie als Zwanzigjährige auszieht.

Der liebevolle Großvater hat zwar in der Familie nichts zu melden, sorgt aber dennoch dafür, dass die Enkelin wenigstens den Hauch eines Urvertrauens aufbauen kann, das die niemals lachenden Eltern, die unbarmherzig streng katholische Großmutter und der prügelnde Vater immer wieder beschädigen. Er ist es auch, der den Kindern beibringt, hinzuschauen, hinzuhören und der ihnen das Geheimnis der Buchsteine und Wutsteine anvertraut.

Das verborgene Wort ist der erste Band der Tetralogie, in der Hahn mit starken Anleihen an ihre eigene Biografie der Lebensgeschichte der Hildegard Palm nachgeht: Hildegard unterscheidet sich vor allem dadurch von ihrer Familie, dass sie Buchstaben liebt und Geschichten als Fluchtburgen aus einer lieblosen und wenig anregenden Umwelt empfindet, beste Noten schreibt und unendlich dafür kämpft und unfassbare Prügel dafür einstecken muss, die Realschule, dann schließlich sogar das Gymnasium besuchen zu dürfen, anstatt mit einer Ausbildung zum kargen Einkommen der Familie beizutragen.

Nur weil sich Lehrer und der Pastor dafür einsetzen, gibt die Familie schließlich ihren Widerstand gegen den Bildungshunger der Tochter auf. Ihnen erscheint das alles als brotlose Kunst, Wissen bringe eben kein Essen auf den Tisch, zumal ein Mädchen sowieso irgendwann heirate. Und ein bisschen peinlich ist es wohl auch, weil man sich das Schulgeld schenken lassen muss, selbst das Schulgeld für den Bruder, der auf das Gymnasium geht, hat dessen Patentante übernommen.

Über 620 Seiten begleiten wir Hilla nun dabei, wie sie im Kindergarten unabsichtlich eine Vase kaputtmacht, erleben, ob welcher Nebensächlichkeiten der Vater seinem Jähzorn freien Lauf lässt, dem Kind erscheint er zunächst wie ein Ungeheuer. Mutter und Großmutter können ihn einmal nur knapp davon abhalten, das Kind halb totzuschlagen, indem sie ihn warnen, dass das sonst dem Pastor zu Ohren käme.

Dazwischen auch komische Szenen, entlarvende Szenen, die Tanten, die Cousinen, die dafür sorgen, dass auch rheinische Heiterkeit, Biederkeit und Renitenz zum Tragen kommen.

Dann wieder geht es mit Bruder und Großvater an den Rhein. Und Hilla verliert und verliebt sich in ihre Buchstaben und Bücher. Mit dem gleichen Dickkopf, mit dem anscheinend alle in ihrer Familie ausgestattet sind, bringt sie sich selbst Hochdeutsch bei, da der Dialekt als Sprache der einfachen Leute, der Putzfrauen verpönt ist, fängt an, sich ihrer Familie zu schämen, möchte ihnen beibringen, dass unter eine Tasse noch die Untertasse gehört. So entsteht natürlich weitere Distanz zur Familie. Nur Bertram, der Bruder, und ihr Großvater stehen immer zu ihr.

Erst sehr viel später – da sind wir schon im zweiten Band Aufbruch – gibt es auch köstliche Szenen, in denen Mutter, Großmutter, Tanten und Cousinen es spannend finden und miteinander darum wetteifen, wie viele Wörter sie eigentlich kennen, die ursprünglich aus dem Lateinischen kommen, der „Sprache Gottes“.

Das Buch ist mit langem, man könnte auch sagen sehr langem Atem geschrieben. Szene um Szene, Erinnerung um Erinnerung wird begutachtet, geschildert, ausgekostet, um nur gleich weitere Szenen – oft mit ähnlichem Gehalt – zu erzählen.

Ein bisschen wellenartig, manchmal war es mir zu viel, zu ausführlich, hätte ich Absätze radikal gekürzt und ich dachte an die Dramaturgie von Ein Baum wächst in Brooklyn, das eine ähnliche Geschichte in einem Roman verarbeitet und durch eine straffere Auswahl mir oft wuchtiger und eindrücklicher erschien.

Kaum zu Hause, erzählte ich alles Frau Peps. Frau Peps war meine Vertraute. Schwarz, matt, graugeschabt an den Kanten, ausrangiert von der Frau Bürgermeister, hatte sie die Großmutter noch einige Jahre in die Kirche begleitet, dann war der Schnappverschluß ausgeleiert, die Tasche nicht mehr zu gebrauchen. Da gehörte die Tasche mir. Frau Peps gehörte mir. Frau Peps war meine Freundin. Mit Birgit, Hannelore, Heidemarie konnte ich spielen; sprechen tat ich mit Frau Peps. Keiner hörte mir so geduldig zu wie sie, keiner vermochte mich zu trösten, zu besänftigen, aufzumuntern wie sie. (S. 22)

Dennoch halte ich Das verborgene Wort und Aufbruch für ganz wesentliche Bücher. Zum einen, weil sie ein wunderbares Beispiel für Kampfesmut und Resilienz sind. Hilla gibt nicht klein bei, lässt sich nicht einfangen, lässt sich nicht brechen. Zu Recht spricht Hahn von dem widerborstigen Lebenswillen ihrer Protagonistin, von dem sich so mancher etwas abschauen könnte. Außerdem ist es eine Einladung an die LeserInnen, über die eigenen Sozialisationsbedingungen nachzudenken, vielleicht dankbar zu sein für die ein oder andere Hürde, die man selbst nicht (mehr) nehmen musste.

Und in Aufbruch, dem zweiten Band der Tetralogie, wird der Blick auf die Familie vielleicht nicht milder, aber vielschichtiger, die Umstände, die den Vater, die Mutter, die Großmutter so gemacht haben, wie sie sind, werden mit in den Blick genommen, so kann etwas wie Mitleid und Verständnis, aber auch Wut auf die früheren Generationen entstehen.

Literatur wird hier nicht einfach als wohlfeile Glücksformel verklärt. Am Anfang gelingt Hilla mit ihrer Hilfe zwar die Flucht aus einer öden, oft genug auch brutalen Welt. Doch die ersten Male, als sie ihre Erkenntnisse aus den Romanen an der wirklichen Welt erproben will, erleidet Hilla ziemlichen Schiffbruch. Die unglückliche Frau, die all ihr Erspartes an einen Heiratsschwindler verloren hat, lässt sich von Hillas aus den Romanen übernommene Idee, ins Kloster zu gehen, nicht trösten, sondern geht in den Rhein. Auch als Cousine Maria an Brustkrebs erkrankt, können die Buchstaben die Wirklichkeit nicht mehr so ohne Weiteres auslöschen und unschädlich machen. Die Krankheit, die Schmerzen, die Traurigkeit sind zu real.

Und doch das Glück, als man bei der Frage, ob die Cousine wohl einen Evangelischen heiraten dürfe, voller Stolz auf die Ringparabel aus Nathan der Weise verweisen kann. Und siehe da, der Pastor kennt das Stück und erlaubt die Eheschließung, solange sie katholisch vonstatten gehe und  man die Kinder gut katholisch erziehen wolle.

Das verborgene Wort und Aufbruch schildern trotz aller Redundanzen einen Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit anschaulicher, emphatischer und nachdrücklicher, als das jedes Geschichtsbuch könnte. Sie erzählen von armen Familien mit Plumpsklo, die einmal in der Woche alle im gleichen Wasser badeten, von versehrten Menschen, auch der Vater wurde schließlich nicht als prügelndes Monster und die Mutter nicht als ewig missmutig Unterwürfige geboren. Sie erzählen vom Wirtschaftswunder, dem Auschwitz-Prozess und vom zwiespältigen Einfluss des Katholizismus. Die Kirche, so  Ulla Hahn in einem Interview,

war zwar für geistige Enge mitverantwortlich, aber Enge gibt ja auch Halt. Es war am Ende besser, mit diesem Katholizismus aufgewachsen zu sein als bindungslos. In Aufbruch spielt der Auschwitz-Prozess eine große Rolle. Als die Familie darüber spricht, zeigt sich, dass dieser naive Katholizismus eine Impfung gegen den Nationalsozialismus sein konnte. In Hillas Dorf zählte die Bibel mehr als Mein Kampf. Meine Großmutter hat bei Nazifesten die Kirchenfahne herausgehängt. Die Leute waren mutig, aber das war ihnen kaum bewusst.

In einem anderen Interview weist Hahn darauf hin, dass die Kirche „in so einer armseligen Dorfgemeinschaft der Kulturträger [war].

Wo habe ich zum ersten Mal einen schönen Raum gesehen, Überfluss, schöne Gewänder, Kerzen? Wo zum ersten Mal Musik gehört? Worte, die nicht nur zum Schimpfen da waren? In der Kirche. Das war ungeheuer wichtig. 

Aber es geht auch um die Arroganz der Fabrikbesitzer und immer höhere Stückzahlen, die den Fabrikarbeiterinnen, mit denen Hilla in den Ferien Pillenschächtelchen füllt,  abverlangt werden, um die ersten Gastarbeiter, die in Baracken hausen und nirgendwo dazugehören. Um die ersten Milchbars und Colas und die Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht und um Gespräche der Fabrikarbeiterinnen, in denen es um die allesamt illegalen und gefährlichen Abtreibungsmöglichkeiten geht; war eine Geburt doch nur innerhalb der Ehe denkbar, wollte man seine gesellschaftliche Reputation nicht verlieren. 

Eine verheiratete Frau, die arbeiten gehen mußte, zählte nur halb. Ihr Ansehen war geringer als das einer Nichtverheirateten. Einer Noch-Nichtverheirateten. Am Ende der Rangordnung stand, wer keinen mitgekriegt hatte. (S. 288)

Die ersten zwei Romane erzählen außerdem  von der Einsamkeit, der Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit, wenn man selbst eine Vergewaltigung ganz mit sich allein abmachen musste, aber auch von der sozialen Kontrolle durch Verwandte, Nachbarn und Dorfklatsch, dem ersten Fernseher und dem ersten Supermarkt im Dorf, den ersten Unterhaltungssendungen, Grzimek gegen Sielmann, den Schlagern, die wirklich alle mitsingen konnten, und – das ist eine meiner Lieblingsstellen in Aufbruch – vom Ereignis, das der neue Quelle-Katalog darstellte, die Frauen der Familie sich zum Kaffee trafen, ihn gemeinsam durcharbeiteten und kommentierten und man die Seiten, auf denen Hosenanzüge für Frauen zu sehen waren, vor der strengen Oma verstecken musste.

Und hier noch eine hinreißende Internetquelle: das Wirtschaftswundermuseum.

Oder wie Ulla Hahn in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger erklärt:

Seine Herkunft trägt man immer in sich. Das muss einem aber nicht zeitlebens als Bürde erscheinen. Es kommt darauf an, eine Last in Proviant zu verwandeln. In Erfahrung, von der man auf seiner Lebensreise zehren kann. Das ist dann noch mehr als Versöhnung.

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Henning Boëtius: Der Insulaner (2017)

Der Insulaner: ein fast eintausend Seiten langer Roman über den Schriftsteller B., dessen wesentliche Lebensdaten eine sicher nicht zufällige Ähnlichkeit mit denen des Autors Henning Boëtius (*1939) aufweisen.

Beinahe hätte ich das Buch allerdings schon aufgegeben, bevor ich richtig angefangen hatte. Selten hat mich ein erster Absatz personalpronomenmäßig so dermaßen verwirrt. Aber dann habe ich mich doch weitergewagt, mit eher durchwachsenem Erfolg.

Auf der einen Ebene der Erzählung geht es um den älteren B., bei dem ein Hirntumor diagnostiziert wurde. Ihm steht eine gefährliche Operation bevor und so befürchtet er, seine Erinnerungen zu verlieren. In einer merkwürdig grauen Zwischenwelt reist er in eine Stadt, mietet sich in einem Hotel ein und sucht nun täglich einen fast gesichtslosen Mann auf, dem er seine Lebensgeschichte erzählt. Es bleibt offen, ob es sich dabei um Narkosefantasien handelt oder ob diese Erinnerungen vor allem der Selbstvergewisserung dienen.

‚Während der Narkose ist das Ich also ein Insulaner, dessen Lebensraum sich über viele voneinander isolierte Inseln erstreckt, über einen ganzen Archipel an Einsamkeiten.‘ (S. 28)

Jedenfalls möchte B. verstehen, was ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Warum er Schriftsteller geworden ist und nicht, wie es auch eine Zeitlang denkbar schien, Atomphysiker, warum all seine Beziehungen zu Frauen gescheitert sind. Warum er keine Freunde mehr hat.

Einsamkeit ist die größtmögliche Nähe zu sich selbst. Sie erzeugt einen vielstimmigen inneren Monolog, der im Tod in einer grandiosen Formulierung ausklingt. (S. 529)

Ja, falls er die Operation nicht überleben sollte, bittet er darum, nur die Kellnerin aus einem nahe gelegenen Café zu benachrichtigen. Zwischen diesen Sequenzen in der Stadt oder im Hotel erzählt uns der Ich-Erzähler und Schriftsteller seine Lebensgeschichte.

Mein erster Lebensort war der Kopf meiner Mutter. […] Es war ein seltsamer Ort. Seine Einrichtung verriet einen ungewöhnlichen Geschmack. Eine wilde Mischung aus Wünschen, Bedürfnissen, Träumen, Vorurteilen, Ängsten, Lektüre, wobei vor allem die Gedichte Rilkes eine wichtige Rolle spielten. Außerdem waren da einige kreative Fähigkeiten wie eine große zeichnerische Begabung und ein beachtliches Talent, anschaulich zu formulieren, und nicht zuletzt eine fast zwanghafte Neigung zum Inszenieren. (S. 42)

Die Schilderungen der Kindheitserinnerungen waren ungemein anschaulich und anrührend, die Kriegsjahre, die Bombennächte, die schlimmen Bilder, die das Kind sieht.

Wenn einem offensichtlich, wenn auch vergeblich, nach dem Leben getrachtet wird, macht einen das nicht gerade stark. Im Gegenteil, es kann einen für immer verunsichern. Es ist wie eine innere Beschmutzung. (S. 169)

Die komplizierte Familienkonstellation, diverse Verwandte und „Onkelgötter“, die Einsamkeit als Kind; zu seinem zehnten Geburtstag erscheint kein einziges der eingeladenen Kinder. Das Aufwachsen mit einem Kapitänsvater, der selten zu Hause sein konnte, und einer überspannten Mutter, die einen Großteil der Schuld daran trägt, dass ihr Sohn in der Schule als arroganter Außenseiter wahrgenommen wird (und sich oft genug auch so aufgeführt hat). Entscheidende Kinder- und Jugendjahre des Erzählers verbringt die kleine Familie auf Föhr, der Heimatinsel des Vaters.

Die Lehrer können auf die Begabung des Kindes nicht angemessen reagieren und viel zu oft versucht der Junge mit anderen in Kontakt zu treten, indem er ihnen lange Abhandlungen über naturwissenschaftliche Phänomene hält. Hören will das niemand. Als er seinen siebzehnten Geburtstag feiert, kommen zwar die Freunde. Doch er wundert sich, dass sie es nicht witzig finden, als er ihnen mit einer speziellen Konstruktion Stromschläge am Küchentisch verpasst.

Gleichzeitig erwacht auf Föhr die lebenslange Liebe zum Meer, zur Inselnatur und zur Literatur. Kafka, Dostojewski, Tolstoi, Karl Philipp Moritz und später vor allem Lautréamont mit Die Gesänge des Maldoror.

Als der Erzähler älter wird, überrascht das Anspruchsdenken des jungen Mannes, der es als selbstverständlich ansieht, dass ihm die Eltern den Studienort finanzieren, den er wählt. Dass sie ihm die Unterhaltszahlungen erhöhen. Er hat auch kein Problem damit, sich jahrelang bei seinen Freundinnen durchzuschnorren.

Er studiert und promoviert in Frankfurt bei Adorno, dessen Vorlesungen er „Messen des Denkens“ nennt, bei denen auch schon mal „ein Schauer der Bewunderung und der Selbstinfragestellung“ durch die andächtigen Reihen gegangen sei. Da ergeben sich interessante zeitgeschichtliche Einblicke. Marie Luise Kaschnitz und andere protegieren ihn und fördern ihn. Was ihn nicht daran hindert, mehrmals in seiner beruflichen Laufbahn einfach „die Brocken hinzuschmeißen“, Angebote auszuschlagen, Kollegen hängenzulassen, gerne auch mal wenige Stunden vor wichtigen Terminen und Sitzungen.

Seine Beziehungen zu Frauen gestalten sich ebenfalls merkwürdig. Beim Scheidungstermin seiner ersten Ehe kommen die beiden händchenhaltend an, bis sie der Scheidungsrichter anrüffelt. Die drei Kinder aus dieser Ehe werden im Buch nur in wenigen Sätzen gestreift. Einen Tag nach seiner zweiten Eheschließung brennt er mit einer anderen Frau durch. Irgendwann dann sogar ein Tief, das ihn für längere Zeit in die Wohnungslosigkeit führt. Die ersten Schritte als Schriftsteller. Für diesen „Zustand“ müssen seiner Meinung nach fünf Voraussetzungen gegeben sein: existentielle Konflikte wie Einsamkeit und die Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Lebens, Naturerfahrung, Bildung, Menschenerfahrung und Protest gegen alle Konventionen.

Aber war Schriftsteller zu sein überhaupt ein Beruf? War es nicht vielmehr eine besondere Spielart der Einsamkeit? Er hatte das Schreiben nie als Arbeit empfunden, eher als eine Art Zeitvertreib. Und zwar im wörtlichen Sinne. Man vertrieb die Zeit, indem man über sie schrieb, über die Dinge und Menschen, die sich in ihr bewegten wie Raupen auf einem Blatt. (S. 86)

Die Zwischensequenzen, die den eigentlichen Lebensrückblick immer wieder unterbrechen und ihn vermutlich literarisch veredeln sollen, interessierten mich wenig. Die Einblicke ins Frankfurter Studentenleben in den Sechzigern fand ich hingegen interessant und besonders die Teile des Romans, in denen es um B.s Kindheit geht, habe ich mit Anteilnahme gelesen. An einer Stelle heißt es:

Um glaubhaft von seiner Kindheit zu reden, muss man ein Kind sein, wenigstens ein künstliches. Außerdem ergaben die einzelnen Erinnerungen kein ganzes Bild. Es war ungefähr so, als ob man die Teile eines Puzzles in die Luft warf und erwartete, dass sie sich von selbst zusammenfügten, wenn sie wieder auf dem Boden landeten. (S. 121)

Hätte Boëtius sich darauf beschränkt, nur die Puzzleteile seiner Kindheit in die Luft zu werfen, ich glaube, dass dabei für den Leser ein wunderbar packendes Bild entstanden wäre. Doch je älter die Hauptperson wird, umso stärker wird zeitlich gerafft, manches wird nur noch referiert. Manchmal gerieten die sprachlichen Bilder sehr schräg:

In dieser doppelten Dunkelheit brütete ich das zerbrechliche Ei der Todesangst aus. (S. 147)

Am Ende überwiegt mein Eindruck, dass hier ein Autor – zumindest in weiten Teilen – ein Buch vor allem für sich selbst geschrieben hat, sagt der Erzähler doch schon ganz früh über sich:

Ortsmenschen wie ich reagieren meistens nur schwach auf ihre Mitmenschen. Alles, was sie interessiert, ist jenes Theaterstück, das sie ihr Leben nennen, das Stück, in dem die Kulissen die Hauptrolle spielen, während die Menschen nur Statisten sind. (S. 40)

Wenn ein „glattes“ Leben in eine langweilige Erzählung mündet, dann hat man vielleicht einfach nicht genau genug hingeschaut. Und genauso wenig denke ich, dass eine auch äußerlich interessante Lebensgeschichte eher das Potential zu einem Kunstwerk hat.

Erinnern kann wie eine unbarmherzige Sonne sein, die schonungslos ihr Licht auf die Vergangenheit wirft. Dabei kommt oft auch Unschönes zu Tage. Wenn ihre Strahlen auf eine glatte Fläche treffen, werden sie nur Langweiliges zu Tage fördern. Ist die Vergangenheit rau bewegt wie das Meer, kommt vielleicht ein Kunstwerk zu Vorschein. (S. 38/39)

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Kathrin Weßling: Nix passiert (2020)

Manchmal überrasche ich mich selbst. Das Cover gefällt mir nicht und wenn das ZEIT-Magazin schreibt, dass Kathrin Weßling (*1985) hier den Roman ihrer Generation geschrieben habe, empfinde ich das nicht unbedingt als Kompliment. Keine Ahnung also, warum ich das Buch gekauft habe. Vielleicht weil ich mich vergewissern wollte, dass aktuelle deutschsprachige Bücher nach wie vor meist hinter meinen Erwartungen zurückbleiben?

Und nun muss ich alles revidieren: Ich konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu lesen. Was für ein unglaublich tolles Buch.

Aus der Ich-Perspektive erzählt der ca. 30-jährige Alex, dass Jenny, seine große Liebe, ihn verlassen habe. Der Liebeskummer ist so schlimm, dass er sich krankschreiben lässt, sich besäuft und am liebsten nur noch im Bett verkriechen möchte. Er hält es im lauten Berlin nicht mehr aus, redet sich ein, dass er da ja auch dauernd Jenny begegnen könne, deshalb will er sich für unbestimmte Zeit in seiner angeblich so spießigen Heimatstadt bei seinen Eltern einquartieren. Die sind überrascht, hatte Alex doch die letzten Jahre seine familiären Beziehungen nicht unbedingt gepflegt und sich als Heranwachsender ganz klischeehaft geschworen, möglichst weit wegzugehen und nie wie sie werden zu wollen. Auch Bruder Timo hält wenig davon, dass der kommunikationsmäßig eher unbeholfene Alex, der auf mich oft jünger wirkte, nun wieder bei seinen Eltern unterkriechen will, zumal Alex erst mal nicht erzählt, dass er wieder Single ist.

Mein Vater lacht zusammen mit Anni laut und ausgelassen und ich weiß nicht, ob ich ihn je so glücklich gesehen habe wie in diesem Moment. Sein ganzes Gesicht ist eine einzige, sorglose Freude darüber, hinter Anni herzulaufen und so zu tun, als könner er sie nicht fangen. […] Es ist so banal. Es ist so unbedeutend. Es passiert tausend Mal an tausend Orten: Großeltern, die mit ihren Enkeln spielen. Und doch berührt mich der Anblick sehr und ich laufe zur Terrasse, laufe zu Anni, zu meinem Vater, zu Marina, zu meiner Mutter. Als ich vor ihnen stehe, blickt niemand auf und niemand mich an. ‚Hey, lustiges Spiel!‘, sage ich wie so ein Trottel und es interessiert niemanden. (S. 89)

Alex trifft ehemalige Freunde, erinnert sich, trauert, schimpft, weint und hadert, versucht Boden unter den Füßen zu gewinnen und sein Durcheinander im Kopf zu entwirren.

Nach und nach erschließt sich dem Leser, der Leserin, warum Jennys Beziehungsabbruch Alex so aus der Bahn tragen konnte, wie tief die Wurzeln für den Cocktail aus Selbstmitleid, Ängsten, Überheblichkeit, falschen Zielen und Selbstbetrug reichen.

Das ist nicht nur unglaublich spannend konstruiert, klug und einfühlsam beobachtet, sondern menschlich so nachvollziehbar, ja geradezu dringlich und berührend, als hätte man Alex im Wohnzimmer sitzen, den man dann abwechselnd schütteln und dann wieder in den Arm nehmen möchte.

Und man erkennt, dass Alex einem möglicherweise näher ist, als man dachte. Ihm fliegt alles um die Ohren. Will er weiterleben, muss er etwas ändern und erwachsen werden, ob er will oder nicht. Die meisten von uns hingegen haben es sich vermutlich eher gemütlich in ihrem ja auch nicht immer befriedigenden Leben eingerichtet. Wer ist da am Ende eigentlich besser dran?

Ich glaube, das ist der ganze Sinn von Trennungen, wenn sie denn einen haben können: Sie sind wie eine Zwangsvollstreckung des eigenen Lebens, alles wird bewertet und bekommt Aufkleber, das hier ist gut, das ist nix wert, das hier kann man jemand anderem überlassen, der damit mehr anfangen kann. Am Ende steht man da und hat nur noch das Nötigste und kann und darf noch mal anfangen, darf noch mal versuchen, etwas aus dem eigenen Leben zu machen, das sich wertvoll anfühlt. (S. 214)

Ja, natürlich ist es auch – aber eben nicht ausschließlich – ein Buch für Jüngere, für die, denen die unzähligen Entscheidungsmöglichkeiten, wie man sich nach außen hin darstellen möchte, wo und warum man leben, wen man lieben und was man arbeiten will, auch mal über den Kopf wachsen. Und natürlich für alle, die gerade Liebeskummer haben. Und für alle, die die Schreibe von Weßling mögen.

Ach, eine Frage noch, sind die anderen Bücher von ihr genauso gut?

Hier noch ein Link zu einem Beitrag auf dem Deutschlandfunk.

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Adalbert Stifter: Der Nachsommer (1857)

Alle paar Jahre greife ich ganz freiwillig zu Adalbert Stifters Meisterwerk Der Nachsommer, der einen mit seiner manchmal nachgerade pedantisch durchgehaltenen Handlungsarmut und Humorlosigkeit durchaus an den Rand der Verzweiflung bringen kann.

Der Roman, ursprünglich in drei Bänden veröffentlicht, wurde von Größen wie Thomas Mann, von Nietzsche und von Karl Kraus bewundert und von Friedrich Hebbel höhnisch verspottet:

Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.

Schon der erste Absatz:

Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewölbe die Schreibstube nebst den Warenbehältern und anderen Dingen, die er zu dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. […] Mein Vater hatte zwei Kinder, mich den erstgeborenen Sohn und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir schliefen. Die Mutter sah da nach, und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergötzen durften.

Der Ich-Erzähler, Heinrich Drendorf, hat das große Glück, dass sein Vater, ein Wiener Kaufmann, es immerhin zu solchem Wohlstand gebracht hat, dass er selbst keiner Erwerbstätigkeit nachgehen muss, sondern sich seinen zahlreichen Interessen, vornehmlich den Naturwissenschaften, widmen kann. Als Heinrich älter wird, gestattet ihm der Vater sogar, die Sommermonate auf dem Land oder im Gebirge zu verbringen, damit er dort seine geografischen Studien betreiben kann.

Während einer dieser Sommeraufenthalte befürchtet Heinrich, von einem Gewitter überrascht zu werden, und bittet den Besitzer eines schön gelegenen Landhauses, dort das Unwetter abwarten zu dürfen. Diese Bitte wird ihm von dem feinen älteren Mann, der sich später als der Freiherr von Risach entpuppt, gewährt.

Die Männer kommen ins Gespräch, verstehen sich, Heinrich bleibt über Nacht. Und in den folgenden Jahren kehrt er am Ende seiner monatelangen Exkursionen immer wieder für einige Zeit im „Rosenhaus“ ein, in dem das Leben sehr ruhig, sehr ritualisiert und sehr privat vonstattengeht. Der alte Freiherr kann so den Bildungsweg des jungen Heinrich begleiten, fördern und die noch fehlenden Impulse für die Entwicklung des jungen Mannes geben. In ihren zahllosen Gesprächen geht es um das Wesen der Schönheit, das Mittelalter, Griechenland, Kunst, sehr viel Kunst, Schmuck, Hofbewirtschaftung, Antiquitäten, Architektur, griechische Statuen, Gemälde, Bücher, Ordnung und Goethe. Ganz offensichtlich kommt Heinrich aus einer Familie, die dem alten Freiherrn wesensverwandt ist.

Jedes Ding und jeder Mensch, pflegte er [der Vater Heinrichts] zu sagen, könne nur eines sein, dieses aber muß er ganz sein. Dieser Zug strenger Genauigkeit prägte sich uns ein, und ließ uns auf die Befehle der Eltern achten, wenn wir sie auch nicht verstanden. So zum Beispiele durften nicht einmal wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten. Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumen desselben betraut. (S. 9)

Irgendwann lernt Heinrich auch Mathilde, die über alles geschätzte Freundin des Freiherrn, und deren Kinder, Sohn Gustav und die wunderschöne Nathalie, kennen.

Wenn der Roman also nicht wegen seiner Handlung fesselt und auch die steril-idealisierten Charakterzeichnungen sicherlich nicht das sind, was mich an diesem Opus beeindruckt, dann könnte selbst die Sprache, die über weite Strecken so fein und so aus der Zeit gefallen ist, mich nicht über 700 Seiten bei der Stange halten. Hier wäre also auch ein guter Moment, um den Verriss von Bonaventura zu lesen.

Es ist etwas ganz anderes, was hier von Stifter bewunderungswürdig vorgeführt wird.

Der Autor entwirft eine Utopie,  eine idealisierte Welt der Harmonie und Ordnung, in der nicht nur jeder Mensch seinen Platz hat, auch den Gegenständen und wertvollen Kunstobjekten ist ein fester Ort zugeordnet. Kein Buch im Lesezimmer des Rosenhauses darf irgendwo herumliegen, sondern muss nach der Lektüre wieder ins Regal geräumt werden. Die Rosen an der Hauswand, die das Gebäude wie mit einem Teppich überziehen, werden mit Umsicht und viel Arbeit gepflegt. Es gibt ein Zimmer, in dem nur Vogelfutter aufbewahrt wird, damit man die Vögel, die wiederum das Ungeziefer von den Rosen fernhalten sollen, an das Haus und die Örtlichkeit bindet.

Die junge Generation wird nach einem bestimmten Plan erzogen. Gustav, der jüngere Bruder Nathalies und gleichzeitig der Ziehsohn des alten Freiherrn, liest nur, was ihm gestattet wurde, gleichzeitig setzt man das Vertrauen in ihn, dass er die Bände Goethes, für die man ihn noch zu jung erachtet, nicht anfassen wird, obwohl sie ihm frei zugänglich sind. Körperliche Ertüchtigung gehört genau so selbstverständlich dazu wie die sorgfältige Einhaltung der Stunden des Home Schooling und die Auswahl der passenden Bekannten.

Alte Möbel und Gerätschaften, selbst verfallene Kirchen, werden mit viel Liebe und Sachverstand, mit dem man das eigentliche Wesen dieser Dinge wieder sichtbar machen möchte, restauriert. Da kann es dem Leser und der Leserin dann auch schon mal passieren, dass man mehrere Seiten lang ein Möbel oder eine Statue beschrieben bekommt.

In diesem patriarchalisch, manchmal auch ziemlich pedantisch geordneten Privat-Universum, sind auch die Rollen der Geschlechter festgeschrieben. Die Frau bekommt den Bereich der Häuslichkeit zugeschrieben, der Mann geht aktiv in die Welt, in die Politik, in den Krieg, ins Büro. Zwar wird die Frau in ihrem Tun respektiert und geachtet, aber bestimmte Entscheidungen trifft ausschließlich der Mann und entsprechender Respekt vor dem Hausherrn kann in der Ehe nicht schaden. Interessen, die den Rahmen der Häuslichkeit überschreiten, sind für eine Ehefrau dabei weniger wünschenswert. Sie darf sich allerdings herzlich mitfreuen, wenn dem Gatten wieder ein schöner Kunstfund geglückt ist.

Genauso ordnen sich die Dienstboten und die Arbeiter, denen höhere Bestrebungen ja bekanntlich eher fremd sind, gern in dieses System ein und sehen ihren Lebenszweck selbstredend in ihrer Sorge für die Herrschaft. Künstler und kreative Menschen hingegen stehen irgendwo dazwischen und haben einen größeren Freiraum und werden bereits als Individuen wahrgenommen.

Heinrich gleitet wie auf Kufen der sittlichen und ästhetischen Vervollkommnung entgegen, nie ist sein Weg gefährdet, selbst die Annäherung an Nathalie erfolgt unaufgeregt, ja unausweichlich. Möglich ist dies, da Mathilde und der Freiherr von Risach in ihrer Jugend den Leidenschaften und der Unvernunft so viel Raum gelassen haben, dass sie im Grunde heute noch dafür bezahlen und in ihrem Nachsommer, dem eigentlichen Kern des Romans, zwar zu Frieden und Milde gefunden haben, doch vor allem dafür sorgen können, dass die nächste Generation nicht die gleichen Fehler macht.

Spät im Roman erzählt der alte Risach dem jungen Heinrich seine Lebensgeschichte. Interessanterweise ist die viel lebendiger, wirkt viel menschlicher, da Stifter hier noch Menschen aus Fleisch und Blut hat aufeinandertreffen lassen. Während die Szenen zwischen Heinrich und Nathalie manchmal unfreiwillig komisch sind, da körperliche Anziehungskraft kein Thema sein durfte. Nathalie ist ein Engel, der so rein und so überirdisch schön ist, dass sie vor lauter Holdseligkeit kaum etwas sagen kann.

Überhaupt werden in diesem Roman nur feine und sehr tiefsinnige Gespräche geführt, einen Alltag mag man sich da gar nicht recht vorstellen.

Dennoch: Hebbel hatte unrecht. Das Buch ist etwas ganz Eigenes, ganz Besonderes. Diese Utopie hat so offensichtlich einen doppelten Boden, man glaubt ihr nicht und doch ist absolut faszinierend, wie Stifter sich die ideale Erziehung zum humanen Menschen, den Umgang der Menschen untereinander und die Überbrückung der Klassenschranken dachte, wie hier jemand einer ganzen Welt eine Ordnung, einen Sinn einschreiben wollte, dass man sich sogar bei dem Wunsch ertappt, es wäre zumindest das ein oder andere davon in Erfüllung gegangen.

Auch das überstrapazierte Modewort der Achtsamkeit: In dieser Welt wird es von den Protagonisten gelebt. Man geht achtsam mit Büchern und Kunstgegenständen um. Man geht achtsam mit den zur Verfügung stehenden Stunden des Tages und mit dem anvertrauten Reichtum um. Man prasst nicht (ganz im Gegensatz zum Autor Stifter) und stellt nichts zur Schau. Man redet, man schweigt, man lässt dem anderen seinen Raum. Letztlich erstreckt sich diese Art der Weltaneignung auch auf einen nachhaltigen Umgang mit der Natur. Und der alte Gärtner ist glücklich, als er einen übergroßen Kaktus, der bei den Nachbarn nicht gewürdigt wurde und schon ganz schief und krumm zu werden drohte, in seine Obhut nehmen und der Pflanze nun die Bedingungen bieten kann, die sie für ein ungehindertes Gedeihen benötigt.

Selbstredend werden in dieser idealen Welt entsprechende finanzielle Ressourcen und die frei verfügbare Zeit vorausgesetzt, sodass man sich ausschließlich den individuellen Interessen und Liebhabereien widmen kann. Etwas, das Stifter fast sein ganzes Leben lang versagt blieb.

Und all denen, die Bildung nur unter dem Aspekt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwertbarkeit sehen, wird gesagt:

Gegen diesen Einwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der menschlichen Gesellschaft wegen da sondern seiner selbst willen. Und wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler auf dieser Welt geschaffen hätte, der würde der Menschheit einen schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte: wenn er der größte Maler wird, so tut er auch der Welt den größten Dienst, wozu ihn Gott erschaffen hat. Dies zeige sich immer durch einen innern Drang an, der einen zu einem Dinge führt, und dem man folgen soll. […] Gott lenkt es schon so, daß die Gaben gehörig verteilt sind, so daß jede Arbeit getan wird, die auf der Erde zu tun ist, und daß nicht eine Zeit eintritt, in der alle Menschen Baumeister sind. (S. 15)

Im Anschluss sollte man dann noch gleich die Biografie von Wolfgang Matz lesen. Wie Stifter, dessen Verdrängungen, Selbsttäuschungen und unerfüllte Sehnsüchte sich im Nachsommer wie in einem dunklen Spiegel wiederfinden und der spätestens mit diesem großen Werk nur noch auf Unverständnis stieß, ist eine zuweilen erschreckende, aber immer interessante Lektüre. Selbst wenn Matz die „Schuld“ an Stifters unglücklicher Ehe doch sehr einseitig ausschließlich bei dessen Frau verortet.  Aber das wäre dann schon wieder eine andere Geschichte.

Stifter hat in diesen Roman alles hineingelegt, was er von der Welt in seinem Denken erfassen konnte; er ist eine Summe seines ganzen Lebens und Schreibens, der Höhepunkt seines Werks. Und nicht nur des seinen: Der Nachsommer gehört zu jenen Büchern, die einsam und unerreicht, einzigartig und vollkommen in der Landschaft der deutschsprachigen Literatur stehen; eines jener wenigen Meisterwerke, die fremd wie ein Findling in ihrer Zeit liegen und eine unmittelbare Wirkung nicht haben konnten. Ganz und gar gegen seine Epoche angeschrieben, ist er doch ohne Bezug auf sie kaum zu verstehen; in jeder Faser von Stifters persönlichster Lebenserfahrung geprägt, ist er doch Lichtjahre entfernt von jeder romanhaften Autobiographie.

Aus:  Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge, Carl Hanser Verlag 1995, S. 324

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Katja Oskamp: Marzahn Mon Amour – Geschichten einer Fußpflegerin (2019)

Den ZEIT-LeserInnen dürften Katja Oskamps wunderbare Texte, die sie über ihre Kundschaft in einem Berliner Fußpflegesalon schreibt, bereits bekannt sein. Die waren ein wenig an mir vorbeigegangen, doch das Buch dazu lag zufällig bei Freunden auf dem Küchentisch. Zum Glück.

Die Autorin (*1970 in Leipzig) beschließt mit 45 Jahren, als der Partner erkrankt, die Tochter aus dem Haus und die Schriftstellerinnenkarriere gerade etwas unbefriedigend dahindümpelt, noch mal etwas ganz Neues zu beginnen. Auf den Rat einer Freundin belegt sie einen achtwöchigen Kurs für Fußpflege.

Zu Hause lernte ich die Namen der achtundzwanzig Fußknochen auswendig, den Aufbau des Nagels, die Fußdeformitäten und wie eine Thrombose entsteht. Ich prägte mir die Materialien für Fräserknöpfe ein, die Wirkungen pflanzlicher Stoffe, die Hautkrebsarten, den Unterschied zwischen Viren, Bakterien und Pilzsporen. Die Besonderheiten des diabetischen Fußes und die Definition von Fissuren, Rhagaden und Krampfadern. Mein Mann fragte mich ab, wenn wir abends im Bett lagen, begraben unter Zetteln voller Mitschriften und Fußskizzen. (S. 11)

Seitdem arbeitet sie zweimal die Woche in einem Marzahner Salon, hört ihren KundInnen zu, lacht und schäkert mit ihnen und erfährt so im Laufe der Zeit viel über deren Leben. Und all den Witz, die Stille, Einsamkeit und Liebe, die Erinnerungen, das Unsentimentale der meist älteren und oft gebrechlichen Menschen, die da zu ihr, der Kollegin und der Chefin kommen, wird von Oskamp in berührenden, komischen, peppigen, erschreckenden und sehr anschaulichen Kurzporträts verdichtet. Mal schnoddrigaufdenpunkt, mal poetisch und ruhig.

Der Parkfriedhof Marzahn abends um acht, fern des Lärms der Stadt. Am Ende eines heißen, staubigen Tages singen die Vögel ihr Abendlied. Die Sonne steht schräg, letzte Strahlen streichen wie Flügel über einzelne Namen auf Steinen. Geharkte Wege. Gegossene Gräber. Brennende Kerzen. Lärchen, Eichen, Kiefern. Ich streife durch Farne, über Wiesen im Schatten. Kühle, Ruhe und Platz. Eine Birke. Eine Bank. Es ist schön, den Tag auf einem menschenleeren Friedhof zu beenden. (S. 136)

Unglaublich gern gelesen. So mit großzügiger Menschenfreundlichkeit betrachtet, quasi von den Füßen her, wird jedes Leben gewürdigt, wahrgenommen. Und die Tätigkeit der Fußpflegerin ist für mich ab sofort gesellschaftlich bedeutsam, was sich nicht nur in Anerkennung, sondern auch in entsprechender Vergütung niederzuschlagen hätte.

Zwei Fragen, deren Widersprüchlichkeit mir bewusst ist, bleiben:

Ist es eigentlich in Ordnung, so aus den Geschichten, die einem ja im Vertrauen und der Abgeschlossenheit eines Behandlungszimmers erzählt werden, ein Buch zu machen?

Wann erscheint die Fortsetzung? Ich möchte weiterlesen.

Ach, und gegen die Midlifecrisis der Autorin hat die Arbeit als Fußpflegerin übrigens auch geholfen.

Du bist fast fünfzig und hast begriffen, dass du Dinge, die du tun willst, jetzt tun solltest, nicht später. Alte Ratgeber-Binse, stimmt aber wirklich. Du bist fast fünfzig und noch unsichtbarer geworden, die beste Voraussetzung, diese Dinge zu tun, seien sie schrecklich, wundervoll oder abseitig. (S. 137)

Hier noch ein Interview mit Oskamp aus der Berliner Morgenpost und hier eins auf der Seite des Deutschlandfunk.

Sarah Kirsch: Ænglisch (2015)

Herr Buddenbohm war schuld daran, dass Petra von Philea’s Blog das Büchlein Ænglisch von Sarah Kirsch las. Petras Fazit:

Sarah Kirschs Ænglisch ist ein bezauberndes, sprachschrulliges Reisetagebuch, das ich wärmstens empfehle.

Was blieb mir da anderes übrig? Ich freute mich, ein prima erhaltenes Exemplar auf Tauschticket zu erstehen, und schon schmökerte ich mich durch die Erinnerungen der bekannten Lyrikerin (*1935 – †2013) an einen 16-tägigen Urlaub, den sie 2000 mit ihrem Sohn Moritz in Cornwall und Devon verbrachte. Die endgültige Form fand dieses Tagebuch im September 2012.

Und was soll ich noch groß sagen: Was wäre das für ein Pech gewesen, hätte Petra das Buch nicht empfohlen. Dabei passiert gar nichts Besonderes: Die beiden Urlauber müssen sich mit qualitativ sehr unterschiedlichen Unterkünften arrangieren, unternehmen Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Region, gehen essen und in den Zoo, freuen sich über nette Cafés, bummeln, beobachten, haben Wetter und Moritz kauft Klassiker, während sie noch Harry Potter liest.

Niemand außer uns unterwegs. Ein einziger Mensch kam uns entgegen und hat holdseligst gegrüßt. (S. 58)

Das Besondere liegt in der Aufmerksamkeit für die Kleinigkeiten, im Sprachwitz, mal poetisch, mal flapsig, in der Freude an Worten, an der Gabe Kirschs, die scheinbar belanglosen Reiseeindrücke lebendig werden zu lassen oder sie mit anderen Erfahrungen in Verbindung zu setzen. Wir reisen mit und denken gleichzeitig an eigene Urlaube, eigene kostbare und banale Erinnerungen. Nur dass wir sie wohl nicht so wunderbar in Sprache verpacken könnten.

Hin & wieder steckte ein Kormoran den Schnorchel aus dem Wasser. Wunderbarste Fregattvögel flogen, wenn ich die See und die Fregattvögel in den Lüften hab, so haut es mir nahezu um. Weeß ooch nicht weshalb. (S. 14)

Für mich schwingt in all der Leichtigkeit auch ein wenig Melancholie mit, obwohl Kirsch sich am Ende der Reise durchaus auf ihr Zuhause in Norddeutschland freut. Hat doch jeder Urlaub von Anfang an ein festgesetztes Datum der Rückkehr. Selbst der schönste Tag geht vorüber, nichts kann das aufhalten. Wir ahnen das und wollen es doch nicht wissen.

Morgen schiffen wir uns langsam dann ein. Dann ist der Sommer auch gleich vorbei, wirste sehn. (S. 58)

Diese 67 Seiten, zu denen noch ein Nachwort und eine Liste ihrer Veröffentlichungen kommen, zeigen aber auch, was Sprache vermag: Die flüchtigen Momente werden, wenn sie liebevoll wahrgenommen wurden, eben doch durch Sprache wie in Bernstein festgehalten, wie Flaschenpost weitergereicht.

Und so ließe sich das Werk auch lesen als eine Aufforderung, aufmerksamer durch seine eigenen Tage zu gehen und dabei das ein oder andere zu notieren.

Ein kleines Werk; wie Wasser, auf dem die Sonne funkelt.

War so hübsch da im Schloß uff Mount St. Michael, als wir durch alle möglichen Waffenzimmer in die sehr hübsche gemütliche Bibliothek gelangten, da sagte er aus vollem Herzen, daß er am liebsten in solche Bibliothek immer wär. (S. 50)

 

 

 

Walter Kappacher: Rosina (1978/2010)

Viel zu lange stand dieses Buch, das ursprünglich 1978 erschien, für die Ausgabe 2010 im Deuticke Verlag überarbeitet wurde und für das Armin Ayren das lesenswerte Nachwort geschrieben hat, unbeachtet in meinem Regal. Die Erzählung mit ihren 128 Seiten hat mich so angesprochen, dass ich sie gleich zweimal gelesen habe. Und erst beim zweiten Lesen ließen sich die Feinheiten der Charakterzeichnung besser wahrnehmen und die Chronologie der Handlung trotz der zahlreichen Zeitsprünge nachvollziehen.

Die junge und hübsche Rosina aus der österreichischen Provinz träumt vom Leben in der großen Stadt. Die Lehre hat sie noch im heimischen Kaufhaus Perner abgeschlossen, dessen Chef sie gern mal „in den Po gezwickt“ hat. Dagegen aufzubegehren war damals noch außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Doch sie bewirbt sich in Salzburg und ergattert tatsächlich einen Platz in einem kleinen Reiseunternehmen. Dort ist es allerdings trostlos, ganz anders als erhofft, die ältere Mitarbeiterin ist wohl auch über den hübschen Neuzugang nicht begeistert, so dass sie sich kurze Zeit später auf die Stelle einer Bürokraft im Autohaus Fellner bewirbt.

Sie bekommt die Stelle und so beginnt mit Anfang zwanzig ihre Karriere, bei der ihr nicht allein ihr Arbeitseinsatz zugute kommt – meist ist sie die letzte, die die Firma abends verlässt -, sondern auch ihr Aussehen, ihre Naivität und Unerfahrenheit. Fellner, ihr Chef und mindestens 20 Jahre älter als die junge Frau, protegiert sie, hievt sie irgendwann gar auf den lukrativen Posten der Chefsekretärin und mietet ihr schließlich ein Apartement, stellt ihr einen Wagen zur Verfügung und besucht sie einmal die Woche nach seinem Tennisabend. Die Kollegen nennen sie schließlich halb ironisch, halb respektvoll „die Chefin“.

Die große Liebe ist das nicht, obwohl Rosina eine Zeitlang tatsächlich glaubt, dass Fellner sich ihretwegen scheiden lassen würde.

Doch Rosina ist der zunehmenden Arbeitsbelastung im Büro auf Dauer nicht gewachsen. Sie arbeitet die Pausen durch, raucht wie ein Schlot, benötigt Schlaftabletten und zwischendurch immer mal einen entspannenden Schluck aus der Whiskyflasche, versteckt in ihrer Handtasche oder hinter den Aktenordnern.

Schließlich verursacht sie in angetrunkenem Zustand einen Autounfall, nach dem sie einige Monate arbeitsunfähig ist. Niemand aus der Firma besucht sie im Krankenhaus, nur der Bürobote bringt einmal Blumen im Auftrag einiger Kollegen vorbei. Ihr ist klar, dass sie, wenn sie wieder gesund ist, nicht zurück zu Fellner gehen wird.

Erzählt wird das, mit vielen Rückblenden und Zeitsprüngen, als Rosina Anfang dreißig ist und langsam, zumindest äußerlich, wieder Boden unter den Füßen und eine neue Arbeitsstelle gefunden hat, wo sie nun niemand mehr Chefin nennen wird.

Klingt das deprimierend? Nach der Lektüre spürte ich stattdessen eher eine stille Wut. Dieses schmale Werk rechnet ab mit einer Art der Arbeitswelt, in der der Mensch rein auf seine Nützlichkeit – wie eine Maschine – hin beurteilt und benutzt wird. Jeder ist ersetzbar und steht in Konkurrenz zu den KollegInnen. Also versucht Rosina, sich unersetzlich zu machen, bis zur völligen körperlichen und seelischen Überlastung.

Darüber hinaus wird nicht nur der Egoismus des Chefs, der die junge Frau ausnutzt, sondern auch der Wahn mancher Männer vorgeführt, die glauben, jede Frau dürfe berührt, betatscht und angegrabscht werden. Ein Nein wird überhört oder sorgt für Unverständnis und Aggression. Zugehört und sich für sie interessiert hat sich kaum einer der Männer, denen sie begegnet ist.

Das Spannende dabei: Rosina wird dabei keineswegs nur als Opfer der Umstände geschildert. Sie verfolgt zielstrebig ihren Plan, in der großen Stadt zu leben, obwohl sie aufgrund ihrer Sozialisation – die in einem Hotel arbeitende Mutter war allein erziehend und ihren Vater hat Rosina nie kennengelernt – nur sehr ungenaue Vorstellungen davon hat, wie das wohl sein wird. Sie weiß nur oder lässt es sich einreden, dass sie nicht als Ehefrau und berufstätige Mutter im Heimatort enden möchte.

War das ihr Leben? Hatte sie es alles gewollt, wie es verlaufen war? Hätte sie ein anderes Leben haben können? (S. 7/8)

Ihre jugendlichen Vorstellungen von einem idealen Partner, die fast zwangsläufig in Enttäuschung enden müssen, klingen eher nach Hollywood. Gleichzeitig ist sie auch ein kleiner Snob, wenn sie über einen gleichaltrigen Verehrer denkt „Wer war er denn schon?“ (S. 12) oder wenn sie sich schämt, als ihre einfach gekleidete Tante vom Land ihr Äpfel ins Fellnersche Büro bringt.

Als sie bemerkt, wie Fellner sie bevorzugt, scheut sie sich nicht, ihm von ihrem Wunsch nach einem eigenen Auto zu erzählen. Sie kann auch tough sein, so als sie beispielsweise ihren Führerschein macht, obwohl sie wenig Zeit hat.

Und nachdem der Leser/die Leserin weiß, wie sehr Rosina ihre Gesundheit in den letzten Jahren bei Fellner ruiniert hat, rührt es, wenn es nun heißt, dass sie nach Feierabend noch rasch ein paar Äpfel einkauft.

Sie, die vaterlos aufgewachsen ist, versteht jetzt, warum Männer wie Fellner für sie so anziehend sind.

Ist es die Selbstsicherheit, sind es die Umgangsformen, was zeichnete Leute wie Fellner aus, dass man sofort Zutrauen zu ihnen fasste? […] und jedes Mal hatte sie die Macht gespürt, die von diesen Leuten ausging, ein seltsames Gefühl der Geborgenheit auch, als könne ihr jetzt und hier im Dunstkreis dieses Menschen keiner etwas anhaben. (S. 42/43)

Dass dabei ihre Mädchenträume auf der Strecke geblieben sind und sie immer noch keinen wirklichen Gesprächspartner hat, ist wohl der Preis, den sie für ihr Aufwachen zahlen muss.

Die farbige Abbildung des Spiralnebels aus der Illustrierten fiel ihr ein. Sie hatte das doppelseitige Bild ausgeschnitten: Die Erde am Horizont des Mondes aufgehend, eine blaue, stellenweise etwas verschleierte Halbkugel. Sie wollte die Blätter – wenn sie einmal Zeit hätte – auf einen Karton aufziehen und irgendwohin hängen, sie ab und zu anschauen. Beim ersten Aufblättern der Gedanke: Wie unwichtig sind deine Probleme. Und nicht nur deine. Für einen Augenblick eine unerhörte Distanz, eine Befreiung. Und niemand im Raum, um mit ihm darüber zu reden. (S. 6)

Mir gefiel diese spröde, zurückhaltende und assoziative, dabei gleichzeitig präzise Art des Erzählens sehr, die alle Gefahren, ins Kitschige, Vorhersehbare oder Plakative abzurutschen, umgeht.

Keine Frage, das war für mich nicht das letzte Buch von Walter Kappacher (*1948 in Salzburg).

Gab es für sie überhaupt Grund, sich auf etwas zu freuen? Aufs abendliche Fernsehprogramm, wenn ein Spielfilm angezeigt war, der ihr vor Jahren einmal im Kino gut gefallen hatte? […] Manchmal, für Augenblicke, erwachte sie aus ihrer Isolation, in der sie sich eingerichtet hatte, und erschrak darüber, dass sie sich ganz wohl fühlte; nicht wohl, aber es war gut auszuhalten; es hätte schlimmer sein können. Wer war schon glücklich? Man brauchte nur die Gesichter der Leute anzuschauen. (S. 37)

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Ursula März: Tante Martl (2019)

Die Autorin und Literaturkritikerin Ursula März (*1957) hat ein hinreißendes Buch über ihre Patentante geschrieben. Die Eckdaten dieses Lebens werden uns gleich zu Beginn mitgeteilt, nachdem wir im Vorübergehen erfahren haben, wie Telefongespräche mit Tante Martl ablaufen und wie diese zu Thomas Gottschalk steht, den sie nur „de dumm Lackaff“ nennt.

Meine Tante war Lehrerin von Beruf. Sie heiratete nie und hatte keine Kinder. Außer ein paar Jahren während des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit verbrachte sie ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus in der westpfälzischen Kleinstadt Zweibrücken. Der einzige Wechsel ergab sich nach dem Tod ihrer Eltern, als meine Tante aus ihrer Wohnung im Erdgeschoss in das nun frei gewordene Obergeschoss zog. Danach verbrachte sie noch 38 Jahre allein in dem Haus, in dem sie an einem Junisonntag im Jahr 1925 geboren worden war. Sie war eine materiell unabhängige, interessierte und gebildete Frau, die schon in den Fünfzigerjahren ein eigenes Auto und immer ein eigenes Bankkonto besaß, die leidenschaftlich gern verreiste, mit kribbelnder Vorfreude ihre Touren in Mittelmeerländer, ins Gebirge und sogar ans Nordkap plante. Aber sie unternahm nie einen Versuch, sich vom Elternhaus zu lösen, zumal von einem Vater, der sie rücksichtslos spüren ließ, dass er sie nicht gewollt hatte. (S. 8/9)

Tante Martl war die jüngste von drei Schwestern (eine davon die Mutter der Autorin), von denen die zwei anderen immer wie selbstverständlich davon ausgingen, dass Martl eher so Dienstbotenstatus habe und und dass es Martl sei, die sich trotz ihrer Berufstätigkeit um die alten Eltern zu kümmern habe.

Selbst als die drei Schwestern schon ältere Frauen sind, wollen sie Martl nicht erlauben, sich von einer alten Wanduhr in ihrer Wohnung zu trennen, die schließlich schon immer im Elternhaus gestanden habe. So lebt Martl jahrelang mit einem Möbelmonstrum in ihrer Wohnung. Wie sie sich schließlich doch davon befreit, ist nur eine der unterhaltsamen und gleichzeitig anrührenden Geschichten in diesem Buch.

Abgesehen davon, dass schon allein die Bekanntschaft mit der keineswegs immer liebenswürdigen „Tante Martl“ für den Leser/die Leserin lohnt, war für mich eine weitere Besonderheit an diesem Buch, dass ich trotz aller Individualität, die jedes Leben ausmacht, doch viel über die Generation meiner Großeltern darin wiedergefunden habe. Die Frage, welche Schulbildung man seinen Töchtern zubilligt. Die Prägung durch ein autoritäres Elternhaus, in dem der Vater, der es unter Hitler bis zum Gefängnisdirektor bringt, sich unwidersprochen als Despot aufführen darf, sich in seiner Männerehre getroffen fühlt, als Martl die unverzeihliche Schuld auf sich lädt, nicht als Sohn auf die Welt zu kommen. So lässt er sie zunächst auf dem Standesamt als Martin eintragen, in der Hoffnung, dass sich das Universum seinen Wünschen vielleicht doch noch beugt.

Eine Kränkung, die Martl nie verwinden wird, und als sie im Alter langsam dement wird und sie so vieles schon vergessen hat, bricht sich die Traurigkeit darüber, nie vom Vater gewollt und anerkannt gewesen zu sein, noch einmal mit vielen Tränen Bahn.

Sie wird im Gegensatz zur Lieblingstochter füchterlich verprügelt, bis manchmal die Mutter mit den Worten dazwischengeht, er solle jetzt mal besser aufhören, sonst würde er sie noch totschlagen.

Vermutlich ist es ihm nie seltsam erschienen, dass es gerade Martl war, die sich später um ihn kümmerte, als er im Alter auf Pflege angewiesen war.

Die Irrationalität und Ungerechtigkeit im Umgang mit den Töchtern wirken sich natürlich auf deren weiteres Leben aus. Die Lieblingstochter Rosa ist später oft vom Leben überfordert und flüchtet sich lieber in Krankheiten und die Geschichten um den europäischen Adel in diversen Klatschmagazinen, schließlich ist sie auf nichts anderes vorbereitet worden.

Doch auch dieses Frauenschicksal ist nicht ohne den geschichtlichen Hintergrund zu sehen und zu verstehen. Rosa heiratete im Frühsommer 1944. Nach einer Woche Hochzeitsurlaub musste ihr Mann zurück zu seiner Einheit. Rosa erkrankte im Spätherbst 1944 an einer schweren Hepatitis. Als sie im Januar 1945 die Nachricht erhielt, dass er in Oberitalien bei einem Angriff eines Lazaretts – er war Arzt – ums Leben gekommen war, lag sie noch im Krankenhaus.

Ab dieser Zeit nahm sie die Position der überempfindlichen, von jedem Lüftchen bedrohten und kaum belastbaren Frau ein, die um Hilfe ruft, wenn eine große Bratpfanne von der Herdplatte gehoben werden muss. (S. 71)

Auch der Reinlichkeitswahn der ältesten Schwester Bärbel kommt vermutlich nicht von ungefähr. Als erwachsene Frau begeistert sie sich schließlich für das Desinfektionsmittel Sakrotan.

Sie kaufte Flaschen davon im Dutzend und fand im Desinfizieren des Haushalts große Befriedigung. Wenn ich bei ihr in Kaiserslautern zu Besuch war und mir vor dem Essen die Hände wusch, wartete sie ungeduldig, bis ich fertig war, sie einen Putzschwamm mit Sakrotan begießen und das Waschbecken ausreiben konnte. (S. 33)

März schafft es, uns diese Frauen nahezubringen, indem sie Geschichten, die in der Familie überliefert wurden, in Bezug setzt zu ihrer eigenen Beziehung zu Tante Martl und den vielen Gesprächen, die die beiden miteinander geführt haben. Dazu kommen zahlreiche, wunderbar ausgewählte und aussagekräftige Erinnerungen der Autorin, die auch die andauernden und oft nur unterschwellig ausgetragenen Familienkonflikte mit in den Blick nehmen und dem Ganzen eine große Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit verleihen.

Gleichzeitig bleibt das Buch durchlässig auf die Leerstellen und Widersprüchlichkeiten, die sich bei der Beschreibung dieses Lebens zeigen. Wer machte das wunderschöne Foto von ihrer ca. zwanzigjährigen Tante, auf dem sie wie auf keinem anderen glücklich und mit sich im Reinen in die Kamera schaut? Warum hat sie sich selbst als erwachsene Frau von ihren Schwestern den Wunsch nach einem Hund ausreden lassen, von dem sie doch ihr ganzes Leben geträumt hat?

Wie lassen sich die Unterwürfigkeit Tante Martls gegenüber der Familie und ihr Wunsch, in Restaurants immer auf den schlechtesten Plätzen zu sitzen, in Einklang bringen mit ihrer Emanzipation? Sie war die einzige der drei Schwestern, die eine überregionale Zeitung las, Auto fahren, einen Handwerker herbeibeordern und ihre Geldgeschäfte selbstständig regeln konnte. Und überhaupt: Eigentlich hieß sie Martina, wurde aber von allen immer nur als Tante, also in Relation zu ihrer Familie, bezeichnet.

Wie war die oft schroffe Frau als Lehrerin? Schließlich kommen zur Beerdigung viele ihrer ehemaligen HauptschülerInnen, von denen sich einer mit besonderer Dankbarkeit an sie erinnert.

Und manche der Szenen sind einfach unglaublich komisch und zeigen, zu welchen Absurditäten das ganz „normale“ Familienleben immer wieder führen kann.

Eine besonders schöne Stelle beschreibt, wie die Autorin als Kind mit ihrer ca. vierzigjährigen Tante auf einem Jahrmarkt unterwegs ist. Das Kind möchte so gern, dass Tante Martl einmal zusammen mit ihr mit dem Kettenkarussell fährt.

‚Isch will net‘, wehrte sie barsch ab, ‚isch bin doch ke Hanswurscht, wo sisch vor de Leut blamiert.‘ (S. 34)

Das Kind schafft es mit einem Trick, dass der Tante nichts anderes übrigbleibt, als in das Karussell zu steigen, andernfalls wären noch viel mehr Menschen auf das Gerangel der beiden aufmerksam geworden.

Es begann sich zu drehen, nach ein paar Metern schwebten wir über dem Boden, bei der nächsten Runde lag das Kirmesgelände schon weit unter uns. Ich schaute zu meiner Tante hinüber und hoffte, es würde ihr nicht schwindlig oder übel. Mit den Händen umklammerte sie ängstlich die seitlichen Metallgriffe des Sessels, aber in ihrem Gesicht sah ich den lachenden  Jubel, nach dessen Ausdruck ich mich gesehnt hatte. (S. 35)

Auf der Homepage des Deutschlandfunk gibt es ein Interview mit der Autorin.

Und Lena Riess hat das Buch ebenfalls gelesen.

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Dieter Wellershoff: Der Ernstfall (1995)

Ursprünglich nur zur Hand genommen, um zu überprüfen, ob das Buch, das jahrelang im Regal der ungelesenen Bücher geschlummert hat, nun das Haus in Richtung öffentlicher Bücherschrank verlassen sollte, habe ich mich doch festgelesen in den autobiografischen Kriegserinnerungen von Dieter Wellershoff, die 1995 unter dem Titel Der Ernstfall: Innenansichten des Krieges veröffentlicht wurden.

Warum wieder zurückblicken nach fast einem halben Jahrhundert? Was suchte ich? Was erwartete ich zu finden, als ich mich Ende März 1994 auf den Weg nach Bad Reichenhall machte, wo ich den Kriegswinter 1944/45 im Lazarett verbracht hatte? Meine chronisch erkrankten Nasennebenhöhlen zu kurieren, war das praktische Ziel meiner Reise. Doch zugleich und vielleicht sogar vor allem war es für mich eine Reise in die Vergangenheit. (S. 11)

Obwohl zum Zeitpunkt des Schreibens die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges schon Jahrzehnte zurückliegt, gelingt es Wellershoff über weite Strecken die Leser mitzunehmen in seine Erinnerungen und Reflexionen. Formuliert in seiner präzisen, manchmal ein wenig spröden Sprache.

Vieles, was heute schwer verständlich ist und deshalb oft rasche, schematische Urteile herausfordert, bedarf genauerer Beschreibung. Zum Beispiel die Tatsache, daß ich, wie die meisten meiner Klassenkameraden, mit siebzehn Jahren als Freiwilliger in den Krieg zog, obwohl, trotz der Schönfärberei der Wehrmachtsberichte, sich seit Stalingrad immer deutlicher abzeichnete, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Kriegsbegeisterung, wie ich sie noch in den ersten Kriegsjahren als Schüler empfunden hatte, war das nicht. Auch keine fanatische Opferbereitschaft, sondern eher eine noch fortbestehende patriotische Konvention, gegen die man, da das zu gefährlich war, auch im Gespräch unter Freunden keine Argumente entwickelt hatte. Man tat es, weil es üblich war, konnte aber die heimlichen Befürchtungen und fatalistischen Perspektiven vor sich selbst nicht mehr dauerhaft verdecken. Ich zog in diesen Krieg mangels einer Alternative und ohne Illusionen, aber mit einem vagen Pflichtgefühl, das im Grunde eine Solidarität gegenüber all jenen war, die es auch getan hatten, und gegenüber den vielen, die gefallen waren. Dieses Zugehörigkeitsgefühl war brüchig. Aber es war noch nicht ganz aufgelöst. Beigemischt war dieser Haltung auch ein jugendliches Bedürfnis nach Bewährung und ein wachsender Überdruß an der Schule, die uns vor dem Hintergrund des Krieges als ein unauthentischer Ort erschien, an dem man nicht erwachsen werden konnte. (S. 22)

So lesen wir nicht nur von Erschießungskommandos in Tegel, für die sich die Soldaten freiwillig meldeten, und dem grauenvollen Alltag und Verrecken der Soldaten an der russischen Front, sondern erfahren auch, wie Wellershoff im Nachhinein das Informationsvakuum einschätzt, in dem sich die deutschen Soldaten befanden.

Als Görings Vorschlag, den militärischen Gruß durch den Hitlergruß zu ersetzen, von Hitler gebilligt und verbindlich angeordnet wurde, fanden das viele Berufsoffiziere ganz schrecklich (als ob es darauf noch angekommen wäre) und der Oberleutnant

machte diesen Gruß in einer Weise vor, als wolle er damit die Bedeutung ausdrücken, die dem Nazigruß im Volksmund untergeschoben wurde: ‚So hoch liegt der Schutt in Berlin.‘

Besonders interessant fand ich die Ausschnitte aus zeitgenössischen Quellen, aus denen Wellershoff zitiert.

Als Walter Schellenberg, damals Chef des deutschen Geheimdienstes, Göring 1942 ein Dossier über die Produktionskapazität der amerikanischen Stahlerzeugung und der amerikanischen Rüstungsindustrie […] vorlegte, gab ihm Göring das Papier mit der Bemerkung zurück: ‚Alles, was Sie da geschrieben haben, ist Quatsch. Sie lassen sich am besten auf Ihren Geisteszustand untersuchen.‘ […] Der gleiche Vorgang wiederholte sich Anfang April 1945, als General Gehlen […] einen Bericht über die sowjetische Rüstungsindustrie vorlegte. Hitler nannte die ermittelten Produktionszahlen ‚übertrieben, defaitistisch, ja idiotisch‘ und ließ Gehlen ablösen. (S. 149)

Hübsch fand ich auch die Anmerkung, dass

ein von Himmler beauftragter Astrologe für das Jahr 1945 eine deutliche Besserung der militärischen Lage Deutschlands vorausgesagt [hatte]… (S. 151)

Gegen Ende des Buches macht Wellershoff sich Gedanken darüber, wie man, wenn überhaupt, aus der Geschichte lernen kann. Selbstgerechte Schuldzuweisungen von moralisch einwandfreier Warte, bei denen man von vornherein unreflektiert davon ausgeht, dass man selbst nie auf Hitler oder irgendwelche anderen mörderischen Ideologien hereingefallen wäre oder hereinfallen würde, gehen laut Wellershoff am Kern der Sache vorbei und sind ihm eher ein Zeichen unbewusster Abwehr.

Nicht jeder ist sicher genug, um sich ungeschützt den Schwindelgefühlen abgründiger Erkenntnisse über die Wirrnisse und Schrecken des Menschenmöglichen auszusetzen.

Heute denke ich, daß es notwendig ist, immer wieder zum Individuellen vorzudringen. Man muß nach den lebensgeschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Verhaltens fragen. ‚Wovon bist du ausgegangen? Was hast du gewußt und was hast du gedacht? Was hast du getan und was für Folgen hat es gehabt? (S. 272)

Den Krieg hat Wellershoff als für sein ganzes späteres Leben als prägend erfahren, u. a. dahingehend, dass ihm kollektive Identitäten von nun an suspekt waren, da sie sich doch immer wieder als mörderische Wahngebilde entpuppen. Die daraus resultierende „weltanschauliche Obdachlosigkeit“ habe er als Glück, als „geschenkte Freiheit“ erlebt.

Außerdem verdanke er dem Krieg

die Einsicht in die Zufälligkeit meiner Existenz. (S. 289)

Darüber hinaus blieb eine gewisse Skepsis, was die menschliche Natur angeht:

Ich will daraus nicht ableiten, daß man mit Menschen alles machen kann. Aber ihr Sinn- und Glaubensbedürfnis, ihr Wunsch nach Anerkennung und Zusammengehörigkeit und vor allem ihr Angewiesensein auf den Schutz der Gesellschaft macht sie zu einem extrem formbaren Material. Nicht nur die vergangenen Kriege, auch die terroristischen Fanatismen unserer Tage beweisen es. (S. 280)

Und drittens blieb für Wellershoff, der 2018 in Köln verstarb, eine

unaufhebbare Fassungslosigkeit über das sechs Jahre dauernde Massenschlachten und seinen finstersten und innersten Bereich: die Todesfabriken der deutschen Konzentrationslager.

Der Autor, für den Literatur immer ein Simulationsraum war, in dem die LeserInnen Erfahrungen machen können, ohne sich dabei selbst in Gefahr zu begeben, wurde zwar 1925 geboren und damit 21 Jahre nach meinem Großvater, dennoch habe ich die Erinnerungen Wellershoffs auch ein bisschen als Ersatz für die nicht stattgefundenen Gespräche in meiner Familie lesen können.

Lesenswert sind auch die Erinnerungen seiner Frau Maria Wellershoff (1922-1921), die 2010 unter dem Titel Von Ort zu Ort – eine Jugend in Pommern erschienen sind.

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Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser (1914)

Im Klappentext des Steidl Verlags zu Abendliche Häuser (1914) von Eduard von Keyserling heißt es:

Alles beginnt damit, daß der einzige Sohn des baltisch-deutschen Schloßherrn von Paduren bei einem Duell ums Leben kommt. Und so kehrt seine Schwester, die junge Baronesse mit dem aparten Vornamen Fastrade, aus dem fernen Hamburg heim. Hier setzt sie ihre Verlobung mit Dietz Egloff durch, der wegen seiner Affären verrufen ist.

Beim Lesen des Romans von Keyserling (1855-1918) las ich noch einmal Petras Würdigung dieses Autors.

Petra schafft es, in wenigen Sätzen das zu sagen, wofür ich wieder drei Seiten benötigen würde, deshalb hier nur einige meiner Lieblingsstellen aus den Abendlichen Häusern.

Fastrade, die Tochter des alten Barons, fügt sich nach ihrer Zeit als Krankenschwester in Hamburg nach ihrer Rückkehr ins väterliche Schloss nicht mehr ganz so unbedarft in ihr altes Zuhause ein. Schon am ersten Abend stellt sie fest, dass sich etwas für sie verändert hat.

Fastrade saß ruhig da und ließ ihre Blicke im Zimmer umherschweifen, suchte die Sachen an ihren gewohnten Plätzen auf. Es stand alles dort, wo es einst gestanden, alles war unverändert, und dennoch schien es ihr, als sei es verblaßter, farbloser als das Bild, welches sie die ganze Zeit über in ihrer Erinnerung herumgetragen, das Getäfel schien dunkler, die Seide der Möbel verschossener, die Kristalle des Kronleuchters undurchsichtiger. All das erschien Fastrade wie eine Sache, die wir sorgsam verschließen, und wenn wir sie endlich wieder hervorholen, wundern wir uns, daß sie in ihrer Verborgenheit alt und blaß geworden ist. (S. 21)

Und so erstickt Fastrade nach ihrer Heimkehr fast an der Leblosigkeit, Langeweile und der erzwungenen Untätigkeit auf dem heimischen Schloss, wo nach dem Tod ihres Bruders noch mehr Melancholie und Tristesse herrschen als früher. Nur in der Natur, im Park oder tief verschneiten Wald, beim Spazierengehen oder auf einer Kutschfahrt spürt sie sich.

So kommt es, dass sie nur mit Dietz von Egloff, einem Spieler und Schürzenjäger, den sie seit Kindesbeinen kennt, ehrlich sprechen kann. Und obwohl Vater und Tante an Traditionen, Konventionen und dem Wahren des Scheins festhalten möchten, bekommt Fastrade die Erlaubnis, sich mit von Egloff zu verloben.

Mein Gott, dachte Fastrade, man lebt doch hier, als ob man gleich erwachen müßte, um dann erst mit der Wirklichkeit zu beginnen. (S. 74)

Und kennen wir nicht alle so einen Menschen, der mit untrüglichem Gespür etwas Negatives findet, das er sagen kann und muss?

So heißt es von Baronin Port, sie sei eine Frau,

die es nicht liebte, die Schattenseiten an Menschen und Sachen zu übersehen. (S. 11)

Dem Autor gelingt es, mit nur wenigen Sätzen eine Person so zu charakterisieren, dass sie rund und lebensecht ist. Und wie er dabei einfache Schubladen und Schwarzweiß-Zuordnungen vermeidet und mit feinem Pinselstrich nicht nur eine längst vergangene Welt und Gesellschaftsschicht vor unseren Augen entstehen lässt, sondern auch die Vorboten einer veränderten Zeit sowie die Folgen misslungener Erziehung und elterlicher Fehler veranschaulicht: großartig.

Und wenn man bedenkt, dass das Buch 1914 erschien, dann wirken die Worte der alten Baronesse, Fastrades Tante, fast prophetisch:

‚Ja, Kind‘, sagte die Baronesse, ‚ wir haben nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt.‘

 

 

Tarek Leitner; Peter Coeln: Hilde & Gretl (2018)

Es ist herausfordernder denn je, täglich zu entscheiden, was aufzuheben, was wegzuwerfen ist. Was hat einen funktionellen Wert, was zumindest einen ideellen? Was hat seinen Wert verloren, und wird auch in keinem anderen Zusammenhang mehr einen bekommen? Es ist eine Kulturtechnik zu unterscheiden, wovon man sich zu trennen hat, was seinen Platz im Haus behält. Diese Kulturtechnik wird uns aber nicht gelehrt. Sie ist auch einem Wandel unterworfen, so rasch, wie sich auch die uns umgebenden Dinge ändern. Wir müssen sie uns ein Leben lang erarbeiten. Oft braucht es einen Schritt zurück, um aus einiger Entfernung einen Blick auf das Alleralltäglichste, das was uns ständig umgibt, zu werfen. Die meiste Zeit ist es zu nah, um es sehen und erkennen zu können. Es geht uns doch meistens so, dass wir die eigene Einrichtung nicht mehr bewusst wahrnehmen. Wir werden blind dafür … (S. 17)

Peter Münch beschreibt in der Süddeutschen, wie der Fotograf Peter Coeln dazu kam, ein altes Haus zu kaufen, was wiederum zur Entstehung dieses Buches geführt hat:

Es ist eine dieser Ideen gewesen, die aus dem Bauch heraus kommen. Ein Freund hat von einem Haus im niederösterreichischen Waldviertel erzählt, denkmalgeschützt und voller Gerümpel, leer stehend schon seit geraumer Zeit. Und Peter Coeln, der Wert darauf legt, kein Sammler zu sein, sondern Jäger, beschließt spontan, das Haus zu kaufen. Ungesehen, für 32 000 Euro, mit allem, was dazugehört. Einen Plan hat er nicht, aber als die Nachbarn fragen, was denn nun werden soll aus diesem Haus, da sagt er: „Ein Buch“.

Coeln und Leitner finden, dass sich im ehemaligen Schuhhaus Höfler in Gars, Niederösterreich, im dem Jahrzehnte lang die zwei Cousinen Hilde und Gretl gelebt haben, sehr schön studieren lasse,

was sich im Leben eines Menschen, oder – wie in diesem Fall – im Leben zweier Menschen alles ansammelt. Sie sammelten nichts. Es sammelte sich. Und sie ordneten dann. (S. 18)

Und genau dem gehen die beiden mit zahlreichen Fotos und in großzügig formatierten Essays nach.

Doch ginge es meines Erachtens nicht nur darum, was sich an Gegenständen, Kleidung, Dokumenten und selbst an Müllabfahrtsplänen ansammeln kann, wenn man Jahrzehnte lang nichts wegwerfen mag. Es müsste auch um die Frage gehen, warum man Dinge erwirbt – warum sonst die unzähligen Engelfiguren, die sich im ganzen Haus verteilt finden?

Mein Eindruck zu den vielen Fotos von Coeln ist gespalten. Ist es nicht voyeuristisch, anhand der Fotos in zwei Leben hineinzublicken, obwohl man doch gar nicht zur Wohnungsbesichtigung eingeladen war?

Und doch habe ich die Fotos sehr gern angeschaut, weniger aufgrund der Möglichkeit, Zeuge dieser zwanghaften und wunderlichen Sammeleien zu sein, sondern vielmehr deshalb, weil derlei „altmodische“ Einrichtung im Verschwinden begriffen ist. Noch heute bedauere ich, dass meine Großmutter in den siebziger/achtziger Jahren ihren wunderschönen Küchenschrank aus Holz gegen einen gesichtslosen, hässlichen, aber ach so modernen grauweißen Kunststoffschrank eingetauscht hat.

Geld und moderne Einrichtung sind nicht die Dinge, die einer Wohnung, einem Haus etwas sehr Eigenes geben und etwas über die Persönlichkeit der Bewohner verraten.

Was mich zum einen an diesem Buch gestört hat, war, wie wichtig sich die beiden Autoren zu nehmen scheinen. Zwischendurch geraten die ehemaligen Bewohnerinnen da arg aus dem Blick. Bis hin zu den albernen Momenten, in denen sich die beiden Männer Kleidung der Verstorbenen anziehen, um so noch ein wenig mehr der Aura nachspüren zu können. Und dass sich neben den über 100 Paar Frauenschuhen im Haus genau zwei Paar Männerschuhe befanden, die dem Autor und dem Fotografen wie angegossen gepasst haben sollen, ja, dass das Haus geradezu auf sie gewartet habe, nun, das mag man sehen, wie man mag.

Es brauchte für dieses Unterfangen einen Sichtungshut und einen Räumrock. Der Sichtungshut war der ideale, weil er im Thomas Bernhardschen Sinne ein Denkhut war, der gleichzeitig vor dem Spinnwebenhimmel schützte und durch seine Strohkrempe gute Sicht bot. […] Und der Räumrock ließ uns der Sache näher kommen, weil er das Eindringen kaschierte. Der Räumrock umhüllte uns wie Kutten die Mönche, die in diesem reduzierten, nicht ablenkenden Gewand, hochkonzentriert ihren Verrichtungen nachgehen können. Nichts Fremdes, Aktuelles, gar Modisches, war an uns zu sehen. (S. 48)

Wer wissen möchte, wie er sich das vorzustellen hat, kann sich das auf YouTube anschauen.

Zum anderen werden die Biografien der beiden Frauen leider nur sehr spärlich und in Ausschnitten beleuchtet. Ich erfahre weder, von wann bis wann die Frauen gelebt haben, noch wieso irgendwann die Cousine mit ins Haus gezogen ist, was genau passiert ist, dass das Haus gerade zum Weihnachtsfest in einen Dornröschenschlaf fiel, selbst die Geschenke auf dem Tisch waren noch nicht ausgepackt.

Nur der nebulöse Hinweis auf die Pflegebedürftigkeit der betagten Damen, der zu dem Auszug der beiden geführt habe:

Wer solch ein Leben führt, kann das nicht plötzlich an einem anderen Ort, schon gar nicht an einem anderen Ort in hohem Alter wieder beginnen. Es war ein kurzer Versuch, eine Entscheidung, die andere über die beiden getroffen haben, aber der Versuch musste scheitern. (S. 127)

Der im Klappentext vollmundig formulierte Anspruch, dass sich in den abertausenden Dingen „kunstvoll eine Inventur des Alltags im 20. Jahrhundert“ schreibe, kann jedenfalls nicht eingelöst werden.

Am stärksten ist das Buch da, wo der Autor sich Fragen stellt:

Das „Wozu“ bleibt trotzdem unbeantwortet. Wozu schreibt man das alles auf? Was bedeutet schon eines, oder in unserem Falle zwei dieser Milliarden Leben, die es gibt, und noch mehr, die es allein im 20. Jahrhundert gegeben hat, mit all ihren kleinsten Verzweigungen, ihren Erlebnissen, ihren Einstellungen, Zufällen, Gefühlen, Motiven, Beweggründen, Erklärungen und Entschuldigungen? Wozu hebt man eigentlich seine Schulbücher auf? Nur weil sie vielleicht so viel Mühe gemacht haben oder Zeugnis von Qualen sind? […] Aber vielleicht wollen wir gar nicht die Vergangenheit konservieren, sondern bei all den Gedanken über diese Alltagsgegenstände Ordnung und Struktur in unser eigenes Leben bekommen, und die Wertigkeiten unserer Dinge und Tätigkeiten überprüfen. (S. 132/133)

Zum Abschluss empfehle ich noch die kritischen Anmerkungen auf dem Blog Stars in Gars sowie die Besprechung auf Vielfalten.

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Jochen Missfeldt: Solsbüll 1989/2017

Alles liegen lassen. Wer ruft da. Die Blätter über mir rufen nicht. Sie gehen im Südwest hin und her, machen leise Blattgeräusche im Wind. Sie atmen ein und aus, Tag und Nacht. (S. 7)

So beginnt der Roman, dem Hans Daiber bei seinem Erscheinen 1989 höchstes Lob zollte. Daiber schrieb in der ZEIT:

Dieses Solsbüll rückt Maßstäbe zurecht. Was heutzutage sich so alles „Roman“ nennt! Dies ist einer. Eine weit ausgesponnene, welthaltige Familienchronik. Eine kleine Welt, aber sie spiegelt die große.

So recht konnte sich, vielleicht auch dem Erscheinungstermin geschuldet, das Buch nicht durchsetzen. Doch 2017 wurde der Roman in einer vom Autor durchgesehenen Ausgabe neu bei Rowohlt verlegt.

Jetzt aber zum Inhalt.

Der Erzähler nimmt uns fast ein Jahrhundert lang mit in das (fiktive) schleswig-holsteinische Städtchen Solsbüll, gelegen an der Bahnlinie zwischen Kiel und Flensburg, und breitet ein Kleinstadtpanorama vor den LeserInnen aus, das drei Generationen umfasst. Dabei hangeln wir uns – nicht streng chronologisch, sondern auch vor- und zurückspringend – vor allem an der Familie der Hebamme Anne Hasse entlang. Die verliert ihren geliebten Mann Gustav im Ersten Weltkrieg und muss fortan ihre zwei Töchter Gret und Rosa und ihren Sohn Gustav den zweiten allein durchbringen.

Rosa und Gustav sterben im Zweiten Weltkrieg, doch Rosas Sohn Gustav der dritte wächst bei Tante Gret, ebenfalls Hebamme, und Großmutter Anne auf und führt mit seinen Kindern die Erzählung bis zum Ende der achtziger Jahre. Ihm wird auch als Einzigem zugestanden, in der Ich-Form erzählen zu dürfen.

Tante Gret wiederum ist diejenige, die so etwas wie den Familienkodex der Hasses formuliert:

Man soll keinem weh tun, denn weiß man, wie dieser oder jener es in seinem Leben gehabt hat, man weiß es nicht, wir schon gar nicht. (S. 407)

Allerdings handelt es sich hier um weit mehr als einen Familienroman. Der Autor nimmt eine ganze Dorfgemeinschaft mit in den Blick, manche tauchen nur kurz auf, andere heiraten, bekommen Kinder, die dann wieder mit Gustav dem zweiten oder Gustav dem dritten aufwachsen. Da gibt es den Arzt, der heftig mit den Nazis sympathisiert, obwohl er selbst jüdische Eltern hat.

Und da gibt es den Ober-Nazi Staiger, dessen Geliebte ausgerechnet Eva heißt. Staiger ist es auch, der das ganze Dorf unter seine Fuchtel bringt, politische Feinde aus dem Amt jagt und Spaß an Schikane und Willkür findet. Wer bei der Tollerei nicht mitmacht, bekommt die Quittung oder die Knochen gebrochen.

Nach dem Ende des Krieges geht man über die vergangenen Jahre hinweg wie über einen peinlichen Verwandten. Neue Geschäfte machen auf, der Lebensstandard steigt. Das Kino hat mit zurückgehenden Besucherzahlen zu kämpfen, da alle nun daheim vor den neuen Fernsehapparaten sitzen und dort die Heimatfilme um Förstertöchter und Barone schauen.

Und Gustav der dritte – übrigens wie auch sein Autor Missfeldt 1941 geboren – muss sich damit arrangieren, dass er diese Woche mit der Kinderbetreuung dran ist.

Wären die Kinder doch bloß schon erwachsen und aus dem Haus und brauchten nicht jeden Morgen den Schubs in die Schule. Dann müsste ich nicht jeden Morgen so rumlaufen. Dann müsste ich nicht jeden Morgen mit gespielter Freundlichkeit ans Kinderbett und dreimal flüstern: Hallo, süßer Schatz, du musst aufstehen, es ist schon Viertel nach sechs durch. Das kostet Kraft, ich muss mich erst mal aufraffen und tief durchatmen, bevor ich was sage. (S. 47)

In seinen besten Momenten schafft der Roman etwas ganz Seltenes, er macht unsere Umwelt – zumindest die kleinstädtische und dörfliche – durchlässig. Plötzlich begreift man, dass die Vergangenheit genau dort stattgefunden hat, wo wir uns heute befinden. Es gibt Verbindungslinien, die bis in die Gegenwart reichen, sei es durch die Generationen, die aufeinander folgen, sei es durch die Trauer über vorzeitige Witwenschaft, die ja an die Kinder weitergegeben wird, oder sei es durch die Landschaft, die mehr oder weniger unverändert fortbesteht. Nichts ist endgültig abgeschlossen, endgültig vorbei.

Doch leider verwischt sich das im Laufe der Lektüre wieder. Mir ist der Chronist, der über weite Stellen so unbeteiligt berichtet, ja geradezu referiert, zu unpersönlich. Wenn von den Verbrechen an den Juden im Ort erzählt wird, bleibt das oft weit weg. Vielleicht war das sogar so für viele im Dorf. Doch das macht die Sache für mich als Leserin nicht besser.

Allerdings gibt es immer wieder Stellen, die mich bei den ca. 450 Seiten bei der Stange gehalten haben, weil sie in verdichteter Form etwas Grundsätzliches zum Menschsein sichtbar machten, z. B. als Anne im Februar 1943 eine Postkarte einer jüdischen Dorfbewohnerin erhält, die ihr ganz arglos schreibt, dass es übermorgen nach Theresienstadt gehe. Oder auch als der Ober-Nazi Steiger dem Jungen Gustav die Strafe mitteilt, die dieser auf sich gezogen hat, weil Gustavs Hund Hitler in den Hose gebissen hat.

Daneben auch skurrile oder ganz lakonisch erzählte Szenen, die mir sehr gefallen haben.

Gret war mit dem Fahrrad losgefahren. Die neue Seidenbluse sollte eingeweiht und der Rock sollte mal vom Fahrtwind durchgepustet werden. Wie zufällig war sie in Güldenholm gelandet. Als sie den Verwalter Hannes Hansen sah, der mit einer Ladung Roggensäcke auf dem Weg zur Matzen-Mühle war, war sie rot angelaufen und hatte ihren Blick im Seerosenteich verschwinden lassen, wo der bissige Schwan Gottfried gerade sein Federkleid umfänglicher machte und imponierend mit den Flügeln schlug. (S. 203)

Interessant auch, dass Kristof Wachinger, der den Roman als erster herausgebracht hat,  in seinem Nachwort genau die Szenen als für die Handlung entbehrlich bezeichnet, die für mich zu den schönsten gehören, da in ihnen der heranwachsende Gustav der dritte so wunderbar plastisch wird, wie er da in seiner norddeutschen Dorfidylle als Abenteuererheld durch die Prärie zieht und sich vor Feinden rechtzeitig in Deckung bringt.

Gustavo und der Colonel kamen langsam heraus aus dem tiefen Tal, erklommen und durchmaßen ein dürftig bewachsenes Vorgebirge, überquerten die Solsbüller Au, hier Rio Agava, auf einer schmalen Brücke, wo ein Feldweg rüberging, denn weiter oben war der Rio Agave zu reißend. (S. 322)

Schön, immer wieder die Sprache, poetisch, verträumt.

Immer ist da eine Winternacht mit einem langen Schlaf und einem langen Traum, der sich mit Frieden meldet, der immer wieder Frieden sagt und sich so durch den langen Schlaf zieht. Wie spät ist es. Wie spät ist es unterm Birnbaum. Wie spät ist es unterm Himmel. Sag mir, wie spät es ist. Wer legt seinen Kopf in meinen Schoß. Wer ist des Todes wie ich. Wer gedenkt der Steinbrüche und Steine, die rollen und lärmen und endlich still liegen bleiben. Wer gedenkt des Himmels und des Birnbaums, die über uns sind. Wer gedenkt der Erde und der Birnbaumwurzeln, die unter uns sind. (S. 275/276)

Doch alles in allem bleibt mein Eindruck blass, es hallt zu wenig nach, da Missfeldt für mich kaum jemanden des ausufernden Figurenensembles – nicht ohne Grund gibt es ein 12-seitiges Personenverzeichnis – so richtig zum Leben erweckt. Und hin und wieder habe ich mich in dem Wirrwarr der Namen verirrt und den Bezug zu den Figuren verloren.

Der Wecker klingelt, sechs Uhr. Jeden Morgen saure Mühsal. Wer steht auf, du oder ich. Ich schlafe, oder ich schlafe nicht. Ich habe geträumt, aber ich weiß nicht mehr, was. Oder ich träume, dass ich es weiß, also schlafe ich. Aber ich weiß nicht genau, ob ich schlafe, also bin ich wach, und schon weiß ich: Bloß nicht aufstehen. Das wäre gut, nicht aufstehen zu müssen, denn nichts ist schrecklicher als aufstehen. Nichts ist schrecklicher als in die Senkrechte zu kommen und das eigene Gesicht im Spiegel zu sehen. (S. 46)

Peter liest und konnte dem Roman deutlich mehr abgewinnen.

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Jens Rehn: Nichts in Sicht (1954)

Die Dünung war vollständig eingeschlafen. Die Sonne brannte auf die reglose See. Über dem Horizont lag leichter Dunst. Das Schlauchboot trieb nur unmerklich. Der Einarmige beobachtete unablässig die Kimm. Der Andere schlief. Es war nichts in Sicht.

So beginnt der Roman des ehemaligen U-Boot-Kommandeurs und späteren Literatur-Redakteurs Jens Rehn (1918 – 1983). Das Buch erschien 1954 und wurde 1978, 1993, 2003 und dann noch einmal 2018 vom Schöffling & Co. Verlag veröffentlicht.

Ein Schlauchboot ist etwa 2,5 m lang und 1,5 m breit. Der Mittelatlantik ist im Verhältnis hierzu so groß, daß seine genauen Maße keine Rolle spielen. Wenn ein Schlauchboot allein im Mittelatlantik treibt, ist es gleichgültig, ob es im Frieden oder im Kriege dort driftet. Es ist auch unerheblich, welcher Nationalität zwei Menschen angehören, wenn sie allein im Mittelatlantik treiben und verdursten werden, wenn man sie nicht rechtzeitig findet. Die Sonne ist uninteressiert daran, ob der Einarmige ein Amerikaner, der Andere ein Deutscher ist, und ob beide im Jahre 1943 im Mittelatlantik auf einem Schlauchboot hocken. Die Sonne strahlt nur ihre Wärmeenergie ab, steigt auf, kulminiert und versinkt wieder. Die See zeigt sich unbewegt und ohne Anteilnahme, wer auf ihr herumtreibt. Der Mittelatlantik bleibt groß, und das Schlauchboot bleibt klein. Die Grenzen verschieben sich niemals. (S. 9)

In diesen wenigen Sätzen ist der Inhalt des Romans auf den Punkt gebracht, der auf eigenen Erfahrungen des Autors und auf Erzählungen von Kriegsgefangenen  beruht.

Ein deutscher U-Boot-Matrose und ein amerikanischer Pilot – nur benannt als der Andere und der Einarmige und eigentlich ja verfeindet – finden sich also nach einem Angriff gemeinsam auf einem Schlauchboot, geben sich Halt, so gut es geht, und teilen die letzten spärlichen Schokolade-, Whisky- und Zigarettenvorräte. Trinkwasser ist keines an Bord. Der Amerikaner stirbt kurze Zeit später an seiner Wunde, der Deutsche hatte ihm notgedrungen den Arm amputieren müssen. Der Andere wartet weiter auf Rettung, schaut nachts in den wunderschönen Sternenhimmel und wird tagsüber von einer gleichgültigen Sonne verbrannt. Der Mann spürt den allmählichen Verfall seines Körpers und sinniert über sein Leben, die Sinnlosigkeit allen Tuns und beschimpft Gott, an den er nicht glaubt. Der Titel des Buchs Nichts in Sicht ist gleichzeitig das Credo des Matrosen.

Du weißt immer erst etwas, wenn du keine Zeit mehr hast. (S. 36)

Ursula März erinnert in ihrem Nachwort in der Ausgabe von 2018 zu Recht daran, dass sich Rehns Buch in gedanklicher und zeitlicher Nähe zu Warten auf Godot (1952) und Hemingways Der alte Mann und das Meer (1952) befindet. Zunächst von Kollegen wie Siegfried Lenz und Gottfried Benn und Kritikern wie Reich-Ranicki gelobt, fiel das Werk trotz mehrerer Neuveröffentlichungen der Vergessenheit anheim.

Sie interpretiert das Werk als „eine Parabel über die metaphysische Verlorenheit des Menschen und sein vergebliches Warten auf eine Antwort des Großen“, wie er im Roman genannt wird. (S. 165)

Gleichzeitig wies März schon 2003 in ihrer Besprechung in der Frankfurter Rundschau darauf hin, dass es da ja eine Erzählinstanz geben müsse.

Der Gott, der sich von den sterbenden Soldaten so grausam abwendet und nicht daran denkt, ihnen zu helfen, tritt zugleich als Berichterstatter ihres einsamen Sterbens auf. Denn wer sollte, nachdem beide Soldaten tot sind, davon berichten können, wenn nicht „der Große“ in Gestalt der Sonne? Es ist kaum eine literarische Erzählung denkbar, die die Widersprüche des modernen Gottesdiskurses schärfer und anschaulicher darstellte.

Das Fehlen jeglicher Kriegsanekdoten in den Gesprächen der beiden Männer vermittele die Botschaft:

Das Einzige, was sich vom Krieg zu erzählen lohnt, ist das Sterben des einzelnen Menschen. Kompromissloser lässt sich die Sinnlosigkeit des Krieges kaum vermitteln. (S. 167)

und

Die Meisterschaft dieses schmalen Buches aber liegt in der Ausweitung einer historischen Begebenheit zur Universalmetapher der Todesverlassenheit. (S. 168)

Mein eigenes Fazit fällt gemischter aus. Auf der einen Seite ist es wirklich ein ungewöhnliches Buch, radikal, an manchen Stellen zwingend, unpathetisch, kühl sezierend. Und sicherlich die Frage aufwerfend, was den verzweifelten Menschen durch den Kopf gehen mag, die heute auf anderen Schlauchbooten auf lebensgefährlicher Fahrt das Mittelmeer zu überqueren versuchen.

Gleichzeitig brachten die Wiederholungen irgendwann keinen Erkenntnisgewinn mehr, und viele Passagen fand ich hölzern. Das Buch fing an, sich wie das Schlauchboot nur noch auf der Stelle zu bewegen. Ich ertappte mich dabei querzulesen.

Und an einer Stelle muss ich der bissigen Kritik von Hermann Kurzke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 2004 recht geben. Die beiden Männer im Schlauchboot reden über alles Mögliche, aber an keiner Stelle über Hitler und all die gesellschaftlichen Ursachen, die sie überhaupt erst in diese Lage gebracht haben. Das wäre dann nicht mehr so schön existenzialistisch:

So spiegelt die Erzählung die ganze Hilflosigkeit der fünfziger Jahre wider, die an der Ursachenanalyse scheitert und sich statt dessen gläubig in die düstere Toga des Nihilismus hüllt.

Ein jeder tot, tot oder noch lebend, trieb in seiner kleinen Einsamkeit und wußte nur sich selber. (S. 134)

Und hier noch die Besprechung aus dem Spiegel (1955).

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Gastbeitrag: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts von Joseph Roth bis Hermann Burger (1994)

Klaus liest gern Erzählungen und genau darum soll es heute gehen:

Zu den Anthologien, die MRR herausgegeben hat, gehört auch ein ausführlicher Kanon deutscher Erzähler. 31 Erzählungen enthält dieser sehr schön gestaltete Band, der im Manesse Verlag erschienen ist. Wer sich einen ersten Überblick über den Reichtum guter Erzählungen verschaffen möchte, ist mit diesem und dem Vorgängerband gut beraten.

Nach eigenen Worten fühlte sich MRR ausschließlich dem Gedanken verpflichtet, literarische Qualität zwischen zwei Buchdeckeln versammelt zu wissen. Wer genau hinsieht, kann erkennen, dass es auch um eine Textauswahl geht, die sich dem besonderen Blickwinkel des Herausgebers auf die deutsche Geschichte verpflichtet fühlt. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Allerdings erscheint mir dieser besondere Blickwinkel als ein weiteres Entscheidungskriterium, das zur Textauswahl beigetragen hat.

Ich habe auch nicht sämtliche Erzählungen mit gleich hohem Interesse gelesen. Hermann Burgers „Der Orchesterdiener“ erscheint mir augenblicklich einfach zu langatmig. Martin Walsers „Selbstportrait als Kriminalroman“ hat mich ebenfalls in der falschen Lesestimmung angetroffen und daher keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Aber es gibt neben lieben Bekannten auch ein paar nette Entdeckungen. Kannte ich bislang Gabriele Wohmann? Ihre Geschichte Sonntag bei den Kreisands hat mich unterhalten und in gewisser Weise bewegt. Die Kreisands sind ein eingespieltes Ehepaar, gut situiert, Teilnehmer am deutschen Wirtschaftswunder.

Es beginnt ganz unschuldig:

Wieder einer dieser gemütlichen Sonntage bei den Kreisands. Frau Kreisand sagt: harmonisch.

Und schon rollt man hinein in das verkümmerte Seelenleben zweier Menschen, die alles haben und doch nichts. Artur nennt seine Frau gern Milli und denkt dabei heimlich an eine verflossene Geliebte. Elisabeth lässt sich lieber von Artur im nagelneuen Auto kutschieren statt ihre Freundin zu Besuch zu haben.

Den Eltern wird ein versprochener gemeinsamer Urlaub auf perfide Art wieder abgesagt und wie zum Dank bekommen sie eine eklige Skulptur geschenkt und eine Flasche guten Wein entwendet.

Die Kreisands interessieren sich gerade so für sich selber, aber nicht füreinander und erst recht nicht für Dritte außerhalb dieser Lebenszweckgemeinschaft. Die Kreisands, das sind zwei Meteoriten, zufällig beim Urknall auf die gleiche Umlaufbahn geschleudert.

Zeile für Zeile spitzt Wohmann diese widerlichen Charaktere zu. Ich fühlte mich beim Lesen körperlich regelrecht unwohl. Tolle Erzählkunst, die mir Blicke nach Innen und Außen ermöglicht. Und am Ende der Erzählung ist man erleichtert, beinahe glücklich, andere Freunde zu haben als die Kreisands! Von Gabriele Wohmann werde ich sicher noch mehr lesen als nur die Kreisands. Und das ist doch mit das Beste, was eine Anthologie erreichen kann: das Weiterlesen.

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Michael Roes: Zeithain (2017)

Ich heiße Philip Stanhope, wie mein Großvater, der letzte Graf von Chesterfield, mein Ururgroßvater, Admiral der Royal Navy, und mein Ururururgroßvater, jener junge missratene Philip Stanhope, unehelicher Sohn des gleichnamigen Vaters, Vierter Graf von Chesterfield, der seine berühmten, doch letztendlich vergeblichen „Briefe an seinen Sohn über die anstrengende Kunst, ein Gentleman zu werden“ an ebendiesen Philip Stanhope adressiert hat. Nicht nur die Namensgleichheit, auch die unehelichen Verhältnisse durchziehen meine Genealogie wie ein misstönendes Leitmotiv.

So beginnt Michael Roes‚ Annäherung an die historische Person Hans Hermann von Katte (1704-1730).

Dabei versetzt sich Roes traumwandlerisch intensiv und vermutlich exzellent recherchiert in seine Hauptperson Katte, schildert seine eher freudlose Jugend als Sohn eines adligen Soldaten, der alle weicheren Regungen verabscheut und sie auch seinem Sohn verbietet. Der Sohn wird auf dem heimischen Gut in Wust nach den gleichen Prinzipien wie die Hunde des Gutsherrn erzogen: Der geringste Ungehorsam wird mit brutalen Prügelorgien geahndet. Wann immer möglich hält er sich bei den Dienstboten oder bei seinen bäuerlichen Spielkameraden auf. Nur beim Großvater in Berlin findet er Förderung und Zuneigung.

Frühe Kindheitserinnerungen haben etwas Mythisches. Da der Erinnernde nicht mit Gewißheit sagen kann, was sich wahrhaftig ereignet und was die Phantasie hinzugedichtet, das Hörensagen ergänzt und die Zeit verschönert oder verfälscht hat, muß man wohl das Erzählte als das einzig Wahrhaftige hinnehmen. (S. 89)

1717 bis 1721 besucht der junge Adlige das Pädagogium des Pietisten August Hermann Franke in Halle. Dort findet er schließlich Freunde, ist aber unglaublich angeödet vom begrenzten Horizont seiner Lehrer. Anschließend studiert er in Königsberg und Utrecht und unternimmt eine ausgedehnte Kavaliersreise, die ihn u. a. bis nach Paris führt.

1724 tritt er auf Geheiß des Vaters in das Kürassierregiment Gens d’armes von Friedrich Wilhelm I, dem Soldatenkönig, ein. Das Unglück nimmt seinen Anfang, als die Beziehung Kattes zu Friedrich Wilhelms Sohn, dem Kronprinzen Friedrich, der acht Jahre jünger ist als Katte, immer intensiver wird.

Der Kronprinz wird ständig von seinem Vater schikaniert, überwacht, gedemütigt, verprügelt und abgrundtief verachtet, hegt der Sohn doch so unsoldatische und „weibische“ Interessen wie die Musik. Schließlich hält es der Prinz nicht mehr aus und will von Zeithain ins Ausland fliehen, dabei bittet er seinen einzigen Freund Katte um Hilfe.

Dieser rät von der Flucht ab, doch letztendlich will er seinen Freund nicht im Stich lassen. Der Kronprinz wird gefasst und man kann Katte nachweisen, dass er von den Fluchtplänen wusste. Dafür und dafür dass man ihn verdächtigt, homosexuelle Beziehungen zum Kronprinzen unterhalten zu haben, wird er vors Kriegsgericht gestellt.

Der König zwingt seinen Sohn, zuzuschauen, wie Katte seinen letzten Weg zum Schafott antritt.

Diese trockene Auflistung der Fakten (schon der Klappentext verrät auch dem geschichtsunkundigen Leser, wie es ausgeht) kann diesem Trumm von einem Buch mit seinen ca. 800 Seiten) natürlich nicht gerechtwerden.

Mir bleibt viel Zeit zum Lesen und Musizieren und, ich werde es nur Ihnen, liebe Tante, unter dem Siegel größter Verschwiegenheit gestehen, zum Dichten. Ich höre Ihren Entsetzensschrei, und Sie haben ja vollkommen recht, nichts sollte einem das Dichten so verleiden wie die Flut vorgeblicher Werke, die Europa überschwemmt. Der Mißbrauch, den man mit der geistvollen Erfindung der Buchdruckerkunst treibt, verleiht vor allem unseren Dummheiten ewiges Leben. (S. 111)

Roes gelingt es, über weite Strecken so intensiv und emphatisch zu erzählen, dass man geneigt ist dem Ich-Erzähler Katte alles zu glauben, selbst wenn in der Forschung die These von der Homosexualität des Kronprinzen umstritten ist, selbst wenn es Episoden gibt, die ich zumindest auf die Schnelle nicht durch Internetrecherche belegen konnte, wie z. B. die medizinischen Versuche an den Internatszöglingen.

Nein, in Wahrheit  erfreue ich mich meiner Einsamkeit nicht, im Gegenteile legt sie sich wie ein schwarzer, giftiger Schatten über meine Seele. Eigentlich bin ich kein übellauniger Mensch. Aber die Erfahrung lehrt, daß gerade diejenigen, welche sehr lebhafte Leidenschaften und eine empfindsame Natur haben, deren Einbildungskraft leicht gereizt und deren Gefühle schnell erschüttert sind, am raschesten und heftigsten der üblen Schwermut ausgesetzt sind.

Da ihre Phantasie oft ohne ihren Willen selbst die größte Kleinigkeit so schnell zu einer Riesengröße zu erheben weiß, so ist es begreiflich, warum empfindsame Menschen, wie ich einer bin, selbst bei einem guten und richtigen Verstande sich oft am wenigsten in der Gewalt haben, sobald sie von ihrem Gemüte, sei es heiterer und trauriger Natur, überfallen werden. (S. 317)

Besonders die Kindheit und die Jahre im Internat brennen sich dem Leser ein. Da kann es bei den Prügelstrafen schon einmal zu gebrochenen Knochen kommen.

Ausreißer und Arbeitsverweigerer werden besonders hart bestraft. Schläge, kahlgeschorene Köpfe, Essensentzug, Karzer. Die Inspectoren nennen diese Zellen „Besinnungsräume“: Ein enges, dunkles und im Winter eisiges Verlies mit einem Sitzbrett und einem stinkenden Kübel für die Notdurft. (S. 176)

Danach wird man „Preußentum“ und „preußische Tugenden“, immer hübsch mit einem aus der Religion hergeleiteten Absolutheitsanspruch verbrämt, noch einmal mit ganz anderen Assoziationen verbinden. Und man wird sich natürlich auch fragen, wie derlei Werte und Verhaltensnormen (blinder Gehorsam, Prügelstrafe, Härte, Unterdrückung der Sexualität und jeglichen kritischen Denkens) in der deutschen Geschichte weitergewirkt haben.

Es sind oft die scheinbar beiläufigen Beobachtungen, die den Roman so reich machen, wie sie beispielsweise während Kattes Internatszeit zum Tragen kommen:

Der Schulordnung gemäß dürften wir nicht einmal über unseren Unterricht sprechen, denn wir Schüler könnten ja „raisonieren wie die Heiden“. Außerdem werden wir angehalten, den Lehrern regelmäßig übereinander Auskunft zu geben, was nicht gerade der ungezwungenen Rede förderlich ist. (S. 172)

Oder die Regel, dass die Jungen im Schlafsaal selbst im Winter und bei Minustemperaturen mit den Händen auf der Decke schlafen mussten, damit der wachhabende Lehrer sofort sehen konnte, ob sich da etwa jemand selbst befriedigen wollte. Da gehen die Verbindungslinien direkt bis zu dem Prozess um den Hauslehrer, der 1903 seinen Schützling totgeschlagen hat.

Auch die Sprache passt sich dem meist wunderbar an. Trotz einiger überbordender Metaphern und einiger Stellen, an denen man den Eindruck hatte, dass einem Geschichtsbuchwissen referiert wurde.

Graf Brühl […] besitzt zweihundert Paar Schuhe, achthundert gestickte Schlafröcke, fünfhundert Anzüge, hundertzwei Uhren, achthundertdreiundvierzig Tabatieren, siebenundachtzig Ringe, siebenundsechzig Riechfläschchen, neunundzwanzig Kutschen und tausendfünfhundertsiebenundsechzig Perücken. Zu jedem Anzuge gehört eine besondere Uhr, eine spezielle Tabakdose und ein ausgewählter Degen. Wieso die Welt über dergleichen Bagatellen so gut Bescheid weiß?  Alle Gewänder sind in einem Buche aufgemalt, das ihm täglich zur Auswahl vorgelegt wird. Darüber hinaus besitzt er mehr Mätressen als Verstand. (S. 666)

Als ausgesprochen langatmig habe ich allerdings die Beschreibung der Kavaliersreise empfunden, da wurden die Stationen brav aberzählt, aber mir war’s herzlich gleichgültig, wo Katte sich gerade aufhielt.

Gänzlich überflüssig fand ich die Rahmenhandlung, in der sich der junge Philip Stanhope, selbstverständlich ebenfalls mit problematischer Vaterbeziehung, nach dem Fund einiger alter Familienbriefe auf die Reise macht, um herauszufinden, ob an den historischen Orten, an denen Katte gelebt hat, noch Spuren der Geschichte zu finden sind.

Andreas Kilb schreibt in der FAZ:

Aber Roes beschränkt sich nicht darauf, Stanhope auf Kattes Spuren zu schicken, er halst ihm zusätzliche allegorische Aufgaben auf. Stanhope ist Epileptiker und ebenfalls homosexuell. Das Laken, das er in seinem Hotel über Nacht vollgeblutet hat, dreht er den ahnungslosen Berlinern als Kunstwerk an. Im Tiergarten fallen ihm ein neugeborener Kojote und ein Engel-Embryo vor die Füße, die er mütterlich aufzieht. In einem Krankenhaus trifft er einen Arzt, mit dem sein Vater einst als britischer Besatzungssoldat sein Coming-out erlebte. Und zuletzt wächst Stanhope auch noch eine zweite Zunge. Offenbar hat Roes in dieser Figur alle Einfälle begraben, die ihm beim Nachdenken über Katte und Friedrich gekommen sind. Er hätte es besser gelassen.

Derlei surreale Einsprengsel haben nichts daran geändert, dass Philip für die Geschichte im höchsten Maße entbehrlich blieb, doch leider tritt er immer wieder auf, bis sich seine Spuren dann im Nichts verlieren.

Die Reflexionen, die Roes seinem Erzähler Stanhope in den Mund legt, hätten mich vermutlich mehr interessiert, wenn sich der Autor selbst als Spurensucher zu erkennen gegeben hätte.

Gibt es das, einen Entdeckungsreisenden, der nicht mit den Fremden ins Gespräch kommen will, sondern es vorzieht, über seinen Gegenstand zu meditieren, statt zu kommunizieren, ein mystischer Völkerkundler sozusagen, ein reisender Trappist, ein Eremit im ethnologischen Feld?

Vielleicht ist diese Haltung nicht ganz so widersinnnig, wie sie auf den ersten Blick scheint. Denn es dürfte kaum einen vernünftigen Menschen geben, der die fortschreitende Erosion der Verbindung zwischen den Zeichen und den Dinge noch in Zweifel zöge. Tatsächlich meditiere ich über die Dinge, weil ich immer weniger weiß, was ich von ihnen halten soll und mir die naheliegenden Wörter für sie immer fragwürdiger erscheinen. Während ich sie betrachte, verändern sie sich, so wie meine Betrachtung sie verändert. Noch weiß ich nicht, wie das alles enden, wie das alles für mich enden wird. (S. 121/122)

Zarte Gemüter sollten sich durch die ersten Seiten, auf denen gefühlte 500 Namen mitsamt ihrer Abstammung vor dem Leser ausgebreitet werden, nicht abschrecken lassen. Sie tun nichts zur Sache bei diesem fulminanten, melancholischen Ausflug ins Preußentum.

Wie spricht man aufrichtig von sich selbst? Ein hoffnungsloses Ringen, zwischen Strenge und Eitelkeit eine Brücke zu schlagen. Entweder endet dieser Kampf im Wahnsinn oder im Verstummen. (S. 583)

Sechsundzwanzig Jahre habe ich gelebt, und schon ist alles darüber gesagt. Im Wochenbett ist bereits das Sterbebett aufgedeckt. Warum strampeln wir uns in der kurzen Zwischenzeit so heroisch ab, als könnten wir die Welt retten?

Niemand wird in dieser kurzen Zeit je das sein können, was er hätte sein sollen. Ganz gleich, wie lang sie dauert, am Ende wird es immer eine Zeit des Versagens gewesen sein. – Am besten ist es, man hält sich aus allem heraus. Während das Glück dich anlächelt, spannt es schon den Hahn. (S. 761)

Hier geht’s lang zu einem Interview mit dem Autor und eine weitere Besprechung findet man auf lustauflesen.de.

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Petra Hofmann: Nie mehr Frühling (2015)

„Was es bedeutete, dass einer tot war, verstand eigentlich niemand jemals.“

Dieses Zitat aus Laura Freudenthalers Buch Die Königin schweigt ist eine passende Überleitung zu Nie wieder Frühling von Petra Hofmann, dem Buch, das uns ebenfalls das Leben einer einfachen Frau erzählt. Erschienen ist es im Picus Verlag Wien.

Und doch wie ganz anders. Wuchtig und beeindruckend.

Bereits im ersten Kapitel, das alles andere als nett und gefällig daherkommt, lesen wir vom Tod einer 87-jährigen, abgemagerten und ungepflegten Frau. Ihr Sohn findet sie in ihrem verwahrlosten Haus, er ist auf der einen Seite erleichtert und gleichzeitig scheint eine uralte Last auf ihm zu liegen.

Danach wird die Geschichte dieser Hermine Stoll chronologisch erzählt. Geboren 1910 irgendwo in einem Dorf, das sie ihr Leben lang nie verlassen wird. Sie ist ein Wildfang, der sich nichts sagen lässt. Irgendwann heiratet Hermine ihre große Liebe, den Kommunisten Karl, verspricht ihm Treue „bis in den Tod und darüber hinaus“ (S. 25) und bekommt mit ihm zwei Söhne.

Als die ersten Nazis durchs Dorf marschieren, schüttet Hermine ihren Nachttopf über den Männern aus. Sie macht von Anfang an keinen Hehl aus ihrer Ablehnung gegen die braunen Horden, was ihr diverse Drohungen des Bürgermeisters einbringt. Und ihr Sohn Dieter fragt sich, warum sich sein Freund Aaron nicht von ihm verabschiedet hat, bevor er so plötzlich nach irgendwohin gereist ist.

Nach Kriegsbeginn wird auch Karl einberufen. Er wird nicht zurückkehren, etwas, das Hermine niemals anerkennen wird. Sie wird ihr Leben lang auf ihn warten.

Ich will nicht tanzen, sagt Hermine, ich will auch nicht lachen. Alles, was ich will, ist der Karl. Davon, dass er fort ist, tut mir alles weh. Am ganzen Körper tut es mir weh, auf der Haut und bis in die Seele hinein. (S. 141)

Ihre Weigerung, das Schicksal zu „akzeptieren“, wird auf Kosten ihrer Söhne Paul und Dieter gehen, für die sie nicht mehr kochen wird und die für ihr weiteres Leben von dieser Verwahrlosung in der Kindheit und der daraus resultierenden Ablehnung des Dorfes gezeichnet bleiben werden.

Mit offenen Augen lag er da bis es grau wurde hinter den Gardinen und dabei kamen diese Gedanken wieder wie böse Geister, sie schlichen sich ein und setzten sich fest in ihm, und er musste all den Unsinn denken, ob er wollte oder nicht. Dass im Leben gar nichts sicher ist, dachte er, dass der Boden, auf dem man geht, immer rutschig ist, als schüttete jemand unentwegt Seifenwasser aus, dass man ausrutschen kann, fallen, und dann nicht mehr auf die Beine kommt. Und dass man alles verlieren kann, jederzeit, von jetzt auf nachher. Und dass man sich nicht ausruhen kann, sich nicht verlassen, auf nichts und niemanden. Dass man beständig auf der Hut sein muss. Dass jederzeit ein Unglück geschehen kann, aber vor allem nachts und im Morgengrauen, wenn es still ist, und danach ist nichts mehr wie zuvor. Und das lässt sich dann nicht rückgängig machen, das ändert sich nie mehr.

So geht das in seinem Kopf, immer im Kreis herum, und hört erst auf, wenn endlich der Tag beginnt, und manchmal auch dann nicht. (S. 204)

Hermine gerät durch ihre Weigerung, sich den Konventionen zu fügen, allmählich in die Rolle einer asozialen Außenseiterin und sie wird, man kann es nicht anders sagen, zu einer bösartigen alten Frau, die sich, ihren Söhnen und sogar ihrer Schwester alles Schöne versagen möchte, solange ihr Mann nicht zurückgekehrt ist.

Das Buch wartet mit einer der widerlichsten Nazi-Figuren auf, die mir seit langem begegnet sind. So lebensecht, dass man sich schütteln möchte.

Doch es waren vor allem zwei Dinge, die mich besonders an diesem Buch fasziniert haben. Das eine ist die die Auseinandersetzung mit dem Tod. Hermine ist gnadenlos konsequent, wenn sie wie eine Fackel gegen den Tod protestiert. Sie versagt sich sogar das Schlafen im Ehebett und liegt stattdessen auf einem Strohsack in der Küche, solange ihr Mann nicht bei ihr ist.

Doch ihr Protest gegen die Ungeheuerlichkeit des Todes läuft ins Leere. Sie trifft nur sich selbst und ihre Kinder damit. Und ausnahmsweise hat es mich hier gar nicht gestört, dass wir nur sehr geringen Einblick in ihre Gedanken bekommen. Das war eindeutig nicht dem Unvermögen der Autorin geschuldet, sondern funktioniert im Gesamtaufbau des Romans, sodass ich das Interesse an Hermine nie verloren habe.

Nachdem er seine Mutter tot aufgefunden hat, kommt ihr Sohn Paul zu folgendem Fazit:

Was sind nicht schon alles für Geschichten erzählt worden über die Mutter! Jeder hat sie mit seinen Augen betrachtet und jeder hat es besser gewusst. Und dabei wohl auch seinen Stab gebrochen über sie, über ihr Leben. Aber das, denkt Paul, steht euch nicht zu, niemandem steht das zu. Ein Leben ist ein Leben, und es gilt. Das ist alles. Da gibt es nichts zu befinden, es gibt gefälligst nichts zu befinden. (S. 13/14)

Der zweite Aspekt, der hier so gelungen ist, ist die Art und Weise, wie das Umfeld mit hinein in die Handlung genommen wird. Wie ein Chor kommentieren die Dorfbewohner, vor allem die Frauen, das Tagesgeschehen; wir hören die Gespräche im Dorfladen oder bei der Bäckerin. Und dabei gelingt es der Autorin, verschiedenste Menschen und Charaktere in ihrer Großzügigkeit und ihrer Niedertracht auf knappstem Raum zu veranschaulichen.

Die eine Frau mahnt zur Vorsicht bei dem, was man nun öffentlich über den Nationalsozialismus sagt; die andere Nachbarin ist beglückt angesichts der marschierenden Kolonnen, die dritte hat einen Horizont, der nur bis zum Gartenzaun reicht. Auch Hermine ist immer wieder Gesprächsthema in diesen Runden. Es ist vielsagend, wie sich auch da die Meinungen im Laufe der Jahrzehnte verändern.

Das einzige, was man vielleicht doch etwas hätte reduzieren können, sind die Wendungen „er denkt“, „er sagt“ oder „sie denkt“.

Das Zitat aus dem Interview mit der Autorin auf Das Debüt zeigt den hohen Anspruch, den Hofmann an Literatur stellt. Und was soll ich sagen? Mit ihrem Buch löst sie ihn ein.

Grundsätzlich wünsche ich mir vermehrt Bücher, die etwas Eigentliches zu sagen haben und zwar mit einer gewissen Dringlichkeit. Die Texte sollten einen deutlich spürbaren glühenden Kern haben, der den Leser und die Leserin erreicht.

Und das sagen andere:

 

Laura Freudenthaler: Die Königin schweigt (2017)

Interessanterweise beschäftigen sich gleich zwei der Bücher, die ich in den letzten Wochen gelesen habe, mit dem Leben einer einfachen Frau im letzten Jahrhundert, quasi die weiblichen Pendants zu Ein ganzes Leben von Robert Seethaler.

Als erstes las ich Die Königin schweigt (2017) von Laura Freudenthaler, erschienen im Grazer Literaturverlag Droschl.

Die 1984 geborene österreichische Autorin hat für ihren ersten Roman viel Anerkennung bekommen. Und doch muss ich sagen, dass mich das Buch seltsam unbeeindruckt gelassen hat. Schön, wenn es in einem Werk Leerstellen gibt, die Leserin oder der Leser Raum hat, selbst zu überlegen, zwischen den Zeilen zu lesen. Doch hier war mir das alles zu viel.

Die Königin des Titels ist inzwischen eine alte Frau, die sich assoziativ, in Träumen und manchmal angeregt durch die Fragen der Enkelin, an ihr Leben erinnert, das in einem österreichischen Bergdorf begonnen hat und durch viele Verluste geprägt wurde.

Vom Vater hat sie die „Haltung“, den Stolz übernommen, d. h. nie zu viel von dem preiszugeben, was einen wirklich beschäftigt und umtreibt. Im Krieg fällt der Bruder. Doch ansonsten werden Krieg oder die Zeit des Nationalsozialismus nicht weiter thematisiert. Der Krieg kommt sozusagen wie eine unabwendbare Naturkatastrophe, bei der man ja auch keine moralischen Kriterien anlegt oder die Frage nach dem Warum und Wozu stellt.

Die attraktive Frau heiratet den Schulmeister, ist fortan die anerkannte und tüchtige „Schulmeisterin“ des Dorfes, bekommt einen Sohn und wird in ihrem weiteren Leben immer wieder ihr nahe stehende Menschen verlieren. Für meinen Geschmack waren das dann doch ein paar zu viele. Wer verliert denn gleich drei Partner hintereinander?

Und dass sie nie gelernt hat, über bestimmte Dinge zu sprechen oder sich erst gar nicht auf wahre Nähe einlässt, weil sonst Gevatter Tod sowieso nur zuschlagen würde, macht ihr Leben recht trostlos. Passend dazu das Cover, das mich in seiner Verschwommenheit beinahe vom Kauf abgehalten hätte.

Spätere Verhaltensweisen, wie z. B. die Weigerung, ihr Heimatdorf noch einmal zu besuchen, finde ich zunehmend bizarr und nicht nachvollziehbar.

Ich könnte mir Erklärungen für das Verhalten der Frau überlegen und doch zucke ich nur die Achseln und bin selbst ein bisschen verwundert, wie rasch ich so vieles aus dem Roman schon wieder vergessen habe. Oder war es einfach das falsche Buch zur falschen Stunde?

Carry Brachvogel: Alltagsmenschen (1895)

Als vor nahezu sieben Jahren die münchener Zeitungen unter der Rubrik ‚Lokales‘ verkündeten, daß die einzige Tochter des Herrn Kommerzienrates und Handelsrichters Mey, Fräulein Elisabeth Mey, sich mit Herrn Dr. jur. Friedrich Becker, einem Sohn des bekannten Augsburger Großindustriellen Herrn Martin Becker, verlobt habe, da bot sich den sämtlichen Klatschmäulern der schönen Isarstadt (und es soll deren etliche geben!) Stoff zur Be- und Verarbeitung in Hülle und Fülle dar.

Mit diesem Satz beginnt Alltagsmenschen (1895), ein Buch von Carry Brachvogel, das in seiner psychologischen Hellsichtigkeit den Vergleich mit den großen Ehebruchsromanen nicht zu scheuen braucht.

Die junge Elisabeth ist – wie die tuschelnde Gesellschaft nicht müde wird zu betonen – schon 23, als sie sich nach nur wenigen Wochen Bekanntschaft mit Friedrich Becker verlobt. Doch anders als die Klatschmäuler vermuten, wird es eine Liebesheirat.

Das blühende Mädchen mit den großen dunklen Augen, dem anmutigen, klug und lebhaft plaudernden Munde hatte ihn im ersten Augenblick bezaubert, und schon nach wenigen Wochen hielt er um sie bei ihren Eltern an, nachdem eine Aussprache mit der Geliebten vorhergegangen war, die an flammender Empfindung und beredtem Ausdruck alle Liebesszenen der dramatischen und novellistischen Litteratur zu übertrumpfen drohte. (S. 9)

Doch der Keim des späteren Unglücks ist schon längst gelegt, denn Elisabeth ist ein Produkt ihrer Umwelt und in den damaligen Rollenbildern gefangen. Sowohl die schulische Erziehung, die ja nicht auf eine spätere Selbstständigkeit der Frau abzielt, als auch das Elternhaus Elisabeths sorgen dafür, dass sie im Grunde gar nicht erwachsen werden kann.

Als einziges Kind überzärtlicher Eltern war ihr bislang ein Jahr nach dem andern in ungetrübt heiterer Gleichmäßigkeit dahingeflossen, jeder Schatten einer Sorge, ja nur einer Mißstimmung ängstlich von ihr ferngehalten worden. Aber das Mädchen fing bald an, sich in dieser schier beängstigenden Atmosphäre des Glückes und der Sorglosigkeit zu langweilen; es erging ihr ähnlich wie den Leuten, die in der Einsamkeit einer schwülen, lautlos brütenden, stahlblauen Hochsommermittagsstunde derselbe unheimliche, gespensterahnende Schauer beschleicht, der eigentlich nur für Mitternacht gestattet und üblich ist. – Und wenn sie auch frei blieb von modern-hysterischer Sehnsucht nach Leiden und Selbstentäußerung, so verlangte es sie eben doch nach etwas Unfaßlich-Wunderbarem, das endlich einmal erschreckend und erlösend zugleich in ihr Dasein hineinrauschen sollte. Ihrem Leben fehlte der Inhalt. Ein Tag wie der andere floß leer dahin: Toilette, Spaziergengehen, ein bischen Lesen, ein bischen Porzellanmalen, Besuche, Theater, Bälle. (S. 9)

Sie wünscht sich, etwas mit ihrem Leben anfangen zu können, etwas Großes zu vollbringen und wie ein Mann tätig zu sein, der seine Kräfte einsetzen kann. Doch wie hätte das für sie aussehen sollen? Die Erfüllung hat die Frau in der Ehe, ihren häuslichen Verpflichtungen und in der Mutterschaft zu finden.

Dementsprechend hat sie sich in ihren Mädchenträumen die Ehe recht heroisch ausgemalt: Der Mann als Adler, als Held, der der Sonne entgegenfliegt, und sie als die aufopferungsvolle Gefährtin, die dem Adler sorgsam das weiche Nest bereitet und so an seinem Ruhm Anteil hat. Aber Friedrich ist kein Adler, kein Held, sondern ein ganz normaler Mensch, der abends müde von der Arbeit kommt, der zwar seine Frau liebt und verwöhnt, ihre zunehmende Unzufriedenheit und Stimmungsschwankungen allerdings nicht nachvollziehen kann.

An ihrer kleinen Tochter hängt Elisabeth mit ganzem Herzen. Doch als die „Honigmonde“ der ersten Ehezeit vorbei sind und der neue Stand nichts Neues und Aufregendes mehr bereithält, stellt sich wieder das Gefühl der Langeweile und der gekränkten Eitelkeit ein.

… und ein Frösteln befiel zuweilen die junge Frau, wenn sie bedachte, daß es nun immer so weitergehen würde, bis ihr Haar grau geworden und ihr Sinn alt, daß für sie nunmehr alles fertig und abgeschlossen war. Ja, ja – abgeschlossen – dies Wort traf das Richtige, denn ihr schien’s zuweilen, als sei ein schweres, eisernes Thor unversehens hinter ihr ins Schloß gefallen und banne sie nun grausam vom hellen blühenden Leben weg in einen düstern, einsamen Burghof, zu dem die glänzenden, funkelnden Sonnenstrahlen von draußen wohl niemals den Weg fanden. (S. 14)

Letztlich ist sie nicht ausgelastet mit der „Spielzeugrolle, die man der modernen Frau in in der Ehe immer noch gerne anweist“ (S. 16). Und als sie auf einem Ball den Legationsrat Max Heßling kennenlernt, ist sie betört von seiner Galanterie und seinem gesellschaftlichen Schliff.

Sein Gespräch war voll prickelnder Grazie, voll treffender Sarkasmen, die Elisabeth sehr entzückten; doppelt, da sie gleich den meisten Frauen Heßlings spöttelnde Frivolität nicht für echt hielt, sondern als stacheliges Panzerhemd betrachtete, mit dem sich eine ideale Seele  schamhaft bekleidete, um ihre zarten Regungen vor unzarter Berührung zu wahren. (S. 28)

Sie lässt sich aus Eitelkeit, aus Langeweile und Gedankenlosigkeit allmählich in eine Affäre mit Heßling hineingleiten, von der beide lange glauben, dass sie alles im Griff haben. Dabei erklärt uns der allwissende Erzähler, dass dabei von wirklicher Liebe keine Rede sein könne.

Elisabeths unbestimmte sehnsuchtsvolle Langeweile hatte sich endlich zu dem Bedürfnis abgeklärt, etwas Aufrüttelndes zu erleben: Heßlings Huldigungen schmeichelten ihrer Eitelkeit, ihre Überspanntheit flunkerte einiges von glühender Leidenschaft und alle konventionellen Schranken niederstürmender Liebe, der große Galeotto schwang kräftig seine Hetzpeitsche, und so war sie denn eben eines schönen Tages in die Arme des Legationsrats geeilt. (S. 71)

Doch natürlich wird auch diese Beziehung zu etwas Alltäglichem. Heßling überlegt schon, an einem anderen Ort seine Karriere fortsetzen zu wollen, doch die Kraft zu einem Schlussstrich findet keiner der beiden. Dabei wird das Versteckspiel immer gefährlicher und belastet Elisabeth immer mehr. Jetzt erst erkennt sie, was sie aufs Spiel setzt.

Fazit

Fontanes Effi Briest wurde fast zeitgleich zu den Alltagsmenschen veröffentlicht, nämlich als Fortsetzungsroman in der Neuen Rundschau von 1894 bis 1895. Der Leser denkt natürlich auch an Madame Bovary und Anna Karenina, letzteres wird sogar neben anderen in der Geschichte erwähnt, selbst wenn Brachvogel ihre Ménage-à-trois ganz anders auflöst als ihre großen Kollegen.

In seiner psychologischen Glaubwürdigkeit fand ich das Buch beeindruckend. Jede Seelenregung der drei Betroffenen wird mit großer Menschenkenntnis bis in die kleinsten Nuancen geschildert.

Deutlicher als jemals zuvor offenbarte sich hier der Bruch in ihrem Charakter, das ungleiche Verhältnis darin zwischen Wollen und Können: sie wäre ja gar zu gerne eine außergewöhnliche Frau gewesen, eine von jenen, die als temperamentvoll gelten und über die hinweg sich die Männer mit verständnisvollem Blinzeln ansehen, aber sie war nicht schlecht genug, um sich ihres Fehltritts in aller Seelenruhe zu freuen, und bei weitem nicht groß genug, um ihr Thun nur vor den Gesetzen ihres eigenen Ichs verantworten zu wollen und zu können. […] Von der Bühne herab sah sich solch sündiges Liebesglück doch meistens sehr verlockend an, es las sich auch recht hübsch davon, aber in Wirklichkeit war es doch sicher richtiger und besser, eine anständige Frau zu sein, als eine gefallene. (S. 78)

Da hat Elisabeth natürlich recht, denn wenn ihr Mann von der Affäre erfährt, kann er sie aus dem Haus jagen, was nicht nur das Ende ihres gesellschaftlichen Ansehens und ihrer finanziellen Absicherung, sondern vor allem die Trennung von ihrem Kind bedeuten würde. Letztlich wird Elisabeth, wenn auch zu spät, erwachsen, denn sie sieht, welch mädchenhaften Fantasien und welcher Dummheit und Eitelkeit sie ihr Glück vor die Füße geworfen hat.

Doch auch Heßling, der nur eine kurze Affäre mit der schönen Frau gesucht hat, und Friedrich, der seine Frau liebt, werden in ihren inneren Konflikten und einander widerstrebenden Empfindungen scharfsinnig und nachvollziehbar gezeichnet.

Dabei sind alle drei, ohne sich dessen bewusst zu sein, auch Opfer des vorherrschenden Frauenbildes und stehen in Wechselwirkung mit der vierten Kraft im Roman, der Gesellschaft, deren oft verlogene und heuchlerische Stimme wir immer wieder vernehmen.

Was sich aber inzwischen überlebt hat, ist die oft unglaublich pathetische Sprache, die wilden Naturmetaphern.

Gleich schwerer, ertötender Eiseskälte legte sich die Erinnerung der Schuld auf die hochgehenden Wogen ihres fieberisch-verzweifelten Heroismus … (S. 104)

Auch die Erzählerstimme fand ich manchmal anstrengend. Sie weiß wirklich alles und ein Lesen zwischen den Zeilen ist nicht vonnöten. Es wird alles, alles erklärt und gedeutet.

Anmerkungen

Das Buch erschien im Allitera Verlag, und zwar in der edition monacensia, in der Werke Münchner Autoren und Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts erscheinen.

Das Cover fand ich entsetzlich und dass ein Zitat auf dem hinteren Buchdeckel fälschlicherweise Elisabeth zugeschrieben wird, das aber von Heßling stammt, machte die Sache nicht besser.

Das Nachwort von Ingvild Richardsen hingegen war sehr erhellend. Carry (eigentlich Caroline) Brachvogel (geboren 1864) gehörte damals zu den „modernen“ Autorinnen, die sich auf „die Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Frau“ begaben und die traditionellen Rollenvorstellungen in Frage stellten (S. 156).

Auch zur Biografie der jüdischen Autorin und Frauenrechtlerin, die seit 1895/96 über 30 Jahre lang einen einflussreichen literarischen Salon leitete, gibt es interessante Hinweise. Sie wurde schließlich als Schriftstellerin in ganz Deutschland bekannt.

Mit ihrer Existenz als unverheiratet bleibende, selbstständige, arbeitende Witwe widerspricht sie dem gängigen Ideal der Frau im Bürgertum des Kaiserreichs (S. 160)

Doch das Ungeheuerliche ist den Herausgebern nur einen kurzen Satz in der hinteren Umschlagklappe wert:

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird die Jüdin Carry Brachvogel beruflich isoliert und schließlich 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert, wo sie kurz darauf verstarb.

Und bei Lena Riess bitte gleich weiterlesen: Sie stellt eine Novellensammlung der Autorin vor.

Lioba Happel: dement (2015)

Wenn wir alles vergessen haben, zum Beispiel, dass man, wenn die Sonne scheint, sagt, es sei schönes Wetter, und dass man, wenn es regnet, sagt, es sei schlechtes Wetter; wenn wir vergessen habe, wie unser Ehepartner von uns gerufen wurde, der auf Fotos auf der Wand hängt und ob das überhaupt unser Ehepartner gewesen ist; wenn wir vergessen haben, wie unsere Kinder und Kindeskinder einmal von uns genannt wurden, die sich auf Stellbildern und allen Flächen um uns herum zeigen; wenn wir schließlich sogar vergessen haben, wie wir selber heißen, dann sind wir angekommen in der reinen Gegenwart. Es regnet heute in der reinen Gegenwart, aber wir behaupten, es sei schönes Wetter.

So beginnt eine schmale Erzählung von nur 117 Seiten, veröffentlicht im Rimbaud Verlag, in der Lioba Happel den Versuch unternimmt, sich den Gedanken einer demenzkranken älteren Frau anzunähern, sich in ihre Welt hineinzufühlen.

All die Jahre, die über uns hinweggegangen sind und wir, tief versunken in uns, wir halten es in unseren schmerzenden Körpern aus. Wir halten es aus auf dem Meer, bei Tag und bei Nacht, seekrank vor Erinnerung an die, die wir einmal gewesen sind und jetzt nicht mehr sind. (S. 105)

Dabei geht es um die Schreckmomente, in denen sich die alte Frau plötzlich in einem der Fotos von früher wiedererkennt, oder um den Besuch, der „nur mal eben“ hereinschauen wolle, um zu sehen, wie es ihr gehe, „um zu sehen, ob wir noch leben“, wie die Ich-Erzählerin trocken vermerkt. Um das unvermittelte Einschlafen tagsüber, um die Fragen des Besuchers, die man nicht so richtig deuten kann.

Ich habe es so empfunden: Die Geschichte zeigt keinen Kampf, keine Verzweiflung. Was für einen Sinn hätte es auch, gegen die Einsamkeit zu rebellieren. Im Großen und Ganzen liegt die Traurigkeit bereits hinter der Erzählerin. Das Auf-Sich-Zurückgeworfen-Sein wird leise angenommen.

In einer der Lyrik sehr nahen Sprache wird von einem allmählichen Loslassen erzählt, was beim Lesen auf mich trotz aller Wehmut wundersam ruhig und akzeptierend wirkte.

Gern gelesen.

Ihr habt „keine Zeit“ mehr, ihr sagt „wir müssen“.
„Was?“
„Wir müssen wirklich.“
„Wohin?“
„Eine Weltreise vorbereiten.“
Da zieht doch hinaus zu euren Abenteuern. Meldet euch gleich auch zur Fahrt
auf den Mond an. Hier bei uns, wenn ihr es eine Weile aushieltet, könntet ihr
einmal kopfüber durchs Weltall und quer wieder zurück. (S. 45)

 

Stefan Zweig: Buchmendel/Die Unsichtbare Sammlung (2016)

2016 hat  der Topalian & Milani Verlag zwei Novellen des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig neu herausgegeben.

Die Geschichte Buchmendel beginnt mit den folgenden Worten:

Wieder einmal in Wien und heimkehrend von einem Besuch in den äußeren Bezirken, geriet ich unvermutet in einen Regenguß, der mit nasser Peitsche die Menschen hurtig in Haustore und Unterstände jagte, und auch ich selbst suchte eilends nach einem schützenden Obdach. Glücklicherweise wartet nun in Wien an jeder Ecke ein Kaffeehaus und so flüchtete ich in das gerade gegenüberliegende, mit schon tropfendem Hut und arg durchnässten Schultern.

Die Novelle, die ursprünglich 1929 veröffentlicht wurde, handelt von Jakob Mendel, einem unansehnlichen galizischen Hausierer, der – obwohl ungebildet – so sehr in der Welt der Bücher lebt (weniger als Leser, sondern eher als phänomenaler geistiger Archivar von Autorennamen und sämtlichen bibliografischen Daten), dass er vom Ausbruch des Krieges völlig überrascht wird, was ihn teuer zu stehen kommt.

Einmal war eine glühende Kohle aus dem Ofen gefallen, schon brenzelte und qualmte zwei Schritte von ihm das Parkett, da erst, am infernalischen Gestank, bemerkte ein Gast die Gefahr und stürzte zu, hastig das Qualmen zu löschen: Er selbst aber, Jakob Mendel, nur zwei Zoll entfernt und schon angebeizt vom Rauch, er hatte nichts wahrgenommen. Denn er las, wie andere beten, wie Spieler spielen und Trunkene betäubt ins Leere starren: Er las mit einer so rührenden Versunkenheit, daß alles Lesen von anderen Menschen mir seither immer profan erschien. (S. 77)

Erschreckend hellsichtig, wie hier das Schicksal eines geistig tätigen Menschen vorweggenommen wird, der in der Gesellschaft keinen Raum mehr hat, die Umwandlung der Werte nicht rechtzeitig bemerkt und der Brutalität einer neuen Zeit hilflos ausgeliefert ist.

Gleichzeitig fragt man sich, was Stefan Zweig wohl heute sagen würde, wenn er schon damals schreiben konnte:

Jetzt erst, älter geworden, verstand ich, wieviel mit jedem solchen Menschen verschwindet – weil alles Einmalige von Tag zu Tag kostbarer wird in unserer rettungslos einförmiger werdenden Welt. (S. 96)

Der Text wurde von Joachim Brandenberg illustriert. Unglaublich, da werden die Lampen des Wiener Kaffeehauses unversehens zu Quallen, die im Text erwähnt wurden, und ich höre und sehe den Regen, der den Ich-Erzähler überhaupt erst ins Kaffeehaus getrieben hat, wo er sich dann an die zwanzig Jahre zurückliegende Begegnung mit Mendel erinnert und sich schließlich fragt, was wohl aus diesem seltsamen Menschen geworden ist.

Hier kann man schon mal ein wenig in den Illustrationen schwelgen, siehe zum Beispiel das Bild auf S. 77.

Die Novelle Die unsichtbare Sammlung beginnt mit den Worten:

Zwei Stationen hinter Dresden stieg ein älterer Herr in unser Abteil, grüßte höflich und nickte mir dann, aufblickend, noch einmal ausdrücklich zu, wie einem guten Bekannten. Ich vermochte mich seiner im ersten Augenblick nicht zu entsinnen; kaum nannte er aber dann mit einem leichten Lächeln seinen Namen, erinnerte ich mich sofort: Es war einer der angesehensten Kunstantiquare Berlins, bei dem ich in Friedenszeiten öfters alte Bücher und Autographen besehen und gekauft hatte. Wir plauderten zunächst von gleichgültigen Dingen. Plötzlich sagte er unvermittelt: ‚Ich muß Ihnen doch erzählen, woher ich gerade komme. Denn diese Episode ist so ziemlich das Sonderbarste, was mir altem Kunstkrämer in den siebenunddreißig Jahren meiner Tätigkeit begegnet ist….

Die Geschichte wurde ursprünglich 1927 veröffentlicht.

Die überraschende Wendung möchte ich gar nicht verraten, nur so viel: Der Kunstantiquar Herr R. benötigt dringend neue Ware und kommt deshalb in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Idee, seinen ältesten Kunden aufzusuchen, der seine ersten Ankäufe schon vor ca. 60 Jahren, damals noch bei Vater und Großvater des jetzigen Inhabers, getätigt hatte.

… dennoch konnte ich mich nicht entsinnen, daß er in den siebenundreißig Jahren meiner persönlichen Tätigkeit jemals unser Geschäft betreten hätte. Alles deutete darauf hin, daß er ein sonderbarer, altväterischer, skurriler Mensch gewesen sein mußte […] Als Veteran aus dem siebziger Jahr mußte er also, wenn er noch lebte, zumindest seine guten achtzig Jahre auf dem Rücken haben. Aber dieser skurrile, lächerliche Sparmensch zeigte als Sammler alter Graphiken eine ganz ungewöhnliche Klugheit, vorzügliche Kenntnis und feinsten Geschmack … (S. 15/16)

Eine Versteigerung oder ein Verkauf der „herrlichsten Blätter Rembrandts neben Stichen Dürers und Mantegnas in tadelloser Vollständigkeit“ wäre dem Händler zu Ohren gekommen.

So mußte dieser sonderbare Mann wohl noch am Leben oder die Sammlung in den Händen seiner Erben sein. (S. 17)

Also macht sich unser Kunsthändler auf „in eine der unmöglichsten Provinzstädte, die es in Sachsen gibt“, und tatsächlich, der alte Herr lebt noch und ist auch bereit, den Händler zu empfangen. Doch dieser Nachmittag verläuft dann in einer Weise, die er nicht hat voraussehen können.

Der Ich-Erzähler, der doch nur „als schäbiger Krämer gekommen war, um ihm ein paar kostbare Stücke abzujagen“, nimmt von seinem Besuch etwas anderes, viel Wesentlicheres mit.

Ich hatte wieder einmal reine Begeisterung lebendig spüren dürfen in dumpfer, freudloser Zeit, eine Art geistig durchleuchteter, ganz auf die Kunst gewandter Ekstase, wie sie unsere Menchen längt verlernt zu haben scheinen. (S. 54)

Und ich mußte wieder an das alte, wahre Wort denken – ich glaube, Goethe hat es gesagt: ‚Sammler sind glückliche Menschen.‘ (S. 55)

Fazit

Statt ständig neuen, sensationsheischenden, immer abgefahreneren oder schlicht banalen Texten hinterherzuhecheln, hat hier ein Verlag die feine Entscheidung getroffen, zwei alte Geschichten neu zu veröffentlichen. Besonders Die unsichtbare Sammlung bleibt so wunderbar in der Schwebe.

Schon die Sprache, wie schafft es Zweig, dass man innerhalb weniger Sätze so völlig in der Geschichte ist?

Und dann der alte, weltfremde Sammler, der nichts von den schwierigen und teuren Zeiten versteht und vermutlich auch seiner Familie früher alle Annehmlichkeiten versagt hat, nur um seine Sammlung vervollständigen zu können.

Doch Ehefrau und Tochter tragen ihm seine Leidenschaft nicht nach und denken – wenn auch vielleicht arg idealisiert – nur an das Glück des alten Mannes. Ist es richtig, ihn in seinem Wahn, seinen Illusionen zu belassen? Hätte man ihn nicht viel früher mit der sogenannten Realität konfrontieren müssen? Und doch: Er ist ein Sammler, ein Kenner, jemand, dem Kunst tatsächlich etwas bedeutet, und der gern und leicht auf vieles verzichten kann, aber nicht auf seine Mappen.

Gleichzeitig schwingt die Geschichte weiter: Was sind unsere Illusionen, was macht uns glücklich und was würden wir sehen, wenn wir die Dinge sähen, wie sie sind?

Zu diesem Eindruck trägt die Illustrierung von Florian L. Arnold ungemein bei. Absurde, groteske, höchst filigrane Zeichnungen, die ebenfalls dazu einladen, sich auf eine andere (alp-)traumhafte, innere Wirklichkeit einzulassen.

Abgeschlossen wird das Buch mit kurzen, aber erhellenden Hinweisen zu Stefan Zweig, der sich 1942 zusammen mit seiner Frau im brasilianischen Exil das Leben nahm.

Kurzum, ein Buch, das in Inhalt und in seiner aufwendigen Gestaltung daran erinnert, dass Inhalte ursprünglich etwas waren, das verdiente, würdig in Szene gesetzt zu werden.

Da bleibt mir am Ende nur noch, dem Verlag für die freundliche Zusendung eines Leseexemplars zu danken. Und außerdem weckt das Buch Neugier auf die nächsten Projekte des Verlages und macht Lust, wieder mehr von Stefan Zweig zu lesen.

Anmerkungen

Weitere Besprechungen gibt es auf

 

Heinz Hilpert: So wird alles Schwere entweder leicht oder Leben (2011)

26. Juni 1944

Mir schien alles trübe und traurig, weil ich von Dir fortging. Fortging, zwar in die tiefe Glaubensgewißheit, Dich wiederzusehen – aber auch mit der harten Gewißheit, dich lange entbehren zu müssen! Das entbehren zu müssen, was der liebe Gott zu meiner innigsten Ergänzung auf die Welt geschickt hat.

Nie noch habe ich die unbedingte Zusammengehörigkeit zu einem Menschen so hinreißend und grundsätzlich gespürt – als zu Dir. […]

Jeder Berg, jeder Baum, jeder Bach, jeder Schlaf, jedes Erwachen in Sonne oder Regen […] – alles lebte nur auf Dich bezogen und in mir, süß und zwingend, zu Dir hin. Manchmal irrte ich ab, zu dieser oder jener Frau, in Gedanken, leise und ganz tierhaft, und dennoch spürte ich – alles warst Du. Aus und mit Dir lebe und sterbe ich, ich will Dich ganz bei mir haben. Ich wünsche mir, zum erstenmal in Leben, ein Kind von Dir – ich und Du. Ich will nur Dich. In Dir vollendet sich mein Leben und mein Wirkenkönnen. Gott soll uns segnen und zusammenfügen. Ich will nur Dich – nicht „weil“, sondern ohne alle Gründe, weil Du bist und weil Du so bist, wie Dich eben Gott geschaffen hat. Mir und vielen zur Freude – aber mir zur letzten, einzigen Heimat. […]

Ich habe Dich lieber als mein Leben, lieber als Sonne und Mond, lieber als alle bestirnten Nächte, als alle Bäume und Tiere, die ich kenne und liebgewonnen habe, lieber, als mir je ein Mensch war, lieber als mein Leben, meine Hoffnung, meine Einsamkeit und die Summe meiner ganzen Arbeit und aller Seligkeiten, die mich auf meinem kurzen Gang durch die Dämmerung beglückt haben.

Aus den Tagebuchaufzeichnungen Heinz Hilperts (1890 – 1967) vom 26. Juni 1944

Zum Hintergrund

Heinz Hilpert, Regisseur und Intendant des Deutschen Theaters, hat seine große Liebe und spätere Ehefrau Annelies „Nuschka“ Heuser (1902 – 1963) Ende der zwanziger Jahre kennengelernt. Sie war Jüdin, ihre  Familie emigrierte, doch Annelies blieb in Deutschland.

Gerade noch rechtzeitig kann Nuschka im Juli 1943 in die Schweiz fliehen. Hilpert reist danach mehrere Male in die Schweiz. „Das vorerst letzte Mal sehen sich Heinz  und Nuschka Anfang Juli 1944 in Zürich. Kurz bevor er das Tagebuch beginnt.“ (S. 8)

Heinz Hilpert wird schließlich jede weitere Reise in die Schweiz untersagt. Er musste vorsichtig sein, war er den nationalsozialistischen Herrschers doch bereits unangenehm aufgefallen. Und Joseph Goebbels wird der drohende Satz zugeschrieben, dass Hilperts Theater nicht anderes seien als KZs auf Urlaub.

Bis Juni 1945 schreibt nun Hilpert dieses „Tagebuch für Nuschka“, das von Michael Dillmann und Andrea Rolz herausgegeben wurde und unter dem Titel So wird alles Schwere entweder leicht oder Leben 2011 im Weidle Verlag erschienen ist.

Wir erfahren, wie das Wetter und seine jeweilige Stimmung ist, ob die Vögel singen, wie viel er an heißen Tagen trinkt und wie sehr er die sommerliche Wärme genießt, bis in den letzten Kriegsmonaten die Einträge verzweifelter werden.

Doch vor allem enthält das schmale Büchlein wunderschöne Liebesworte, auch wenn die sprachliche Vergötterung Nuschkas, der „Gebenedeiten“, die er um Segen bittet, für mich an manchen Stellen etwas schwer verdaulich war. Die geliebte Frau ist „seine Brücke“ zu Gott.

Könnte ich Dir nur einmal ganz sanft über Deine geschlossenen Lider streicheln, Deinen Haaransatz ganz, ganz leise mit meinen Lippen berühren und Dich noch ein wenig fester zudecken, damit Du nicht nachtkalt hast. Aber so bleibt mir nichts, als Dich ganz innig in  mein Gebet einzuschließen und Dich der Gnade dessen anheimzustellen, der uns zusammen auf diese wunderschöne Erde kommen ließ. (S. 21)

In poetischer Sprache umkreist Hilpert immer wieder die Fragen, wie sich diese Liebe auf ihn auswirkt, wie sie ihn verwandelt und unverwundbar macht.

Die Begriffe „sicher“ und „unsicher“ hören auf einzig und allein im Hoheitsgebiet der Liebe. Hier lebt der Mensch im Glauben, und der Glaube macht unversehrbar – man „sichert“ nicht mehr. […] und in der vollkommenen Liebe zu Dir, Nuschka, bin ich ganz unversehrbar, kann ich kämpfen, ohne mich umzusehen, kann ruhen, ohne mich zu schützen, kann schwerelos sein, ohne mich ekstatisch aufzuschwingen, kann kreisen, ohne schwindelig zu werden, kann verweilen, ohne zu versäumen. „Nichts mehr versäumen“ ist das tiefe, tiefste Lebensgefühl, was sich dem Liebenden erschließt. Er rennt und jagt nicht mehr, er bangt und flieht nicht mehr. Er hält inne und ist heiter, er geht still fort und fort und ist selig. Das Wissen und die Weisheit, die für ihn taugt, schmiegt sich still in sein Herz. (S. 24)

Geliebt werden ist schön – es entwickelt und differenziert aber nicht. Lieben – mit aller Fragwürdigkeit des Widergeliebtwerdens – ist eben eine Kraftvergeudung, die ständig verjüngt, ist eine Auslieferung, die einem sich selbst zurückbringt, ist ein Schmerzempfinden, das in Lust umschlägt. (S. 60)

Und ähnlich wie auch Bonhoeffer in seinen Brautbriefen ringt auch Hilpert darum, die lange Trennungszeit sinnvoll werden zu lassen:

Und dann baute sich immer wieder aus Sehnsucht und Liebe eine Brücke, die gerade in Dein liebes Herz hineinmündete. Und ich ging darauf und dachte, warum ist Liebe, die sich bescheiden muß und sich nicht stillen kann, weil die Geliebte fern ist, so viel inniger und zarter und verbundener, verflochtener, unauflösbarer als die, die genießt? Weil sie schmerzhafter ist? Schenkt uns der Schmerz diese ganz besonderen Innigkeiten? Warum werden Menschen erst im Entbehren wesentlich? Und ganz nahe? (S. 63)

In den letzten Kriegsmonaten werden die Briefe aus Berlin dunkler, die Verzweiflung und Sehnsucht riesengroß, aber selbst die Gedanken an den Tod sind aufgehoben in dieser großen Liebe:

Die Welt wird immer dunkler. Die Angriffe immer grauenhafter. Wir müssen’s dulden! Meine Unversehrtheit liegt ganz bei Dir und meinem Gefühl zu Dir. Was auch kommt – ich bin immer nur auf dem Wege zu Dir. Immer Richtung Nuschka. Auch wenn ich sterben muß, ist mein letzter Herzschlag für dich. Sei geküßt und gesegnet. (S. 97)

Eine weitere Besprechung findet sich auf lustauflesen.de.

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Rasha Khayat: Weil wir längst woanders sind (2016)

Eines Tages ist er einfach da. Über Nacht, ganz leise und unbemerkt. Er liegt dort, als wäre es nie anders gewesen, völlig selbstverständlich. Ich ziehe die Gardine im Wohnzimmer auf wie jeden Morgen. Und da steht es fest, so einfach, eine Tatsache. Wir hatten noch nie echten Schnee gesehen.

So beginnt der erste Roman der 1978 in Dortmund geborenen Autorin

Rasha Khayat: Weil wir längst woanders sind (2016)

Zum Inhalt

Layla und Basils Eltern haben sich in Deutschland kennengelernt. Barbara, die junge Krankenschwester, hatte sich in den älteren Studenten aus Saudi-Arabien verliebt. Sie heiraten, bekommen zwei Kinder und leben mehrere Jahre in Saudi-Arabien.

Doch dann zieht die Familie zurück nach Deutschland, weil der Vater dort seinen Facharzt machen möchte. Die kleine Layla und ihr Bruder Basil werden vor vollendete Tatsachen gestellt und müssen sich damit arrangieren, dass es nach den Sommerferien nicht zurück nach Hause geht. Zuhause, das ist nun Deutschland, warme Klamotten, der erste Schnee, die deutschen Großeltern.

Jetzt, viele Jahre später, reist Basil als erwachsener Mann zum ersten Mal zurück nach Saudi-Arabien – zur Hochzeit seiner Schwester Layla, die sich entschieden hat, einen Saudi zu heiraten. Damit hat sie auch eine Entscheidung gegen ihren bisherigen westlichen Lebensstil in Deutschland getroffen. Sie wird also weder ihre Buchhändlerlehre beenden noch sich so frei bewegen können, wie sie das bisher gewohnt war.

‚Natürlich hat man dahinten [gemeint ist Deutschland] mehr Möglichkeiten‘, unterbricht sie mich. ‚Vor allem als Frau. Aber was bringt mir das denn, wenn die Freude darüber fehlt bei den Menschen? Wenn sie stumm und kalt bleiben trotz all ihrer Freiheit […] Was bringen mir denn die ganzen Möglichkeiten, wenn sie keine Verbindung herstellen zueinander?…‘ (S. 118)

Basil, der selbst ziemlich planlos ist und sein Studium immer noch nicht beendet hat, versucht sich also im Familiengewirr zurechtzufinden. Er muss seine spärlichen Arabischkenntnisse aktivieren und wird von Onkel, Tanten und Cousins im Familienclan willkommen geheißen, als wäre er der verlorene Sohn, der endlich nach Hause gekommen ist. Es wird gegessen, getrunken, gefeiert – bei der Hochzeit streng nach Geschlechtern getrennt – und fast immer ist man mit anderen zusammen. Da hinein sind seine Erinnerungen an die ersten Kinderjahre in Saudi-Arabien und an das Aufwachsen und Erwachsenwerden in Deutschland verwoben.

Doch vor allem will Basil, der immer eine enge und liebevolle Beziehung zu seiner Schwester hatte,  verstehen, was Layla zu dieser Entscheidung bewogen hat.

Fazit

Ein feines, ruhiges Buch, das ebenfalls – wie auch Mein Leben als Schäfer – die Frage stellt, wo man zu Hause ist bzw. sein will. Dabei kann die Autorin auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, denn auch sie, in Dortmund geboren, wuchs die ersten Jahre in Saudi-Arabien auf und kehrte mit elf Jahren nach Deutschland zurück.

Ihr Roman erzählt ganz unaufgeregt in einer schönen Sprache und nicht ohne Witz davon, wieso es manchmal so schwierig sein kann, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen, wenn man einen nicht deutschklingenden Namen und eine dunklere Hautfarbe hat. Und wenn man sich diese ganzen klischeelastigen Zuschreibungen – entweder ist man die Wüstenprinzessin mit der Pyramide im Vorgarten oder eine potentielle Terroristin, die mit den Mördern des 11. September sympathisiert – nicht mehr zumuten möchte.

Zuhause, das ist für Layla der Ort,

von dem aus ich überall hingehen und an den ich zurückkommen kann und wo niemand will, dass ich mich gegen was anderes entscheide. (S. 119)

Dabei wird die alte Heimat nicht verklärt. Sie erscheint zwar wärmer und herzlicher und im Familienclan ist man aufgehoben und vorbehaltlos angenommen, aber auch kontrolliert und begrenzt. Und wenn die Religionspolizei ins Cafe kommt, sollte man tunlichst alles vermeiden, was ihren Unmut auf sich ziehen könnte.

„Weißt du noch, was wir damals immer gesagt haben: Im Leben der Entorteten ist kein Platz für Liebe.“ „Weil man so viel Kraft zum Überleben braucht. Und das glaube ich noch immer.“ (S. 93)

Schön wäre, beides zu haben: man selbst sein dürfen, ohne sich von der Familie, den männlichen Verwandten, der Religion, dem Staat die individuellen Lebensentscheidungen abnehmen lassen zu müssen, und gleichzeitig so geborgen, so aufgehoben und vorbehaltlos im Familienclan angenommen zu sein…

So könnte man voneinander lernen, wenn man denn wollte.

Das Buch mit dem coolen Cover erschien übrigens im DuMont Verlag.

Anmerkungen

Das sagt Die Buchbloggerin.

Hier geht’s lang zu den Besprechungen von Jenny Hoch und Christoph Schröder aus der Zeit.

 

Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (2015)

Ich interessiere mich eigentlich weder für Schauspielschulen noch für Meyerhoffs Großeltern, doch was soll ich sagen: Was für ein wundervolles Buch. Ich bin entzückt, die Bekanntschaft dieser zwei elegant-trinkfesten Menschen gemacht zu haben.

Das Buch, der dritte Teil des Erinnerungsprojekts von Joachim Meyerhoff, beginnt mit den Sätzen, die im Grunde schon eine inhaltliche Zusammenfassung „in a nutshell“ bieten:

Mit zwanzig wurde ich zu meiner großen Überraschung in München auf einer Schauspielschule angenommen und zog, da ich kein Zimmer fand, bei meinen Großeltern ein. Diese beiden Welten hätten nicht unterschiedlicher sein können. Davon will ich erzählen: von meinen über alles geliebten Großeltern, gemeinsam gefangen in ihrem wunderschönen Haus, und davon, wie es ist, wenn einem gesagt wird: „Du musst lernen, mit den Brustwarzen zu lächeln.“

Nach irgendwie bestandenem Abitur weiß Meyerhoff nur, dass er aus seiner kleinen norddeutschen Heimatstadt Schleswig weg will, irgendwohin, wo ihn keiner mitleidig anschaut, wo niemand von dem Unfalltod seines Bruders weiß.

Ich war durch den noch nicht lange zurückliegenden Unfalltod meines mittleren Bruders komplett aus der Bahn geworfen worden. Mein Leben war bis zu diesem Verlust ein stabiles und angenehmes gewesen. Eine verlässlich zugefrorene Fläche, auf der ich gutbürgerlich herangewachsen und wohlbehütet Schlittschuh gelaufen war. Doch jetzt knirschte und taute es gewaltig unter mir. Eine unberechenbare Traurigkeit hatte mich ergriffen und brachte Bewegung in die Tektonik meiner einst so soliden Tage. Ich glitt auf dünnem Eis dahin, doch immer öfter blieb ich unvermittelt stehen, da mich eine Verzagtheit ergriff, die mir den Atem nahm und jeden weiteren Schritt sinnlos zu machen schien. Aber genau dieses Stehenbleiben war gefährlich. Ich musste stets in Bewegung bleiben, um nicht einzubrechen. Auch quälten mich Zukunftssorgen, da ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich werden sollte. (S. 37)

Liebäugelt er zunächst mit einer Zivildienststelle in München als Bademeister für erkrankte Kinder, so entschließt er sich dann doch, an der Aufnahmeprüfung der Otto-Falckenberg-Schule teilzunehmen. Er wird genommen, obwohl er nur eine statt der drei geforderten Rollen eingeübt hat.

Aus Bequemlichkeit und Geldnot zieht der Erzähler in die Villa seiner Münchner Großeltern, der ehemaligen Schauspielerin Inge Birkmann und dem Philosophie-Professor Hermann Krings. War zunächst nur von einigen Wochen die Rede, wird er – zu seiner und der LeserInnen Freude – die nächsten drei Jahre im „rosa Zimmer“ der Großeltern wohnen, sich an seine Kindheit erinnern und sich mehrmals die Woche gepflegt mit ihnen betrinken.

In dieser Zeit kämpft und hadert er mit seiner Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule und oft genug verzweifelt er an sich, den Lehrern, den Aufgaben. Was soll man auch davon halten, wenn man die Anweisung bekommt, als Nilpferd einen Monolog aus Effi Briest zu sprechen?

Meyerhoff schaut ganz genau hin, auch wenn’s wehtut. Dabei schont er sich nicht, ist entwaffnend ehrlich und klug. So entsteht ein anrührender Blick auf einen jungen Mann, der noch keine Ahnung hat, wo es für ihn langgehen könnte, und der sich keineswegs sicher ist, an der Schauspielschule am richtigen Ort zu sein. Das kommt so frisch, absurd und unmittelbar daher, als hätte der Erzähler seine Ausbildungsjahre erst gestern erlebt.

Neben dem Witz gibt es eine ganz große Unbefangenheit und ein manchmal fassungslosen Staunen, mit dem er seine in ihren Ritualen verhafteten, seltsam aus der Zeit gefallenen, durchaus exzentrischen Großeltern porträtiert. Und obwohl wir nach der Lektüre glauben, vieles, auch sehr Privates über diese zwei Menschen zu wissen, war es nie indiskret, habe ich mich nie als Voyeur gefühlt.

In einem Taschenkalender [des Großvaters] steht zum Beispiel über einen Tag im Kurhotel in Dürnberg, als beide schon weit über achtzig waren, Folgendes: „Gegen viertel vor neun brechen Inge und ich bei kühlen Temperaturen auf. Ich habe einen Rucksack mit dem Nötigsten gepackt. Nach einem etwas gerölligen Aufstieg erreichen wir den Höhenweg gegen neun. Bei herrlicher Sicht wandern wir bis zum Kreuz. Ankunft um neun Uhr zehn. Wir rasten und essen jeder einen Apfel und trinken einen Schluck Schnaps. Genießen die Aussicht. Ich bin ungewöhnlich außer Atem. Inge sieht im Tal einen Hirsch, der sich mit dem Fernglas als Heuschober entpuppt. Um halb zehn brechen wir einigermaßen ausgeruht wieder auf. Es zieht sich zu. Gegen viertel vor zehn erreichen wir glücklich das Hotel. Sogar trocken geblieben sind wir.“ So steht es da. Sie waren eine Stunde unterwegs und doch klingt es nach einer grandiosen Gipfelerstürmung. (S. 157)

Meyerhoff kann erzählen und mit seinen Dialogen eine Unmittelbarkeit erzeugen, dass man meint, man sitze beim Sechs-Uhr-Whisky oder beim abendlichen Rotweingelage mit am Tisch und müsse ebenfalls aufpassen, nicht auf die wertvollen Großelternstühle zu kleckern, bis man schließlich ziemlich angeschickert mit dem Treppenlift nach oben zu den Schlafgemächern entschwindet.

Als Leser(in) ist man gerührt, entsetzt, betrübt und amüsiert. Komik und Tragik liegen oft ganz nah beieinander und genau das bewahrt das Buch davor, nur eine locker-flockige Anekdotensammlung zu werden. Ich wünschte, viel mehr Autoren könnten auch so erzählen, so urkomisch, liebevoll, tolerant, verzweifelt und zärtlich und dabei immer durchlässig aufs zutiefst Menschliche.

Wenn ich nachts oder auch frühmorgens ins Haus meiner Großeltern kam, stand für mich das Abendessen in der Küche. Immer lag auf dem leeren Teller ein kleiner Zettel mit der nur schwer zu entziffernden Großmutter-Handschrift: „Lieberling, im Kühlschrank ist noch Lachs“ oder „Lieberling, die Avocado ist köstlich. Ein Rest aufgeschnittener Zunge ist auch noch da“ oder „Lieberling, iss bitte den Appenzeller auf und mach den Rotwein alle. Das Stück Baumkuchen ist für dich.“

Selten in meinem Leben habe ich so sicher gewusst: Genau hier will ich sein, genau in diesem Moment, genau an diesem Küchentisch will ich sitzen, mit tauben, nach Rauch riechenden Fingerspitzen ein Glas Rotwein trinken und dazu kalt aufgeschnittenen Braten essen. Über der Spüle sah ich die beiden mit Wasser gefüllten Gläser der vor Stunden zu Bett gegangenen Großeltern und am Rand des einen den Lippenstiftabdruck der Großmutter. (S. 258)

Eine meiner zahlreichen Lieblingsstellen beschreibt übrigens, wie er einen teuren Bildband klaut, und wenn man wissen will, warum ihn der Ladendetektiv – nach wildester Verfolgungsjagd – trotzdem laufen lässt, dann muss man das Buch schon selbst lesen.

Anmerkungen

Wer mehr Zeit hat, dem sei das Interview mit dem Autor auf SRF empfohlen. Dort erklärt er u. a. den Zusammenhang zwischen Humor und Ernst und auch, warum ihn seine Erinnerungen so wichtig sind. Er möchte seine Vergangenheit und auch die Verstorbenen quasi immer bei sich tragen. Er könne das Wort “Trauerarbeit” nicht ausstehen, wenn es suggeriere, dass man irgendwann mit der Trauer fertig sei.

Meine Besprechungen zu den bisher erschienenen Teilen seines auf sechs Bände angelegten Erinnerungsprojekts:

Einen prima Eindruck erhält man auch bei Meyerhoffs Auftritt in der NDR Talkshow.

Lucien Deprijck: Ein letzter Tag Unendlichkeit (2015)

Die Dunkelheit wich. Ein Tag zog herauf. Wie ein jeder das Sinnbild aller Schöpfung. Zuerst war es nur eine Veränderung, welche die wenigsten Menschen in der Lage waren wahrzunehmen. Bevor noch irgendein Zeichen von Licht erkennbar wurde, verdichtete sich die Dunkelheit, zog ein Wind auf. Als ballte sich die Nacht in einem letzten Aufbäumen zusammen. So wie alles auf der Welt sich immer aufzulehnen scheint gegen etwas, was doch ganz unvermeidlich ist. Dann veränderte sich der Horizont im Osten, so allmählich, dass ein Anfang kaum zu bestimmen war.

So beginnt

Lucien Deprijck: Ein letzter Tag Unendlichkeit (2015)

Zum Inhalt

Der ist rasch umrissen: Die kulturelle Elite Zürichs ist begeistert, als der 26-jährige Dichter Klopstock der Einladung Johann Jakob Bodmers folgt und für einige Tage im Sommer 1750 zu Besuch kommt, eilt ihm doch der Ruf voraus, ein selten begnadeter Dichter zu sein. Ein Dichter, der alle Regeln der traditionellen Dichtkunst über den Haufen wirft und damit Gottsched den Fehdehandschuh hingeworfen habe. Nur zwei Jahre zuvor hatte der Dichter mit der Veröffentlichung der ersten Gesänge seines Messias unglaubliches Aufsehen erregt. Im Stillen hofft man zudem, Klopstock an Zürich zu binden, um so dem kulturellen Leben der Stadt weiteren Aufschwung zu verschaffen.

Klopstock logiert zwar bei Bodmer, doch fühlt er sich viel wohler unter Kulturbeflissenen – und vor allem Frauen – seines Alters, und so nimmt er gern die Einladung Hirzels an, mit 17 Verehrern seiner Dichtung an einer Bootsfahrt auf dem Zürchersee teilzunehmen. Mit Klopstocks Ode Der Zürchersee wird der Tag später in die deutschsprachige Literaturgeschichte eingehen.

Und von genau diesem warmen und sonnigen Sommertag in der Natur erzählt uns Deprijck in seinem Roman. Ein Tag, an dem man tändelt und flirtet (allen voran der eher unansehnliche Klopstock) und sich neckt. Man hat nun Zeit genug, sich seines bürgerlichen Glücks zu freuen und sich zu unterhalten (auch wenn ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass man 1750 wirklich über die Geburt Goethes gesprochen hat…). Die älteste Teilnehmerin der Lustfahrt, die man ein als Garant für die Wohlanständigkeit der ganzen Veranstaltung eingeladen hat, macht sich so ihre Gedanken über das Älterwerden. Im Übrigen wird vorzüglich gespeist, man scherzt und genießt schon früh am Tag den ersten Wein. Alle sind hingerissen, ja tief bewegt, als der umschwärmte Dichter Proben seines Könnens gibt, und der ein oder andere sinniert, angeregt durch Klopstocks Vortrag, über seine Vergänglichkeit:

Auch Hirzel hatte die Szene ordentlich gepackt. Der frühe Wein, im Landhaus ein wenig zu reichlich genossen, mochte daran nicht ganz unschuldig sein. Während Klopstock die Bilder von Kindern und Eltern hatte erstehen lassen, die einander entrissen wurden, hatte er bestürzt die mit ihm Anwesenden und insbesondere seine strahlende Gattin betrachtet, und bei der Vorstellung, der Tod könnte sie eines Tages – gar früh – auseinanderreißen, ergriff ihn eine tiefe Wehmut. Verstorbene Freunde fielen ihm ein und dass der Tod einem jeden der noch Lebenden allerorts und zu jeder Zeit unbarmherzig drohe… (S. 78)

Indem die Paare für diesen Tag willkürlich zusammengestellt werden, setzt man sich für einen Tag über die strengen Sittenregeln Zürichs hinweg. Und die bezaubernde Anna Schinz, gerade einmal 17 Jahre alt und eigentlich einem anderen Begleiter zugeteilt, sieht sich auf einmal nicht nur dem verehrten Dichterstar gegenüber, nein, sie muss auch noch auf seine Avancen reagieren.

Fazit

Nach Sunset von Klaus Modick wollte ich keine Bücher mehr lesen, in denen sich einer vorstellt, wie eine tatsächlich stattgefundene Begebenheit hätte sein können. Biografien und Autobiografien mit Vergnügen, aber nie wieder dieses Nachempfundene. Und nun habe ich es doch getan – und bin sehr froh darum.

Deprijck macht keinen Hehl daraus, dass er sich auf Briefe und andere biografische Quellen bezieht, nur zwei Kapitel haben keinerlei Quellengrundlage. Dabei ist es etwas unglücklich, dass das eine dieser Kapitel zumindest nicht dringend notwendig gewesen wäre und dass Kapitel 18 uns in epischer Breite schildert, wie Klopstock sich irgendwann nicht anders zu helfen weiß und heimlich onaniert, in der Sprache des Buches „seinen Nektar in mehreren erquickenden Stößen hervorschießen“ lässt. Gewonnen ist damit nun wirklich nichts.

Doch davon abgesehen schafft der Autor einen so eigenständigen, wunderbar schwebenden Text, dass ich von nun an überzeugt bin, dass dieser Tag genau so abgelaufen ist und kein bisschen anders. Aber es ist auch ein Buch über einen besonderen Sommertag, der auf unsere Zeit hin durchlässig ist. Wer würde hier nicht an einen eigenen Sommertag denken oder die ein oder andere Äußerung nicht in die Gegenwart übertragen? Und das Ganze in einer hinreißenden Sprache, die sich dem Schreibstil der damaligen Zeit annähert und uns mit zarter Ironie und in feiner Beobachtungsgabe die Menschen von damals nahe bringt.

Ein Sommerbuch, das dem Begriff  „Sommerbuch“ eine ganz neue Bedeutung verleiht.

Die Menschen waren der Natur entwachsen, laut Gottes Plan und gemäß seiner unendlichen Weisheit, doch in ihren Schoß zurückzukehren war ein berauschendes Gefühl. Als stille man eine Sehnsucht, die lange unbemerkt Bestand gehabt, eine Art von Verlangen, das man erst erkannte, wenn man im Begriff stand, es zu erfüllen. Fast ein ganzes Leben in abgeschlossenen Räumen, in engen Straßen und Gassen, in Studierzimmern, Stuben und Kutschen. Und dann hier in freier Natur, in Sonnenschein, Hitze und Wind, speisen unter freiem Himmel, unter dem lichten Dach von Eichen, so schön, so angenehm berauscht vom Wein, Gefühle der Freundschaft und Hingabe im Herzen, welches der schönsten der Damen zuflog. Nur Schönes zu betrachten, nur Schönes zu empfinden, alle Lasten abzuwerfen und alles zu vergessen, was mühselig, betrüblich war. (S. 168)

Anmerkungen

Auf der Homepage des Domradio gibt es zwei hörenswerte Interviews mit dem Autor.

Die Zentralbibliothek Zürich verlinkt auf interessante Dokumente zu Klopstock und seinem Zürich-Aufenthalt, z. B. hier und hier.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs:

Interessanterweise hat Erich Schönebeck (1884-1982) schon 1969 im Union Verlag einen schmalen Band mit dem Titel Klopstock reist nach Zürich veröffentlicht.

Im Gegensatz zu Deprijck legt Schönebeck den Schwerpunkt stärker auf die Beziehung zwischen Bodmer und Klopstock und die Frage, inwieweit man einem „Genie“ ungehobeltes oder unhöfliches Verhalten nachsehen müsse. Schönebeck arbeitet häufiger mit Klopstock-Zitaten und macht mich doch neugierig auf diesen Dichterjüngling, auch wenn mir stilistisch das Buch nicht immer gefallen hat. Sehr viele empfindsame Adjektive schmücken das Werk, was heute doch ein wenig hausbacken klingt. Auch das Frauenbild, für das Anna Schinz steht und bei dem ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die junge Frau die Passive ist, die sich zu fügen hat, möchte ich gern in der Mottenkiste belassen, unabhängig davon, ob sich Anna bei den Aufmerksamkeiten des Dichters geschmeichelt gefühlt hat oder nicht:

Und er küßte sie abermals auf den Mund. Sie wurde bleich und rot. Sie wehrte sich nicht, sondern hielt still wie ein Opferlamm. (S. 65)

Still und stumm duldete sie seine Huldigungen. (S. 74)

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Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – letzter Teil

Nachdem der junge Pilger nun die ihm bekannte Welt durchreist hat und überall an der Unvollkommenheit der menschlichen Einrichtungen schier verzweifelt ist, kommt er zu dem ernüchternden Fazit, dass er trotz aller Versuche, fröhlich zu sein, nicht in der Lage ist, sich mit dem äußeren Schein der Dinge zu begnügen. Er schaffe es nicht, ein zufälliges und nichtssagendes Lachen für wahre Freude und die Lektüre von ein paar alten Scharteken für echte Weisheit und ein Stückchen zufälligen Glücks schon für den Gipfel der Befriedigung zu halten (siehe S. 136).

Ihr habt mir Reichtum, Seelenruhe und Erkenntnis versprochen, aber was besitze ich von alledem? Nichts! Und was kann ich? Nichts! Wo bin ich? Ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß ich nach so vielen Verirrungen, so vielen Mühen, so vielen überstandenen Gefahren und innerlich völlig ermattet und erschöpft nichts anderes gefunden habe als den Schmerz in meiner eigenen Brust, dazu den Haß der andern gegen mich. (S. 136)

Er weigert sich,

verblendet wie die andern in einem Wahn zu leben, haltlos umherzuschwanken, unter dem Joch des Lebens zu seufzen und zu stöhnen und schon krank, ja halbtot noch guten Mutes zu sein. Ich aber habe gesehen und erkannt, daß ich ebenso wie die andern nichts bin, nichts kann, nichts habe, sondern daß dies alles nur ein Schein ist. Wir alle haschen nach bloßen Schatten, während die Wahrheit uns überall entweicht. (S. 136 f)

Nach einem längeren Aufenthalt in der Burg der Weisheit, bei dem er auch Salomo begegnet, sieht der Pilger keinen anderen Ausweg mehr, als Gott um Erbarmen anzuflehen, und tatsächlich, da lässt sich eine Stimme vernehmen:

Kehre dahin zurück, von wo du ausgegangen bist, in deines Herzens Kämmerlein und schließe hinter dir die Tür zu. (S. 167)

Und der Pilger befolgt diesen Rat.

Ich sammelte also, so gut ich konnte, meine Gedanken, schloß Augen, Ohren, Mund und Nase und alle sonstigen Zugänge der Seele und hielt nun Einkehr in mein Herz; doch siehe! da war es finster.

Ein Licht kommt jedoch von oben herab und in tiefer Verzückung begegnet er nun Jesus Christus, der ihn freundlich als Bruder willkommen heißt.

Wo weiltest du, mein Sohn? Wo bliebst du denn so lange? Auf welchen Wegen wandeltest, was suchtest du? Trost in der Welt? Wo konntest du ihn finden außer in Gott? Und Gott wo anders als in seinem Tempel? Und in welchem außer dem lebendigen, den er sich selbst erwählet hat, in deinem Herzen? Ich sah dich, als du irrtest; doch ich wollte, mein lieber Sohn, nicht länger warten; darum habe ich dich zu dir selbst gebracht und in dein eigenes Herz geführt; denn dieses habe ich zu meiner Wohnstätte erkoren. Wenn du mit mir dort wohnen willst, dann wirst du finden, was du in der Welt vergeblich suchtest, Frieden, Trost, den wahren Ruhm und volle Sättigung. (S. 171)

Mit Anklängen an Augustinus, die Mystiker und die Bibel – man merkt, wie sehr Comenius auch Prediger war – gibt ihm der Gottessohn noch weitere Hinweise für ein weises und gottgefälliges Leben. Dabei werden auch viele der Bereiche gestreift, die der Pilger auf seiner Weltenreise vorher durchwandert hatte. Doch nun wird ihm gezeigt, wie Ehe, Kirche, weltliche Herrschaft, Arbeit und Gelehrsamkeit aussehen, wenn sie tatsächlich unter der Herrschaft Gottes stehen. Ein stilles, friedvolles und maßvolles Himmelreich auf Erden.

Du siehst auch, mit wieviel Gepränge und wie vielen Zwistigkeiten bei den Menschen die Ausübung der Religion verbunden ist. Laß du deinen Gottesdienst darin bestehen, in aller Stille mir zu dienen, ohne dich dabei um äußere Gebräuche zu kümmern: ich entbinde dich davon. Und wenn du mich, wie ich es wünsche, im Geist und in der Wahrheit anbetest, rechte mit niemand, ob man dich auch einen Heuchler, Ketzer oder wie immer nennen mag, sondern halte dich im stillen nur an mich und diene mir allein. (S. 174)

Fazit

Zwar war das Wandern mit dem Pilger durch das Jammertal der Erde manchmal ein wenig freudlos und das eher schematische Absolvieren der verschiedenen Etappen ermüdend, doch war diese Abtönung ins Dunkle und Unvollkommene aller menschlichen Einrichtungen für Comenius aus didaktischen Gründen wohl notwendig. Nur wenn sein Pilger sich nicht mit irdischen Genüssen abspeisen lässt, sucht er weiter nach dem, was ihm wirklich Frieden und Freude bringt.

Trotzdem habe ich das Buch sehr gern gelesen. Auch wenn man nicht überall zustimmen mag: Viele zeitlose Wahrheiten, der kluge Blick auf viele Bereiche der Gesellschaft und die wuchtige und dann wieder ganz zarte und innige Sprache gefielen mir ausnehmend gut.

Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – Teil 3

Heute also der dritte Teil der Pilgerreise auf dem Weg zu einem erfüllten und gottgefälligen Leben. Diesmal untersucht der Reisende die Wissenschaften, verschiedene Weltreligionen, weltliche Herrschaft und das Streben nach Glück.

Als der Pilger bei den Gelehrten und Philosophen ankommt, ist er entsetzt, ja angewidert, da auch hier alle nur aufeinander einprügeln und Händel mit ihresgleichen anfangen. Man streitet sogar über die Frage, ob der Schnee weiß oder schwarz, das Feuer heiß oder kalt sei, und niemand ist in der Lage, die Streitigkeiten friedlich beizulegen. Auch die übrigen Wissenschaftszweige können ihn nicht überzeugen, genauso wenig wie die Rhetorik, die gern dazu benutzt werde, „dem Gehirn des Zuhörers eine bestimmte Färbung zu verleihen“ (S. 60).

Nach den Wissenschaften wendet sich der Reisende dem großen Thema der Religionen zu. Am verträglichsten erscheinen ihm noch die Heiden, von denen

ein jeder seine Andacht in seiner Weise übte und auch die anderen frei gewähren ließ. Indes verschlug mir hier ein unerträglicher Gestank den Atem… (S. 90)

Die Juden kommen – aufgrund einer ziemlich kruden Begründung – nicht gut bei ihm weg und die Muslime, die ihm auf den ersten Blick so reinlich und still ihre Andacht zu verrichten scheinen, seien diejenigen, die nur mit dem Schwerte ihre Religion verteidigten und geradezu im Blute wateten.

Umso mehr freut er sich über die christliche Lehre, der er auf Schritt und Tritt begegnet, doch muss er rasch erkennen, dass gerade die Christen sich

in Saufgelage und Händel stürzen, Unzucht treiben, Diebstahl und Raub verüben. Ich traute meinen eigenen Augen nicht, sah nochmals hin und fand nun, daß sie wirklich fraßen und soffen, haderten und rauften, einander mit Gewalt und List beraubten und schunden, vor lauter Übermut krähten und wieherten, lärmten und tobten, hurten und die Ehe brachen, ärger als ich es sonst irgendwo gesehen, kurz, daß sie gerade das Gegenteil davon taten, wozu  man sie ermahnt und was zu tun sie auch versprochen hatten. (S. 93)

Und bei den Geistlichen sieht es eher noch schlimmer aus:

hier wälzten sie sich schnarchend in ihren Betten, dort schwelgten sie an einer reich besetzten Tafel und stopften sich mit Speisen und Getränken voll, bis sie bewußtlos liegenblieben, oder vollführten allerhand ausgelassene Sprünge; einige füllten ihre Beutel, Truhen und Kammern mit Gold, andere frönten der Buhlerei und trieben Unzucht; die einen hantierten mit Sporen, Degen und Flinten, die anderen tummelten sich mit einer Koppel Hunde auf der Hasenjagd, so daß sie den geringsten Teil der Zeit bei der Bibel zubrachten oder sie überhaupt kaum jemals zur Hand nahmen, sich aber trotzdem Schriftgelehrte nannten. (S. 95)

Die Spaltung in verschiedene Glaubensrichtungen und die Heuchelei der Prediger findet er abscheulich:

… über dem Chorrock einen Panzer, auf dem Barett einen Helm, in der Linken das Gesetz, in der Rechten das Schwert, vorn die Schlüssel Petri und hinten den Judasbeutel zu tragen, in der Bibel wohlbeschlagen zu sein und indes das Herz voller Listen zu haben, den Mund von Andacht überfließen zu lassen, während die Wollust einem aus den Augen sieht. (S. 95)

Zwar begegnet der Pilger auch einigen Christen, die mit diesen ganzen Zwistigkeiten nichts zu tun haben wollen und gegen jedermann freundlich sind, doch sie sind eher unansehnlich und gesellschaftlich so unbedeutend, dass er an ihnen achtlos vorübergeht. Erst später wird er verstehen, dass genau diese ihm den Weg zeigen können, der aus den „Wirrsalen des Labyrinths der Welt“ herausführt.

Der nächste große Lebensbereich, mit dem sich der Pilger befasst, die weltliche Herrschaft, krankt auf allen Hierarchiestufen an einem Übel:

Da machte ich die seltsame Entdeckung, daß nämlich selten einer von ihnen [den jeweiligen Machthabern] alle Glieder hatte und fast einem jeden irgendein notwendiger Teil des Körpers fehlte, entweder die Ohren, um die Klagen der Untertanen zu vernehmen, oder die Augen, um allerhand Mißbräuche wahrzunehmen, oder die Nase, um damit die listigen Ränke der Spitzbuben zu wittern, oder die Zunge, um für Unterdrückte, die sich nicht wehren können, Fürsprache einzulegen, oder die Hände, um damit das richterliche Urteil zu vollstrecken, oder schließlich das Herz, das auszuführen, was die Gerechtigkeit erfordert. Doch diejenigen, welchen keines dieser Glieder fehlte, waren geplagte Leute; denn man überlief sie förmlich mit Bitten, so daß sie weder Zeit zum Essen noch zum Schlafen hatten, während die anderen zumeist ein untätiges Leben führten. (S. 102)

Auch das Problem, das wir neudeutsch Lobbyismus nennen, ist dem Erzähler bewusst.

In der Nähe des Thrones sah ich viele Leute, die dem Fürsten etwas unmittelbar in die Ohren bliesen oder ihm verschiedenfarbige Gläser aufsetzten; unter die Nase räucherten, ihm Hände und Füße banden und wieder lösten, seinen Thron ausbesserten und befestigten usw. ‚Was sind denn das für Leute‘, fragte ich, ‚und was tun sie da?‘ Die Antwort lautete: ‚Das sind Geheimräte, welche die Könige und großen Herren beraten.‘ (S. 105)

Und überhaupt schaffe es die weltliche Herrschaft nicht, wirklich Gesetz, Gerechtigkeit und Ordnung walten zu lassen.

Recht und Unrecht, Haß und Liebe hielten sich doch stets die Waage, und überall war die Gerechtigkeit mit Ungerechtigkeit, das Recht mit der Gewalt gepaart, die Rathäuser, Gerichtshöfe und Kanzleien waren ebenso Stätten des Rechtes wie des Unrechts, und diejenigen, welche sich Beschützer der Gesetze nannten, waren ebensooft vielleicht noch öfter, die Beschützer der Ungesetzlichkeit. Ich wunderte mich, wieviel eitler Schein und glänzendes Elend in diesem Stande zu finden seien… (S. 107)

Dass den Pilger der Soldatenstand besonders erschreckt, verwundert nicht. Habe dieser ja gerade das Ziel, möglichst viele Menschenleben sowie den menschlichen Wohlstand überhaupt zu vernichten, und dazu benötige er eben möglichst viele grausame Waffen, die ihre Opfer sowohl in der Ferne als auch in der Nähe augenblicklich erreichen können.

Er ist traurig, als er sieht,

wie man viele mit abgehauenen Händen, Füßen, Köpfen, Nasen, zerschossenem Körper, zerfetzter Haut und blutbesudelt vom Schlachtfeld brachte. (S. 110)

Als nächstes führen ihn seine Begleiter in das Schloss Fortunas, wo er mitansieht, wie viele Menschen ihr Leben lang darauf warten, dass das große Glücksrad sie mit in die Höhe nimmt. Frau Fortuna verteilt hier ihre Gaben wie

Kronen, Zepter, Reiche, Ketten, Ehrenzeichen, Geldbörsen, Titel, Namen und Marzipan. (S. 118)

Doch das Glück ist unberechenbar, manche warten ihr Leben lang umsonst, während andere, die gar nicht damit gerechnet hatten, unversehens emporgetragen werden. Als der Pilger sich die Gaben der Frau Fortuna allerdings näher anschaut, stellt er fest, dass diese oft nichts anderes als schwere Ketten sind, die man nicht mehr loswird. Doch die dummen Menschen freuen sich an diesen Lasten:

Bisweilen traten mehrere zusammen und maßen und wogen gegenseitig ihre Ketten. Wenn einer nun die seine leichter fand als die des andern, betrübte er sich und beneidete ihn drum. Doch wer die größte und die schwerste hatte, ging hin, trug sie zur Schau, prahlte damit und blähte sich gewaltig. Es gab freilich auch solche unter ihnen, welche ruhig in ihrem Winkel sitzen blieben, sich heimlich an der Größe und Schwere ihrer Ketten ergötzten und nicht um die Bewunderung der andern buhlten, weil sie, wie ich vermute, sich vor dem Neid der Menschen und vor Diebstahl fürchteten. Andere wieder hatten mit Erdschollen und Steinen angefüllte Truhen, welche sie unaufhörlich öffneten und schlossen und von einem Ort zum andern schleppten; sie entfernten sich auch nicht einen Augenblick von ihnen, ja verzichteten sogar auf den Schlaf, damit sie ihnen nicht gestohlen würden. (S. 120)

 Und hier geht es zum letzten Teil der Reise, in dem der Pilger sein Ziel erreicht.P1090791

Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – Teil 2

Nachdem ich im ersten Teil meiner Buchvorstellung aufgezeigt habe, was dem jungen Pilger am Wesen des Menschen missfällt, sollen heute der Ehestand, einzelne Berufe und das Wirtschaftsleben im Mittelpunkt stehen, die der Reisende näher kennenlernt und auf ihren Nutzen hin überprüft.

Zunächst ruft uns der barocke Erzähler aber noch einmal das Vanitas-Motiv, die Vergänglichkeit des Lebens, ins Bewusstsein:

Es war für mich ein wehmütiger Anblick, zu sehen, wie ein zur Unsterblichkeit berufenes Geschöpf so kläglich, so unerwartet und auf so mannigfache Art dem Tod verfiel; zumal als ich bemerkte, daß fast immer dann, wenn einer sich gerade anschickte, so recht sein Leben zu genießen, wenn er Freunde sich erworben, seine Angelegenheiten wohlgeordnet, sein Haus bestellt, Geld zusammengescharrt, kurz, alle Anstalten und Vorbereitungen getroffen hatte, der Tod ihn überraschte und allem ein jähes Ende bereitete, und wer sich auf dieser Welt aufs beste gebettet zu haben glaubte, plötzlich aus seinem Traum gerissen ward und sah, daß alle seine Pläne zunichte wurden; wenn aber nun ein andrer an seine Stelle trat, da widerfuhr ihm ganz genau dasselbe Schicksal, dem dritten ebensogut wie dem zehnten und hundertsten. (S. 33)

Als erstens wird die Ehe auf den Prüfstand gestellt. Allerdings wird von nun an alles einer didaktischen Schwarzmalerei unterzogen. Die Ehepartner würden eher nach dem Geldbeutel und der Mitgift ausgesucht. Es gäbe Konkurrenz und Rangeleien.

Wenn einer einen andern auszustechen suchte, da gab es Zank und Streit; auch Morde kamen vor. (S. 35)

Die Eheschließung ist für den Pilger nichts andres als das Anlegen schwerer und schrecklicher Ketten. Diese hatte man

heiß zusammengeschmiedet, geschweißt und fest verlötet […], so daß sie während ihres ganzes irdischen Lebens dieselben weder lösen noch sprengen konnten. (S. 37)

Die ehelichen Zärtlichkeiten wiegen für den Pilger nicht schwer genug, um ihn mit dem Verlust der Freiheit zu versöhnen. Außerdem müsse man sich dann noch mit missratenen Kindern herumärgern. Und am Ende, wenn die Eheleute, was selten genug vorkäme, einander tatsächlich liebhaben, hätten sie noch das Herzeleid, wenn einer von ihnen stürbe. So

weiß ich wahrlich nicht, […] ob in der Ehe, wenn sie gerät […], mehr Freude oder Leid zu finden sei. Doch so viel ist gewiß, daß sowohl das Leben an der Seite eines Weibes als auch ohne Weib trübselig ist und daß, auch wenn sie noch so gut gerät, der süße Kelch viel Bitterkeit enthält. (S. 41)

Als nächstes schaut sich unser Reisender im Handwerk um und überall findet er Gefahr, Neid, Hindernisse und mangelhafte Produkte.

Zunächst bemerkte ich, daß alle menschlichen Geschäfte nur eitel Mühe und Plage sind und daß ein jegliches von ihnen seine Unbequemlichkeit besitzt und mit Gefahr verbunden ist. So sah ich, daß die Menschen, welche mit dem Feuer sich zu schaffen machten, vom Rauch berußt und schwarz wie Mohren waren, daß ihnen stets das Pochen der Hämmer in den Ohren dröhnte und […] daß stets der Widerschein des Feuers ihnen in den Augen glänzte und ihre Haut, davon versengt, zersprungen war. Diejenigen dagegen, welche ihr Handwerk unter der Erde trieben, hatten mit Finsternis und Schrecknissen zu tun, und es geschah nicht selten, daß sie verschüttet wurden. Die, welche auf dem Wasser arbeiteten, waren naß wie begossene Pudel, zitterten vor Kälte wie Espenlaub, und ein nicht geringer Teil fand den Tod in den Wellen. Die, welche in Holz, Stein oder einem andern Material arbeiteten, hatten den Körper mit Schwielen bedeckt, stöhnten bei ihrer Arbeit und erschöpften ihre Kräfte. (S. 42)

Das wirtschaftliche Bemühen des Menschen erschöpft sich für ihn darin,

daß Geld aus einer Tasche in die andere wandere. (S. 42)

Nicht nur die modernen Verfechter eines minimalistischen Lebensstils könnten sich auf den Pilger berufen:

Siebtentens erkannte ich mit voller Klarheit, daß viele Dinge unnütz und überflüssig und die meisten menschlichen Beschäftigungen eitle Mühe und zwecklose Torheit sind. Denn da offenbar eine ganz einfache und schlichte Kost hinreicht, den Leib des Menschen zu ernähren, ein einfaches und schlichtes Gewand, ihn zu bekleiden, ein einfaches und schlichtes Obdach, ihn zu schützen, so folgt daraus, daß nur ein kleiner und bescheidener Aufwand von Mühe hiezu nötig ist […] Nun aber fand ich, daß die Menschen diese Wahrheit entweder nicht begreifen können oder nicht wollen, da sie gewöhnt sind, sich den Bauch mit so vielen ungewöhnlichen Dingen vollzustopfen und zu füllen, so daß allein, um sie herbeizuschaffen, schon ein großer Teil der Menschheit zu Wasser und zu Lande sich plagen muß. […] So sah ich viele Werkleute, deren ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet war, kindischen Tand und anderes Spielzeug zu Belustigung und Zeitvertreib hervorzubringen. Andere verschwendeten ihre Mühe darauf, Werkzeuge der Grausamkeit, wie Schwerte, Dolche, Morgensterne und Gewehre, in möglichst großer Anzahl herzustellen. Wie nun Menschen mit ruhigem Gewissen und sogar mit Lust diese Geschäfte treiben können, ist mir unbegreiflich; doch das eine ist gewiß, daß, wenn man alles unnütze, zwecklose und sündhafte Tun aus ihrer Arbeit ausscheiden wollte, der größte Teil der menschlichen Gewerbe eingehen müßte. (S. 44)

Alsdann betrachtet der Reisende die „Gefahren des Seemannslebens“ und begibt sich unter die Gelehrten. Doch auch die können ihn nicht von ihrem Stand überzeugen, da viele von ihnen sich zwar mit Büchern den Bauch vollstopfen, doch dabei keineswegs einen gesunden Eindruck machen. Im Gegenteil, die unverdaute geistige Nahrung verursacht schlimmste Übelkeit, ja manche verfallen sogar dem Wahnsinn oder „siechten hin und starben.“ (S. 53)

Hier geht es lang zum dritten Teil. P1090703

Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – Teil 1

Der vollständige Titel des Werkes, das 1908 von Zdenko Baudnik ins Deutsche übersetzt wurde, zeigt uns bereits, wohin diese Reise führen wird:

Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, das ist eine klare Beschreibung, wie in dieser Welt und allen ihren Dingen nichts herrscht als Irrung und Verwirrung, Unsicherheit und Bedrängnis, Lug und Trug, Angst und Elend, und zuletzt Ekel an allem und Verzweiflung; und wie nur der, welcher zu Hause in seinem Herzen wohnet und sich mit Gott allein darin verschließet, zum wahren und vollen Frieden seiner Seele und zur Freude gelangt.

Der große Pädagoge des 17. Jahrhunderts, Johann Amos Comenius (1592 – 1670) verfasst während der Wirrnisse und des Elends des Dreißigjährigen Krieges eine fulminante Kritik der menschlichen Natur und der Gesellschaft, die keinen Stand, keine Religion und keine weltliche Macht ausnimmt. Dieser Kritik stellt er im dritten Teil eine große mystisch-fromme Utopie entgegen, bei der man, egal, wie man religiös oder weltanschaulich orientiert ist, zumindest ahnt, welche Wucht und Kraft in einem tatsächlich christlichen Leben liegen könnte.

Heute soll es aber erst einmal um den Einstieg in Comenius‘ Werk gehen. Und da die altertümlich-bildhafte Sprache entscheidend zum Reiz des Buches beiträgt, soll der Autor heute über große Strecken selbst zu Worte kommen.

Comenius wählt für seine Geschichte die Form der Pilgerreise: Als ein junger Mann erkennt,

dass es verschiedene Stände, Rangstufen, Berufszweige, Beschäftigungen und Ziele gebe, die sich die Menschen stecken, da schien es mir ein dringendes Bedürfnis, zu erwägen, zu welcher Gruppe von Menschen ich mich gesellen und mit was für Dingen ich mein Leben hinbringen sollte. (S. 13)

Um nun herauszufinden, welche Lebensweise ihm „möglichst wenig Mühen und Sorgen und möglichst viel Bequemlichkeit und frohe[n] Mut“ garantieren könne, will er zunächst „alle Dinge, die unter der Sonne sind“ in Augenschein nehmen, um dann in kluger Abwägung seinen Beruf zu wählen. Also begibt er sich auf eine große Reise, auf der er zwei Gefährten als Führer hat: zum einen den Überalldabei, der ihm – wie der Name schon sagt -, ermöglicht, in alle Schichten, Stände und Häuser Einblick zu nehmen, und zum anderen die Verblendung, die ihm eine Brille aufzwingt, sodass er leider das Meiste verzerrt wahrnimmt. Glücklicherweise sitzt die Brille ein bisschen schief, sodass er doch den ein oder anderen Blick auf die Realität, wie sie wirklich ist, riskieren kann.

Die Reise beginnt damit, dass der junge Pilger Zeuge dessen wird, wie jeder Mensch aus einem großen Kupfertopf, der von einem grimmigen Alten bewacht wird, ein Los ziehen muss; darauf ist sein zukünftiges Schicksal vermerkt. Es legt fest, ob man in seinem Leben herrschen, dienen, befehlen, gehorchen, das Feld bestellen, lernen, kämpfen, richten oder beten wird.

Im Trubel des menschlichen Durcheinanders stellt der junge Reisende zunächst einige Betrachtungen über die Natur des Menschen an und ihm wird rasch klar, wie

ein jeder, solang er in der Schar der anderen wandelte, eine Maske vor dem Gesichte trug, diese aber, sobald er allein war oder unter seinesgleichen sich befand, abwarf und, wenn er sich der Menge wieder zugesellen wollte, abermals anlegte. […]

Die menschliche Verständigung sei unvollkommen und vom gegenseitigen Nicht-Verstehen geprägt:

Ich bemerkte […], daß sie in verschiedenen Sprachen miteinander redeten, so daß sie zum größten Teile einander nicht verstanden, auch gar nicht antworteten oder aber über einen andern Gegenstand, als wovon die Rede war, Auskunft erteilten, jeder in anderer Art. Hie und da standen sie in großen Haufen beisammen und alle sprachen zugleich, jeder brachte das Seine vor, aber keiner wollte auf den anderen hören, wiewohl die einen an den anderen zerrten, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen; doch das geschah nicht, eher kam es zu Zank und Streit. (S. 28)

Doch nicht nur die Kommunikation, auch die Einsicht der Menschen sei mangelhaft.

Ich nahm auch einen anderen Mißstand wahr, nämlich die Verblendung und Torheit der Menschen. Denn auf dem Ringplatz  […] gab es eine Menge Gruben, Löcher und Vertiefungen sowie auch Steine und Balken, welche kreuz und quer durcheinander lagen, und viele andere Hindernisse. Doch niemand dachte auch nur entfernt daran, sie wegzuräumen, auszubessern und die Ordnung wiederherzustellen. Es wich auch niemand einem solchen Hindernisse aus, noch nahm man sich auch nur die Mühe, es zu umgehen. Man ging wie blind darauf los, so daß bald dieser, bald jener anstieß, stürzte und entweder den Hals brach oder übel zugerichtet wurde […] Doch keiner kümmerte sich um den andern, nur wenn jemand zu Falle kam, lachte man ihn tüchtig aus. (S. 30)

Und wie bekannt kommt uns das Folgende vor?

Auch hatten sie, wie ich bemerken konnte, große Lust zu Neuerungen und Veränderungen, in Kleidung, Bauart, Sprache, Gang und anderen Dingen. So fand ich einige unter ihnen, die sonst nichts taten, als sich beständig umzukleiden und ein Kleid nach dem andern anzulegen; andere wieder sannen über eine neue Bauart nach, um dann nach einer Weile wieder abzubrechen, was sie soeben erst mit Mühe aufgerichtet hatten. Sie griffen bald zu dieser, bald zu jener Arbeit und ließen dann in ihrer Unbeständigkeit bald alles wieder liegen.

Wenn einer sich mit seiner Last zu Tode geschleppt oder sie auch im Stich gelassen hatte, fanden sich gleich andere, die sich, so unglaublich das klingen mag, um seine Bürde rissen, stritten und balgten. Indessen gab es keinen unter ihnen, der irgendetwas gesagt, getan, errichtet hätte, daß nicht gleich andere gekommen wären, die ihn verlästerten und sein Werk zerstörten. So manche hat mit großer Mühe und schweren Kosten ein Werk vollbracht, woran er seine Freude hatte, als andere des Weges kamen und es zerstörten und verdarben, so daß es auf der ganzen Welt wohl keinen Menschen gab, der irgendetwas schuf, das nicht von andern wieder vernichtet worden wäre. (S. 31)

Doch es gibt noch eine weitere menschliche Eigenschaft, die der Pilger tadelt, nämlich die maßlose Selbstgefälligkeit.

Ferner fand ich viele, welche einen Spiegel trugen und, während sie mit anderen sprachen, stritten oder sich prügelten oder während sie Steine wälzten, ja selbst wenn sie auf ihren Stelzen gingen, sich wohlgefällig drin von vorn und hinten und von beiden Seiten besahen, Worte der Bewunderung flüsterten, die ihrer eigenen Schönheit, ihrem Wuchs und Gang und ihren Taten galten, und ihren Spiegel auch anderen darreichten, mit der Bitte, sie gleichfalls zu betrachten. (S. 32)

Auch das folgende Zitat lässt sich – fast vier Jahrhunderte später – mühelos auf diverse Bereiche unserer Gesellschaft übertragen: Fassungslos beobachtet der Pilger das unnütze und alberne Treiben der Menschen, „das mit ihrer hohen Abstammung in grellem Widerspruche steht“:

Müßiggänger gab es nun allerdings wenige unter ihnen: fast jeder hatte irgendeine Beschäftigung. Aber es waren entweder kindische Spielereien oder fruchtlose Anstrengungen. So sammelten einige Kehricht und verteilten ihn untereinander; einige wälzten Balken und Steinblöcke heran, zogen sie mittels einer Winde irgendwohin in die Höhe und ließen sie dann wieder hinabgleiten; andere hoben das Erdreich aus und trugen oder schafften es von einem Ort zum andern; der Rest hantierte mit Schellen, Spiegeln, Bälgen, Schnarren und anderem Spielzeug; einige belustigten sich sogar mit ihrem eigenen Schatten, indem sie ihn maßen, von sich stießen und ihm nachjagten. Das alles taten sie mit solchem Eifer, daß sie bei ihrer Arbeit stöhnten und schwitzten, oft sogar zusammenbrachen. Fast überall gab es Beamte, die ihnen solche Dinge auferlegten und die, die Arbeit wacker unter sie verteilten, während es keineswegs an solchen fehlte, die ebenso wacker ihre Befehle ausführten. (S. 29)

Der letzte Punkt, den der Pilger den Menschen vorwirft, ist, dass sie „sich so gebärdeten, als ob sie ihrer Unsterblichkeit sicher wären“ (S. 34):

Zuletzt sah ich den Tod in ihren Reihen wandeln, der, mit einer scharfen Sense und mit Pfeil und Bogen ausgerüstet, sie mit lauter Stimme mahnte, nicht zu vergessen, daß ein jeder sterben müsse. Doch niemand achtete auf seinen Ruf, ein jeder blieb bei seiner Torheit und trieb unbekümmert seinen Unfug weiter. (S. 32)

Hier geht es zum zweiten Teil.

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Hans Sahl: Die Wenigen und die Vielen (1959)

Ich bin kein Held. Ich habe Angst vor Ratten und vor Schlangen. Ich gehe ungern durch einen dunklen Wald. Ich liebe es nicht, mißhandelt zu werden. Schlachtenlärm und Weltuntergänge sowie alle historischen Ereignisse, die sich geräuschvoll abspielen, sind mir unsympathisch. Ich liebe Bücher und Bilder, gute Musik und gute Weine. Ich esse gern gut. Ich lebe gern bequem. Unter normalen Umständen wäre ich gewiß ein nützliches Mitglied der Gesellschaft geworden.

Mit diesen fulminanten Sätzen beginnt das erste Kapitel des einzigen Romans von Hans Sahl, der 1959 erschien und 2010 im Luchterhand Verlag neu aufgelegt wurde.

Zum Autor

Sahl (1902 – 1993) war während der Weimarer Republik ein wichtiger Literatur- und Theaterkritiker. Bereits 1933 emigrierte er über Prag nach Paris. Zunächst politisch links orientiert, verweigerte er sich schließlich dem Stalinismus, was ihn viele Freundschaften kostete. Nach einem längeren Aufenthalt in Marseille gelang ihm 1941 die Flucht nach Amerika.

Zum Inhalt

Das stark autobiografisch geprägte Buch Die Wenigen und die Vielen schildert in der Rahmenhandlung, wie sich Sahls literarisches Alter Ego Georg Kobbe 1941 ziellos durch die Straßen New Yorks treiben lässt. Dabei trifft Kobbe andere Emigranten, besucht seine ebenfalls emigrierte Schwester oder kommunistische Exilantenzirkel, versucht zu schreiben und wartet auf das Ende des Krieges.

In langen Rückblenden erzählt er seine Geschichte, die ohne den Terror und den von den Nationalsozialisten herbeigeführten Weltuntergang ja völlig anders verlaufen wäre. Kobbe erinnert sich an seine Kindheit in einem wohlhabenden jüdischen Milieu und den späteren Bruch mit seinem Vater, der ihm eine Schriftstellerexistenz verbieten will.

Die Welt war ein Taschentuch, das man zusammenlegen und auseinanderfalten und in Dreispitze, Königskronen, in Gebirgszacken und schneebedeckte Abhänge verwandeln konnte. Die Welt, das war auch das Badewasser, das zum Meer wurde, wenn man so tief lag, daß die Augen gerade über den Wasserspiegel sahen wie zwei untergehende Sonnen. Dann schlugen haushohe Wellen, Brandung wälzte sich heran, überschwemmte Mund, Nasenlöcher und Seifennapf, der wie ein Landungssteg an die Wann geklebt war, und Meeresungeheuer erhoben sich aus der Tiefe in Form von Knien, Zehen, Ellbogen und Handgelenken. Die Welt, das war auch all das, was man selbst nicht war, ein Tisch, ein Schrank, eine geputzte Messingklinke am Sonntag […] Die Welt, das war der Stuhl, in dem mein Vater am Abend zu sitzen und die Zeitung zu lesen pflegte. (S. 52)

Genauso setzt er sich aber auch mit dem deutsch-jüdischen Bürgertum auseinander, das sich das, was da noch kommen sollte, den Zusammenbruch jeglicher zivilisatorischer Normen, buchstäblich nicht vorstellen konnte, und sinniert über die Gründe für den Aufstieg der brauen Horden, die ihn schließlich auf ihre schwarzen Liste setzen.

Der einzelne hat aufgehört, für sich selbst zu denken. Er ruft nach der Gefangenschaft wie ein Verdurstender nach Wasser. Glücklich, einer Verantwortung enthoben zu sein, die ihnen längst aus der Hand genommen worden war, pflastern sie den Weg, auf dem der Eroberer einzieht, mit ihren Leibern, wollüstig die Schmach auskostend, erobert zu sein, Wachs, das darauf wartet, geformt und zu Stahl und Zement umgegossen zu werden. (S. 121)

Es liegt eine große Verführung darin, das Verbotene zur Staatsreligion zu erheben. Zwei Jahrtausende Christentum haben den Menschen gelehrt, sein schlechtes Gewissen mit Anstand zu verbergen. Jetzt fordert man ihn auf, sich öffentlich dazu zu bekennen. Sei schlecht, sagt man ihm, koste den Rausch der Schlechtigkeit aus, der uns zu Brüdern macht. Wie? Man hat dich gelehrt, du sollst nicht töten? Töte! Hier ist das Messer. Wir zeigen dir, wie es gemacht wird. Wir sind eine große Horde. […] Wie? man hat dir gesagt, daß die Leiden der anderen auch deine Leiden sind? Hier ist ein Mensch. Er ist schwächer als du. Er kann sich nicht wehren. Schlage ihn. Du wirst sehen, daß es schön ist, einen Menschen zu schlagen, der sich nicht wehren kann. Wir haben den Mut, unseren geheimen Neigungen zu leben. Wir sagen: Hasse deinen Nächsten wie dich selbst und sei unbesorgt – wir stehen hinter dir, wir schützen dich. […] Hast du nie davon geträumt, grausam zu sein um der Grausamkeit willen, zu verhöhnen, was du gestern angebetet hast? Dies alles bieten wir dir. Schlag ein. Es lohnt sich. (S. 123)

Menschen brauchen ein Ideal, um mit gutem Gewissen morden zu können. (S. 85)

Es folgen die Etappen seiner Flucht: Prag, Amsterdam, Paris, die Internierung, der grauenhafte Marsch bis nach Marseille, wo er auf Varian Fry trifft und vom Emergency Rescue Committee unterstützt wird, schließlich die Flucht nach Lissabon und die Schifffahrt nach New York.

Dann wieder schildert Kobbe den Abschied von seiner alten Mutter, die in Berlin zurückbleibt:

Sie hatte sich damit abgefunden. Sie machte keine Szenen mehr. Sie war ausgesetzt in diese Zeit, der sie sich mit Anstand gewachsen zeigen mußte. Niemand half ihr dabei. Niemand sagte ihr, was sie zu tun hatte. Sie mußte es selber wissen. Sie mußte ganz allein damit fertig werden. Sie mußte wissen, warum jetzt Menschen mit Holzlatten aufeinander losschlugen, warum man Herren aus guter Familie, mit deren Eltern sie noch zur Schule gegangen war, aus dem Fenster warf, warum dieser oder jener verschwand und warum ich jetzt verschwinden mußte. Es ging alles so schnell. Man hatte keine Zeit, es ihr zu erklären. Man erwartete von ihr, daß sie es von selbst verstehen würde. Ja, wir hatten sie gut erzogen. Wir erlaubten ihr nicht, sich an jene Zeit zu erinnern, da sie sich mit Schuberts ‚Wanderer‘ das Herz meines Vaters erobert hatte. (S. 162)

Er streift das Schicksal vieler Weggefährten, hinter denen man – wenn auch unter anderen Namen – unschwer Dichter wie Brecht und Roth erkennen kann. Kobbe versucht, sich seiner selbst zu vergewissern und das Gefühl fortwährender Fremdheit zu ergründen, das ihn auch nach Jahren in der amerikanischen Großstadt nicht verlässt. Ja, er fühlt sich selbst eher wie eine Romanfigur, der der eigene Sinn abhanden gekommen ist.

Kobbe erinnert sich an den Hunger in Paris, als man endgültig kein Geld mehr und kaum noch Kraft hatte, Treppen zu steigen, und an die zahlreichen lebensbedrohlichen Situationen, denen man ausgesetzt war, obwohl man doch ein Mensch des zivilisierten zwanzigsten Jahrhunderts war, dem die Eltern beigebracht hatten, mit Gabel und Messer zu essen, vor älteren Damen aufzustehen und den anderen ausreden zu lassen.

Wir nehmen Anteil an seinen Gedanken nach dem Warum und Wohin, den Fragen nach der Natur des Menschen und nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft und an seiner äußeren und inneren Heimatlosigkeit.

Fazit

Der Roman wird von diversen Kritikern als ein Hauptwerk der Exilliteratur angesehen. Zunächst ging es mir wie Linus, der über sein Problem, Lektüren abzubrechen, nachgedacht hat, und ich fand keinen Zugang zu dem Patchworkartigen, dem Hin- und Herspringen in der Chronologie, dem Wechsel der Perspektiven und Textsorten und der nüchternen Erzählweise.

Vielleicht ist es genau diese Gemengelage, die Sahl dazu bewog, seinem Buch den Untertitel Roman einer Zeit zu geben, denn gerade das Fragmentarische, das Unzusammenhängende und das Zersplitterte ist wohl das Zeittypische und das Charakteristikum dieser Biografie. Nur muss man sich als Leserin auf diese Sprünge einlassen und Aufmerksamkeit mitbringen, damit man den heimlichen Faden nicht verliert. Ich brauchte einen zweiten Anlauf, bis mich das Buch am Wickel hatte, dann aber richtig. Wow, was für ein Buch!

Es ist ohne Frage literaturgeschichtlich wichtig, aber auch erhellend, interessant und spannend, schildert es doch beispielhaft, was das eigentlich bedeutet, seine Heimat unfreiwillig hinter sich zu lassen:

Ich war allein. Wahrscheinlich ging es jetzt jedem so. Deutschland war ein feindliches Land geworden. Man war aus Versehen hinter die feindlichen Linien geraten und mußte sehen, wie man wieder herauskam. Es war nichts Heroisches an diesem Unternehmen. Es war kein von langer Hand vorbereitetes Abschiednehmen von den ‚Stätten der Kindheit‘. Man nahm ganz einfach seinen Hut und ging hinaus und wußte nicht, wann man wiederkommen würde. Vielleicht in zwei Stunden, oder in zwei Jahren, oder nie mehr, die Hauptsache war, daß es einem gelang, unbemerkt das Haus zu verlassen, einen Zug zu besteigen und die Grenze zu überschreiten. Alles andere war Nebensache. (S. 156)

Oft ist die Erzählweise nüchtern, ja geradezu lakonisch, was Kobbe auf die Erfahrungen zurückführt, die die Emigranten gemacht haben. Als der Erzähler während seiner Spaziergänge durch New York zufällig einen Bekannten aus Deutschland trifft, heißt es:

‚Wann sind Sie angekommen?‘ fragte Kobbe.
‚Vor sechs Monaten.‘
Kobbe fragte nicht weiter. Man hatte längst aufgehört, sich nach Einzelheiten zu erkundigen. Der eine war über Martinique, der andere über Lissabon gekommen; sonst war alles so ziemlich dasselbe. Lager, Flucht, falsche Pässe, der schmale Gebirgspfad über die Grenze, der Kampf um den Schiffsplatz – man konnte die einzelnen Etappen schon wie einen Rosenkranz herunterbeten. Individuelle Abweichungen verloren bei dieser Massenflucht an Interesse. Selbst die Todesangst wurde zum abgenutzten Gesprächsthema, das keinen Zuhörer mehr fesselte. Man lebte, man war da – das genügte. Wer nicht da war, hatte Pech gehabt. Im übrigen fingen die Schwierigkeiten erst an, wenn man überlebt hatte. (S. 23)

Immer wieder gab es Stellen, die ich am liebsten seitenlang zitieren würde, und die ersten Seiten waren mit die beeindruckendsten, die ich je an einem Buchanfang gelesen habe, auch wenn dieses messerscharfe, auf den Punkt genaue Formulieren, dieses geradezu Unerbittliche nicht auf Dauer durchgehalten werden kann.

Dem Erzähler gelingt es, all die vielen Facetten des Grauens und des Unfasslichen, das Traurige und die Auflösung der Selbstverständlichkeiten mit seinen Worten zu fassen. Ich bin froh, bei diesem Buch einen zweiten Anlauf unternommen zu haben. Es hat sich gelohnt.

Abschließend noch ein Zitat, das überall da gilt, wo das Recht mit Füßen getreten wird:

… und schlug dem anderen mit einer Holzlatte über den Kopf. Der andere bettelte: ‚Laß mich gehen. Ich habe dir nichts getan.‘ Der Stärkere lachte. Im ganzen Land wurde jetzt der Stärkere gegen den Schwächeren ausgespielt. Dieser hier spürte seine neue Macht und kostete sie aus. Zuerst hatte er nur im Scherz nach der Holzlatte gegriffen. Aber dann war da etwas in dem Gesicht des andern, das ihn aufbrachte, ein leiser, menschlicher Zug um den Mund, etwas, das er kannte, das nach Angst aussah – und Angst – das war man selber – Angst mußte totgeschlagen werden. (S. 92)

Anmerkung

Hier geht’s lang zu weiteren Besprechungen:

IMG_0347Mater Dolorosa, Pietro Torrigiani zugeschrieben, Anfang des 16. Jahrhunderts (eigene Aufnahme)

Jakob Wassermann: Caspar Hauser (1908)

In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab. Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen …

So beginnt der in weiten Teilen auf historischen Tatsachen und Quellen beruhende Roman Wassermanns um den berühmten und rätselhaften „Findling“ Caspar Hauser.

Zum Inhalt

Die Bürger Nürnbergs stehen dem jungen Menschen, der da so plötzlich unter ihnen auftaucht, skeptisch, neugierig, gaffend, mitleidig oder sensationslüstern gegenüber. Der schon bald vom Bürgermeister veröffentlichte Erlass, durch den man sich Informationen zur Auflösung seiner ungeklärten Herkunft erhofft, sorgt für einen Rummel ohnegleichen. Der junge Gymnasialprofessor Daumer erhält schließlich die Erlaubnis, ihn zu sich zu nehmen. Er bringt Caspar das Sprechen bei und erfährt, dass Caspar jahrelang in einem dunklen Raum bei Wasser und Brot eingesperrt gewesen sei. Er habe seinen Wärter nie gesehen, man habe ihn betäubt, wenn man ihm die Haare und Nägel schnitt, ihn wusch und neues Stroh auf sein Lager gab.

So muss er erst wieder Laufen lernen, das Sonnenlicht tut ihm weh, von Fleisch wird ihm übel. Aber in die menschenfreundliche Zuwendung Daumers mischen sich schon rasch Herablassung und Besitzerdünkel. Auf der einen Seite sieht Daumer in ihm einen ersten Adam, unschuldig und schützenswert:

Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradiesischen Bildes gewahr wurde: Caspar im Garten, auf der Bank sitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn, Tauben picken vor seinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter, die Hauskatze schnurrt an seinem Arm. In ihm ist die Menschheit frei von Sünde, sagte sich Daumer bei diesem Anblick, und was wäre sonst zu leisten, als einen solchen Zustand zu erhalten. Was wäre hier noch zu enträtseln, was zu verkünden? (S. 56)

Doch gleichzeitig will Daumer diesen Menschen studieren und im Tiefsten ergründen. Denn Caspar sei noch

unverpflichtete Kreatur vom ersten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Instinkt, ausgerüstet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforschung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ist. (S. 62)

Daumer nutzt ihn zu Experimenten und Kunststückchen aus, als sei er ein Zirkustier. Er ist völlig irritiert, als Caspar sich über die Bedeutung des Wörtchens „ich“ klar wird und beginnt, ihm auch ein „Nein“ entgegenzusetzen. Als er hört, dass Caspar bei einer Notlüge ertappt wurde, beschließt er durch ein „Gottesurteil“ herauszufinden, ob sich Caspars Seele noch dem „Geisterhauch“ öffne oder ob er schon zu den „Gewöhnlichen“ gehöre. Er will Caspar mittels Gedankenübertragung zu einer festgelegten Stunde dazu bringen, ihm sein Tagebuch zu bringen. Das Experiment scheitert:

Ruhig blieb Daumer sitzen und stierte vor sich hin wie einer, der aus dem Rausch erwacht. Vorüber, die Frist war verstrichen. Er schämte sich sowohl seiner Niederlage als auch seines vermessenen Unterfangens, denn er war ja ein gescheiter Kopf und hatte Selbstbesinnung genug, um die spielerische Willkür dessen, was er gewollt, ernüchtert zu empfinden. Trotzdem ergriff ihn eine finstere Gleichgültigkeit. Der Hoffnungen zu gedenken, die sich noch vor kurzem an den Namen Caspar geknüpft, verursachte ihm einen schalen Geschmack auf der Zunge. (S. 112)

Den Ränken der Umwelt, der Sensationsgier, der Neugier und fehlenden Empathie ist Caspar nahezu hilflos ausgeliefert. Täglich wird er von Dutzenden bestaunt, begafft und angefasst. Jeder hat seine Pläne und Absichten mit ihm, sei es, dass er weitgereisten Herrschaften zur Abendunterhaltung dienen, der Kirche als verlorene Seele zugeführt werden oder als Daumers Versuchsobjekt für allerlei medizinische Experimente oder neue Diäten herhalten soll. Frau Behold schließlich versucht ihn zu verführen und verfolgt ihn anschließend mit üblen Verleumdungen, weil er voller Entsetzen vor ihr zurückweicht.

Staatsrat Feuerbach will der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und vertritt in einem geheimen Brief an den König die Ansicht, dass es sich bei Caspar um einen totgeschwiegenen Nachkommen einer bestimmten Herrscherfamilie handeln müsse.

An dieser Stelle des Berichts stockte die Hand des Präsidenten – tagelang, wochenlang. Nicht aus Schwäche noch aus Wankelmut, sondern mit dem schmerzlichen Zagen eines Feldherrn, der des Unheils und Verderbens sicher ist, wie immer die Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem Fürstenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das befleckte Diadem deuten, hieß das nicht,  die Majestät auch des eigenen Königs beleidigen, geheiligte Überlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen Völker zum Widerpart stacheln? Doch wie nie zuvor empfand er die zeugende Gewalt des Wortes, und wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt. Er nannte das Haus mit Namen. (S. 125)

Als ein Mordanschlag auf Caspar geschieht, bei dem dieser schwer verletzt wird, mag ihn Daumer endgültig nicht mehr im Hause haben und so beginnt Caspars Odyssee durch mehrere Nürnberger und Ansbacher Haushalte. Diese verschiedenen Stationen nutzt Wassermann, um ein beklemmendes Sittenbild der Gesellschaft zu zeichnen. Dabei zeigt sich sein geradezu sezierender Blick auf die verstecktesten Motive des Herzens. Als Daumer erfährt, dass schon einflussreiche Bürger Caspar beschuldigen, sich selbst die Verletzungen beigebracht zu haben, geht ihm Folgendes durch den Kopf:

Das ist also die Welt, das sind ihre Stimmen! dachte er bestürzt; das zu denken ist möglich, es auszusprechen steht jedem Mund frei! Und dieser Abgrund von Unsinn und Bosheit soll dich verschlingen, armer Caspar! […] sie werden dir die Flügel brechen. Vergebens wird die Schuldlosigkeit aus deinem Inneren strahlen, sie werden es nicht sehen, vergebens wirst du vor ihnen weinen und vergebens lächeln, du wirst ihre Hand fassen und vor Kälte schaudern, du wirst sie anblicken, und sie werden stumm sein […] Man ist Prophet und hat ein mitleidiges Gemüt, man kennt die Menschen, man weiß, daß das Feuer brennt, daß die Nadel sticht […] man kennt die Folgen dessen, was man tut, nicht wahr, Herr Daumer? Aber ist dies etwa ein Grund, den Geschehnissen wie einem Feind, der das Schwert erhoben hat, in die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden? Nein, es ist kein Grund. […] Darin haben die Idealisten und Seelenforscher nichts voraus vor Dieben und Wucherern. Man geht nach Hause, philosophierend geht man nach Hause, legt sich schlafen, und am nächsten Morgen sieht die Welt weit annehmbarer aus als am gestrigen, reichlich verstimmten Abend. (S. 133)

Sogar der englische Lord Philip Henry Stanhope scheint Anteil am Geschick Caspar   Hausers zu nehmen und gibt große Summen aus, um die Herkunft Caspars zu klären. Auch er sieht in Caspar ein geradezu überirdisches Wesen, vor dem ersten Treffen mit ihm war dem Lord „bange, freudig bang wie einem Kind vor dem Weihnachtsabend.“ (S. 169) Und schon einen Tag später ist es für den Adligen keine Frage mehr, dass er bald gemeinsam mit Caspar durch südliche Gefilde reisen wird. Doch er spielt ein falsches Spiel. Sein Gewissen ist korrumpiert, und bereits vor der ersten Begegnung hat er sich von den Feinden Caspars anheuern lassen, um ihn aus dem Wege zu schaffen oder unschädlich zu machen. Die unschuldige Liebe und das grenzenlose Vertrauen, dass der Jüngling in ihn und seine Versprechungen setzt, können ihn nicht mehr zurück auf den Weg der Redlichkeit führen.

Der wahre Gönner Caspars, der Staatsrat Feuerbach, stirbt unter mysteriösen Umständen, als er sich allein mit dem schmierig-gefährlichen Polizeileutnant Hickel auf einer Reise befindet, die Caspars Schicksal klären soll.

Fazit

Golo Mann hat Caspar Hauser angeblich einmal als den schönsten Kriminalroman bezeichnet, der je geschrieben wurde. Ich allerdings habe die Lektüre dieses Klassikers als ein mühseliges Geschäft empfunden, und das lag nicht am Umfang von 459 Seiten.

An vielen Stellen ist der Stil Wassermanns unerträglich pathetisch. Auf der zufällig gewählten Seite 20 der Taschenbuchausgabe finden sich die Wörter: „geheimnisvoll, unschuldig leuchtende Augen, Übeltat, Schande, verborgen, schmerzlich, lüstern, begehrten, erhellende Dämmerung, in beruhigter Brust nach dem Gewesenen tastete, ein Gewesenes fühlte, im Tiefsten schaudernd, mit durstigen Sinnen, sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem sprechenden Mund der Menschen“. Das liest sich mühsam und all die hohen Worte nutzen sich ab in einer ständigen Wiederholungsschleife. Die schier nicht enden wollende Zähflüssigkeit hat mich mehr als einmal beinahe dazu gebracht, das Buch in die Ecke zu feuern.

Auch Spannung kam nur bedingt auf, weil rasch klar war, dass die beklemmende Atmosphäre, die Intrigen, die Passivität der Caspar Wohlgesonnenen und die Boshaftigkeit seiner Umwelt, die teilweise geradezu fratzenhafte Züge annimmt, die Oberhand behalten werden. Ausnahmslos alle – bis auf den Präsidenten Feuerbach – erliegen der „Trägheit des Herzens“: Entweder setzen sie sich gegen die Unschuld Caspars geradezu zur Wehr, haben ohnehin kein Gewissen mehr oder sie sind von ihren Vorurteilen nicht mehr abzubringen. Andere wiederum gewichten Geld oder Macht höher als Menschlichkeit oder aber sie lassen ihrer Einsicht keine Taten folgen. Als Trägheit des Herzens (acedia) wird übrigens nach theologischer Lehre auch eines der sieben Hauptlaster bezeichnet.

Marcel Reich-Ranicki hat es in der FAZ 2010 so nett auf den Punkt gebracht, als er schrieb:

Wassermann „wurde vom Publikum geliebt, weil er ihm nichts vorenthielt. Anspielungen und Andeutungen gibt es in seiner Prosa kaum, das Indirekte kennt seine Erzählweise nicht, auf die Ironie verzichtet er fast immer. Was er dem Leser mitzuteilen hat, teilt er in der Regel mehrfach mit. Wer will, kann ihm vorwerfen, dass er unentwegt mit dem Nürnberger Trichter hantiert. Mag sein, nur dass seine Bücher auf eine beachtliche Phantasie schließen lassen. Und der Leser hat es mit fraglos intelligenter Prosa zu tun.“

Doch was trotz allem Schwulst und Pathos und außer Rand und Band geratenen Metaphern beeindruckt, ist der scharfe Blick in menschliche Abgründe. Der Typus des Heuchlers lässt sich doch kaum besser darstellen, als es Wassermann mit der Figur des Lehrers Quandt gelungen ist. Bei ihm muss Caspar sein letztes Quartier beziehen:

Es war nämlich mit diesem Manne derart beschaffen, daß er in einer merkwürdigen Zweiheit existierte. Der eine Teil war die öffentliche Person, der Bürger, der Steuerzahler, der Kollege, das Familienoberhaupt, der Patriot, der andre Teil war sozusagen der Quandt an sich. Jener war ein Heros der Tugend, eine wahre Mustersammlung von Tugenden, dieser lag versteckt in einer stillen Ecke und belauerte die liebe Gotteswelt. Die öffentliche Person, der Bürger, der Patriot nahm herzlichen Anteil an den allgemeinen Angelegenheiten, wohingegen der Quandt an sich vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo irgendwas passierte: sei es nun ein unerwarteter Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kaltstellung eines verdienten Beamten oder ein Diebstahl bei einer Vereinskasse oder ein Radschaden an der Postkutsche oder eine Feuersbrunst beim reichen Bauern Soundso oder die skandalöse Heirat der Gräfin Ypsilon mit ihrem Stallburschen. So unverbrüchlich der Steuerzahler, das Familienoberhaupt, der Kollege seinen Pflichten nachkam, der Quandt an sich hatte etwas von einem Revolutionär und war immer auf dem Posten, um der Weltregierung auf ihre Finger zu schauen, und stets besorgt, daß keinem mehr Ehre geschah, als er nach genauer Bilanz über seine Verdienste und Mängel, seine Vorzüge und Laster füglich beanspruchen durfte. Der öffentliche Quandt schien zufrieden mit seinem Los, der geheime fand sich allerorten und zu jeder Zeit zurückgesetzt, beleidigt, vor den Kopf gestoßen und in seinen vornehmsten Rechten gekränkt. Nun sollte man denken, mit zwei so verschieden gesinnten Kostgängern unter einem Dach sei schwer zu wirtschaften. Nichtsdestoweniger kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander aus. Freilich, der Neid ist ein boshaftes Tier, er durchlöcherte manchmal die Scheidewand zwischen den beiden Seelen, und wie oft der stärkste Damm nicht genügt, um eine verheerende Überschwemmung  zu verhindern, so brach eben dieser Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und wohlbestellten Gefilde des Gottes- und Menschenfreundes Quandts. (S. 281)

So kommt auch die Autorin und Journalistin Petra van Cronenburg zu dem Ergebnis: „Wassermann schafft es, in einer Geschichte, die zuweilen krimihafte Züge hat und mit Sensationslust spielt, über das Wesen des Menschen nachzudenken. Caspar ist nicht nur der geheimnisvolle Fremde, der die Bürgerlichen zwingt, mit Fremdheit und Anderssein umzugehen – er ist auch die menschliche Unschuld, nach der sich die anderen Protagonisten sehnen, die ihnen Angst macht, die sie bekämpfen oder zu erhalten suchen. Das ist ein großer Roman über die Conditio humana.“

Anmerkung

Wassermann hat sich jahrelang an diesen Stoff herangetastet. Sein Großvater hatte Caspar Hauser noch gesehen und Wassermann kannte die Stätten, die für Hausers Schicksal bedeutsam wurden und er sagt in seinem Rückblick „Mein Weg als Deutscher und Jude“ von 1921:

Abermals und abermals wagte ich den Anfang, zog weiten Kreis, zog engen Kreis um das Thema, fand nicht das Fundament, fand nicht die Ruhe, nicht die Kraft, nicht die Erleuchtung, wurde mutlos und ließ wieder ab. Doch bei all dem Probieren und Verzagen, Graben und Verzweifeln wuchs mir die Figur des Nürnberger Findlings unerwartet hoch empor, und sein Schicksal ward mir zum Schicksal des menschlichen Herzens überhaupt. Das Menschenherz gegen die Welt; als ich diese Formel gefunden hatte, hoben sich die Schleier, und wenngleich noch viele Mühsal zu bezwingen war, so blieb doch der Weg im Licht. (S. 77)

Zum Abschluss noch ein Zitat aus diesem Buch, das auch heute noch, über 100 Jahre später in einem Land, in dem wieder Flüchtlingsheime angezündet werden, gültig ist:

Wahrhaftig, die Menschen sind träge, stumpfe, dumme Tiere, sonst wäre mehr Empörung in der Welt. (S. 369)

Wer Interesse an den zeitgenössischen Berichten hat, sei auf das Buch Kaspar Hauser Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse von Hermann Pies, veröffentlicht im Gutenberg-Projekt, verwiesen. Auch der Wikipedia-Artikel ist hier, was den historischen Hintergrund und die Quellenlage angeht, zu empfehlen. Die Theorie, der ja auch Wassermann anhing, dass es sich bei Hauser um das Opfer einer von Gräfin Luise Karoline von Hochberg initiierten Kindesvertauschung handele, gilt heute als widerlegt.

BRD 034

Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude (1921)

Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und Figuren zu bewegen, will ich mir – gedrängt von innerer Not der Zeit – Rechenschaft ablegen über den problematischsten Teil meines Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft, nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe, die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Mißverständnissen, Tragik, Widersprüchen, Hader und Leiden eröffnen.

Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.

So beginnt das aufschlussreiche und beeindruckende Buch des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann, das 1921 erschien. Wassermann beschränkt sich in diesem Lebensrückblick, wie der Titel schon sagt, tatsächlich auf das Thema seiner deutsch-jüdischen Identität. Andere wichtige Bereiche seines Lebens, wie beispielsweise seine desaströse Ehe mit Julie Speyer, werden ausgeklammert und stattdessen in anderen Werken verarbeitet (siehe die Besprechung zu My first Wife auf dem Blog A Common Reader).

Wassermann, 1873 in Fürth geboren und 1934 in Altaussee (Österreich) gestorben, beginnt seine Bestandsaufnahme mit der Schilderung seiner freudlosen Kindheit: Die Mutter stirbt, als er neun Jahre alt ist; der Vater, ein erfolgloser Kaufmann, versucht die Familie mehr schlecht als recht als Versicherungsagent durchzubringen.

Der Junge lernt schon früh antisemitische Hänseleien kennen, die ihm aber zunächst nicht so sehr zu schaffen machen, da er spürt, dass sie weniger ihm als Individuum gelten, sondern eher der jüdischen Gemeinschaft. Es ist beklemmend zu lesen, wie klar Wassermann schon 1921 die Dämlichkeiten der Antisemiten entlarvt:

Aber ich merkte, daß meine Person, sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewußt wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv Nichtjuden in der der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, daß der Rassenhaß, den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten Äußerlichkeiten genährt wird, und daß sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren darin die Stumpfesten. (S. 12 – 13)

Der aufmerksame Junge nimmt von Anfang an die Ambivalenz seiner jüdischen Existenz wahr. Auf der einen Seite gehen er und seine Geschwister in den kleinen christlichen Handwerkerbetrieben der Nachbarschaft ein und aus und selbst Heiligabend dürfen sie dort zu Gast sein und werden ebenfalls beschenkt.

Aber Wachsamkeit und Fremdheit blieben. Ich war Gast, und sie feierten Feste, an denen ich keinen Teil hatte. (S. 18)

Damit ist sein Grundproblem umrissen:

Nun war aber das Bestreben meiner Natur gerade darauf gerichtet, nicht Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht, als aus Mitleid und Gutmütigkeit geduldeter noch weniger, als einer, der aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren sich entschließt, erst recht nicht. Angeboren war mir das Verlangen, in einer gewissen Fülle des mich umgebenden Menschlichen aufzugehen. (S. 19)

Da genau dieses Verlangen nicht gestillt werden konnte, sieht Wassermann in Literatur und Landschaft seine Retter, die ihn vor dem Verlust der eigenen Identität bewahrt haben. Schon als Elfjähriger lernt er die Macht des Wortes kennen, als er, um seinen fünf Jahre jüngeren Bruder am Petzen zu hindern, diesem jeden Abend eine verwickelte Fortsetzungsgeschichte erzählt, die aber nur bei Wohlverhalten des Bruders weitergeführt wird. Es dauert nicht lange, bis er diese Geschichten nachts heimlich aufzuschreiben versucht, immer bedroht von der unfreundlichen Stiefmutter, die alles Geschriebene, was ihr in die Hände fällt, erbarmungslos vernichtet.

Seine Hoffnung, in dieser Richtung auch beruflich tätig werden zu können, scheitert an der Kleinbürgerlichkeit der Familie. Der Vater spekuliert darauf, dass Jakob als Lehrling bei einem reichen Onkel in Wien zur Sanierung der prekären finanziellen Lage beiträgt. Doch dort macht er alles andere als eine gute Figur. Er schlägt sich die Nächte mit Schreiben um die Ohren und ist am Tage zu nichts zu gebrauchen. Schließlich hält er es nicht mehr aus, reist zu einem Freund nach München und beginnt ein Studium, doch schon nach kurzer Zeit wird ihm die ohnehin zu knapp bemessene Unterhaltshilfe des Onkels gestrichen. Er nimmt seinen Militärdienst auf und trifft dort – vor allem unter seinen Kameraden – auf unverhohlenen Antisemitismus:

Zum erstenmal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Haß, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Haß hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne der Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Haß. (S. 39)

Wassermann seziert nicht nur die Bestandteile der Vorurteile und Benachteiligungen, denen er ausgesetzt ist, er ist sich auch im Klaren darüber, dass dies nicht ohne Folgen auf die eigene Psyche bleiben kann, gerade auch, weil selbst Freunde ihn nicht als das anerkennen können, was er ist, ein Deutscher und ein Jude. Er will schon gar nicht von ihnen als löbliche Ausnahme anerkannt werden, da er auch darin tiefverwurzelte Vorurteile am Werke sieht.

Nach kurzen und unerquicklichen Aufenthalten in Nürnberg und Freiburg zieht er – bettelarm – zu einem Freund nach Zürich. Dieser, selbst gerade arbeitslos, nimmt ihn zunächst voller Herzlichkeit auf, doch schon bald geht auch durch diese enge Freundschaft ein Riss. Sie diskutieren sein Deutschtum, sein Judentum, sie kommen dabei zu keinem gemeinsamen Ergebnis, denn der Freund ist nur gewillt, ihn als eine Ausnahmeerscheinung innerhalb des eigentlich verachtenswerten jüdischen Volkes zu sehen. Die Verbindungslinien von solcherlei Einstellung und Verdrehungen zu den späteren Beschwörungen der Nazis sind schon hier mühelos zu ziehen: Die Juden hätten sich nie vollständig mit den Interessen der „Wirtsvölker“ identifiziert, sie seien weder willens noch fähig, sich aus ihrer Isolierung zu lösen.

Es steckt in ihnen ein ungesunder Hochmut der Tradition noch heute. Noch heute pochen sie auf die nur ihnen allein offenbarte Lehre […] Namentlich gegen das Christentum mußte sich ihr unauslöschlicher Haß richten, denn ihm gegenüber empfanden sie wie eine Mutter, die aus ihrem Schoß den Verräter geboren hat, Verräter des Volkes, Verräter der Menschheit, Verräter Gottes. Was kann solchem Haß gleichen? Wodurch könnte er gemildert werden? […] Rache für das Erlittene zu üben, keimt wahrscheinlich als Beschluß seit Geschlechtergedenken in ihrer Seele, wuchert in ihrem Zellgewebe sozusagen; was vermag dagegen der andersgeartete Einzelne? Dergleichen Instinkte wirken unterirdisch fort und sind durch keine Übereinkunft gutmeinender Aufklärer […] aus der Welt zu schaffen. (S. 49)

Der Freund vertritt damit weit vor 1900 eine Auffassung, die – einmal zum Programm erhoben – ein Leben als jüdischer Deutscher im Grunde zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt:

Doch nachdem ihnen die Wege zur Gemeinschaft mit uns geebnet waren, veränderte sich wohl ihr geistiges Antlitz, ihre Spiritualität mit erstaunlicher Schnelligkeit; mit erstaunlicher Schwung- und Spannkraft machten sie unsere Notwendigkeiten zu den ihren, ihre zu den unseren, schmiegten sich den Forderungen des Staatswohls an, der öffentlichen Meinung, der Mode, widmeten ihre wunderbaren Talente der Kunst, der Wissenschaft, der sozialen Entwicklung, aber in ihrem Grund blieben sie Juden. (S. 52)

Selbst eine Konvertierung zum Christentum sei nur im oberflächlichen Sinne möglich, im tiefsten Inneren bleibe ein Jude ein Jude. Auch wenn Wassermann diese Argumentation nicht akzeptieren kann, zwingt ihn sein Freund zu unerbittlicher Selbstanalyse. Er selbst sieht die Tragik im Dasein des Juden darin, dass

er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung. In dem beständigen Anprall, in der Reibung dieser beiden Empfindungsströme muß er leben und sich zurecht finden. […] Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß man Jude ist.“ (S. 54)

Als er dem Freund anfängt, zur Last zu fallen, fährt er – selbst die Fahrkarte müssen ihm Freunde bezahlen – zurück nach München, wo sein Vater inzwischen lebt. Es kommt dort zum Zerwürfnis, und es folgen Monate bitterster Armut und Perspektivlosigkgeit. Als ein befreundeter Schriftsteller ihm ein selbstverfasstes Buch mit freundschaftlicher Widmung schenkt, bringt er dies ohne zu zögern zum Antiquar, um davon seinen Lebensunterhalt für die nächsten Tage zu bestreiten.

Mit 23 Jahren veröffentlicht er den Roman Die Juden von Zirndorf.

Danach überspringt Wassermann elf Jahre seines Lebens und geht direkt zu seinem Werk Caspar Hauser über, dessen Thematik ihn über Jahre beschäftigt hat. Doch auch dieses Werk verschafft ihm nicht die Anerkennung als deutscher Schriftsteller, auf die er gehofft hatte. Wie gegen Glaswände stößt er überall gegen antisemitische Vorbehalte, Vorurteile und Abwiegelei.

Man denke sich einen Arbeiter, der, wenn er seinen Lohn begehrt, niemals voll ausgezahlt wird, obgleich seine Leistung in nichts hinter der der übrigen Arbeiter zurücksteht, und den man auf die Frage nach dem Grund solcher Unbill mit den Worten bescheidet: du kannst den vollen Lohn nicht beanspruchen, weil du blatternarbig bist. Er schaut in den Spiegel: Sein Gesicht ist durchaus ohne Blatternarben; er geht hin: Was wollt ihr? Ich bin ja gar nicht blatternarbig. Man zuckt die Achseln, man erwidert: Du bist als blatternarbig gemeldet, also bist du blatternarbig. In dem Gehirn des Menschen entsteht eine sonderbare Verwirrung: Das Recht wird ihm verkürzt unter dem Vorwand eines äußeres Makels, und in der Beunruhigung, die es ihm erregt, unterläßt er es, mit dem Aufgebot aller Kraft sein Recht durchzusetzen. Eine raffiniert ausgedachte Qual. (S. 84)

1898 zieht er nach Wien und ist überrascht, wie sehr das öffentliche Leben dort von Juden geprägt ist. Doch auch er ist nicht gefeit davor, in Schablonen und Verallgemeinerungen zu denken.

Mein Verhältnis zu ihnen, innerlich wie äußerlich, war von Anfang an ein höchst zwiespältiges. […] Ich schämte mich ihrer Manieren, ich schämte mich ihrer Haltung. Die Scham für den anderen ist ein ungemein quälendes Gefühl, am quälendsten natürlich, wo Blut- und Rasseverwandtschaft im Spiel ist […] Diese Scham steigerte sich manchmal bis zur Verzweiflung und bis zum Ekel. […] Es ging ein Zug von Rationalismus durch all diese Juden, der jede innigere Beziehung trübte. Bei den Niedrigen äußerte es sich und wirkte im Niedrigen, Anbetung des Erfolgs und des Reichtums, Vorteils- und Gewinnsucht, Machtgier und gesellschaftlichem Opportunismus; bei den Höheren war es das Unvermögen zur Idee und Intuition. Die Wissenschaft war ein Götze … (S. 103 – 104)

Wieder überspringt er mehrere Jahre, sagt nichts darüber, wie er seinen Lebensunterhalt bestreitet, wie er lebt, sondern geht gleich zur Veröffentlichung des Buchs Das Gänsemännchen (1915) über, das „sogleich ein herzliches und weittragendes Echo fand.“ (S. 87)

Mit dem aufkommenden Zionismus kann er sich nicht identifizieren, obwohl „der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes.“ (S. 118) Schon seit Jahrhunderten seien sie die bequemen Sündenböcke, der Kanal, in den man Hass, Verbitterung und Ressentiments leiten konnte. Hellsichtig und nahezu hoffnungslos konstatiert er:

Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. […] Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. (S. 122)

Und mit dem Wissen darum, was nur wenige Jahre später in Deutschland passiert, lesen sich seine Schlussworte erschütternd, die an die Worte Bonhoeffers erinnern, mit denen er den Tyrannenmord rechtfertigte:

Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig, Herumstehenden: was soll geschehen? so sage ich ihm: reißt dem Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand. Erwidert mir dann einer: der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh geladen, so sage ich ihm: das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand. Mehr kann Deutschland nach meiner Ansicht gewiß nicht tun. Aber es wäre viel. Es wäre genug. (S. 125)

Fazit

Mein Weg als Deutscher und Jude beeindruckt in seiner psychologischen Klarheit. Es ermöglicht uns trotz so mancher sprachlich verquasten Stelle einen Einblick in das Wesen des Antisemitismus, in rassistische Vorurteile überhaupt und in deren Auswirkungen auf die Psyche des Schriftstellers und zeigt uns Wassermanns Ringen um eine deutsche Identität.

Interessant auch sein Brief an Hedwig und Samuel Fischer aus dem Jahr 1925, in dem er die mangelnde öffentliche Anerkennung und die Zurückhaltung seines Verlegers ebenfalls mit antijüdischen Ressentiments begründet.

Marcel Reich-Ranicki schrieb in der FAZ:

Dieses Buch ist ein erschütterndes Zeitdokument, es ist Bekenntnis und Darstellung, Klage und Anklage in einem. Wassermann bekannte sich zu einer Bahn mit zwei Mittelpunkten: Er sei Deutscher und Jude zugleich – eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen. Damit ist schon gesagt, was Wassermann meinte, als er mehrfach, zumal gegen Ende seines Lebens, erklärte, er sei gescheitert.

Mely Kiyak: Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an (2013)

Man stirbt.
Man steht morgens auf, macht seine Arbeit und stirbt.
Man träumt und stirbt.
Man gießt Blumen, geht einkaufen, schüttelt Decken aus und stirbt.
Man liest. Man liebt. Man stirbt.
Vögel zwitschern, Narzissen springen mit einem leisen Rascheln auf – was folgt ist Sterben.
Ob man es brauchen kann oder nicht, zwecklos sich damit anzulegen, man stirbt.
Man stirbt. Man stirbt.

Diese Worte sind dem Buch der Journalistin  Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an vorangestellt.

Die Journalistin und Kolumnistin, die u. a. für die ZEIT, taz und die Frankfurter Rundschau schreibt, bekommt immer wieder Besuch von ihrem Vater, der als ehemaliger Gastarbeiter nun seinen Ruhestand in der Türkei genießen möchte, denn er gehört zu denen, die

… sich nach ihrer Heimat sehnen, sie aber mit einem Bein in Deutschland leben müssen, weil ihre vollen Rentenbezüge verloren gehen, wenn sie länger als sechs Monate nicht in Deutschland waren … (S. 140)

Bei einem seiner Deutschlandaufenthalte, bei denen er seine inzwischen erwachsenen Kinder besucht, geht er ins Krankenhaus, um nur eben einen hartnäckigen Husten abklären zu lassen. Doch die Diagnose lautet Lungenkrebs.

Was folgt, ist zum einen die Beschreibung der Krankenhausodyssee mit all der deutschen Regularienwut, den quälenden und schmerzhaften Behandlungsmethoden, der fehlenden menschlichen Anteilnahme. Möchte Herr Kiyak am liebsten in Ruhe gelassen werden und manches vielleicht gar nicht so genau wissen, so ist seine Tochter das Gegenteil: Sie will kämpfen, kämpfen, kämpfen, ihren Vater aufmuntern, ihm seine Tränen verbieten, bis der Krankenhauspsychologe sie ermahnt, dass sie bitte schön ihren Vater respektieren und ihm nicht noch Energie rauben solle, indem er meint, für sie Gefühle vorspielen oder unterdrücken zu müssen.

Auch das Leben der Tochter gerät aus den Fugen, sie kann nicht mehr so wie bisher arbeiten, fährt täglich ins Krankenhaus, wäscht die Wäsche ihres Vaters, kocht für ihn, stellt sich Ärzten in den Weg, trauert, organisiert und beherbergt zahlreiche Verwandte, die ihren Vater im Krankenhaus besuchen.

Dazwischen streut Mely all die Geschichten, die ihr Vater ihr schon in der Vergangenheit erzählt hat und nun auch im Krankenhaus erzählt, von früher, von Anatolien, den Tanten und dem kriminellen Onkel oder dem Großvater der Autorin, der noch Analphabet war, von Familienfesten und Bräuchen, wie z. B. der Entführung der Geliebten:

Einer „entführten“ Frau kann man keinen Vorwurf machen, im Gegensatz zu einer Frau, die mit ihrem Liebsten durchbrennt. Mein Vater brauchte ein Fluchtfahrzeug. Er bat seinen Cousin Hüseyin, ihm einen Esel für die Geiselnahme zu überlassen. […] Dein Opa setzte seine Oma auf den Esel und lief hinterher. So entführte er sie. Als Gegenleistung für den Esel überließ mein Vater Hüseyin seinen Anteil an den Feldern. Daraufhin hieß es, mein Vater sei vor lauter Liebe verarmt. Was natürlich nicht stimmt. Er war keineswegs arm geworden. Die Liebe macht einen Menschen immer reich. (S. 50)

Da gibt es Geschichten vom Militärdienst des Vaters, bei dem er zum ersten Mal die Benachteiligung der Kurden begriff. Geschichten vom Leben in der Fremde, in Deutschland, von langen 12-Stunden-Nachtschichten und den besprochenen Kassetten, die die Gastarbeiter in die Türkei schickten und die dann von Familienmitgliedern überspielt und wieder besprochen wurden.

Fazit

Ich habe das Buch sehr, sehr gern gelesen. Aus mehreren Gründen. Es ist traurig, schnoddrig, witzig, bedenkenswert und ehrlich, man sieht und spürt die Verzweiflung – und den Lebenstrotz – der Tochter und wird an die eigene Sterblichkeit und die seiner Lieben erinnert:

Es scheint zu stimmen. Der Mensch ist sterblich. Gewusst habe ich es immer, aber nicht begriffen. Ich dachte, Kranksein sei eine Ausnahme. Es scheint vielmehr die Ausnahme zu sein, friedlich im Schaukelstuhl mit einer Kaschmirdecke auf den Knien einzuschlafen. (S. 61)

Man fragt sich doch, worin der Sinn des Lebens besteht, wenn am Ende gestorben wird. Und wie ich mich gefreut hatte auf das Leben. (S. 113)

Natürlich ist es scheußlich, von der Krankenhausmentalität zu lesen, wenn kaum jemand Zeit hat, dem Patienten und den Angehörigen zu erklären, was mit einem passiert, so dass man im Stillen hofft, nie dort sterbenskrank sein zu müssen. Der Mensch an sich wird – aus Zeitmangel, Überarbeitung, Gleichgültigkeit – nicht mehr wahrgenommen und die Tochter muss um ein Arztgespräch betteln, nachdem der Vater mal eben – eher so im Vorübergehen – die Diagnose Krebs erhalten hat. Das Krankenhaus wird so zum Spiegelbild unserer Gesellschaft.

Dem Leser dämmert, dass die Gastarbeiter von damals immer noch nicht als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft wahrgenommen werden, im Krankenhaus so gar nicht auf ihre manchmal so kleinen, aber für das Sich-nicht-völlig-fremd-Fühlen so wichtigen Wünsche reagiert wird, z. B. einen ordentlichen Tee zu bekommen. Der Speiseplan ist komplett auf deutsche Essgewohnheiten abgestellt, gleichzeitig sieht man es ungern, wenn Familienmitglieder Essen mit ins Krankenhaus bringen.

Und wir lesen von einer Vater-Tochter-Beziehung, in der vermutlich jeder wirklich alles für den anderen geben und tun würde. Ich war manchmal schon fast entsetzt über die Respektlosigkeiten, die sie und ihre Geschwister sich ihrem Vater gegenüber als Kinder erlaubt haben, über die Rabiatheit, die die Tochter ihrem Vater gegenüber an den Tag legt, und doch schimmert jetzt hinter allem Liebe und ein unglaublicher Zusammenhalt durch. Als Mely einmal so losweinen muss, dass sie gar nicht mehr aufhören kann,

nützt [er] das als Freibrief und legt dermaßen los und weint mit und das macht mich schlagartig nüchtern, dass ich mich gar nicht erst beruhigen muss, ich bin in solcher Weise klar im Kopf, dass ich ihn anschaue und sage: Papa, bloß weil ich ein Nervenbündel bin, heißt das noch lange nicht, dass du mitmachen darfst! (S. 202)

Herr Miyak ist ein so liebenswürdiger, stiller aber dabei so tapferer Mann, dass er mein Leserinnenherz im Fluge für sich eingenommen hat. Dabei gelingen der Autorin Momentaufnahmen von großer Innigkeit. Und manchmal muss man auch einfach lächeln.

Gern gelesen habe ich auch die Geschichten aus der Türkei, so bunt und fabulierfreudig, ganz das Gegenteil des Krankenhauslebens. Mir wurde bewusst, wie wenig ich eigentlich über die Türkei weiß. Und: Wie viele Geschichten hat Deutschland möglicherweise versäumt?

Wo sind alle diese Kassetten geblieben? Wer archiviert die Erinnerungen? (S. 126)

Meinetwegen hätte das Buch dreimal so dick sein können.

Und das schreibt Mely Kiyak über Literatur:

All die Schmerzensliteratur, die es gibt und die man zitiert nicht erträgt, wenn man sich nicht auf dem gleichen Level der Traurigkeit wie der Zitierte befindet, bekommt im Moment der eigenen Traurigkeitsauflösung eine solche Wucht, eine solch monströse Kraft, man traut sich gar nicht mehr, ins Buchregal zu greifen. (S. 229)

Ein großes Dankeschön an Sabine von Binge Reading, die mich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam gemacht hat.

Klaus Böldl: Der nächtliche Lehrer (2010)

Wer erinnerte sich nicht an jenen heißen Juni vor mehr als einem Vierteljahrhundert? Von Dublin bis Moskau, vom Mittelmeerraum bis in den hohen Norden Skandinaviens hinauf war nirgendwo eine Wolke am Himmel zu sehen. Schon in den letzten Maitagen hatte man die ganze Nacht hindurch das Schlafzimmerfenster offen stehen, obwohl es auch nach Sonnenuntergang kaum abkühlte. Es war die Zeit der verheerenden Waldbrände und der ersten Hitzetoten. An einem dieser Tage fuhr Lennart nach Sandvika, um sich dem Leiter des Gymnasiums vorzustellen, an dem er vom folgenden Schuljahr an als Lehrer für Kunst und Religion arbeiten sollte. Es würde Lennarts erste Stelle sein, denn gerade erst hatte er sein Studium mit dem Referendariat abgeschlossen. Es sollte auch seine einzige bleiben.

So beginnt ein ruhiger, feiner Roman von 126 Seiten des Professors für skandinavistische Mediävistik Klaus Böldl.

Der junge Lennhart tritt also mit 25 seine erste Stelle in einer schwedischen Kleinstadt an, wobei ihn die Stadt und ihre Bewohner kaum interessieren. Stattdessen geht er auf lange Spaziergänge durch die angrenzenden Wälder und Felder. Manchmal wird er dabei von einem Kollegen begleitet. Gesprochen wird kaum.

Doch war der Zug schon verschwunden und hatte den Blick auf das in der Brise  leise knisternde Schilf geöffnet […] Kleine verschreckt zwitschernde Vögel sprühten unablässig daraus empor, als säße da jemand in den Binsen und werfe sie in die Luft. (S. 9)

Er richtet sich in diesem Leben ein, scheint nicht unzufrieden zu sein, legt aber keinen größeren Wert auf gesellschaftliche Kontakte, zumal er gern viel Zeit damit verbringt, Eindrücke und Erlebnisse für sich allein zu verarbeiten. Seinen Platz in der Welt stellt er nicht in Frage: Noch nicht einmal der radikale Ortswechsel von Stockholm in die tiefste Provinz bringt ihn ins Grübeln:

Lennarts bisheriges Dasein, so wie es sich in seinen Erinnerungen niederschlug, war ihm immer als Zusammenhang ohne größere Brüche oder Zwischenräume erschienen: von den allerfrühesten Kindheitseindrücken, einem unsicheren Gang an einem rasch dahinschießenden dunkelgrünen Wasser entlang, dem gellenden Pfiff einer Eisenbahn in einer rosa Abenddämmerung, der vollgepissten Hose: erst heiß, dann kalt-, bis zu dem gerade stattfindenden Augenblick im leeren Abteil des Zuges nach Sandvika, in dem Lennart ein Brandloch in dem braunen Fenstervorhang entdeckte: Alles jemals Wahrgenommene ging ihm stets als Teil einer freilich undurchsichtigen und möglicherweise schlecht erzählten, aber doch unbeirrbar dahinfließenden Geschichte auf. (S. 6 – 7)

In der Bibliothek des Ortes lernt er seine spätere Frau Elisabeth kennen. Auch dies undramatisch, fast wie durch ein umgekehrtes Fernglas erleben wir diese zwei Menschen, die vom trinkfreudigen Pfarrer Lukas verheiratet werden.

Elisabeth erzählte, dass der ferne Blick, den man von dort über die Stadt werfen könnte, ihr das Gefühl für den Geburtsort für immer verrückt hätte. […] Lennart nickte. Er kannte das, dass Plätze für immer ihre Selbstverständlichkeit verloren, von einem Tag auf den anderen unkenntlich wurden. Oftmals einfach so, nur weil man sie einmal wirklich angesehen hatte. (S. 45)

So ganz nahe kommen sie uns nicht. Bis das Unglück geschieht und die schwangere Elisabeth bei einem Autounfall ums Leben kommt. Auch jetzt hält der Erzähler zu Lennart in seiner Trauer einen diskreten, ja respektvollen Abstand. Gleichwohl findet er dabei berührende Bilder für die Trauer und den Verlust, ohne dass er dazu in der Seele seiner Hauptfigur herumkramen muss:

In der warmen Jahreszeit und besonders in den Sommerferien saß Lennart oft auf einem Klappstuhl in der Abendsonne vor Elisabeths Grab, die abgewetzte Aktentasche stand neben ihm im Gras. (S. 80)

Lennart wünschte sich, der Regen, den Elisabeth Minuten vor ihrem Tod, beim Überqueren der Straße und beim Einsteigen in den Wagen, noch gespürt hatte, möge nie aufhören, weil er sich durch ihn mit ihr verbunden fühlte. Am dritten Tag aber ließ der Regen doch nach, inmitten des noch immer tiefhängenden Gewölks zeigten sich fernblaue Stellen, und über die Fläche des Sees breitete sich auf einmal ein breiter Streifen Silberlicht. (S. 67)

Lennart wird in den Augen der Umwelt wunderlich, verschroben, zur Provokation, zum Einzelgänger, wenn man von den Kontakten zu Pfarrer Lukas und den gelegentlichen Spaziergängen mit seinem Kollegen einmal absieht.

Der Lehrer gibt seine Stelle auf, nachdem er ein überraschend erfolgreiches Buch über seine Naturbetrachtungen veröffentlicht hat, geht sogar auf eine internationale Lesereise, wandert weiterhin durch den Wald und oft genug kann man ihn abends und nachts im Schulgebäude, zu dem er den Schlüssel nie abgegeben hat, sehen. Dort steht er dann an der Tafel, scheint etwas anzuschreiben, wieder fortzuwischen.

Das Einzige, was mich bei der Lektüre gestört hat, war, dass das Wort Wald gefühlte eintausendmal vorkam. Zwischendurch war ich versucht, eine  Strichliste zu führen. Auch Hummeln fliegen überdurchschnittlich häufig durch die Seiten.

Davon abgesehen, eine schöne Sprache:

Das rhythmische Poltern und Klopfen der endlosen, meist mit Fichtenstämmen beladenen Güterzüge, das die Stadt mit einem Mal weit und fern, nach allen Seiten hin offen machte, für die ein oder zwei Minuten, die es braucht, sich die Gleichzeitigkeit all der Orte, die man jemals aufgesucht hat, vor Augen zu führen. (S. 28)

Ein ganz ruhiges Buch, das mich so angesprochen hat, wie andere LeserInnen wohl Ein Ganzes Leben von Seethaler. Ein Mensch, der gern für sich ist, einen Großteil seiner Zeit in der Natur verbringt und ihre jahreszeitlichen Veränderungen mitverfolgt, ja, sie schließlich schon erahnt.

Hier hat es mich nicht gestört, dass man der Hauptperson nicht wirklich nahe kommt. Auch wenn die Einsamkeit an einigen Stellen ein wenig herbeigeschrieben wird: Seine Mutter kann an seiner Hochzeit nicht teilnehmen, weil sie den senilen Großvater nicht allein lassen könne.

Manche Kritiker haben auch moniert, dass Böldl mit seiner Hauptfigur nichts anzufangen wisse. Ich fand eher, dass es dem Leser Freiräume für eigene Assoziationen eröffnete. Also, alles in allem:

Gern gelesen.

Im Traum war er dann einen Moment lang der Wald draußen vor den Fenstern. Ein Reh glitt lautlos durch die Dämmerung des Unterholzes. Ein Windstoß erzeugte ein Rieseln in den Birken. Er empfand, wie Wege in ihm verliefen, die sich kreuzten und auf sonnigen Lichtungen inmitten von Brombeergerank ihre Richtung änderten. (S. 51)

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Robert Seethaler: Ein ganzes Leben (2014)

An einem Februarmorgen des Jahres neunzehnhundert-dreiunddreißig hob Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes Kalischka, der von den Talbewohnern nur der Hörnerhannes gerufen wurde, von seinem stark durchfeuchteten und etwas säuerlich riechenden Strohsack, um ihn über den drei Kilometer langen und unter einer dicken Schneeschicht begrabenen Bergpfad ins Dorf hinunterzutragen.

So beginnt der Roman Ein ganzes Leben des 1966 geborenen österreichischen Schriftstellers von 2014.

Die Geschichte des einfachen Seilbahnarbeiters Andreas Egger, der ca. 1898 geboren wurde, bei einem brutalen Ziehvater aufwächst, seine große Liebe Marie findet und wieder verliert und nach dem Krieg als Fremdenführer ein karges Auskommen findet, begeisterte Kritiker und Leser*innen gleichermaßen.

Er war stark, aber langsam. Er dachte langsam, sprach langsam und ging langsam, doch jeder Gedanke, jedes Wort und jeder Schritt hinterließen ihre Spuren, und zwar genau da, wo solche Spuren seiner Meinung nach hingehörten. (S. 28)

Nur ich tue mich ein bisschen schwer mit dem Buch.

Das liegt nun weder an der Sprache noch der Erzählweise, die mag ich sehr, sondern wohl vor allem an der Hauptfigur, der viel Schlimmes passiert und die am Ende doch versöhnt und im Einklang mit sich und der Welt in ihrer Hütte sterben kann.

Der Protagonist Andreas Egger: Vom Ziehvater vernachlässigt, ungebildet, immer hart arbeiten müssend, viel zu früh Witwer, wortkarg, der Natur und den geliebten Bergen sich näher fühlend als den Menschen.

Das vermittelt Seethaler beeindruckend und keineswegs ohne Witz. Genauso wie den langsamen, unaufhaltsamen Aufstieg des Fremdenverkehrs, der mit seinen Vorzügen und Nachteilen wunderbar anschaulich gemacht wird.

Immer ging er (Egger) voran, mögliche Gefahren im Blick und das Keuchen der Touristen im Rücken. Er mochte diese Leute, auch wenn manche von ihnen versuchten, ihm die Welt zu erklären, oder sich sonst irgendwie idiotisch aufführten. Er wusste, dass spätestens während eines zweistündigen Aufstiegs ihre Arroganz mit dem Schweiß auf ihren heißen Köpfen verdunsten würde, bis nichts mehr blieb als die Dankbarkeit, es geschafft zu haben, und eine knochentiefe Müdigkeit. (S. 117)

Dennoch:

Zwar mögen die Ruhe und die entspannte Zufriedenheit des Andreas Egger, der sich letztlich in sein Schicksal schickt, attraktiv sein. Er braucht weder Fernsehgerät, massenhaft Geld noch anderweitige Unterhaltung und in Zeiten, in denen wir ständig das Wachstumsgeplärre in den Ohren haben, täte uns derlei Sich-bescheiden-Können sicherlich gut.

Manchmal war es etwas einsam hier oben, aber er betrachtete seine Einsamkeit nicht als Makel. Er hatte niemanden, aber er hatte alles, was er brauchte, und das war genug. Der Blick aus dem Fenster war weit, der Ofen war warm… (S. 139)

Allerdings sah ich in ihm keineswegs nur das „einfache Herz“ (Ursula März), sondern auch einen manchmal dumpfen Menschen, z. B. als er ohne nachzudenken, für Vaterland und Hitler in den Krieg zieht. Nie ist die Rede von Traumata oder Alpträumen, die aus Kindheit oder Kriegsgefangenschaft zurückbleiben. Und die Jahre, die er braucht, um den Tod seiner Frau zu verwinden, werden eben einfach per Zeitraffer in ein paar Sätzen abgehandelt.

Und was macht er die vielen langen Stunden, in denen er allein in seiner Hütte hockt? Bücher liest er nicht. Ein Fernsehgerät kam ihm nie ins Haus. Im Grunde bleiben Arbeit, Schmutz, Nahrungsaufnahme und die Berge.

Woher rührt also seine Zufriedenheit? Wo kommt sie her? Ist es die Reduktion aufs Überlebensnotwendige? Darüber hätte ich mehr erfahren wollen. Im Grunde wird mir sein Innenleben verschwiegen, dadurch wirkt Egger archaisch, ein bisschen märchenhaft.

Vermutlich ist mir ein Mensch unheimlich, der so sehr bei sich ist, dass er gar kein Interesse daran hat, die Welt außerhalb seines Tals kennenzulernen oder gar zu begreifen. Und wenn er unsicher ist, wie er sich zu verhalten hat, ahmt er einfach die anderen nach.

Spiegelt also der Erfolg des Buches nicht nur die (verdiente) Anerkennung für ein sprachlich gelungenes Buch, sondern möglicherweise auch die Sehnsucht seiner LeserInnen nach dem vermeintlich „einfachen“ Leben? So wie die Touristen, die Egger durch die Berge führt, auch dauernd etwas suchen, das sie selbst kaum benennen können?

Anmerkungen

Besprechungen gibt es u. a. bei buchrevier, der Gedankenlabyrintherin, auf Binge Reading & More und auf Literaturen.

Außerdem gibt es lesenswerte Beiträge auf Zeichen und Zeiten und auf Lobe den Tag.

Hier, im Audio-Beitrag zum Blauen Sofa, gibt es ein Gespräch mit dem Autor.

Weitere Rezensionen gibt es hier:

Bartholomäus Grill: Um uns die Toten (2014)

Der Journalist, Autor und Korrespondent Bartholomäus Grill (*1954) versucht in diesem unglaublichen Buch nichts weniger, als der Tatsache ins Auge zu schauen, dass unser Leben endlich ist. Dabei herausgekommen ist eine bewegende Mischung aus Autobiografie und Reportage, die sich streng auf das im Untertitel genannte Thema Meine Begegnungen mit dem Sterben beschränkt. Das Buch beginnt mit einer Kindheitserinnerung an die Beerdigung des Großvaters.

Es sei ein kalter, sonniger Februartag gewesen, Tante Afra erinnert sich noch genau. Mir fällt niemand ein, den ich sonst noch fragen könnte, und es leben auch nicht mehr viele, die eine Antwort wüssten. Ich habe den Tag ganz anders im Gedächtnis: grau und frostig. Ein scharfer Westwind wehte durch den Halmberger Hof, als der Leichenwagen von Kirchreit her kommend in die Durchfahrt zwischen Getreidestadel und Bauernhof einbog, ein Gespann mit zwei kastanienbraunen Gäulen, auf dem Kutschbock saß ein Mann mit kantigem Gesicht. Kurz bevor das Gefährt vor der Haustür zum Stehen kam, riss eine Bö die Kappe von seinem Kopf.

Der Autor behauptet zunächst:

Im Zentrum steht der Freitod meines Bruders Urban, sein langer Kampf gegen den Krebs, schließlich sein unwiderruflicher Entschluss, das Leiden und den endlos sich hinziehenden Prozess des Sterbens zu beenden. (S. 12)

Doch das stimmt nur bedingt. Hier wird das ganz Persönliche verwoben mit dem Weltpolitischen.

Am Beginn steht der Rückblick auf eine als idyllisch empfundene, gleichwohl streng katholisch geprägte Kindheit auf einem bayrischen Bauernhof. Dieser umfasst sowohl Erinnerungen an das kleine Schwesterchen, das mit schwersten Conterganschäden auf die Welt kam und ein Jahr lang starb, als auch an die Traditionen, Feste und Wallfahrten und an den Tod der Großeltern. Außerdem lesen wir von den verschwiegenen Selbstmorden in der Nachbarschaft. Dabei war der Selbstmord für die gläubigen Katholiken schändlicher als die Tatsache, dass da ein ehemaliger SS-Obersturmbannführer in den Freitod gegangen war.

Die Loslösung vom Elternhaus geht einher mit Drogenexperimenten, die – wenn auch ungewollt – beinahe tödlich enden und mit immer tieferen Rissen im katholischen Weltbild. Seinen Zivildienst absolviert Grill zunächst in einem Alterskrankenhaus, bevor er in ein Zentrum für behinderte Kinder wechselt. Diese Zeit ist geprägt durch die völlig irrationale Annahme, dass der wirkliche Tod ein lächerlicher Geselle sei, mit dem man ganz unbefangen kokettieren könne.

Zum Beispiel durch waghalsige Ski-Abfahrten auf lawinengefährdeten Hängen, durch Autorasereien ohne Fahrerlaubnis oder andere hirnrissige Mutproben, mit denen wir den Mädels imponieren wollen. […] Was würde ich schon verlieren? Nur das Leben, so what? Aber das konnte mir ohnehin nicht passieren. Ich fühlte mich bei solchen Torheiten so sicher wie ein afrikanischer Buschkrieger, der sich für unverwundbar hält, nachdem er sich mit Zauberelixieren immunisiert hat: Die Kugeln des Feindes prallen an ihm ab wie Wassertropfen. Nach neueren medizinischen Erkenntnissen ist das irrationale Verhalten männlicher Jugendlicher auf das hormonelle Chaos in ihrer Reifezeit zurückzuführen, da fallen Sicherheitsschaltungen im Gehirn manchmal einfach aus. (S. 58)

Nach einem Zeitsprung geht es schließlich weiter mit den Erfahrungen, die Grill in seiner Zeit als Auslandskorrespondent gemacht hat.

Die ersten Einsätze in den achtziger Jahren führten mich nach Osteuropa, nach Polen, wo Geheimagenten der wankenden Jaruzelski-Diktatur regimekritische Priester entführten und umbrachten. Dann, Weihnachten 1989, nach Rumänien, als der Despot Nicolae Ceaucescu gestürzt und hingerichtet wurde und mir beim Anblick vermeintlicher Folteropfer des Geheimdienstes Securitate der Tod erstmals als furchtbarer Menschenschinder erschien. Drei Jahre später wurde ich von der ZEIT nach Afrika entsandt. Seither habe ich regelmäßig über Kriege, Staatsstreiche, Hungersnöte, Seuchen und Katastrophen berichtet. Den ersten Aids-Toten sah ich in einem Fischerdörfchen am Victoria-See in Uganda, ich ahnte damals nicht, dass mich diese Pandemie von schier unvorstellbaren Ausmaßen in zahlreichen Reportagen immer wieder beschäftigen würde. Kein Ereignis hat mich indes so erschüttert wie der Genozid und dessen Nachwehen in Ruanda. (S. 13/14)

Grill nimmt uns mit seinen Reportagen und Texten mit in die Gebiete der Welt, die uns sonst doch oft sehr weit weg zu sein scheinen und wo Folter, Hunger, unvorstellbares Leid, Grausamkeiten und der von Menschen verschuldete Tod Grill nicht nur an der Menschlichkeit, sondern auch an der Existenz Gottes zweifeln lassen. Doch genauso schildert er die ausgelassenen afrikanischen Feierrituale, die dort eine Beerdigung zu einem Fest des Lebens machen.

Und gegen Ende führt der Bogen wieder nach Hause zurück. Zum Sterben seines Bruders Urban, der unheilbar an Zungenkrebs erkrankt ist, und dessen Entschluss, die Hilfe der Schweizer Organisation Dignitas in Anspruch zu nehmen, um freiwillig aus dem Leben zu gehen. Grill schildert die Verzweiflung der Familie, die Vorbehalte der katholischen Mutter und schließlich die Fahrt in die Schweiz, den Ablauf, die letzten Stunden des Bruders in einem schäbigen Zimmer.

Dabei wird Grill nie sentimental, nie gefühlig, immer versucht er zu begreifen, zu verstehen, das überzeugende Argument zu finden. So wird auch ein Streitgespräch zwischen ihm und dem katholischen Denker Robert Spaemann abgedruckt, der sich gegen jede Institutionalisierung der Sterbehilfe ausspricht.

Dass Grill dabei seine eigenen (verlorengegangenen) religiösen Ansichten auf den Prüfstand stellt und versuchen muss, nun auch selbst mit dem Tod und der Endlichkeit unseres Lebens zurande zu kommen, versteht sich von selbst.

Letztlich spiegelt auch das vorliegende Buch das kollektive Bedürfnis, den verdrängten, verbannten und scheinbar gezähmten Tod wieder näher ans wirkliche Leben heranzuholen. Weil es aus einer sehr persönlichen Perspektive geschrieben ist, nimmt es in weiten Teilen autobiografische Züge an. […] Peter Weiss […] nannte das Schreiben den Versuch, “mit all unseren Toten in uns, mit unserer Totenklage, unseren eigenen Tod vor Augen, zwischen den Lebenden dahin zu balancieren.” Kein Satz könnte meine Beweggründe trefflicher ausdrücken.“ (S. 17)

Fazit

Klingt das trostlos? Ist es aber eigenartigerweise nicht, denn Grill schreibt reflektiert, oftmals gelassen, manchmal fast heiter. Ehrlich auch da, wo er über eigene Schuld spricht. Zum anderen hat er etwas zu erzählen.

Interessant zum Beispiel sein Exkurs zu einigen Berufskollegen, den Mitgliedern des legendären Bang-Bang Clubs, den preisgekrönten Katastrophenfotografen, die nahezu zwangsläufig ihrer derformation professionelle erliegen: Greg Marinovich, Kevin Carter, Joao Silva und Ken Oosterbroek.

Die Bang-Bang-Fotografen trieb eine Art Soldatenlust aufs Schlachtfeld, die prickelnde Erfahrung von Gewalt, gemischt mit Abenteurertum und ein bisschen Aufklärungsdrang – der Rest der Welt sollte die Grausamkeiten in den Ghettos der Schwarzen sehen. Aber viel wichtiger noch war den Fotografen, zu beweisen, was für harte, furchtlose Kerle sie waren und welche Mutproben sie bestanden. Stand-ups gehörten zu ihren obligatorischen Übungen: Sie gingen bei Feuergefechten aus der Deckung, richten sich auf und schossen ihre Bilder. Natürlich war es verpönt, dabei Splitterschutzwesten zu tragen, das war etwas für Hasenfüße. (S. 94)

Grills Erzählungen über die diversen Kriegs- und Katastrophengebiete sind informativ, anschaulich, fürchterlich und manchmal nur schwer auszuhalten. Wenn man in dieser geballten Form, quasi von Kapitel zu Kapitel, dem Autor auf seinen Reisen folgt und dabei sieht, was Menschen zu tun imstande sind, dann müssen einem Fragen kommen, Fragen nach dem eigenen Lebensstil, Menschenbild und Glauben und nach den eigenen Werten. Wobei man übrigens nicht zwangsläufig zu dem Schluss kommen muss, dass es angesichts des Irrsinns wohl keinen Gott geben könne.

Eine Aussage ist allerdings grober Unfug, dass nämlich die Heilserwartung des gottesfürchtigen Christen sich nicht von der des islamistischen Selbstmordattentäters unterscheide.

Angenehm ist, dass Grill meist darauf verzichtet, fertige Antworten anzubieten, es ist eher eine große Einladung an den Leser, mal aus dem Kreiseln auszusteigen, zur Ruhe zu kommen und auszuhalten, was der Autor schreibt.

Ich habe alle wichtigen Studien über die Ursachen des Völkermords (in Ruanda) gelesen, und dennoch kann ich bis heute nicht begreifen, wie Menschen zu Mordmaschinen mutieren. Wie kommt es, dass ein Arzt seine Patienten im Krankenhaus umbringt? Dass Lehrer ihre Schüler zerstückeln? Dass Pfarrer ihre Gläubigen mit Benzin übergießen und anzünden? (S. 104)

Kurz gesagt: Mit diesem Buch haut er alle unsere Versuche, mit Entertainment, Esoterikgesäusel oder pausenloser Beschäftigung vor der Tatsache der Endlichkeit wegzulaufen, in die Tonne.

Jeder von uns hat seine eigene Methode entwickelt, die Unausweichlichkeit des Todes zu verdrängen. Gemeinsam ist uns dabei die kognitive Dissonanz, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit den Wünschen anpasst: Es mag andere erwischen, mich aber nicht. (S. 202)

P1060979Bergfriedhof Heidelberg

Angelika Overath: Sie dreht sich um (2014)

Bist du da? Sie saß auf einem ovalen, rückenlosen Plüschmöbel. Es roch nach Staub wie nach altem Puder. An den Türen standen Aufseher in dunkler Uniform. Anna Michaelis sah zu der Wand mit den Bildern, auf die gedehnten Choreographien von Körpern, die sich an ihnen vorbeibewegten. Vom Hotel aus war sie gleich hierher gekommen.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Sie dreht sich um der 1957 in Karlsruhe geborenen Schriftstellerin Angelika Overath. Er lädt uns ein, genauer hinzusehen, ist geradezu eine Einübung ins Sehen und leider streckenweise auch ein wenig langweilig.

Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch erklärt Annas Ehemann ihr unvermittelt, dass er eine wesentlich jüngere Geliebte habe, die sich ein Kind von ihm wünsche. Doch statt Tränen und Szenen packt

Anna, Journalistin, fünfzig Jahre alt, frischverlassen, sich wie fünf fühlend (S. 19)

ein bisschen Handgepäck zusammen und reist einen Monat umher, denn:

Vieles ist möglich, was man nicht für möglich hält. […] Es ist möglich, verlassen zu werden, nach einem halben Leben. Es ist möglich, sehr schnell ein Handgepäck zusammenzusuchen, in ein Taxi zu steigen, in ein Flugzeug. Es ist möglich, in einer fremden Stadt zu landen, in der man noch nie war. Weil es ein Anfang sein soll. Wenigstens ein Anfang. Was bleibt einem am Ende sonst übrig. (S. 22)

Wie schon in Schul- und Studienzeiten sind auch diesmal Gemäldesammlungen für Anna die wesentlichen Anlaufpunkte in den fremden Städten.

Eine Stadt besichtigen hieß für sie, ihre Bilder zu sehen. Eine Stadt versäumt zu haben war identisch mit dem Versäumen ihrer Gemälde.  (S. 23)

Diesmal haben es ihr vor allem Bilder von Frauen, besonders Rückenansichten, angetan, die anfangen, zu Anna zu sprechen, wenn sie nur ruhig und aufmerksam genug hinhört. Dies überrascht sie nicht wirklich.

Anna fragte sich, warum sie sich nicht mehr wunderte. Aber es ging ja nur ums Aushalten, irgendwie. Bei Geburten etwa produzierte der Körper schmerzstillende Stoffe. Damit die Trennung leichter gelang, betäubte er sich selbst. Vielleicht konnte die Seele das auch. (S. 20)

So gewinnen wir Einblick in verschiedenste Zeiten, Lebens- und Liebesformen und Bilder, die sich Männer – und seltener auch Künstlerinnen – eben von Frauen gemacht haben. Zusammen mit der Erzählerin sind wir in der National Gallery in Edinburgh und betrachten Gauguins Vision nach der Predigt oder Hammershøis Interieur mit junger fegender Frau von 1899, das in Kopenhagen zu sehen ist.

In Boston flaniert sie durch die Stadt und beschäftigt sich mit Gustave Caillebotte und mit Edward Hopper und dessen Ehefrau, die ihm immer wieder Modell gesessen hat. Weitere Stationen sind Bilder des Künstlers Jacobus Vrel oder von Giovanni Segantini, von dem sie eine Ausstellung in der Schweiz besucht, oder Die große Badende von Ingres. Auch den Skagen-Malern stattet sie einen Besuch ab.

Dazwischen nähert sich Anna allmählich dem Schrecken an, den der Treuebruch ihres Mannes für sie bedeutet. Sie begreift, dass sie selbst radikal in Frage gestellt wird.

Ich bin Anna, dachte sie, immer noch. Oder zumindest versuchte sie, so zu denken, als sei ihr Rufname ein Halt. Aber etwas war weggebrochen. Ein im Gedankenlosen eines Ehealltags gar nicht mehr bemerktes Geländer von Gewöhnung und Vertrauen. (S. 50)

Sie denkt über ihre lange Ehe nach, über ihre erwachsenen Kinder, ihren Beruf, der ihr Freude macht. Über die eigene Verführbarkeit.

Ihre Ehe war gescheitert. Aber konnte man wirklich so sagen? Kann man von Scheitern sprechen, wenn eine Gemeinschaft ein Vierteljahrhundert gehalten hat. Wenn zwei lebensbegabte Kinder daraus entwachsen waren. War Gelingen nur lebenslänglich zu haben? Und nur vom Ende her zu sehen? (S. 43)

Fazit

Ein ruhiges Buch mit wenigen Dialogen; eine Einladung zum Sehen, intelligent und manchmal ein wenig ermüdend.

Ich fand, da ich auch so gern Gemäldesammlungen besuche, die Zwiegespräche zwischen Anna und den Bildern schon sehr reizvoll, auch wenn das Hintergrundwissen, das uns die Erzählerin dabei en passant vermittelt, eben nicht spontan aus den imaginierten Ansprachen der gemalten Frauenfiguren entspringen kann. Doch nicht nur die Bilder und ihre Künstler haben hier einen großen Auftritt, auch dem Museumsbesuch wird ein feines Loblied gesungen:

Anna atmete durch wie in Höhenluft. Sie stand in einer der kathedralenhohen Haupthallen und hatte den Orientierungsfaltplan des Museums in der Hand. In unterschiedlichen Farben waren die Abteilungen auf den verzweigten Stockwerken verzeichnet; aber sie lief einfach immer weiter. Helle Flure, offene Treppen, gläserne Fluchten, von denen weitere Galerien abzweigten. Manchmal fragte sie einen der vielen Wärter, wo sie sich befand. Und war dann richtungsblind schon wieder unterwegs auf einem unsinnig seligen Weg. (S. 119)

Ich würde sofort mit Anna oder auch der Autorin in eine Galerie gehen und mich in der Kunst des behutsamen und sorgfältigen Hinschauens üben. Die Annäherung an die Bilder hat mich streckenweise stärker interessiert als die Frage nach Annas Ehe.

Wenn das Zusammenleben noch gut ist, weiß man es nicht. Man nimmt es einfach hin. Und streitet über liegengelassene Socken auf der Treppe oder ein verschwundenes Buch. Oder den Müll. Sitzt abends am Küchentisch, zeitunglesend, vor Korrekturen oder am Notebook. Gewöhnung macht blind. (S. 73)

Der Seitensprung des Ehemanns wird seltsam sachlich konstatiert. Auch das Ende hat mich nicht gänzlich überzeugt. Die Lage der porträtierten Frauen hat wenig mit der Lage Annas zu tun. Die Bilder wirken eher wie Spiegellabyrinth, das zeigt, dass Annas Leben eben nur einer von unzähligen möglichen Lebensentwürfen ist, denen Frauen im Laufe der Zeiten freiwillig oder unfreiwillig gefolgt sind.

Der größte Kritikpunkt ist für mich allerdings, dass ich mich immer dann gar gepflegt gelangweilt habe, wenn uns die Erzählerin seitenlang die Gemälde beschreibt, die ja nicht im Buch abgedruckt sind. Natürlich habe ich die Bilder gegoogelt. Zwar mag es reizvoll sein nachzuvollziehen, inwieweit Worte ein Bild fassen und erfassen können. Dennoch: Sprache hat mir da, egal wie präzise gewählt, nicht gereicht, genau wie mir die Beschreibung eines Musikstückes nicht ausreichen würde. Ich brauche den Anblick. Worte allein wecken hier keinerlei Emotionen – ganz im Gegensatz zum eigentlichen Kunstwerk.

Es gibt das glatte Weiß und das rauhe Weiß und ihre Schatten. Im Innern des Buttertellers ist das Weiß glatt, und auch der Schatten im porzellanenen Tellerrand ist von glattem Weiß. Aber der Teller wirft auch einen Schatten auf die weiße Leinendecke. Dieser Schatten ist rauh. Die Decke hat zwei Falten, die vom Zusammenlegen herrühren. Die linke dieser Liegefalten zeigt eine glänzende Linie der Erhebung gegen rechts und eine dunkle, weiße Schattenlinie gegen links. Die rechte Liegefalte scheint nicht ganz so hoch. Glanz und Schatten sind abgeschwächt. Auch die milchfettweiße Butter wirft eine schmelzende Schattenseite in sich. Wie ein Gebirge. Ein Tafelgebirge sozusagen. (S. 57)

Literarische Nachbarinnen

Es scheint gerade eine gute Zeit für Frauenfiguren in der deutschsprachigen Literatur zu sein, die sich aus unterschiedlichsten Gründen dafür entscheiden, aus allen Lebenszusammenhängen auszusteigen, um mit sich oder einer bestimmten Situation zurechtzukommen.

Thomas Medicus: Heimat (2014)

Es war lange her, dass ich da gewesen war. Zwischen meinen früheren, spärlichen Besuchen waren meist Jahre vergangen. Dieses eine Mal, es war kurz vor Ostern, hatte mich mein Sohn überredet. Er wollte sehen, wo sein Vater geboren und aufgewachsen war, wollte das Grab seines Großvaters besuchen, den er nur aus Erzählungen kannte. ‚Aber lange bleiben wir nicht‘, hatte ich unwirsch geantwortet, als er unvermutet seinen Wunsch äußerte, ’nur ein paar Stunden, dann fahren wir weiter. Über Nacht bleiben wir da auf keinen Fall.‘

So beginnt die Spurensuche des 1953 geborenen Journalisten und Autors Thomas Medicus nach der Heimat.

Gleich zu Beginn macht der Autor deutlich, wie wenig ihn in seine Heimatstadt Gunzenhausen zieht, wie radikal er sich von dem Städtchen in Mittelfranken distanziert hatte.

Außer einigen toten Seelen, die auf dem Friedhof, […] ihren ewigen Schlaf schliefen, kannte ich dort niemanden mehr. Nein, das stimmte nicht, es lebten noch Freunde meiner Eltern da, Klassenkameraden, Leute, von denen ich die meisten seit meinem letzten Schultag nicht mehr gesehen hatte und auch nicht wiedersehen wollte. (S. 10/11)

Und beim Betrachten einer alten Schwarzweiß-Fotografie sinniert er düster vor sich hin:

Die Ansicht besitzt eine seltsame Atmosphäre, anheimelnd, aber auch erfüllt von einer furchtbaren Leere. Kein Mensch ist zu sehen, nicht einmal eine Katze, die träumend über die Kreuzung schleicht, kein Hund, der in der Morgensonne kauert, kein Auto, kein Fuhrwerk, nichts. Als ob bald etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden ist. (S. 15)

Dabei war seine Kindheit in der Provinz ganz ohne größere Schrecken oder familiäre Katastrophen verlaufen. Sowohl der Vater als auch der Großvater waren Ärzte gewesen. Über die nationalsozialistische Vergangenheit wurde, wie vermutlich überall in Deutschland, eher geschwiegen.

Es gab Vergangenheiten, an die man sich erinnerte und solche, an die man sich nicht erinnerte. (S. 31)

Über den Krieg wurde später sowohl gesprochen als auch nicht gesprochen, er hielt für Anekdoten her, das Beste am Krieg war, dass er vorbei war. In Belgien habe er viel Kuchen gegessen, erzählte der Vater einmal. (S. 31)

Dann kommt ein gewaltiger Zeitsprung. Einige Jahre nach der Wende liest Medicus Die Ausgewanderten von W. G. Sebald.

… als mich auf drei fast aufeinanderfolgenden Seiten der Name meines Geburtsortes ansprang wie ein bissiger Hund. Jäh wurde ein Zeitfenster aufgerissen, das den Blick auf etwas freigab, das wenig gemein hatte mit dem Netzhautbild meines uranfänglichen kindlichen Blicks. (S. 38/39)

So erfährt Medicus von einem der ersten Judenpogrome in Deutschland nach der sogenannten „Machtergreifung“. In Gunzenhausen kam es am 25. März 1934 zu gewalttätigen Übergriffen des Mobs auf jüdische Mitbürger.

Der Übergriff brachte die Stadt weltweit negativ in die Presse: New York Times, Manchester Guardian und das Neue Wiener Journal berichteten über die von mehreren hundert Gunzenhausenern begleiteten Gewaltakte der SA, welche die Ansbacher Richter im folgenden Prozess als „reinigendes Gewitter“ verharmlosten. Zwei jüdische Bewohner, der 65-jährige Privatier Max Rosenau und der 30-jährige Kaufmann Jakob Rosenfelder, kamen unter bis heute nicht geklärten Umständen ums Leben. 24 SA-Mitglieder, die sich an den Ausschreitungen beteiligt hatten, wurden von der NS-Justiz freigesprochen und später von der Bundesrepublik amnestiert. Der Hauptinitiator des Pogroms, SA-Obersturmführer Kurt Bär, erschoss im selben Jahr, bereits einen Monat nach seiner Verurteilung, einen jüdischen Gastwirt und verletzte dessen Sohn schwer. Beide hatten vor dem Landgericht Ansbach gegen ihn ausgesagt. Bär wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch bereits nach drei Jahren begnadigt. (Wikipedia-Eintrag, abgerufen am 3. September 2014)

Der zweite Anstoß für die Spurensuche in der Provinz ergibt sich, als der Autor aus einem seiner Bücher in der Gunzenhausener Stadtbibliothek liest. Er erfährt, dass sein Großvater als Gutachter in dem Prozess fungierte, der nach dem Pogrom stattfand. Zusammen mit einem Kollegen musste er die beiden jüdischen Männer obduzieren, die damals ums Leben gekommen waren. Man kann wohl davon ausgehen, dass den beiden Ärzten die „Diagnose“ Selbstmord nahegelegt worden war.

Doch der ausschlaggebende Impuls kommt 2009, als er erfährt, dass J. D. Salinger, der Autor von The Catcher in the Rye, als Soldat 1944 nach Europa gekommen ist. Er habe

an vorderster Front gekämpft, während der letzten Kriegsmonate auch in Bayern, sei dort an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau beteiligt gewesen und wenige Monate nach Kriegsende in einem Nürnberger Hospital aufgrund einer ‚Battle Fatigue‘, eines Nervenzusammenbruchs als Folge des Kriegs, ärztlich behandelt worden. Nach seiner Entlassung aus dem Hospital sei Salinger aus der Armee ausgeschieden, habe aber weiterhin für den sogenannten CIC [den Nachrichtendienst der US-Armee] als Zivilist gearbeitet. […] Als CIC-Agent sei er auch nach G. gekommen. Seine Aufgabe sei es gewesen, Entnazifizierungsmaßnahmen durchzuführen und untergetauchte Kriegsverbrecher aufzuspüren. (S. 85)

Das ist die Initialzündung: Medicus recherchiert zum einen die Kriegserlebnisse Salingers, seinen Aufenthalt in Gunzenhausen und seine kurze Ehe mit einer Deutschen und spekuliert darüber, inwieweit Salingers traumatische Erlebnisse während des Weltkrieges für seinen späteren Rückzug aus der Öffentlichkeit verantwortlich sein könnten.

Ohne ihn [gemeint ist Salinger], diesen vielfach gebrochenen Helden, hätte ich es nie gewagt, mich in das Labyrinth zu begeben, das mich noch Jahrzehnte, nachdem ich G. verlassen hatte, immer wieder im Traum heimsuchte. Salinger war meine Leitfigur, ich brauchte ihn, wie ein Sohn seinen Vater braucht. Unsere Kreise überschnitten sich, und der zeitliche Abstand betrug wenige Jahre. (S. 179)

Zum anderen widmet sich Medicus akribisch dem Verlauf der Enteignung, der Entrechtung und der Vernichtung der jüdischen Bürger in Gunzenhausen. Er zitiert aus Protokollen und Zeitungsberichten, Täter, Rädelsführer und Opfer bekommen ein Gesicht und einen Namen.

Trotz der akribischen Recherche – wobei völlig offen bleibt, was genau davon Medicus eigentlich selbst ans Licht befördert hat – habe ich mich über weite Strecken gelangweilt. Nicht nur, weil in den Abschnitten, in denen Medicus über sich und seine Familie redet, der Stil so hölzern ist. Alles sehr distanziert, „die Großmutter“, „der Vater“, manchmal bis zur völligen Unverständlichkeit.

Eines Tages war der Vater verschwunden. Ein Jahr nachdem er tot zurückgekehrt war. (S. 38)

Der Selbstmord des Vaters – würde der nicht auch in eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Heimatbegriff hineingehören? Die beklemmende Düsternis dieser Kindheitsprovinz wird zwar behauptet, doch nie anschaulich gemacht.

… bedeutungslose Dinge besaßen hier eine Bedeutung, von der ich damals nichts ahnte. Der Gitterzaun um die Synagoge, der sich in meine Netzhaut eingebrannt hat, weil ich jahrelang daran vorbeigelaufen bin, war nicht bloß ein Gitterzaun, der im Laufe der Kindheits- und Jugendjahre immer rostiger wurde. Er war das heimliche Symbol einer infamen Lokalgeschichte, von der ich nichts wusste, schon gar nicht, dass meine Familie in Gestalt meines Großvaters darin verwickelt war. In G. gab es keine Unschuld, nur die Vortäuschung der Unschuld. Die Nachkriegskinder gingen tagein, tagaus ahnungslos über einen doppelten Boden.

Erst mit der Zeit wurde mir klar, dass die kleine Stadt über Jahrzehnte hinweg ein großes, furchtbares, dunkles kollektives Geheimnis  geborgen hatte. (S. 82)

Da denke ich mir nur, ach, für welche Stadt in Deutschland hätte das denn nicht gegolten? Und gerade über diesen doppelten Boden hätte ich gern mehr gelesen. Was macht der mit den Tätern, den Mitläufern, den Kindern, den Enkeln?

Letztendlich fand ich Auseinandersetzung des Autors mit seiner Heimat banal und oberflächlich. Provinzielle Enge und das Verschweigen der nationalsozialistischen Vergangenheit waren für viele „normal“, doch zur literarischen Umsetzung hätte für mich mehr gehört, als die einfach festzustellen und zu behaupten..

Ich fand es eher melodramatisch, dass Medicus erst nach seinem Besuch in Cornish, dem Rückzugsort Salingers, „den Mut aufbrachte“, das Haus seiner Kindheit

an das ich mich zuvor nur im Schutz der Dunkelheit herangewagt hatte, am helllichten Tag in Augenschein zu nehmen. (S. 180)

Mein Haupteinwand: Ich konnte die Verbindungslinien zwischen Progrom, Salinger und der Familie des Autors nicht nachvollziehen, sie schienen mir künstlich herbeigeschrieben. Denn auch wenn Salinger ein halbes Jahr in Gunzenhausen tätig war, es bleibt völlig offen, ob und was er dort herausgefunden hat. Und dass die Großvätergeneration involviert war, ist nun keine wirklich bahnbrechende Erkenntnis.

Lesenswert hingegen fand ich die Kapitel, die sich mit Gunzenhausen während des Nationalsozialismus beschäftigen. Zeitlos wichtig. Bedrückend, beklemmend. Ein Stück Aufklärung, bei dem Täter und Opfer wieder ein Gesicht bekommen.

Zumindest für Medicus hat sich die Spurensuche gelohnt, für mich als Leserin wohl weniger.

Ich war kein Heimatgefangener mehr, wenigstens hoffte ich das. Immerhin war meine Flucht beendet. Ich war stehen geblieben. Wie weit ich auch fortgegangen war, unbemerkt von mir selbst war ich viel fester verwurzelt geblieben, als ich es mir je eingestanden hatte. Wer besinnungs- und haltlos auf der Flucht ist, bleibt erst recht an das gebunden, wovor er flüchtet. (S. 160)

Zu seiner großen Überraschung stellt er fest, dass Gunzenhausen gar keinen aktuellen Retter aus der  Geschichtsvergessenheit gebraucht hat. Die Aufklärung über und die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus hatten dort Mitte der achtziger Jahre begonnen, sodass Medicus von den hiesigen Rechercheergebnissen immens hat profitieren können. Die Provinz habe das Provinzielle – zumindest in diesem Fall – hinter sich gelassen.

Anmerkungen

Hier die Besprechung aus der TAZ und hier geht’s lang zur Würdigung in der ZEIT.

Arthur Schnitzler: Später Ruhm (1894)

Herr Eduard Saxberger kam vom Spaziergang nach Hause und schritt langsam die Stiege zu seiner Wohnung hinauf. Es war ein schöner Wintertag gewesen, und gleich nach Schluss der Amtsstunden hatte sich der alte Herr, wie er es gerne zu tun pflegte, auf den Weg gemacht und war in der frischen Luft herumgebummelt, recht weit über die Vororte hinaus zu den letzten Häusern. Er war müde geworden und freute sich auf sein freundliches, warmes Zimmer.

So beginnt die erst posthum veröffentlichte Novelle des österreichischen Dramatikers und Schriftstellers

Arthur Schnitzler: Später Ruhm (1894)

– veröffentlicht im Zsolnay Verlag

Zum Inhalt

Herr Saxberger, ein älterer, noch im Arbeitsleben stehender Beamter um die 70 Jahre, bekommt eines Tages Besuch von einem jungen Mann. Dieser stellt sich vor als der Schriftsteller Wolfgang Meier. Er sei der Gesandte des literarischen Zirkels Begeisterung.

‚Es ist ein Kreis junger Schriftsteller, die sich seitab von der großen Heerstraße halten. Wenn ich Ihnen die Namen derselben sagte, würde Ihnen nicht viel geholfen sein. Man kennt diese Namen heute noch nicht. Wir sind einfach Künstler, nichts weiter als das, und unsre Zeit wird kommen.‘ Herr Meier sprach diese Worte ruhig, aber entschieden aus. (S. 10)

Die Mitglieder dieses Kreises würden sich glücklich und geehrt schätzen, wenn sie denn einmal die Bekanntschaft des von ihnen so verehrten Meisters Saxberger machen dürften.

‚Das junge Wien bittet Sie, durch mich seine ehrfurchtsvollen Grüße und seinen Dank entgegenzunehmen. (S. 11)

Saxberger hatte vor mehreren Jahrzehnten eine Gedichtsammlung, die Wanderungen, veröffentlicht und ist nun verwirrt, gerührt und geschmeichelt, dass seine Texte tatsächlich noch gelesen werden, die er selbst schon fast vergessen  hatte. Denn berühmt war er nie und geschrieben hat er schon Jahrzehnte lang nichts mehr.

Im Grunde war er bis zu dem Erscheinen Meiers mit seinem Leben als rüstiger Junggeselle und seinen Abenden im Gasthaus, die er mit alten und künstlerisch desinteressierten Freunden verbringt, völlig zufrieden gewesen, doch dieser unerwartete Besuch bringt ihn ganz durcheinander.

Noch nie hatte er so tief empfunden, dass er ein alter Mann war, dass nicht nur die Hoffnungen, sondern auch schon die Enttäuschungen weit hinter ihm lagen. Ein dumpfes Weh stieg in ihm auf. Er legte das Buch weg, er konnte nicht weiterlesen. Er spürte, dass er schon lange auf sich selbst vergessen hatte. (S. 19)

Doch nun lässt er sich überreden, die jungen und allesamt unbekannten hoffnungsvollen Kaffeehaus-Schriftsteller aufzusuchen. Sie schmeicheln ihm und bald schon fühlt sich der alte Herr bei ihnen, denen die Kunst so wichtig zu sein scheint, wohler als mit seinen prosaischen Freunden. Über Arroganz, Dünkel und Eifersüchteleien, die ihn hellhörig machen müssten, geht er hinweg. Zu sehr gefällt ihm die Rolle des Meisters, des unerkannten Genies, die ihm die anderen quasi auf den Leib schneidern.

Ein Lesungsabend wird geplant, um den Zirkel bekannter zu machen. Auch Saxberger wird gebeten, ein neues Werk beizusteuern, das dann von einer Schauspielerin gelesen werden soll.

Der alte Mann muss sich eingestehen, dass seine dichterische Ader versiegt ist, nichts, aber auch gar nichts fällt ihm ein. Also vereinbart man, dass eines seiner alten Gedichte vorgetragen wird. Der Abend der Lesung wird in mancherlei Hinsicht anders für Saxberger verlaufen als geplant und gehofft.

Fazit

Das mit „Novelle“ bezeichnete Werk umfasst nur 135 Seiten. Es entstand 1894 und wurde 40 Jahre später ins Reine geschrieben und doch erst 2014 veröffentlicht. Wie schön, dass es jetzt doch noch seinen Weg zum Leser gefunden hat. Manche Happy Ends sind billig, das Happy End im Späten Ruhm jedoch nicht. Ich habe dem alten Mann, der noch einmal ungeschoren davongekommen ist, das herzhafte Lachen am Schluss gegönnt.

Es geht hier keineswegs nur um die Probleme, als junger Künstler wahrgenommen zu werden, oder um die egoistische und berechnende Speichelleckerei der jungen Möchtegerndichter, sondern auch um die grundsätzliche Verführbarkeit des Menschen, der gern manches übersieht, was nicht stimmig und echt ist, wenn man nur seiner Eitelkeit schmeichelt, seinem Bedürfnis, zu den „Erwählten“, den Besonderen, zu gehören.

Die Warnung in den Worten Meiers, die in ihrer Überheblichkeit jeden Gruppendünkel entlarven, gilt heute wie damals.

Talentlos […] nennen wir im Allgemeinen diejenigen, welche an einem andern Tische sitzen als wir. (S. 39)

Geschrieben in einer zarten, altmodisch eleganten Sprache. Alles in allem: Gern gelesen.

Anmerkungen

In diesem Fall lohnt sich ein Blick in den Wikipedia-Artikel, der einen guten Einstieg in die umstrittene Veröffentlichungsgeschichte und Rezeption des Werkes ermöglicht. Keineswegs handele es sich bei der Novelle um einen Sensationsfund, die Geschichte war seit Jahrzehnten in der Nachlassforschung zu Schnitzler bekannt (siehe dazu das Interview mit Konstanze Fliedl).

Daniela Strigl legt in der Welt dar, dass der Zolnay Verlag die Werbetrommel womöglich ein wenig unlauter gerührt habe, was nichts daran ändert, dass das Werk selbst durchaus lesenswert sei.

Das meint Hans-Jost Weyandt im Spiegel und das sagt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau.

Hier stellt Iris Radisch das Buch in ihrer Video-Reihe vor.

Auch auf Philea’s Blog findet sich eine Besprechung.

Lukas Bärfuss: Koala (2014)

Man hatte mich in meine Heimatstadt geladen, damit ich einen Vortrag über einen deutschen Dichter halte, der zweihundert Jahre früher, an einem Tag im November, am Wannsee in Berlin eine Mulde gesucht und danach seiner Freundin Henriette Vogel ins Herz und schließlich sich selbst eine Kugel in den Rachen geschossen hatte.

Mit diesem Satz beginnt das Buch des bekannten Schweizer Dramatikers, das 2014 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand. Ein großes Dankeschön an Claudia vom Grauen Sofa und an den Wallstein Verlag, die mir ein Exemplar zur Verfügung stellten.

Der Inhalt ist rasch umrissen: Ungefähr sechs Monate nach der Lesung in seiner Heimatstadt erhält der Ich-Erzähler die Nachricht, dass sich sein Halbbruder umgebracht habe. Zu Lebzeiten des Bruders war der Kontakt zwischen den Brüdern – beide längst erwachsene Männer – bestenfalls sporadisch.

Wir hatten selten Gelegenheit, uns zu sehen; mein Bruder bewegte sich kaum aus jener Stadt heraus, die ich dreiundzwanzig Jahre früher nicht ganz freiwillig verlassen und seither gemieden hatte. Wir führten verschiedene Leben, außer der Mutter und einigen nicht ausschließlich angenehmen Kindheits- und Jugenderinnerungen teilten wir wenig, und gewöhnlich reichten uns zwei Stunden, um der still empfundenen Verpflichtung, sich als Brüder nicht ganz aus den Augen zu verlieren, Genüge zu tun. (S. 6)

Durch den Selbstmord – mit einer Überdosis Heroin – wird der Bruder auf einmal zum Thema im Leben des Erzählers, wie er es vorher wohl nie gewesen war. Das ist zunächst auch ein Ärgernis.

Man wurde mit einem Selbstmörder nicht fertig, niemals. Daran entzündete sich mein Zorn, ich war wütend, dass ich mich nicht mit den Kindern an den Gämsen erfreuen konnte, die hoch oben von Fels zu Fels sprangen, sondern stets von neuem in den Mahlgang der Gedanken gezwungen wurde. (S. 25)

Der Ich-Erzähler hofft, mit anderen ins Gespräch zu kommen, die auf ähnliche Weise einen Menschen verloren haben, dabei trifft er allerdings eher auf betretenes Schweigen. Auch der Blick in die Literatur hilft ihm bei der Suche nach den Gründen nicht weiter. Er kann im Suizid seines Bruders keinen heroischen Akt erkennen, in dem sich der freie Wille ausdrücke, sondern sieht darin zunächst eine Niederlage, ein Scheitern auf ganzer Linie.

Also begibt er sich selbst auf eine Art Spurensuche, die führt jedoch nicht, wie man vielleicht zunächst vermuten könnte, über Gespräche mit Freunden oder Familienmitgliedern des Verstorbenen oder über dessen frühere Heroinsucht, sondern über die Annäherung an den Spitznamen des Bruders, sein Totem, das ihm als Kind während einer – zumindest imaginiert der Ich-Erzähler das so – Angst einflößenden Initiationszeremonie bei den Pfadfindern zugesprochen wurde, dem Koala.

Und so spielen über 70 der insgesamt 182 Seiten gar nicht in der Schweiz. Stattdessen erleben wir im Zeitraffer die Unabhängigkeitsbestrebungen Amerikas, die Kolonialisierung Australiens und seine brutalen und energischen Anfänge als Sträflingskolonie mit, bis der Koala von den Weißen entdeckt und schließlich fast ausgerottet wird.

Ich mochte die klare, präzise Sprache, allerdings weniger den Manierismus, Orte und Menschen nicht zu benennen. Der Bruder bleibt namenlos, genauso wie Thun, die Heimatstadt der Brüder, der Dichter Kleist oder die Band, deren Lied bei der Trauerfeier gespielt wird.

Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich zerfällt das Buch. Der erste Teil, der sich mit den nur spärlich erläuterten Lebensumständen des Bruders und den Reaktionen, Erinnerungen und Deutungsversuchen des Erzählers beschäftigt, wirkt unterkühlt, fast teilnahmslos, berichtartig. Zwar heißt es, dass schon der Besuch in der alten Heimat dazu führe, dass die Sätze verklumpen und man alles vermeide, „was geschmeidig, anmutig oder gebildet erscheinen könnte.“ (S. 18) Doch warum muss der Leser das ausbaden?

Der rasante Ritt durch die bitteren Anfänge der Besiedlung Australiens durch die Engländer, bei dem wir in vielerlei Schicksale kurz, aber intensiv hineinblicken, hingegen war mitreißend prägnant formuliert. Selbst kurze Szenen wirkten lebendiger als die in der Gegenwart angesiedelte Handlungs- bzw. Reflexionsebene. Bärfuss hat für diesen geschichtlichen Part gründlich recherchiert und z. B. Tagebuchaufzeichnungen des Ralph Clark verwendet.

Doch die inhaltlichen Fäden, die diese beiden Teile miteinander verband, die fand ich zu dünn, nicht belastbar genug. Der Ich-Erzähler bleibt für mich den Nachweis schuldig, dass der Selbstmord seines Bruders sich mit der Metapher des Beuteltieres erklären lässt. Trotz der Parallelen, die er meint gefunden zu haben, z. B. in der Provokation, die die Verkörperung der Faulheit und die Abwesenheit jeglichen Ehrgeizes für den normalen Menschen darstelle.

Es leuchtet ein, wie wenig dieses Tier sich bewegen kann und dass es seinem Baum verbunden bleiben muss, weil das Material, mit dem es seinen Organismus in Gang zu halten versucht, Dreck ist. Mit dieser Nahrung lassen sich keine großen Sprünge machen, das Tier muss sesshaft und ruhig bleiben, den Metabolismus bis an die Grenzen des Stupors drosseln. (S. 158)

Der Tod des Halbbruders wird mit einer Bedeutung aufgeladen, die er vielleicht gar nicht hatte. Sie wird einfach behauptet. Kein Wort dazu, warum der Bruder früher heroinabhängig war oder seit wann er clean war. Die Brüder-Beziehung war problematisch. Die Schuld daran gibt der Erzähler vor allem seinem Bruder, der eben schwierig gewesen sei. Letztlich konnte er dessen Lebensentwurf – so denn von einem gesprochen werden kann – nie akzeptieren und regt sich noch nach dessen Tod auf, dass er von ihm einen wertlosen Haufen alter Comics geerbt hat.

Seinen Geschmack hielt er für unfehlbar, er gab vor, sich stets für das Beste zu entscheiden, was lächerlich und peinlich war, weil er sich nicht einmal das Zweit- oder Drittbeste leisten konnte. Seine Comics pflegte er mit einer Sorgfalt, als wären es nicht Billighefte vom Bahnhofskiosk, sondern Inkunabeln. […] Ausgerechnet die hatte er mir vermacht, eine schwere Kiste alberner Bildergeschichten, die einen höchstens schlichten Geschmack bewiesen. (S. 40)

Ich fand es unbefriedigend, dass der Erzähler die Möglichkeit, andere dem Bruder nahestehenden Menschen zuzuhören, so rasch verworfen hat. Da hat er sich die Spurensuche vielleicht doch ein bisschen einfach gemacht.

Natürlich hätte ich mich an seine Freunde, seine Familie wenden können, aber warum sollten sie sich nicht auch in den Anekdoten verlieren und beschönigende Erinnerungen kolportieren […] Ich hielt es nicht für möglich, dass jemand ehrlich mit sich war, aber ich machte niemandem einen Vorwurf. Jeder versuchte, sich von der Schuld zu entlasten, um weiterleben zu können. (S. 54)

War der Erzähler zunächst der Meinung, dass keine Moral aus dem Selbstmord des Bruders zu ziehen sei, so ändert sich das im Laufe der Geschichte. Ein bisschen verquast heißt es dann:

Ich fand einen Begriff für jenes Gefühl, das mich seit dem Tod des Bruders gefangen hielt, und ich nannte das Gefühl Einsamkeit. Ich fand sie bald in allem, nicht nur im Leben des Bruders, in jedem Leben, in meinem eigenen, in den Leben, die ich teilte und betrachtete. Ich erkannte in der Einsamkeit den Preis und die Strafe, ich sah, wie diese Einsamkeit zunahm unter meinen Freunden. Ich erkannte darin die Krankheit meiner Zeit, die Ursache des Unglücks, das jeder, der ein offenes Herz hatte, empfinden musste. Am Ende war jeder allein, das spürte ich, und ein Ende gab es alle Tage. (S. 37)

Später betrachtet der Erzähler den Selbstmord von einer gesellschaftskritischen Warte:

Die gängigen Tugenden, nach denen auch ich lebte, Fleiß, Strebsamkeit, Ehrgeiz, bewahrten jedenfalls nicht vor dem Unausweichlichen. […] wenn ich mir die Welt ansah, die durch diese Taten geformt war, dann fand ich nicht viele Argumente, die für den Ehrgeiz und den Fleiß sprachen, und ich konnte nicht ausschließen, dass diese Welt friedlicher gewesen wäre, wenn sich mehr Menschen an die Prinzipien meines Bruders gehalten hätten. Wenn sie sich berauscht und ohne Ambition ihre Tage hätten verstreichen lassen, für sich nur das Nötigste in Anspruch genommen hätten, einen Besitz, dessen Auflistung auf anderthalb Seiten Platz fand und in einer guten Stunde unter den Freunden verteilt war. (S. 55)

Ja, am Schluss wächst sich das Buch zu einer Deutung dessen aus, weshalb Arbeit in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert genießt. Doch am Ende weiß ich immer noch zu wenig über den namenlosen Bruder, der hier weniger als eigenständige Person wichtig ist, sondern eher als Grund herhalten muss, über den gesellschaftlichen Zusammenhang von Angst, Arbeit, Fleiß und Faulheit nachzudenken. Und allen Selbstmördern wird die Aufgabe der Gesellschaftskritik quasi im Nachhinein auferlegt.

Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß. […] Die Arbeit war keine Strafe mehr, sie war zur einzigen Tätigkeit geworden. Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder. […] Der Mensch hatte die Welt zu einem Arbeitsplatz gemacht. (S. 168)

Der Erzähler hingegen hat seine Antwort auf die Frage gefunden, „weshalb man es scheute, über den Selbstmord zu reden.“ Aber auch diese Antwort wird einfach behauptet, geglaubt habe ich ihr nicht.

Anmerkungen

Hier geht’s lang zur Besprechung von Sophie auf ihrem Blog Literaturen und das sagt Birgit von Sätze&Schätze.

Roman Bucheli formulierte in seiner Besprechung in der NZZ einen eher zwiespältigen Eindruck, während Ina Hartwig ihrem Unmut in der ZEIT freien Lauf ließ: „Zwischendrin verliert der englische König den Verstand – und der Leser den Überblick.“

Jens Bisky bemängelt in der Süddeutschen Zeitung vom 24. April besonders den dritten Teil des Werks, das er ohnehin nicht als Roman anerkennt:

Eine kulturkritische Sonntagspredigt zerstört das schöne Schweben zwischen Natur- und Zivilisationsgeschichte, bietet ein paar verrostete Schlüssel, um den Sinn der Episoden zu erschließen, obwohl der Autor doch weiß, dass all die Augenblicke keinen Sinn, keine Moral bereithalten.

Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling (2014)

An jenem Morgen im April, als auf einmal vollkommene Stille im Luftraum über London herrschte, lief ich zum Trafalgar Square. Der Platz lag noch im Schatten, nur hoch oben auf seiner Säule, in unerreichbarer Einsamkeit stand Lord Nelson schon im Sonnenlicht. Sein Dreispitz wirkte schwarz vor dem Himmel, der von solcher Bläue war, daß es unglaublich erschien, wie eine Aschewolke dieses isländischen Vulkans den europäischen Luftverkehr lahmgelegt hatte.

So beginnt der Roman der 1948 geborenen Schweizer Schriftstellerin

Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling (2014)

– erschienen im Suhrkamp Verlag

Herzlich bedanke ich mich bei Claudia vom Grauen Sofa und beim Verlag für die Bereitstellung des Buches, das 2014 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand.

Zum Inhalt

Eine ältere Frau hält sich auf unbestimmte Zeit in London auf. Auf ihren Streifzügen durch die frühlingshafte Stadt und ihre Parks und an der Themse entlang trifft sie eines Tages einen jungen Mann mit einer fürchterlich entstellten Gesichtshälfte, der auf der London Bridge die Obdachlosen-Zeitung verkauft. Sie kommen ins Gespräch und erzählen einander bei den folgenden Begegnungen aus ihrer Kindheit.

Für ihn war das Haus seiner Großmutter in Penzance in Cornwall ein behüteter Hafen, wo ihm die Quälereien der anderen Kinder nichts anhaben konnten. Sie hingegen erinnert sich immer wieder an das große alte Pfarrhaus, in dem sie jedes Jahr mit ihrer Familie die Sommerferien bei ihrem Onkel und den zwei unverheirateten Tante verbrachte.

Dabei verweben sich für die Ich-Erzählerin ihre London-Impressionen, die Geschichten des jungen Mannes und ihre eigenen Erinnerungen und Träume zu einem Teppich der schwebenden Gleichzeitigkeit.

Nicht mehr die Eicheninseln kreisten auf dem Fluß, sondern jenes lindengrüne Waldzimmer, und mit ihm der ganze Pfarrhof, der rote Saal, das blaue Kabinett, die Laube, Julihitze und helle Nächte. Allein in einer der am dichtesten bevölkerten Städte der Welt, war mir mit einem Mal, als sei ich vielleicht in jenem stets nur für einen Sommer geliehenen Haus, gerade wie kein anderes von der unerbittlich ablaufenden Zeit bedroht, am geborgensten gewesen. (S. 12)

Auch das London der Vergangenheit ist für die Frau gegenwärtig oder sollte man lieber sagen, sie ist empfänglich und durchlässig für die entsprechenden Schwingungen?

Ich versuchte, die Menschen am Südende der London Bridge zu erkennen, aber sie wirkten wie Scherenschnitte im Gegenlicht. Ihre Umrisse kippten ins Wasser und vermengten sich mit den Schatten derjenigen, die in früheren Jahrhunderten hier vorübergeeilt waren, betäubt vom Gestank des fauligen Flusses, in den alle Abwässer Londons gepumpt wurden, und bis zur Übelkeit erregt vom penetranten Fischgeruch, selbst die seidenen Taschentücher, welche sich die Parlamentsmitglieder auf ihrem Weg nach Westminster an die Nase preßten, waren nutzlos. (S. 24)

Der junge Mann wird für die Frau immer wichtiger, scheint er doch in London der einzige zu sein, mit dem sie so vertraute Gespräche führt.

Sein verschwenderisches Erzählen hatte eine solche Weite des Vertrauens geschaffen, in der ich mich nicht nur zugelassen, sondern sogar aufgenommen fühlte. Nie wie in solchen Augenblicken werden, wenigstens für kurze Zeit, die Gespenster der Welt beschwichtigt. (S. 46)

Allerdings bleibt dabei unklar, ob der junge Mann ihre Sicht der Dinge teilt. Wesentliches behält er für sich.

Fazit

Mein Leseeindruck ist zwiespältig. Eine ruhige und schön fließende Prosa mit Sinn für Details, die allerdings manchmal ein bisschen gekünstelt daherkommt. Wie soll man sich das vorstellen, wenn die Tochter der Frau sich aus dem Regenwald am Amazonas meldet? Brieftauben, Morsezeichen oder doch eine E-Mail? Und warum sollte die Tochter keine Regenjacke im Gepäck haben?

Regen floß jetzt wohl auch über Gesicht und Arme des Mädchens, das nun eine junge Frau war, verborgen in den Wäldern des Amazonas, gestern hatten mich ein paar Signale erreicht. (S. 58)

Es gibt unaufdringliche Querverweise zwischen dem Wogen der Themse, den Erinnerungen der Protagonisten und den Menschenströmen der Großstadt. Dabei bleibt die Erzählerin seltsam unberührt vom Gewusel und der Hektik der Stadt, als ob sie ein eigenes Zeitmaß gefunden hätte, langsamer, dem Menschen gemäßer. Entschleunigt. So nimmt sie sich die Zeit, ihren Kindheitserinnerungen nachzuspüren und ihre Beobachtungen während ihrer ausgedehnten Spaziergänge aufmerksam zu registrieren. Dazu die Erkenntnis, wie unerbittlich die Zeit vergeht. Und das alles in scheinbarer oder tatsächlicher Distanz von alltäglichen Pflichten und Zwängen.

Das mag die Leserin oder den Leser anregen, sich einmal zu überlegen, welche Momente der Geborgenheit einen selbst begleiten und was man so an inneren Ablagerungen mit sich trägt. Und teilweise taugt der Kontakt zu Jonathan – zumindest von Seiten der Erzählerin – sicherlich als Modell, wie Kommunikation gelingen kann. Vorsichtig, tastend, respektvoll, hörend, schweigend oder redend, immer im Bewusstsein, dass schon das Einfachste einem anderen kaum mitzuteilen ist. Als er eher nebenbei seinen Namen erwähnt, ist sie außer sich vor Freude.

Und ich lief durch das nächtliche East End, ohne jeden Gedanken an Schlaf. Ich trug seinen Namen mit mir fort! Jonathan. Königliche Beute. (S. 80)

Nur unbedingte Offenheit konnte das dargebrachte Vertrauen erwidern. Es war wie ein Gehen über Wasser. Solange wir redeten, ertranken wir nicht. (93)

Oder geht es ihr doch eher um sich selbst und die Geschichten, auf die sie voller Neugier wartet, und weniger um den jungen Mann, dessen soziale und berufliche Stellung ja äußerst prekär sein dürften?

Daß uns ein Fremder in sein Inneres einläßt, ist erregend, von solcher Wärme und ebenso unbegreiflich, wie von ihm umgebracht zu werden. (S. 63)

Die Gespräche mit ihm, ja, sie waren mir zu einem Glück geworden! Ein Glück, auf das ich völlig unvorbereitet war, das mich aber bald sicher über den Abgrund jeden Augenblicks gehen ließ. Redete ich mit Jonathan, waren auch die in der Ferne mir lieben Menschen nahe. (S. 109)

Die unaufdringlichen Parallelen zwischen den beiden doch so unterschiedlichen Hauptpersonen zeigen sicherlich etwas von dem, was Menschen eint.

Doch trotz der Freude an diesem Erzählton war mir die „Handlung“ – soweit man überhaupt von einer Handlung sprechen mag – zu konstruiert. Und das Ende? Ist es vielleicht nur deshalb offen gehalten, weil sonst der Eindruck des Schwebenden zerstört worden wäre? Mir allerdings hätte etwas mehr Erdung gut gefallen.

Jonathan fragte mich nie nach meiner Arbeit in dieser Stadt. Was hätte ich schon antworten können? Allem fern sein, um allem nah zu sein. Und beides, Ferne und Nähe, noch lange nicht durchdringend genug. (S. 111)

Anmerkungen

Hier geht’s lang zu einigen Rezensionen.

  • Ursula März in der ZEIT
  • Rainer Moritz in der NZZ

Angelika Klüssendorf: April (2014)

Die junge Frau klingelt an der Wohnungstür im Erdgeschoss. Auf dem Schild steht in verschnörkelter Schrift: Frl. Jungnickel. Ein Vogel zwitschert, zwei kurze Triller, dann ist es wieder still. Der Mann neben ihr räuspert sich, auch er drückt den Klingelknopf, ungeduldig und länger anhaltend. Diesmal sind Schritte zu hören, das vergitterte Türfenster wird geöffnet, eine Alte schaut heraus, regungslos, nur ihr eines Lid zittert.

So beginnt der Roman der 1958 geborenen Schriftstellerin, der momentan auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht:

Angelika Klüssendorf: April (2014)

– erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch

Zum Inhalt

2011 erschien Das Mädchen und April lässt sich als Nachfolgeerzählung lesen, ist aber auch unabhängig davon zu verstehen.

Die gerade 18 Jahre alt gewordene April, den Namen hat sie sich selbst gegeben, wird aus der staatlichen Obhut der DDR-Kinderheime entlassen. Ihr wird ein Arbeitsplatz als Bürohilfskraft im Starkstromanlagenbau in Leipzig und ein Zimmer bei der ca. 70-jährigen Fräulein Jungnickel zugewiesen.

Und so kämpft April gegen einen langweiligen Arbeitsplatz, den sie nicht lange behält, gegen ihre Vermieterin und vor allem gegen ihre eigenen Dämonen. Der Vater war ein Trinker und die Mutter eine prügelnde Sadistin, die ihre Kinder tagelang, auch im Keller, eingesperrt hat. Ihre Kindheit hat April zum Großteil in Heimen verbracht.

Sie mag ihren Spitznamen, Rippchen klingt tröstlich; früher hatten die Jungs noch ganz andere Namen für sie: Gerippe, Speiche, Hungerhaken. (S. 15)

April fällt es schwer, sich an Regeln und Verbote zu halten. Als ihre Abteilungsleiterin sie nach Hause schickt, weil sie in Levis und einem Nicki-Pullover zur Arbeit erschienen ist, weigert sie sich, sich umzuziehen und geht stattdessen in den Zoo und vertrödelt die Zeit.

Sie klaut, stromert nächtelang durch die Stadt, fühlt sich einsam und möchte so gern irgendwo dazugehören. Dabei kann sie sich nur schlecht auf Gefühle und Beziehungen einlassen und ist gleichzeitig ein leichtes Opfer für allerlei seltsame und kriminelle Gestalten. Einmal lernt sie ein Pärchen in einer Kneipe kennen, die beiden quartieren sich bei ihr ein und bestehlen die alte Vermieterin. Das ist ihr zwar nicht recht, aber sie ist zu feige, die beiden rauszuwerfen. Da sie Fräulein Jungnickel aber nicht mag, hat sie auch kein wirklich schlechtes Gewissen, noch nicht einmal, als sie aus Unachtsamkeit fast die Wohnung abfackelt.

Sie lernt weitere Männer kennen, doch nichts hilft gegen die Haltlosigkeit. Sie versucht sich umzubringen. Der anschließende Psychiatrie-Aufenthalt hat den Vorteil, dass sie einen anderen Arbeitsplatz im Museum bekommt, wo sie mit kunst- und literaturinteressierten Menschen in Berührung kommt. Doch ihre Probleme bleiben, ihre Wutanfälle, ihr dringendes Bedürfnis, alles kaputt zu machen, gerade dann, wenn alles in ein ruhigeres Fahrwasser zu kommen scheint. Vertrauen ist ihre Sache nicht. Und sollte sie als stabil genug angesehen werden, wäre wieder Schluss mit dem Arbeitsplatz im Museum.

Es beunruhigt sie, dass sich jemand für ihre Gedanken oder Gefühle interessiert. Warum soll sich sich daran erinnern, was ihr in ihrer Kindheit wichtig war? Ja, sie mochte Tiere, mag sie noch immer, doch was sagt das schon aus? Sie fühlt sich dem Arzt überlegen, versucht sogar, die eine oder andere Frage ins Lächerliche zu ziehen. Trotzdem kommen ihr die Tränen, wenn sie daran denkt, wie sie tage- und nächtelang eingesperrt im Keller Brehms Tierleben gelesen hat, sämtliche Bände. Und nur der Glaube, dass, wenn sie erst erwachsen wäre, alles anders sei, hat sie durchhalten lassen.

Sie erzählt dem Arzt nichts von ihrem Trick, der darin besteht, ihr Gegenüber in Gedanken zu sezieren, mit einem schnellen, sauberen Schnitt den Körper in zwei Hälften zu teilen, die Organe freizulegen, das Herz herauszuschneiden, die Lunge. Ihr Gegenüber ist längst tot, von ihr in Stücke zerlegt, ohne es zu wissen. Diese Vorstellung bewahrt sie davor, losheulen zu müssen. (S. 45)

Sie fängt an zu schreiben, lernt einen Mann kennen und bekommt ein Kind mit ihm. Sie ist mit dem Muttersein überfordert und schließlich stellen sie einen Ausreiseantrag.

Fazit

Eigentlich ein unglaublich trostloser Inhalt. Die kaputte Kindheit mit kaputten Eltern wirft noch immer ihre bösen Schatten in die Gegenwart. Ihre Brüder müssen weiterhin in dieser Angsthölle ausharren. Der Staat nimmt seine Bürger nicht ernst, schüchtert sie ein, bespitzelt sie und sperrt sie ein. Eine Protagonistin, die versucht, etwas Halt zu finden und dabei manchmal ungefähr so erfolgreich ist wie ein Korken auf dem Wasser.

Doch gleichzeitig ist da eine ungeheure Energie, wenn auch manchmal destruktiv und gewalttätig. Eine Lebenswut. Und eine lakonische Sprache, immer im Präsens und mit kurzen Hauptsätzen, die genau diese Energie vermittelt. April wird nicht gedeutet, nicht psychologisch ausgeleuchtet, genau das passt zu ihr, denn sie versteht sich selbst oft nicht, genauso wie sie ihren eigenen Gefühlen und Motiven nicht traut. Gänzlich unsentimental wird ihr Weg, ihr Stolpern ins Erwachsenenleben geschildert.

Selbstredend, dass das Buch autobiografische Elemente enthält. Ein großer Erkenntnisgewinn war jetzt für mich mit dem Lesen nicht verbunden, außer dass ich mir mal wieder wünschte, dass alle Eltern wirklich Eltern sein könnten. Aber ich bin beeindruckt von der Wucht der Sprache, der Fähigkeit der Autorin, mir ein Leben ganz nahe zu rücken. Am Ende wünsche ich dem ehemaligen „Rippchen“, dass sie Boden unter die Füße bekommt, die schlimmsten Wunden heilen und sie ihrem Kind nicht all das antun muss, was ihr angetan wurde.

Anmerkungen

Für den Roman hat Klüssendorfer den Herman-Hesse-Literaturpreis verliehen bekommen.

Hier liest die Autorin den Anfang des Buches vor und hier geht’s lang zu einigen Blog-Besprechungen:

Das sagt das Feuilleton:

Der Standard druckt ein Interview mit Klüssendorf ab.

Helene und Wolfgang Beltracchi: Selbstporträt (2014)

‚Du musst das verstehen: Sonst haben wir hier bald mehr Katzen als Ratten, und wer soll dann die Katzen jagen?‘ So wollte meine Mutter es mir erklären. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: ‚Außerdem haben die Bauern bei uns das schon immer so gemacht.‘

Ich war fünf Jahre alt, und sommers wie winters saß ich vor dem Katzenloch im Deelentor unseres Vierständerhofes, meinem Beobachtungsposten. Von hier aus hatte ich einen geschützten Blick auf meine Welt: ein winziges Dorf im Weserbergland am Rande des Teutoburger Waldes. Den Rücken gegen das warme raue Holz gelehnt, wartete ich auf meine Katze Minke, die jeden Moment durch die Klappe kommen konnte, schaute auf den lehmigen Weg, der vom Wald in den Ort hinaufführte, und auf den Dorfanger. Dort also wurden all die kleinen Kätzchen ertränkt.

Mit dieser Kindheitserinnerung beginnt die fast 600 Seiten starke Autobiografie Selbstporträt des wohl bekanntesten Kunstfälschers Wolfgang Fischer, der später den Namen seiner Frau angenommen hat: Wolfgang Beltracchi.

Beltracchi (*1951) schildert seinen Weg, der in eher ärmlichen und provinziellen Verhältnissen begann – der Vater war Kirchenmaler, die Mutter Lehrerin – über Marokko bis nach Frankreich, wo er als reicher Mann und glücklicher Familienvater heimlich seiner kriminellen Tätigkeit nachgeht.

Seine ersten Zeichnungen sind Aktzeichnungen, die er aus den Büchern des Vaters kopiert und anschließend seinen Kameraden verkauft. Mit 15 gaukelt er den Eltern vor, er wolle zu Beginn der Sommerferien ein paar Tage mit seinen Freunden verbringen, in Wahrheit trampt er nach Barcelona – war doch Picasso dort kurze Zeit Schüler an der Kunstschule gewesen – und verdient sich zwischendurch mit Pflastermalerei das nötige Kleingeld. Erst zweieinhalb Monate später kehrt er zurück. Danach kann er dem Leben in Geilenkirchen nun gar nichts mehr abgewinnen.

1967 versucht ein alkoholkranker Cousin, den die Mutter aufgenommen hatte, ihn umzubringen. 1968 fliegt er vom Gymnasium. Er bewirbt sich an der Aachener Werkkunstschule, die ihn zunächst ablehnt, weil sie glaubt, dass die Bilder, die er zur Aufnahmeprüfung einreicht, nicht von ihm seien. Sie seien zu gut. Erst als ein ehemaliger Kunstlehrer die Echtheit bestätigt, wird er aufgenommen. Doch auch diese Ausbildung bricht er ab.

Es folgen Wanderjahre durch Wohngemeinschaften, zahlreiche Frauenbetten und Länder – oft ziemlich vom Drogenrausch benebelt. Als Hippie testet er die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten immer wieder aus und glaubt, die Regeln und Einschränkungen des Spießerlebens hinter sich gelassen zu haben.

… das Leben war ein großes Experiment. Es wurde diskutiert, gekifft, getanzt und gevögelt. Wir wollten bewusster leben, der Konsum von Drogen […] sollte der Bewusstseinserweiterung dienen. […] Meine Leidenschaften tendierten in jenen Jahren etwa zu dieser Reihenfolge: Frauen, Kiffen, Kunst, Kuchen, Musik, LSD.  (S. 64 und 65)

Nach zehn Monaten im Amsterdamer Drogensumpf kommt er zurück nach Deutschland. Der Kontakt zu seinem wesentlich älteren belgischen Schwager André, einem Zigaretten- und Kaffeeschmuggler, intensiviert sich. Die beiden klappern alle Trödel- und Antikmärkte ab, da Wolfgang offensichtlich Talent darin besitzt, Gemälde zu entdecken, die man mit Gewinn weiterverkaufen kann.

Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, Bilder mit Details aufzuhübschen, die ihren Marktwert steigern. Irgendwann kommen sie auf die Idee, dass Wolfgang auf alt getrimmte Bilder gleich selbst herstellen könne. Er wird keine Kopien malen, sondern Bilder im Stile der Künstler, beispielsweise Bilder, die als verschollen galten. Er selbst gibt die Anzahl der von ihm gefälschten Bilder mit ungefähr 300 an. André wird dann sein erster Hehler, der ihn auch darin unterstützt, eine umfangreiche Kunstbibliothek aufzubauen. Im Vor-Internet-Zeitalter unabdingbar für einen erfolgreichen Kunstfälscher.

Ein Jahr zuvor hatte ich ‚Die Kuh‘ für 5000 Mark nach Berlin an Heinz gegeben. Nun steigerte sich ihr Wert auf über 100.000 Dollar. 1987 wurde sie in München in der Galerie Harald Wolf ausgestellt und im selben Jahr bei Christie’s in London anonym versteigert; erst 2006 wurde sie, abermals bei Christie’s, wieder angeboten; inzwischen kostete sie etwa 650.000 Dollar. (S. 228)

Er konzentriert sich in seiner Tätigkeit vor allem auf Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Campendonk und Max Ernst.

Ohne mit der Wimper zu zucken, rechtfertigt Beltracchi noch im Nachhinein seine Entscheidung, Anfragen von Galeristen, die an echten Beltracchis interessiert waren, abzulehnen, mit seinem moralischen Empfinden:

Die Daseinsform eines werktätigen Malers, die damit verbunden gewesen wäre, stieß mich ab. An öffentlichem Erfolg war ich nicht sonderlich interessiert […] Warum hatte ich all die Jahre gegen gesellschaftliche Normen gelebt? Nur um mich jetzt für ein bisschen Erfolg und Anerkennung dem Mief zu unterwerfen? Ich kannte doch die Erfolgreichen, die bei jeder Vernissage ihre Show abzogen, den ‚Künstler‘ mimten, auf donnernden Applaus hofften; wenn sie einmal mit einer Rolle begonnen hatten, mussten sie sie immer weiterspielen. […] Für mich war es eine Frage der Moral, mich diesen Verlockungen zu widersetzen. Meine Ablehnung gründete auf einen Anarchismus, der vor allem gegen die Kunst-Gesellschaft und ihr Regelwerk gerichtet war. […] Mein Terror zielte darauf, die Aufrichtigkeitsillusion eines Publikums zu zerstören, das die Akteure dieses Kunstmarkt genannten Schmierentheaters würdigt. (S. 142 und 143)

So nimmt eine beispiellose Jahrzehnte lange und finanziell immer einträglichere Fälscher- und Betrügerkarriere ihren Anfang, die erst mit der Entlarvung 2010 und dem Prozess 2011 an ihr Ende kommt.

Daneben ist es der Rückblick eines Hippies, der von sich selbst sagt, dass die Geburt seines Sohnes Manuel alles verändert habe:

Nachdem ich fast zwei Jahrzehnte wie ein psychedelisches Karnickel durch Europa gehoppelt war, reiste ich jetzt seltener, verzichtete auf meine nächtlichen Abenteuer und lebte zurückgezogen auf dem Lande.

Und 1992 trifft er seine große Liebe Helene Beltracchi, die er ein Jahr später heiratet und die, wie auch der Komplize Otto Schulte-Kellinghaus, dafür zuständig war, Gutachten von Sachverständigen zu besorgen, um anschließend die Gemälde in den Kunstmarkt einzuschleusen zu können. In mehreren Kapiteln schildert sie die Geschichte aus ihrer Sicht.

Ich habe schon lange keine Autobiografie mit solchem Interesse gelesen. Stellte sich mir am Anfang noch die Frage, ob denn wenigstens hier alles seine Richtigkeit habe, war mir das überraschend schnell völlig egal. Schon allein die Schilderung der Jugendjahre hätte für mich die Lektüre gelohnt. Die Freude am Schlittschuhlaufen, die Langeweile in der Schule, der Unsinn, den man mit den Freunden macht. Beltracchi ist ein großartiger Erzähler.

Anfang der Sechziger spielt die folgende Szene:

Und es kam noch schlimmer: In diesem Sommer fiel uns auch die Kuh eines Bauern zum Opfer. Mein Freund Rainer hatte uns gesteckt, dass sein Vater eine Handfeuerwaffe besaß. Äußerst fasziniert, überredeten wir ihn, die Pistole zu einem unserer Treffen im Wald mitzubringen. Wir waren zu dritt; jeder wollte einmal auf die am Waldrand aufgestellten Flaschen zielen; in unserem Eifer war uns freilich nicht aufgefallen, dass sich dahinter eine Kuhweide befand. Erst als eine der Kühe laut muhend umfiel, merkten wir, was wir angestellt hatten. Die Kuh lag noch im Sterben, als der Bauer mit seinem Trecker über die Wiesen auf uns zugerast kam. Er hatte die Schüsse gehört. Wir: entgeistert vor der toten Kuh. Er: vom Sattel springend und mit der Mistgabel in der Hand auf uns zurennend. (S. 35/36)

Die Ausbruchversuche aus der Provinz, die Sehnsucht nach der weiten Welt. Die Verbitterung, die Wut, die man als Jugendlicher erlebt, wenn man – weil man in abgetragener Kleidung zum Tanzunterricht kommt – gedemütigt wird.

Mal hier, mal dort zupfte er (der Tanzlehrer) an den Probanden herum. Dann stand er vor mir. Verächtlich, vielleicht sogar leicht angewidert, als müsste er einen Misthaufen begutachten, wanderte sein Blick betont langsam von den zu großen Schuhen über den speckig glänzenden Anzugstoff an mir hoch und blieb schließlich an meinem Schlips hängen. Mit zielgerichtetem Griff riss er ihn nach unten und ließ ihn mir ins Gesicht zurückflitschen. Sekunden später lag er mit blutiger Nase auf dem Rücken, und der Tanzunterricht war für mich beendet. Bis heute kann ich keinen Walzer tanzen, und nie mehr in meinem Leben habe ich einen Schlips getragen. (S. 39)

Es ist ein tolles Buch mit dem Blick für die entscheidenden Szenen, mit natürlich wirkenden Dialogen, witzigen Passagen und vielen, vielen Geschichten; selbstverständlich auch inszeniert, welche Autobiografie wäre das nicht? Außerdem eine anrührende Liebesgeschichte. Er sieht Helene und weiß, diese Frau will er heiraten.

Heute liebe ich ihre grauen Strähnen genauso wie damals ihre blonden Haare, ihre dünner gewordene Haut, die mich ihr Inneres besser sehen lässt, ihre Augen, jetzt etwas müder, aber noch immer voll Liebe für mich, ihre Falten und Fältchen, die mich daran erinnern, dass unsere Liebe im Lauf der Zeit zwar größer geworden ist, die Zeit selbst aber kürzer wird, weil wir im Herbst unseres Lebens angekommen sind. (S. 276)

Da sich der Erzähler als Mensch zu erkennen gibt, zieht er natürlich meine Sympathie auf sich, sei es beim Tod seiner Mutter oder wenn er sich Sorgen um die Gesundheit seiner kleinen Tochter macht oder als er verrückt vor Sorge ist, als seine Frau an Brustkrebs erkrankt.

Genau diese Ich-Perspektive ist aber auch die – reizvolle – Falle, in die man als Leserin hineinzutappen droht. Leicht könnte man der Gefahr erliegen, mit dem Betrüger zu zittern, ob er wohl die Schmuggelware unentdeckt über die Grenze bringt, ob ein geplanter Coup gelingt oder nicht.

So ist das Buch auf altmodische Weise spannend und gleichzeitig lehrreich, sowohl was einzelne Künstler als auch den Kunstmarkt angeht. Ich weiß jetzt nicht nur, was es mit dem Loplop, Manzonis Künstlerscheiße und der Frage, wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, auf sich hat, sondern auch, dass jemand in manchmal nur wenigen Stunden ein Bild malen kann, für das er dann Hunderttausende Euro bekommt. Und dabei völlig ausblendet, dass er seinen gepflegten Lebensstil auf einem Weingut in Frankreich dadurch finanziert, dass er Menschen etwas andreht, was die nie im Leben hätten haben wollen.

Ein kreatives, manchmal dämliches, bis 1985 von Drogen vernebeltes und betrügerisches Leben mit vielen Reisen und Begegnungen. Eine schillernde Hauptfigur, ein Zocker, ein Liebender, außerordentlich begabt, intelligent, auch handwerklich unglaublich geschickt, gleichzeitig auch mit außerordentlich krimineller Energie und einem erstaunlich gering entwickelten Unrechtsbewusstsein ausgestattet.

Als einige Fachleute mehr über die Herkunft einzelner Bilder wissen wollten, beschließt er kurzerhand, der Legende, dass die Bilder aus der Sammlung der Großeltern seiner Frau stammten, Leben einzuhauchen. Sie besorgen sich Fotoapparate, Papier, Kleidung und Möbel aus den dreißiger Jahren und lichten Helene Beltracchi als ihre eigene Großmutter vor gefälschten Bildern ab.

Kein schlechtes Gewissen, sondern nachvollziehbarer Stolz auf die eigene Leistung erfüllte ihn, wenn sogar Angehörige von verstorbenen Malern seine Bilder als echt, ja als das beste Werk des Künstlers lobten. Noch während des Gerichtsprozesses 2011 macht er keinen Hehl daraus, dass sich sein schlechtes Gewissen, die Bilder gemalt zu haben, doch sehr in Grenzen halte. Das Einzige, was ihm vermutlich wirklich in Bezug auf seine Gesetzesübertretungen leid tut, dürfte die Tatsache sein, dass er sich und vor allem seine Frau damit ins Gefängnis gebracht hat.

Er gibt zu, dass er an seiner Fälschertätigkeit den Nervenkitzel genossen habe. Das Abenteuer. Den Reiz des Risikos, der sein Leben in einer dauernden Spannung hielt, die er heute durchaus vermisse. Auch die Gier der Händler hätte – zum Beispiel in den achtziger Jahren – sein Tun doch sehr erleichtert.

Die Händler gierten damals nach frischer Ware. Der Markt boomte. Alles, was ich produzierte, riss man mir praktisch aus den Händen. Die Händler trugen ihre Gemäldewünsche an Otto heran, als ob sie ein unerschöpfliches Reservoir witterten … (S. 229)

Er und seine Frau werden in dem Buch nicht müde, die Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter und zu dem Sohn Wolfgangs aus einer anderen Beziehung zu beschwören – das will ich auch gar nicht in Abrede stellen -, aber gab es nie einen Gedanken daran, was mit den Kindern passieren würde, wenn sie auffliegen? Dass der ganze Luxus, den man ihnen über die Jahre geboten hat, doch auf mehr als tönernen Füßen beruhte?

Also, ich höre schon Hollywood.

Anmerkungen

Liest man Zeitungsartikel zu dem weltweit Aufsehen erregenden Prozess, Interviews mit Beltracchi oder auch Rezensionen zu dieser Autobiografie, dann fällt auf, dass diese oft in Schwarzweiß-Malerei verfallen und überraschend emotional daherkommen. Gorris und Röbel beschimpfen ihn im Spiegel als größenwahnsinnigen Hippie-Arsch, der zur Reue ganz unfähig sei.

Andere werfen ihm vor, dass er immer noch nur seine eigene Vermarktung im Kopf habe – nicht nur die Autobiografie, nein auch noch die Briefe, die er sich mit seiner Frau im Gefängnis geschrieben hat, werfe dieser geschäftstüchtige Gauner nun auf den Markt. Und eine weichgespülte Dokumentation – pikanterweise vom Sohn des Verteidigers – gibt es auch schon.

Manchmal ist da der Neid auf die von den Beltracchis fröhlich genutzten Millionen und den edlen Lebensstil und eine heuchlerische Empörung deutlich herauszuhören. Ich bezweifle, dass sehr viele Menschen standhaft bleiben würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, auf illegale und persönlich befriedigende Weise steinreich zu werden.

Andere wiederum sehen in ihm trotz allem einen langhaarigen Sympathieträger, einen Schlawiner in Jeans, der es den geldgierigen Spekulanten am Kunstmarkt mal so richtig gezeigt habe, indem er die ganzen Sachverständigen, die seine Bilder als echt deklarierten, ziemlich alt aussehen ließ. Was auch erklärt, dass diverse Gutachter und Galeristen keinerlei Interesse daran hatten, im Prozess auszusagen.

Eine dritte Gruppe mäkelt und nörgelt, er sei doch gar kein Künstler und im Grunde völlig unkreativ, er habe nur Stile kopiert und nie etwas Eigenes und Originelles geschaffen. Beltracchi sagt allerdings, dass ihn die „verzweifelte Suche nach Originalität“ nie interessiert habe, er habe alles, was er habe ausdrücken wollen, in seinen Bildern mitteilen können.

Genau diese Widersprüchlichkeiten zeigen, wie facettenreich, begabt, spannend und frech dieser Mann ist. Das ändert nichts daran, dass seine Betrügereien illegal waren und der finanzielle Schaden, den er und seine Komplizen angerichtet haben, enorm ist.

Sicherlich hat Beltracchi auch recht, wenn er süffisant darauf hinweist, dass es wohl kaum sein könne, dass viele seiner Bilder eine von Fachleuten attestierte „Aura“ innehatten, von dieser nach seiner Entlarvung aber plötzlich nichts mehr zu spüren sei. Da habe die Aura wohl doch eher am Preisschild gehangen.

Nicole Balschun: Ada liebt (2011)

Ada lebt eher in und für ihre Bücher, sie studiert Literaturwissenschaften und anschließend pusselt sie an ihrer Doktorarbeit herum, weil sie keine Ahnung hat, was sie sonst machen könnte. Sie trifft Bo zum ersten Mal bei der Beerdigung ihrer Tante. Bo ist einer der Sargträger und lässt aus Versehen das Gesangbuch, das er ohnehin falsch herum hält, ins offene Grab fallen. Er ist blond und kräftig und sein Haus müffelt immer streng nach Landwirtschaft, denn er ist Bauer und besitzt Kühe und Schweine. Seine Leitsau hört auf den hübschen Namen Siegfried.

Damit ist klar: Die beiden passen auf den ersten Blick so gar nicht zusammen – was auch Adas Vater nicht müde wird zu betonen – aber dennoch genießen beide ihre gemeinsamen Wochenenden bei Bo auf dem Hof. Sie liest ihm aus ihren Büchern vor, die er immer kräftig kommentiert, und sie leiht sich sogar landwirtschaftliche Fachbücher aus der Bücherei aus. Aber gleichzeitig macht sie deutlich, dass sie das nicht wirklich interessiert, und sie weigert sich beharrlich, ihm auf dem Hof zu helfen. Sie hat Angst vor den Kühen und kann außer Fertiggerichten und Tiefkühlpizzen auch nichts Essbares auf den Tisch bringen. Er muss ihr versprechen, sie niemals zu heiraten.

Ein skurriles Paar: Ada, die durchaus als verschroben gelten darf und die letztlich fürchterliche Angst hat, was wohl passiert, wenn ihr das Leben mal richtig nahekommt und sich nicht hübsch kontrollierbar in Büchern abspielt – kein Wunder, bei den Eltern, die ebenfalls etwas aus der normalen Elternart geschlagen sind und die Handlung wie ein moderner Chor kommentieren – und der anpackende, kluge, im Leben stehende Landwirt.

Das Buch kommt zwar von Cover und und Aufmachung leider als Trivialliteratur rüber: „Eine Liebesgeschichte mit Heulgarantie“, doch das täuscht trotz des etwas staksigen Anfangs. Letztlich stellt es auf anrührende und auch witzige – und bestimmt filmtaugliche Weise – die Frage, was Liebe denn nun ist und wie viel Unterschiedlichkeit ein Paar aushalten kann und wie viele Gemeinsamkeiten notwendig sind. Und wie das ist, wenn man den Wald vor lauter Bäumen und Buchgedanken gar nicht mehr sehen kann.

Bo hat das besser als Ada verstanden: Eine Woche, nachdem Ada sich ihre Sneakers auf dem Hof ruiniert hat,

standen kleine Gummistiefel neben Bos großen und er sagte, melken musst du trotzdem nicht. Es zuckte durch meinen Bauch, denn bei Bo Stiefel haben war, als würde zu Hause eine zweite Zahnbürste im Becher stehen. (S. 86)

Und Bo ist es auch, der eine ganz besondere Liebeserklärung schickt, nachdem Ada beschlossen hat, ihn nicht mehr zu treffen: Sie findet eine Karte mit dem Konterfei Siegfrieds im Briefkasten mit der Aufschrift:

Du fehlst mir gar nicht. Siegfried. (S. 105)

Was ein bisschen dürftig war, waren die Andeutungen, weshalb sie nun ihre Doktorarbeit mit dem Thema ‚die unemanzipierten Frauen von damals‘ nicht mehr schreiben könne, da heute ja noch alles genauso sei und die Frauen eben immer noch nicht gelernt hätten, wie man nun emanzipiert mit dem Mann leben könne, wenn man ihn denn gefunden habe.

Aber das ändert nichts daran: Dieses Debüt, diese „luftige, frühlingshafte Prosa über die verschiedenen Stufen der Liebe“ (Anja Hirsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Februar 2011) hat es in sich und lohnt die Lektüre.

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Thomas Willmann: Das finstere Tal (2010)

Als der Fremde mit seinem Maultier das Hochtal erreichte, lag in der Luft schon der Geruch des ersten Schnees. Der Atem des Mannes und des Tieres malte kleine Wolken in die klare Luft, und er ging schwer – die beiden hatten den felsigen Anstieg hart genommen, um vor dem Mittag ihr Ziel zu erreichen.

Mit diesen Sätzen beginnt der Ende des 19. Jahrhunderts spielende Alpen-Western Das finstere. Tal von Thomas Willmann.

Schnell wird dem Leser klar, der Fremde namens Greider ist nicht der harmlose und um ein Winterquartier bittende Maler, der er zu sein vorgibt. Zwar gewöhnt er die misstrauischen und extrem verschlossenen Dorfbewohner geduldig an seine Anwesenheit, doch in Wirklichkeit ist er in bester Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod-Manier unterwegs, um eine spezielle Mission in dem einsamen und im Winter vom Rest der Welt abgeschnittenen Hochtal zu erfüllen.

Der Rächer nimmt sozusagen im Alleingang den Kampf gegen die Terrorherrschaft des Brenner-Clans auf. Und im Laufe der Handlung erfahren wir in dramatischen Rückblenden auch, warum Greider auf diesen Rachefeldzug gezogen ist.

Die Sprache passt:

Der Hof kauerte unter dem lastenden Schnee wie ein bösartiges Tier. Massig und gedrungen wirkte das matte Schwarz seiner Holzverkleidung, aus dem die Nachmittagssonne das Glas der Fenster blitzen ließ. So lauernd das große Haus ins Ende des Hochtals geschmiegt war, hätte man es inmitten des alles bedeckenden Weiß für den Eingang einer Höhle halten mögen, aus dem ein Wesen einen mürrischen Blick heraus tat, vielleicht in der Hoffnung auf Beute, die durch die langen, zurückgezogenen Wintermonate Zehrung geben könnte. (S. 57)

Leider ist die Figurenzeichnung arg reduziert; der Oberschurke, der alte Brenner, und seine sechs Söhne sind über alle Maßen grauslig und brutal. Der böse Schmied, den Brenners hörig, ist schon fast kein Mensch mehr, eher ein gigantisches Monster. Ein Alpenkrimi-Western, bei dem ich mir mehr Zwischentöne und ein bisschen weniger Detailgenauigkeit bei den grausamen Szenen gewünscht hätte.

Willmann verweist ja selbst in seiner Danksagung am Ende des Buches auf seine zwei seltsamen Schutzheiligen, denen das Buch „anempfohlen sei: Ludwig Ganghofer und Sergio Leone.“ (S. 318 der Taschenbuchausgabe)

Aber, und es ist ein großes Aber: Ein spannendes, eigenwilliges und fantastisch geschriebenes Buch ist es allemal.

Anmerkungen

Hier geht’s lang zu den Besprechungen auf Durchleser’s Blog, beim Kaffeehaussitzer und auf dem leider noch ein wenig unpersönlich daherkommenden Blog buecherrezension. Inzwischen hat sich auch die Nette Bücherkiste in die Reihe der Leser und Leserinnen eingereiht.Allgäu0019

Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich so, wie es nie war (2013)

Mein erster Toter war ein Rentner. Lange bevor in meiner Familie ein Unfall, eine Krankheit und Altersschwäche die nächsten geliebten Menschen verschwinden ließen, lange bevor ich hinnehmen musste, dass der eigene Bruder, der zu junge Vater, die Großeltern, ja selbst der Kindheits-Hund nicht unsterblich waren, und lange bevor ich in ein zwanghaftes Dauergespräch mit meinen Gestorbenen geriet – so heiter, so verzweifelt -, fand ich eines Morgens einen toten Rentner.

Mit diesem Satz beginnt der zweite Erinnerungsband des Schauspielers Joachim Meyerhoff, in dem er aus seiner Kindheit erzählt. Sein Vater war der ehemalige Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig.

Die Erinnerungen beginnen kurz nach seinem siebten Geburtstag und enden, als er ca. Mitte zwanzig ist. Dabei kreisen viele der Geschichten um den schwer übergewichtigen Vater, der so gerne abnehmen möchte und Bücher und Zeitschriften und Zeitungen in sich hineinstopft und sich danach an alles erinnern kann, was er gelesen hat.

Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so wahllos hochgebildet war wie mein Vater. Er konnte sich für die Deutsche Hitparade genauso begeistern wie für die Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Er studierte die täglichen Werbeprospekte mit derselben innigen Begeisterung wie Hölderlin-Gedichte. Nichts war ihm zu entlegen, dass es nicht wert gewesen wäre, es zu wissen. (S. 171)

Der Vater geht in seiner Arbeit mit den Kranken völlig auf und fühlt sich unter ihnen wohler als unter Gesunden. Zu seinen Geburtstagen kommen nicht etwa Freunde oder Verwandte zu Besuch, sondern eine kleine Schar von Psychiatriepatienten, z. B. Ludwig.

Ludwig trug ausnahmslos Latzhosen und hakte, wenn er nicht gerade tastend seine blassen Nosferatu-Finger über den Tisch krabbeln ließ, seine Daumen unter die Verschlüsse der Träger. Er hatte Todesangst vor unserem Hund, wünschte sich aber nichts sehnlicher, als ihn zu streicheln. (S. 69)

Vater Meyerhoff wird nicht müde, seine Söhne zu Toleranz zu erziehen, und wenn sich einer der Jungen weigert, bei der Geburtstagsfeier des Vaters neben einem übergewichtigen Mädchen mit  deformiertem Kopf zu sitzen, dann ist er es, der auf die verborgene Schönheit eines jeden Menschen aufmerksam macht.

Eindringlich sprach er darüber, wie verwundert er oft sei, wenn er die Patienten nachts in ihren Betten sehe: ‚Da denke ich, ich kenne ein Mädchen seit Jahren, und plötzlich sehe ich sie schlafen. Entspannt, ruhig atmend, mit einem völlig anderen Gesicht. Und dieses arme Mädchen, das den ganzen Tag Fratzen schneiden muss und sich die Hand an den Kopf schlägt, das liegt dann da und ist wunderschön. (S. 71)

Doch dieser Seelenfachmann macht als Vater nicht immer die beste Figur. Der älteste Sohn taucht ab in sein muffiges Zimmer, das nur notdürftig von mehreren 100-Liter-Aquarien erhellt wird, der mittlere Sohn bekommt 20 Pfennig zugesteckt, wenn er es schafft, einen Tag lang mal nicht zu weinen. Und der jüngste, Joachim, wird von seinen Brüdern pausenlos gepiesakt. Sie erzählen ihm beispielsweise, dass er eigentlich ein adoptiertes Kind aus der Psychiatrie sei.

Joachim schließlich neigt zu Tobsuchts- und Jähzornanfällen, vor denen nichts und niemand sicher ist, hat Mühe, Lesen und Schreiben zu lernen und wird von der Grundschule suspendiert – heute würde mal wohl ADHS diagnostizieren.

Er kommt, nachdem er Winnetou gesehen hat, auch auf die etwas abseitige Idee, den von ihm geliebten Familienhund zum Blutsbruder zu machen. Nach dieser Aktion ist der Hund nie mehr gemeinsam mit ihm in den Keller gegangen.

Joachim liebt die Momente, in denen er seinen Vater in dessen Behandlungszimmer besuchen darf und von ihm fachgerecht abgeklopft und untersucht wird.

Mein Vater untersuchte mich mit wirklicher Hingabe, und ich genoss die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mir widmete. (S. 152)

Die Mutter steht weniger im Zentrum, hat aber auch nicht immer ein glückliches Händchen in der Erziehung. Als sie beispielsweise von einem ihrer Kinder ein selbstgemaltes Bild geschenkt bekommt, hängt sie es auf – im Zimmer eben dieses Sohnes.

Je älter der Ich-Erzähler wird, umso stärker wird die Zeit gerafft. Der Amerika-Aufenthalt, um den es schwerpunktmäßig in Meyerhoffs erstem Buch ging, wird auf wenigen Seiten zusammengefasst.

Schließlich erkrankt der Vater schwer. Die Mutter kehrt aus Italien zurück, um sich um ihren Mann zu kümmern. Und da kommt es zu einem innigen Moment zwischen Sohn, Mutter und Vater – für mich eine der rührendsten Szenen des Buches.

Diesmal ist mein Leseeindruck zwiespältig.

Beeindruckend ist auch hier die Unbefangenheit im Umgang mit den Psychiatriepatienten, den Menschen, die einfach anders sind, was Joachim und seine Brüder allerdings nicht daran hindert, sich auch derbe über die Kranken lustig zu machen.

Über tausend Patienten lebten damals auf dem Klinikgelände und das Haus der Direktorenfamilie lag mittendrin. Jahrelang glaubte Joachim, dass die Außenmauern und Tore zum Schutz vor Eindringlingen von außen gedacht seien. Die Meyerhoff-Söhne spielen mit den gleichaltrigen Kranken. Es ist eben normal, dass nicht alle „normal“ sind, was sich auch beim alljährlichen Spektakel des Krippenspiels zeigt.

Natürlich war die Spielweise je nach Station völlig verschieden. Da der Psychiatriegottesdienst gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie gefeiert wurde, gab es auch Krippenspiele mit für immer eingesperrten Sexualstraftätern, sogar mit Mördern, bei denen hinter jedem Hirten sprungbereit ein riesiger Pfleger stand. Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in der Zwangsjacke habe ich gesehen. (S. 141)

Wie auch bei Alle Toten fliegen hoch findet Meyerhoff oft wunderbar treffende Bilder:

Ich habe Frauen oder Mädchen gesehen, die hingen an ihren Zigaretten wie an einem seidenen Faden aus Rauch über einem schwarzen Abgrund. Geredet wurde kaum. (S. 31)

Und auch der trockene Witz machen wieder Spaß. Es ist schwierig, bei manchen Stellen nicht laut loszuprusten, z. B. bei der Beschreibung der Wikingertage, die alljährlich in Schleswig stattfinden, oder bei der Schilderung, wie der damalige Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg zur Einweihung eines neuen Klinikgebäudes kam und am Ende von seinen Leibwächtern …

Meyerhoff kann erzählen, Pointen setzen und Dialoge schreiben, in denen alle Protagonisten ihre ganz eigene Stimme haben. Er erzeugt eine Unmittelbarkeit, dass man meint, man sitze bei Meyerhoffs mit am Tisch. Man ist gerührt, entsetzt, betrübt und amüsiert. Und seine ungewöhnliche Kindheit bietet dafür Stoff in Überfülle (die Frage, wie viel davon wahr ist, umgeht Meyerhoff in Interviews dabei immer ganz luftig mit dem Hinweis, dass Erfinden immer Erinnern bedeute).

Dennoch:

Das Anekdotenhafte, die Beschreibung der Vorgänge aus der Außensicht,  verhindert – vor allem im letzten Drittel – hin und wieder den Blick auf das Innenleben der Figuren. Was mich aber vor allem gestört hat, war im letzten Teil das Fehlen einer Struktur, immer wahlloser wurden Anekdoten aneinandergereiht, bis ich den Eindruck hatte, jemand habe einen großen Kasten bunter Legosteine ausgeschüttet, aus denen ich jetzt etwas bauen soll. Die Steinchen sind bunt und vielversprechend, doch die Frage, was da gebaut werden soll, scheint im Vorfeld nicht so richtig geklärt worden zu sein.

Zwar überlegt Meyerhoff selbst, was denn nun der rote Faden sein solle, doch ein bisschen mehr Stringenz in der Auswahl der Erinnerungspäckchen hätte mir gut gefallen.

Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?

Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? […] Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich  mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten. (S. 348)

Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch (2011)

Mit achtzehn ging ich für ein Jahr nach Amerika. Noch heute erzähle ich oft, dass es ein Basketballstipendium war, aber das stimmt nicht. Meine Großeltern haben den Austausch bezahlt.

So – quasi mit einer Mini-Inhaltszusammenfassung – beginnt das fantastische Buch von Joachim Meyerhoff.

Der 1967 geborene Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller schrieb ursprünglich autobiografische Texte für die Bühne und daraus hat sich ein größeres Buchprojekt entwickelt. Im ersten Band Alle Toten fliegen hoch geht es um den siebzehnjährigen Joachim, der in der norddeutschen Kleinstadt Schleswig aufwächst und – ganz untypisch für einen Coming of Age-Roman – keinerlei nennenswerten familiären Probleme hat. Noch in Amerika betont er:

Dass ich nicht vor ihnen [gemeint sind seine Eltern] geflohen, keiner durch Lieblosigkeit oder Repressalien verdunkelten Welt entkommen war und sie sehr vermisste.

Im Laufe der Geschichte erinnert sich Joachim immer wieder an Erlebnisse aus seiner Kindheit.

Das mit der Glasschiebetür ist mir selbst widerfahren. Ich konnte gerade laufen. Mein ältester Bruder setzte mich in einen Sessel und ging auf die Terrasse hinaus. Erst wenn er meinen Namen rief, durfte ich vom durchgesessenen Blumenmustersessel hinunterkrabbeln und auf meinen noch wackeligen Beinen durch das Zimmer hinaus ins Freie, in seine Arme rennen. Über die Bodenschienen der Schiebetür hätte ich jedes Mal einen niedlichen Hopser gemacht. Angeblich konnte ich von diesem Im-Sessel-Sitzen und Auf-Kommando-ins-Freie-Laufen im Gegensatz zu meinem Bruder nicht genug bekommen. Schon in seinen Armen, den Bruderarmen, hätte ich ‚Noch mal! Noch mal!‘ gerufen. Nach dem zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten ‚Noch mal! Noch mal!‘ setzte mich mein Bruder wieder in den Sessel und zog die Schiebetür zu, um herauszufinden, ob ich schon wüsste, dass man nicht durch Glas gehen kann. Ich wusste es nicht und donnerte mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass meiner Mutter vor Schreck das Buch bis an die Zimmerdecke flog […] Wie eine unsichtbare Faust hatte mich die Scheibe auf dem Weg in die weit geöffneten Arme meines Bruders niedergestreckt. […] Mein Bruder wurde ermahnt, keine Experimente mit mir zu machen, und in sein Zimmer geschickt. (S. 7/8)

Im Großen und Ganzen also Provinzidylle pur, zwei manchmal nervende ältere Brüder, die ebenfalls das Gymnasium besuchen, der Vater ist Arzt in der Psychiatrie und den obligatorischen Familienhund gibt es auch. Alles nicht weiter aufregend.

In meiner Stadt war Stille noch der Urzustand. Beruhigend, aber eben auch anstrengend, da man immer alleine von vorn anfangen musste, Lärm zu machen. Kein Weiterreichen, kein Einklinken – jeder für sich allein in seiner Stille. So brummten auch die Autos an mir vorbei. Aus der Stille kommend, in die Stille fahrend. Die Ziele dieser Autos erfüllten mich mit Langeweile. Garagen oder verkehrsberuhigte Wohnstraßen. Und während der Motor noch warm war, krabbelten die Kleinstädter in ihre heimeligen Betten und versanken gedankenlos in eben dieser Stille. Wie vereinzelt hier alles war. Einzelne Häuser, einzelne Autos, einzelne Bäume. (S. 60/61)

So beschließt Joachim, sich für ein Auslandsjahr an einer High School in Amerika zu bewerben. Beim Auswahlverfahren in Hamburg fürchtet er allerdings, nicht mit den weltgewandteren Großstadtkids konkurrieren zu können. Um trotzdem einen Platz im Austauschprogramm zu ergattern, lügt er beim entscheidenden Fragebogen, dass sich die Balken biegen. Er kreuzt an, dass er tiefreligiös und naturverbunden sei und deswegen am liebsten aufs Land wolle. Nur bei der Frage, ob er irgendeine Sportart bevorzuge, antwortet er wahrheitsgemäß: Er möchte Basketball spielen.

Und so nimmt die Sache ihren Lauf: Er landet mit miserablen Englischkenntnissen in der tiefsten amerikanischen Provinz, am Rande von Laramie in Wyoming, bei einer streng religiösen Familie und muss ab sofort dreimal die Woche mit zum Gottesdienst. Mehr möchte ich eigentlich gar nicht verraten, denn das Buch ist übervoll mit wahnwitzigen Geschichten und Begegnungen – ein bisschen wie Blasmusikpop von Vea Kaiser, mit dem Unterschied, dass hier sich vieles wirklich so oder ganz ähnlich abgespielt haben dürfte.

Fazit

Ich wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Wen würde er treffen oder kennenlernen? Welche Überraschungen würde der Unterricht an der High School bereithalten, von den seltsamen Lehrern dort ganz zu schweigen, und würde er es schließlich ins Basketballteam schaffen?

Einer der Lehrer nimmt ihn mit zu einer Besichtigungstour ins Gefängnis und ist enttäuscht, als Joachim sich nicht auf dem elektrischen Stuhl fotografieren lassen möchte. Die Leiterin des Drama Club hingegen

kam dann auf die Bühne, tippte sich mit dem Zeigefinger in die Augenwinkel, zeigte ihn herum und strahlte: ‚Hey, come on! What did you do to me? Tell me, what’s that? WHAT’S THAT? TEARS. For heaven’s sake. THESE ARE TEARS. Jesus, you are so intense, you made me cry!‘ Alle klatschten. Wir beklatschten sie, weil sie weinte, und uns, weil wir sie zum Weinen gebracht hatten. (S. 151)

Wir begleiten den Ich-Erzähler dabei, wie er ein Stück weit erwachsener wird, mit allem, was dazugehört. Er muss zurechtkommen mit Liebe, Freundschaft, Sex, Egoismus, Fehlbarkeit, Verlust, Trauer, Irrwitz und existenziellem Schrecken.

Er schaut ganz genau hin, auch wenn’s wehtut. Dabei ist aber eben keine oberflächlich-lockerflockige Anekdotensammlung entstanden, sondern ein oft genug wirklich anrührender und zarter Blick in das Innenleben eines jungen Menschen. Das kommt so frisch, absurd und unmittelbar daher, als hätte der Autor das Ganze erst gestern erlebt.

Meyerhoff schreibt entwaffnend ehrlich und vor allem oft urkomisch – mit dem perfekten Gespür für den Moment der Pointe. Mit Staunen, Toleranz und großer Unbefangenheit nimmt der jugendliche Held die manchmal schöne und manchmal sehr befremdliche Welt um sich herum wahr. Und seine Schilderung von Trauer ist derart, dass einem ganz fröstelig wird, weil man weiß, ja genau so ist das.

Durch das Jahr in Amerika ist auch ein sinnvoller Spannungsbogen garantiert. Und ich habe einige Dinge über Amerika gelernt, die in keinem Reiseführer stehen.

Anmerkungen

Hier ein Interview mit Iris Radisch, das einen guten Eindruck vom Autor vermittelt, und hier ihre Leseempfehlung auf ZEIT online, über die ich mich ein bisschen gewundert habe. Radisch klingt, als würde das Buch überwiegend in der deutschen Provinz spielen, dem ist nun nicht so.

Und hier geht’s lang zu den begeisterten Rezensionen der FAZ und von Dr. Christian Koellerer.

Heide Soltau schreibt im NDR: „Das Buch folgt dem Muster des klassischen Entwicklungsromans. Mit Witz und Charme und ganz ohne Larmoyanz erzählt er von den inneren und äußeren Nöten eines Jugendlichen, der mit der Reise nach Amerika auch die eigene Kindheit, das Reich der Toten und die Welt der Erwachsenen bereist. Das ist keine Selbstbespiegelung, sondern gelungene Literatur.“

Im Deutschlandfunk schreibt Günter Kaindlstorfer und in der TAZ schreibt Detlef Kuhlbrodt.

Elke Schmitter: Frau Sartoris (2000)

Die Straße war frei. Es nieselte, wie so oft bei uns in der Gegend, und die Dämmerung ging in Schwärze über – man kann also nicht sagen, daß die Sicht besonders gut war. Vielleicht habe ich ihn deshalb erst sehr spät gesehen, wahrscheinlich aber doch, weil ich in Gedanken war. Ich bin oft in Gedanken. Nicht, daß etwas dabei herauskäme.

So beginnt Frau Sartoris, der 159 Seiten schmale, aber kraftvolle erste Roman der Journalistin Elke Schmitter.

Ein Hinweis vorweg: Trotz der Länge meines Posts gehe ich nur auf das erste Drittel der Handlung ein, d. h. es bleibt auch bei eigener Lektüre genügend zu entdecken.

Gleich zu Beginn erfahren wir also, dass Frau Sartoris einen Menschen angefahren hat. Anscheinend vorsätzlich. Und es dauert nicht lange, bis sie die Zeitungsartikel erwähnt, in denen von Fahrerflucht die Rede ist. Der Täter konnte unerkannt entkommen, das Opfer ist noch an der Unfallstelle verstorben.

In immer enger werdender Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart lässt Margarethe Sartoris, inzwischen Ende 40 und Mutter einer 18-jährigen Tochter, ihr Leben, ihre Ehe mit Ernst und ihr provinziell-unglückliches Leben Revue passieren.

Als hübsche junge Frau hat sich Margarethe in Philip verliebt, den sie bei einem Tanzkurs kennengelernt hatte.

… und dann begann der Unterricht mit einer Rumba. Das war immer mein Lieblingstanz. Man durfte die Hüften bewegen, man sollte sogar – und nicht so eilig wie beim Cha-Cha-Cha, sondern langsam und ausgreifend. Es gab mir ein süßes Gefühl, auf das Standbein zu wechseln, kurz innezuhalten und dann mit einer Verzögerung nach rechts auszuschreiten, in großem Abstand vom Partner, geordnet, aber voll Spannung. Ich liebte die einsame Drehung, die Bewegung ins Freie, die Geometrie des Ganzen und auch die Möglichkeit, sich lange anzusehen, bevor man wieder ein Paar wurde. Ich fühlte mich mächtig bei diesem Tanz, unwiderstehlich, vollkommen bei mir und doch auf ihn bezogen ohne Unterlaß. (S. 25)

Mit ihm ist sie glücklich und fühlt sich von einer Art Seligkeit getragen. Was sie miteinander sprechen, vergisst sie sofort. Erst verspätet – als sie längst schon ein Paar sind – wird ihr klar, dass Philip aus einer wohlhabenden Familie stammt. Aus Angst, ihn zu verlieren, spricht sie nicht mit ihm über ihre Ängste.

Ich konnte singen und tanzen, ich zeichnete recht gut, ich galt als Schönheit und konnte mir allerlei vorstellen. Aber wie ich meine Eltern und die Familie Rhienäcker miteinander bekannt machen sollte, das konnte ich mir nicht vorstellen. Wir sprachen nicht darüber. Ich wollte nichts zerstören, und ich verließ mich auf ihn. Er war in seiner Zärtlichkeit so sicher, in seiner Zartheit ganz auf mich bezogen, daß ich mir nichts anderes vorstellen wollte, als daß es immer so weiterging. (S. 33)

Es geht aber nicht so weiter. Ihr Mädchentraum zerplatzt, als Philip ihr einen Abschiedsbrief schreibt. Margarethe wird daraufhin mit einem Nervenzusammenbruch in ein Sanatorium eingeliefert, in dem sie Monate lang bleibt. Eine der ihr verordneten Übungen lautet, sich in einem Spiegel anzusehen.

Ich sollte sehen, daß ich ein hübsches junges Mädchen war und das Leben noch vor mir hatte. Aber was ich sah und wußte, löste nichts in mir aus. Der blaue Himmel freute mich nicht, die schlotternden Kleider schreckten mich nicht, der Käse schmeckte mir nicht. Daß meine Eltern mich liebten, das war eben so. Traurig für sie, dachte ich, aber ich dachte es nur, ich fühlte es nicht. Ich fühlte ja auch nichts für mich selbst. So ist es lange geblieben. (S. 37)

Nach ihrer Entlassung aus der Klinik ist sie eher die Beobachterin ihres eigenen Lebens, sie plant nichts und hofft nichts mehr und sagt selbst, dass sie überhaupt wenig über alles nachgedacht habe. Margarethe nimmt ihre Arbeit als Büroangestellte wieder auf und tritt „auf Geheiß“ ihrer Eltern in einen Kegelclub ein, in dem sie den gut aussehenden Ernst kennenlernt, der im Krieg ein Bein verloren hat. Besonders dessen Mutter Irmi mag sie sehr gern.

Vielleicht hätte Margarethe sich vollständig erholen können, aber dann liest sie in der Zeitung von Philips Verlobung mit einer Bankierstochter. Sie reagiert quasi automatisch, von ihren Gefühlen getrieben. Immer noch auf ihn fixiert, beschließt sie, dass Philip auf keinen Fall der erste sein dürfe, der heiratet.

Ich würde Ernst heiraten und mit ihm und Irmi leben; Ernst sah immerhin gut aus, er trug mich auf Händen, verdiente anständig und war ein lieber Kerl, der mir nichts abschlagen würde; und Irmi war einfach ein Schatz. Ich stellte es mir schön vor, sie um mich zu haben, und ich stellte mir die fassungslose Dankbarkeit von Ernst vor, wenn er seine Mutter, die Kriegerwitwe, nicht allein lassen mußte, sondern mit in die Ehe bringen durfte. Ich würde weiter arbeiten, wir würden abends oft unter Leuten sein – aus dem Tanzen würde nun nichts mehr werden -, und wenn wir nach Hause kamen, wäre Irmi da, Lebendigkeit und etwas Fröhliches. Wir würden vielleicht ein Kind haben. Vor allem aber würden wir eine große Hochzeit haben, noch in diesem Sommer, in einem Festsaal mit Kapelle und großer Gesellschaft; ich würde gedruckte Karten verschicken und eine Anzeige aufgeben […] Ich würde die erste sein. Von da an war es ein kalter Rausch. (S. 41 – 42)

Und so kommt es auch: Sie heiratet Ernst, der als Invalide glücklich und dankbar ist, die schöne Margarethe heiraten zu dürfen. Was sie dabei völlig ausblendet, sind die langfristigen Folgen ihres Tuns, auch für sich selbst. Schon die Hochzeitsreise – so 24 Stunden allein miteinander – überfordert die beiden. Margarethe richtet sich in ihrem nach außen hin vorzeigbaren Leben im Deutschland der Wirtschaftswunderjahre ein. Berufstätig und ansonsten immer an der Seite ihres geselligen Gatten, dabei innerlich gänzlich unbeteiligt.

Mit 28 bekommt Margarethe eine Tochter, mit der sie jedoch von Anfang an nichts anfangen kann.

Daniela war mir manchmal ein bißchen zuwider. Als kleines Mädchen sah sie sich um, wenn sie fiel, und wenn sie jemand beobachtet hatte, dann fing sie laut an zu weinen. Sie hielt ständig Ausschau nach uns, aber nicht weil sie mit uns zusammensein wollte, sondern weil sie zu berechnen schien, wie sie sich verhalten sollte. (S. 47)

Margarethes Tendenz, ihr eigenes Leben nur noch von der Zuschauertribüne zu verfolgen, verstärkt sich.

Man sagt, daß die Jahre schneller vergehen, wenn man älter wird, aber mir kam es schon damals so vor, als stünde alles still. Daniela wurde größer, Ernst wurde dicker. Irmi wurde älter, nur mußte sie blutdrucksenkende Mittel nehmen, was sie aber meistens vergaß. Ich erinnere mich nicht an Ereignisse, ich sehe uns wie auf Fotos: Fünfzehn Jahre auf der Couchgarnitur, deren Bezüge langsam dunkler wurden, bis wir eine neue anschafften. Die Holzschale aus Spanien, in der die Salznüsse waren; ein kleiner Krug aus Zinn, […] die Untersetzer aus Kork. (S. 49 -50)

Mit Anfang 40 lernt Margarethe dann den neuen Kulturamtsleiter kennen, und ihre leblos-wohlgeordnete Reihenhaus-Idylle fängt an zu bröckeln, bis am Ende nichts mehr ist, wie es mal war.

Fazit

Unbedingt lesenswert. Margarethe ist nicht nur eine Ich-Erzählerin, die mit ihrer scheinbar einfachen Sprache und ihrer mitleidlosen Beobachtungsgabe die Nachkriegsgemütlichkeit  prägnant auf den Punkt bringt.

Auch der Blog Beauty is a sleeping cat streicht die Sprache besonders heraus: „… what makes this book truly masterful is the way it’s told. There are passages in the narration that I would call “litanies” in which Mrs Sartoris enumerates things. In one instance she talks about all the meaningless sentences she doesn’t want to say anymore. Reading them in rapid succession is eerie to say the least and makes the reader think how often one uses empty phrases just like that. How many meaningful conversations do we have day in and out? Another litany enumerates all the things Mrs Sartoris has never had in her life and this reveals so much bleak emptiness, it’s  chilling.“

Margarethe ist darüber hinaus aber auch eine interessante Hauptfigur, die zwar um sich herum alles klar benennen kann, doch ihren eigenen Gefühlen und dem Wunsch, sich lebendig zu fühlen, hilflos gegenübersteht. Und immer ist sie im falschen Moment bereit, ihre Passivität aufzugeben.

… und aus einem ähnlichen Gefühl hatte ich ja Ernst genommen – irgendeiner mußte es sein, und am Ende machte es keinen großen Unterschied. Wir wollten alle ein Häuschen mit Garten und Kinder und nach Spanien reisen und in Frieden älter werden, und wenn man sich nicht grob täuschte, dann konnte man schon zufrieden sein … (S. 70)

Ihre Vorstellung von Liebe erscheint seltsam unreflektiert. Für sie ist ein Mann, der ihre Leidenschaft weckt, automatisch die große Liebe, was nahezu zwangsläufig in einer Katastrophe enden muss. Nicht zufällig findet sich im Roman eine Anspielung auf Madame Bovary.

Die Struktur des Buches mit seinen Zeitsprüngen wirkt nicht gekünstelt, sondern ergibt sich quasi selbstverständlich aus der Art ihres Erinnerns.

Und nicht zuletzt fand ich das Buch spannend. Natürlich wollte ich wissen, was es mit dem Autounfall, der schon im ersten Abschnitt genannt wurde, auf sich hat.

Siegfried Lenz: Fundbüro (2003)

Endlich hatte Henry Neff das Fundbüro entdeckt. Heiter betrat er den kahlen Vorraum, in dem nur ein schwarzes Schreibpult stand, setzte die Segeltuchtasche ab, zwischen deren Griffen ein Hockeyschläger lag, und nickte dem alten Mann zu, der vor dem breiten Schiebefenster stand und – anscheinend – zum wiederholten Mal – einen Klingelknopf drückte.

So lässt Lenz (*1926), der mit seinem Roman Deutschstunde 1968 Literaturgeschichte geschrieben hat, seinen Roman Fundbüro (2003) beginnen.

Henry Neff steht in der literarischen Nachfolge von Heinrich Bölls Clown Hans Schnier. Auch der Mitzwanziger Henry kommt aus einer wohlhabenden Familie; auch er weigert sich, die mögliche Karriereleiter hochzusteigen. Stattdessen geht er zur Bahn. Als die Arbeit als Zugbegleiter zu unangenehm wird, lässt er sich ins Fundbüro der Bahn versetzen.

Sowohl bei seiner Familie als auch bei seinem neuen Vorgesetzten stößt Henry zunächst auf Unverständnis, als er vergnügt erklärt, dass ihm nicht an Laufbahn und Aufstiegsmöglichkeiten gelegen sei.

Kein Bedarf, Herr Harms, wirklich, das Aufsteigen überlasse ich gern anderen, mir genügt’s, wenn ich mich wohl fühle bei der Arbeit. (S. 11)

Und so flirtet er mit der neuen Kollegin Paula, nimmt Anteil am Schicksal des älteren Kollegen Albert, der dem Sparzwang der Bahn zum Opfer fallen soll, und vor allem hat er Spaß an seiner Arbeit, die ihn täglich mit anderen Menschen und den unterschiedlichsten „Verlierern“ in Kontakt bringt.

So kommen Kriminelle ins Fundbüro, arrogante Geschäftsleute, Kinder oder auch eine junge Frau, die völlig verzweifelt ist, weil sie ihren Verlobungsring verloren hat. Henry sinniert, weshalb fast niemand eine Verlustmeldung für verlorengegangene Gebisse aufgibt oder wie man es schafft, einen kompletten Vogelkäfig samt Inhalt irgendwo zu vergessen. Henry besteht – manchmal etwas unkonventionell – auf dem vorgeschriebenen Beweis, dass der verlorene Gegenstand tatsächlich dem angeblichen Besitzer gehört. Eine Schauspielerin muss beispielsweise aus dem verlorenen Text Passagen deklamieren, einem Messerwerfer stellt er sich als Assistent zur Verfügung.

Schließlich lernt er den ein wenig altmodisch wirkenden und sensiblen Baschkiren Fedor Lagutin kennen, der als Mathematiker ein Stipendium an der Technischen Hochschule bekommen hat und der auch Henrys Schwester Barbara sehr gut gefällt.

Eine merkwürdige Szene spielt im Völkerkundemuseum, wo Barbara ihren Bruder und Fedor zu der Szenerie „Baschkiren vor ihrem Festzelt“ führt. Fröhlich macht sich Fedor zu einem Teil der ausgestellten Szenerie und verwickelt den Museumsführer noch in eine kleine Fachsimpelei. Anschließend heißt es:

Erst nachdem sie eine Weile gefahren waren, hatte Barbara das Bedürfnis, etwas zu sagen, sie sprach langsam, wie im Selbstgespräch und als suchte sie nach einer Antwort auf das, was sie bewegte: ‚Ich weiß nicht, wie einem zumute ist, Fedor, fern von zu Hause, in einem fremden Land – plötzlich steht man vor einem vertrauten Bild, plötzlich blickt man auf einen Ausschnitt heimatlichen Lebens; das muss doch ein eigenartiges Gefühl sein, oder? Ich kann mir vorstellen, daß man den Ort seiner Herkunft anders sieht, ich weiß nicht, wie, aber ich glaube, anders – schon deshalb, weil ein Vergleich sich wie von selbst aufdrängt. (S. 164)

Ich habe das dem gebildeten Mathematiker gegenüber als unglaublich herablassend empfunden, auch wenn es nicht so gemeint war.

Ebenfalls wenig authentisch für mich die Szene bei einer Studentenfete, an der aus geheimnisvollen Gründen neben Fedor auch Professoren und Sponsoren teilnehmen. Fedor trägt einen Russenkittel und lederne Stiefel. Die Speisen, die am Büffet gereicht werden, klingen nach sechziger Jahren. Einige Studenten führen einen Sketch auf, dessen Sinn selbst eher Arglosen sofort aufgehen müsste, man tanzt – old style – als Paar zu „Rock around the clock“ und Fedor wird mit ausländerfeindlichen Sprüchen gedemütigt.

Und dann wäre da noch die miese Motorradgang, die alle Bewohner des Hochhauskomplexes, in dem auch Henry wohnt, in Angst und Schrecken versetzt. Als der Konflikt mit ihnen eskaliert und sie immer brutaler vorgehen, muss Henry erkennen, dass sich nicht alle Probleme mit gutem Willen und Gesprächsbereitschaft lösen lassen.

Fazit

Ein Stück Literatur, deren Grundidee ich zunächst wunderbar fand. Ein Lebenskünstler, der auf Karriere und Statussymbole pfeift, und stattdessen täglich bemüht ist, sich und den anderen das Leben angenehm(er) zu machen. Und das Fundbüro als Sinnbild. Wir verlieren. Wir finden. Wir tragen dazu bei, ob es – für uns, für andere, für die Fremden in unserem Land – ein guter oder ein arger Tag wird. Doch in der Umsetzung halte ich das Ganze für gescheitert.

Schon den Stil fand ich oft betulich und auch mit der inhaltlichen Umsetzung tat ich mich schwer: Henry kann sich das ja locker leisten, immer vergnügt und heiter – überhaupt sind das zwei Adjektive, die ständig zur Charakterisierung Henrys herhalten müssen – vor sich hin zu werkeln, denn im Hintergrund gibt es stets die Möglichkeit, ins elterliche Geschäft einzusteigen, und seine Schwester hilft ihm mehr als einmal finanziell aus der Klemme.

Die Hauptperson wirkte auf mich oft eher künstlich naiv statt menschenfreundlich. Wenn er mit seiner Arbeitskollegin darüber debattiert, ob ein Bericht zu einer Verlustsache rein sachlich sein müsse oder auch persönliche und emotionale Aspekte beinhalten dürfe, dann fand ich das einfach nur noch grummpff.

Oft wird die Deutung des Geschehens gleich aufdringlich mitgeliefert. Nachdem ein Koffer mit schäbigen Klamotten gefunden wurde, heißt es:

‚Es ist doch einfach lächerlich zu glauben, daß  neue Klamotten einen neuen Anfang erleichtern, es gibt keine neuen Anfänge, ich meine, so im reinen Sinn; etwas von früher bleibt immer an einem haften, etwas, das man nicht abschütteln kann.‘  Henry blickte sie verwundert an, er sagte: ‚Tatsächlich? Ich bin mir da nicht sicher. Manchmal passiert etwas, und ohne daß man darauf aus war, ist man schon in einem neuen Anfang.‘ (S. 112)

Und wer’s immer noch nicht begriffen hat, dem wird es halt noch einmal erklärt:

Irgendeine Geschichte könnte wohl jeder Koffer erzählen […] überhaupt: An jeder Fundsache hängt etwas, du glaubst nicht, was da manchmal zum Vorschein kommt. Aber das wirst du schon noch selbst erleben. (S. 130)

Eine lesenswerte „Verteidigung“ von Andreas Isenschmid findet sich in der NZZ vom 29. Juni 2003 unter dem Titel Oasen der Menschlichkeit.

Max Frisch: Stiller (1954)

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin, so werde ich nicht aufhören, nach Whisky zu schreien, sooft sich jemand meiner Zelle nähert.

So beginnt der Roman Stiller (1954) von Max Frisch, der nach Weidermann

den Weltruhm des Schweizer Schriftstellers begründen sollte und der sich bis heute allein als deutsches Taschenbuch mehr als zwei Millionen Mal verkauft hat. Er wurde die Grundlage des großen finanziellen Erfolges von Max Frisch und auch seines Verlages. (Volker Weidermann: Max Frisch: Sein Leben, seine Bücher, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, S. 178)

Schon im ersten Absatz klingen die wesentlichen Handlungsstränge an: Bei der Einreise in die Schweiz wird ein Mr White verhaftet, da er einem Zollbeamten bei der Überprüfung seines Passes eine Ohrfeige versetzt hat. Er kommt in Untersuchungshaft und man beschuldigt ihn, in Wirklichkeit der seit sechs Jahren verschollene Schweizer Bildhauer Anatol Stiller zu sein. Das wird von ihm vehement bestritten, und das obwohl eine reizende Julika sogar aus Paris anreist und behauptet, seine Frau zu sein, und auch alte Freunde und Verwandte ihn zweifelsfrei wiederzuerkennen meinen. Er wird umstellt

von Beweisen, von Menschen, die ihn aus seinem früheren Leben kennen, ihn wiedererkennen und ihn mit Geschichten umzingeln, die beweisen sollen, dass er der Vermisste ist, dass er sich nicht verändert hat, dass man ihn hier kennt, hier, im Land seines früheren Lebens, und dass eine Flucht aus seinem Leben leider nicht möglich ist. (Weidermann, S. 179)

Das war Frischs großes Lebensthema, wie kann man leben und sich gegen die Festlegungen, die fremden und die eigenen, zur Wehr setzen? Wie kann man wissen, wer man ist? Wie kann man sich alle Entwicklungsmöglichkeiten offenhalten, wie kommt man damit zurecht, dass bestimmte Entscheidungen andere Möglichkeiten von vornherein ausschließen? Und letztlich: Wie kommt man damit zurecht, dass man seine Vergangenheit immer mitnimmt und nicht mehr rückgängig machen kann? Unabhängig davon, dass auch diese Vergangenheit von den Beteiligten unterschiedlich erlebt und gedeutet worden ist. Wie kann man sich selbst annehmen? Und dadurch zu völliger Unabhängigkeit von den Festschreibungen der anderen gelangen?

Beim Lesen überkommt mich streckenweise massive Langeweile ob dieser Luxusjammerei und immerwährenden Selbstbespiegelung – dann würde ich das Buch am liebsten massiv kürzen -, und dann wieder freue ich mich an intelligenten und anregenden Passagen.

Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die sich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, daß ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: „Ich kenne dich.“ (S. 64)

„Meine Angst: die Wiederholung -!“ (S. 68) und wenige Zeilen später heißt es:

Wiederholung! Dabei weiß ich: alles hängt davon ab, ob es gelingt, sein Leben nicht außerhalb der Wiederholung zu erwarten, sondern die Wiederholung, die ausweglose, aus freiem Willen (trotz Zwang) zu seinem Leben zu machen, indem man anerkennt: Das bin ich…

Aber je länger ich lese, umso unbefriedigender finde ich die Struktur: Eher theatralisch denn realistisch. Es wirkt doch sehr künstlich, wie „Mr White“ referiert, was sein Staatsanwalt – der Ehemann der ehemaligen Geliebten von Stiller -, was Julika, die Ehefrau Stillers, und andere über ihn erzählen, bis hinein in die feinsten Handlungs- und Motivverästelungen, die natürlich nur Anatol Stiller selbst wissen kann.

Alles in allem, eine etwas zwanghafte Versuchsbeschreibung, die manchmal regelrecht in Sprache explodiert, mit vielen interessanten Gedanken: Stiller will das Unmögliche, dass jeden Tag alles wieder ganz offen sich darstellt, die vollkommene Freiheit, die bedingungslose Liebe, die sich eben kein Bildnis vom anderen macht.

Aber dann wieder bin ich hingerissen davon; wie beängstigend genau Frisch den Schrecken beschreibt, wenn einen die anderen schon gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie nur noch das Bild sehen können, das sie sich von einem gemacht haben:

Sturzenegger [ein alter Freund] schüttelt sich vor Lachen, ich weiß nicht wieso. Er kennt den Witz, den sein verschollener Freund jetzt nicht würde unterlassen können, und ich brauche diesen Witz gar nicht zu machen, nicht einmal zu kennen. Herr Sturzenegger schüttelt sich schon vor Lachen. Dann erscheint er wie ein Hampelmann an den unsichtbaren Fäden der Gewöhnung, kein Mensch. […] Sein Zuspruch, ich solle doch den Mut nicht verlieren, überhaupt seine ganze Freundschaft ist eine Summe von Reflexen auf eine abwesende Person, die mich nicht interessiert. Einmal versuche ich, es zu sagen; vergeblich. Denn für alles andere, was ich sozusagen auf meiner eigenen Wellenlänge sende, hat er einfach keine Antenne, scheint es, oder er stellt sie nicht ein; jedenfalls kommt es zu keinem Empfang, nur zu Störungen, die ihn nervös machen… (S. 243)

Allgäu0019

Friedrich Ani: Süden (2011)

‚Ich bin Tabor Süden und kein Japaner‘, sagte er unvermittelt, nachdem er zehn Minuten lang von der Tür aus stumm zugehört hatte. Und er unterbrach die Frau am Schreibtisch auch nur, weil sie sich eine Zigarette anzündete und mehrere Züge machte, ohne ihn anzusehen. Der Satz brachte sie zum Lachen. Rauch hüpfte aus ihrem Mund. Süden warf einen Blick zum Fenster, vor dem es dunkel wurde, und als er den Kopf abwandte, hörte Edith Liebergesell auf zu lachen.

Mit diesen Sätzen beginnt der siebzehnte Kriminalroman Süden (2011) um den ehemaligen Hauptkommissar Tabor Süden von Friedrich Ani.

Ausnahmsweise möchte ich ein Zitat mit dem Autor aus der inzwischen eingestellten Interview-Reihe „Die Befragungen“ voranstellen, das gibt nämlich bereits einen guten Eindruck vom Autor und seinem Selbstverständnis. Gleich zu Beginn sagt der 1959 geborene Autor:

Der Kriminalroman zwingt zum Hinschauen in die Gegenwart, das Drama des in seinem Lebenszimmer gefangenen Menschen gelingt mir mit dem Krimi am besten, ohne dass es mir auf Mord und Totschlag und spektakuläre Plots ankäme. In meinen Krimis bestimmen die Langsamkeit und das Schweigen den Handlungsablauf, wobei in gewisses Maß an genreüblicher Spannung unerlässlich bleiben muss. Darüber hinaus lassen sich im Genre Krimi immer wieder neue Türen öffnen. So beschäftige ich mich fast ausschließlich mit Verschwundenen und Vermissten und der Suche nach ihnen.

Und im Buch heißt es:

Fast nie gab es nur einen Grund für das plötzliche Verschwinden eines Menschen, meist entstanden im Lauf von Monaten oder Jahren für andere unsichtbare, immer weiter wachsende Staubknäuel, die den Zimmerling allmählich ersticken ließen. Anfangs wehrte sich dieser noch, riss das Fenster auf, fuchtelte mit den Armen. Da niemand in seiner Umgebung angemessen reagierte, zog er sich in einen noch halbwegs staublosen Winkel zurück, bis er auch dort keine Luft mehr bekam und keine andere Möglichkeit mehr sah, als all dem an Ort und Stelle ein Ende zu bereiten oder das Haus zu verlassen, um anderswo zu sterben. (S. 50)

Jetzt aber zum Inhalt

Tabor Süden, inzwischen 51, kehrt nach mehreren Jahren im selbstauferlegten Exil als Kellner in Köln zurück nach München. Ein Anruf seines Vaters, der sich aus dem Staub gemacht hatte, als Tabor gerade einmal 16 war, hat ihn zurückgelockt. Doch das Telefonat wurde unterbrochen und so sucht er auf tage- und nächtelangen Streifzügen nach einem Mann, der sein Vater sein könnte. Dieses Umkreisen des alten Traumas führt ihn auch in seine berufliche Vergangenheit, hatte er doch in München zuletzt als Kommissar im Münchner Vermisstendezernat gearbeitet, bevor er dann den Dienst quittierte.

Da ihn doch mehr mit der Stadt, den Straßen, Plätzen und Kneipen verbindet, als er gedacht hat, und weil das Geld langsam knapp wird, nimmt er das Jobangebot der Detektei-Chefin Edith Liebergesell an. Sein Auftrag: etwas über den Verbleib des seit zwei Jahren vermissten Wirts Raimund Zacherl herauszufinden. Er geht die alten Akten durch und befragt noch einmal dessen Ehefrau, die ehemaligen Angestellten und zwielichtigen Freunde des Vermissten und fördert, wie könnte es anders sein, dabei Erstaunliches zu Tage.

Fazit

Die Grundidee, die Spannung in einem Kriminalroman eben nicht durch immer mehr Splatter und notdürftig motivierte Brutalität zu erzeugen, sondern durch die  unaufgeregte Suche nach einem Vermissten, hatte mir schon in den anderen Büchern um Tabor Süden total gut gefallen. Und auch hier gelingt ihm das – ich will wissen, was mit Raimund Zacherl geschehen ist, aber es bleibt auch genügend Raum und Aufmerksamkeit für die anderen Figuren und deren Geschichten. Ani denkt die Vergangenheit und die Zukunft seiner Charaktere quasi immer mit, das macht sie selbst in den Nebenrollen unglaublich plastisch.

Auch in seiner Sprache zeigt Ani, dass er Klassen über vielen anderen Krimi-Schriftstellern steht. Manche Kritiker meckerten allerdings, weil er selbst schlichtesten Nebenfiguren so großartige Metaphern in den Mund legt. So erklärt ein Stadtstreicher Süden das Verhalten eines vor sich hin fuchtelnden, innerlich tobenden Mannes:

Der Werner. Hat seine Frau verloren, sie war vierzig, Unterleibskrebs, innerhalb von vier Wochen. Wir waren alle bei der Beerdigung, ich hab gespielt. Ostfriedhof, verstehst? Da wirst irre, wenn deine Frau auf einmal tot ist, und du wachst in der Früh auf und die Erde ist weg und du hängst allein im Weltall. Weil die Erde war die Frau. Verstehst? (S. 23)

Das Zuhören und das Den-Mund-halten-Können sind sicherlich die zwei wichtigsten „Methoden“ des Detektivs. Dabei geben die von ihm Vernommenen fast immer mehr von sich preis, als sie das ursprünglich geplant hatten, denn zum einen halten sie das Schweigen nicht aus und zum anderen ist es so ungewohnt, dass da einer ist, der zuhört.

Doch nicht nur in der Bloßstellung der Worthülsen, mit denen sich die Menschen belügen, porträtiert er unsere Gesellschaft. Quasi im Vorbeigehen werden wir daran erinnert, in welcher Verwahrlosung Kinder hier leben müssen, welche Ängste sie aushalten und welche äußeren und inneren Spuren das in ihrem Leben hinterlassen wird. An den Obdachlosen in seinen Büchern ist manchmal schwieriger vorbeizugehen als an denen, die wir in unseren Innenstädten sehen, denn Ani macht sie sichtbar.

Dennoch, und das ist die Kehrseite dabei, war es mir in diesem Roman ein bisschen zu viel des „lonely cowboy“-Klischees, eben Held, der zu viele Bierchen in zu vielen Kneipen trinkt:

Wie er [Süden] so dastand, schweigend, fremd und doch absolut anwesend, seit er diesen Raum betreten hatte, wäre sie am liebsten zu ihm hingegangen und hätte sich neben ihn gestellt, ins sinkende Licht dieses nachösterlichen Tages. (S. 11)

Es gab gar zu viel Schweigen, Sprachlosigkeit und zu viel Melancholie. Vielleicht schwingt da etwas von Anis Einstellung mit, dass jeder Mensch am Ende scheitere:

Ohne Scheitern ist ja ein reales Leben gar nicht möglich. Das Leben an sich ist ja ein Scheitern. In dem Moment, in dem wir begreifen, dass wir irgendwann sterben werden, wissen wir, dass wir scheitern am Leben. Wir versuchen halt uns was einzureden. Wir versuchen uns einzureden, dass wir überleben können, dass wir weiterkommen. Aber wir sind natürlich im großen Ganzen schon dazu verurteilt mit unserem Leben zu scheitern.

Gescheiterte Beziehungen und Einsamkeit im Buch, egal wohin man schaut. Entweder sind die Menschen unfreiwillig alleinstehend, verwitwet oder in Ehen gefangen, die man nur noch als „betreutes Schnarchen“ bezeichnen kann und wo man den anderen schon seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich wahrnimmt, oder man kennt nur noch die schnelle Nummer. Und der Showdown vielleicht auch einen Hauch zu melodramatisch.

Vielleicht täusche ich mich, aber mein Lesegefühl war, dass es im Roman entweder regnete, dunkel war oder beides.

Sein Vater blieb unsichtbar wie die Nymphe Echo, und nur seine Stimme hallte durch Südens Kopf wie durch einen schwarzen Wald. Und er wusste nicht einmal, ob es überhaupt die Stimme seines Vaters war und nicht womöglich die eines Fremden, der im Namen seines Vaters angerufen hatte, aus welch dunklem Grund auch immer. (S. 42)

Anmerkungen

Volker Albers schrieb am 14. März 2011 im Hamburger Abendblatt:

Ani hat ein ungemeines Gespür für seine Charaktere, mögen sie noch so kaputt sein, er erleuchtet ihre Verlassenheit, ihre Einsamkeit von innen heraus, sodass auch sie Licht sind und Schatten werfen. Und er vermag wunderbar anrührend zu erzählen. Seelische Bedrängungen und soziale Milieus – seien es staubig gewordene Lebensräume oder verschwiegene Schlupfwinkel – schildert Friedrich Ani, der neben Romanen auch Drehbücher und Jugendbücher schreibt wie wohl kein zweiter deutscher Kriminalschriftsteller. Und das Lesen der Tabor-Süden-Romane entführt in Welten, die man eigentlich nie betreten wollte. Dort aber angekommen, ist man froh, es getan zu haben. Es öffnet Augen und Sinne.

Und hier geht’s lang zu dem Artikel „Friedrich Ani ist der Simenon von München“ von Elmar Krekeler in der Welt.

Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens (2009)

Damals, in meinen frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit hoch gezogenen Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt, und schaute hinunter auf den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus. Ein Vogelschwarm kreiste weit oben in gleichmäßigen Runden, senkte sich langsam und stieg dann wieder ins letzte, verblassende Licht. Unten auf dem Platz spielten noch einige Kinder, müde geworden und lustlos. Ich wartete auf Vater, der bald kommen würde, ich wusste genau, wo er auftauchte, denn er erschien meist in einer schmalen Straßenöffnung zwischen den hohen Häusern schräg gegenüber, in einem langen Mantel, die Aktentasche unter dem Arm.

Mit diesen Sätzen beginnt die leicht verfremdete Rückschau des Schriftstellers und Hochschullehrers Hans-Josef Ortheil, der 1951 in Köln geboren wurde, auf seine ersten 27 Lebensjahre:

Das Buch, vom Erzähler selbst als Geschichte bezeichnet, ist in fünf große Abschnitte eingeteilt, die sich chronologisch von der frühen Kindheit des Johannes Catt – dem Alter Ego des Autors – bis hin zu dessen ersten schriftstellerischen Gehversuchen bewegen, obwohl für Johannes doch lange Zeit alles auf eine Karriere als Konzertpianist hinauszulaufen schien.

Dazwischen springt der Erzähler immer wieder in die Erzählgegenwart des reifen Mannes, der als über Fünfzigjähriger wieder nach Rom gekommen ist, um dort in der geliebten Stadt und doch fern genug von den Orten der Kindheit seine Geschichte aufzuschreiben. Dabei lernt er seine Wohnungsnachbarin und deren Tochter kennen, deren Klavierunterricht er schließlich unter seine Fittiche nimmt.

Mich haben vor allem die ersten beiden großen Teile Das stumme Kind und Lesen und Schreiben fasziniert.

Johannes stellt mit ca. drei Jahren das Sprechen ein und beginnt eine ungesunde Symbiose mit seiner traumatisierten Mutter zu leben, die ebenfalls nicht mehr spricht und ihre Tage vor allem lesend in der Kölner Wohnung verbringt. Wenn sie mit ihm am Rheinufer ist, müssen sie sich immer auf dieselbe Bank setzen und er darf sich dann immer nur wenige Meter von ihr entfernen. Deshalb ist es meist das Einfachste für ihn, sich neben sie zu setzen und völlig ruhig und bewegungslos zu sein.

Ich starrte auf einen winzigen Ausschnitt der Umgebung und beobachtete ihn so lange, bis es rings um diesen Ausschnitt zu schwanken und zu flirren begann. Manchmal wurde mir dann etwas heiß, und ich musste die Augen rasch schließen, ja es kam sogar vor, dass mir in solchen Augenblicken richtig übel und schwindlig wurde, dann hatte ich zu lange auf einen Punkt gestarrt und musste mich bemühen, den Blick wieder von diesem Punkt wegzubekommen. (S. 26)

Die Mutter kommuniziert mit Hilfe unzähliger kleiner Zettel, die dann abends der von seiner Arbeit als Vermessungsingenieur heimkommende Vater am Küchentisch vorliest.

Er schildert eine stumme, von Ängsten und Zwängen beherrschte Kindheit, die Fixierung auf seine Mutter, die er beschützen wollte, wenn er auch nicht wissen konnte, wovor eigentlich die Mutter beschützt werden musste. Auch der Vater stellt dieses stumme Familienleben nicht in Frage und lässt zu, dass sein Sohn weder Kontakt zu anderen Kindern noch kindgerechte Erfahrungen machen kann. In diese Erinnerungen schiebt sich dann die Gegenwart und noch der erwachsene Erzähler staunt:

Niemand, der mich heutzutage über diese römische Piazza gehen sieht und bemerkt, wie ich hier und da stehen bleibe, einen Anwohner grüße und mich unterhalte, wird vermuten, dass derselbe Mensch als Kind kein einziges Wort gesprochen und vor jedem Gang ins Freie erhebliche Angst ausgestanden hat. (S. 33)

Die Isolation und die fehlenden Anregungen in der Kindheit führen dazu, dass Johannes sich immer mehr in sich zurückzieht, stundenlang Dinge sortiert, diverse Spleens entwickelt, in die Gegend starrt und genau auf die Geräusche der vorbeifahrenden Autos achtet – später stellt sich heraus, dass er das absolute Gehör hat.

Er wird auf dem Spielplatz gehänselt und muss sich zusammen mit seiner Mutter herablassende oder mitleidige Kommentare anhören, wenn die Mutter in den Einkaufsläden nur rasch einen Zettel reicht, auf dem steht, was für sie zusammengepackt werden soll, sodass sie es dann später abholen kann.

Er ist einsam und wünscht sich doch so sehr einen Freund:

Da ich aber weder Freunde, geschweige denn einen richtigen, guten Freund hatte, dachte ich mir ab und zu einen aus. Mein Freund hieß Georg, Georg war stark und freundlich und etwas größer als ich, leider war er nicht immer da, wenn ich mich auf dem Kinderspielplatz aufhielt, doch wenn ich ihn dringend brauchte, kam er meist rasch vorbei und setzte sich neben mich, und dann spielten wir zu zweit oder unterhielten uns über die Zeitschriften, die wir uns gegenseitig ausgeliehen hatten. (S. 60)

Wohl fühlt er sich bei den Gottesdiensten im Kölner Dom, dort ist er kein Außenseiter, wird nicht kritisiert und nicht angesprochen:

Überhaupt war es schön, dass die Menschen während eines Gottesdienstes so viel gemeinsam und meist auch noch dasselbe taten, endlich redeten sie nicht ununterbrochen, sondern nur dann, wenn sie darum gebeten wurden, und endlich bewegten sie sich auch nicht laufend von einer Stelle zur andern, sondern hielten es eine Zeit lang singend und betend auf einem einzigen Platz aus. […] Die einzige Störung des Gottesdienstes, die jedes Mal nur schwer zu ertragen war, war die Predigt. (S. 69/70)

Bei seiner Mutter lernt er Klavierspielen, das er nun mit Hingabe praktiziert. Doch das fragile System des Alltags bricht zusammen, als Johannes in die Schule kommt. Es dauert nicht lange, bis Mitschüler und Lehrer ihn schikanieren. Er kann dem Unterricht nicht folgen. Die Hoffnung des Vaters, dass sein Sohn zwar stumm ist, aber mühelos lesen und schreiben lernen werde, erweist sich als Illusion.

Es kommt ein gehässiger Brief des Lehrers, der den Eltern empfiehlt, ihrem Kind mit seinen „verminderten und verwirrten Fähigkeiten“ eine andere „Aufbewahrungsanstalt“ zu suchen. Das ist der Moment, an dem der Vater erkennt, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss. Er nimmt auf unbestimmte Zeit Urlaub und fährt allein mit dem Sohn, d. h. ohne die Mutter, auf den großelterlichen Hof im Westerwald, wo die beiden Teil einer großen Hofgemeinschaft werden.

Was dann folgt, ist so schön zu lesen, dass ich das hier nicht vorwegnehmen möchte.

Fazit

Die ungewöhnliche Kindheits- und Jugendgeschichte des Schriftstellers, die auch übel hätte enden können, wird so einfühlsam und mit so vielen Details vergegenwärtigt, dass man glaubt, ebenfalls in dieser stillen Kölner Wohnung zu sein. Und dem Weg des Kindes ins Leben und in die Sprache bin ich fasziniert und mit Anteilnahme gefolgt.

Der Stil ist unaufgeregt, geradezu gemächlich, dabei überaus anschaulich und angelehnt an den klassischen Bildungsroman. Hier spürt einer dem eigenen, oft genug schmerzhaften Werdegang nach und schreibt:

All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin. Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben. Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht gelungen … (S. 470)

Vielleicht trug dieses Buch für den Erzähler dazu bei, sich nicht länger zu einem anderen Menschen machen zu wollen, indem sich da einer zu seiner Geschichte bekennt. Nichts ist mehr zu spüren von Verbitterung oder Anklage.

Für den Spannungsbogen sorgt dabei u. a. natürlich die Frage, wieso es überhaupt zu diesem Stummsein in der Familie gekommen ist.

Für mich hätte das Buch nach dem zweiten Teil aufhören können. Zwar geht der Erzähler immer wieder auch der Frage nach, wie er von seiner Kindheit geprägt worden ist, was durchaus interessant ist. Aber sein Leben in Rom als Student am Konservatorium und sein Alltag in Rom als ca. Fünfzigjähriger, während er seine Erinnerungen aufschreibt, waren für mich eher blass und längst nicht so mitreißend und außergewöhnlich, wie es die beiden ersten Teile dieser Annäherung an die eigene Biografie waren. Manches wirkte da durchaus ein wenig konstruiert.

Uwe Timm: Vogelweide (2013)

Die Insel verlagert sich langsam nach Osten. Drei bis vier Meter im Jahr, je nach Stärke der Winterstürme und Stumfluten. Hier, wo er jetzt stand, war vor vierzig Jahren Wasser nur und Watt.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Vogelweide (2013) von Uwe Timm, ein Buch, das ich dann doch sehr dröge fand. Wer mag, kann sich hier die ersten Seiten des Romans vom Autor vorlesen lassen. Das gibt schon einen guten Eindruck von dem gemächlichen Stil, in dem diese Geschichte erzählt wird, die es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2013 geschafft hat und mehrere wohlwollende Kritiker an die Wahlverwandtschaften von Goethe erinnert hat.

Zum Inhalt

Eschenbach redigiert sechs Jahre nach der Pleite seiner Software-Firma Reiseführer und erklärt sich bereit, für einige Monate auf der Insel Scharhörn in der Elbe-Mündung den Dienst als Vogelwart zu versehen. Dort ruft ihn eines Tages Anna, seine ehemalige Geliebte, an und sie vereinbaren, dass sie ihn am nächsten Tag besuchen werde. Doch bevor Anna auf der Insel eintrifft, wird auf über 280 Seiten die Vorgeschichte nachgereicht, Eschenbachs Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten sechs Jahre.

Christian Eschenbach war damals erfolgreicher Inhaber einer Software-Firma, deren Aufgabe es war, alle möglichen Prozesse zu optimieren.

Sieben, acht Jahre lang war er ein reicher Mann gewesen. Allerdings arm an Zeit. Es gibt eine Zeitarmut. Die wiederum zur Verrohung führt. Eine Brutalisierung des eigenen Selbst. Er arbeitete. Verhandelte. Reiste. Kunden mussten besucht und neue gewonnen werden. (S. 166)

Dieser erfolgreiche Unternehmer lernt auf einer Veranstaltung die ca. 39-jährige Anna, Lehrerin für Latein und Kunst, kennen. Es spielt für ihn keine Rolle, dass er selbst mit der warmherzigen Selma, Kunstschmiedin, liiert ist und dass Anna glücklich mit dem Architekten Ewald verheiratet und Mutter zweier Kinder ist. Anna soll seine Rettung sein.

Und Eschenbach stand da und hatte, so wie sie ihn ansah, mit dem ruhigen, auf ihn gerichteten Blick, und wie sie ihm zuhörte, den merkwürdigen Gedanken, nein, es war nur ein Wort: Rettung. Sie könnte dich retten. Wovor? Vor allem. Vor Gleichgültigkeit. Vor Bedeutungslosigkeit. Beliebigkeit. Noch kannte er sie nicht, aber diese Empfindung war ganz deutlich, wie eine erkannte Wahrheit. (S. 51)

Auch sie fühlt sich von Eschenbach angezogen. Sie beginnen eine heimliche Affäre.

Wünsche, die sich allen Vorsätzen und moralischen Vorstellungen widersetzen: Und alle angeführten Gründe sind ganz hilflose Versuche, den Wunsch-Reaktor zu verstehen. Es ist der Hunger und der Durst des Körpers nach dem Körper. Aber nicht auf einen beliebigen, sondern auf den einen, den einzigen, den, von dem wir hoffen, durch ihn selbst reicher zu werden, als schöne Ergänzung unserer Selbst. (S. 127)

Doch Anna leidet zunehmend unter der „Unwürdigkeit“ ihres Verhaltens (weniger wegen der Verletzungen, die sie langfristig ihrer Familie zufügt) und der Verlogenheit der Situation, die noch dadurch verschärft wird, dass die beiden Paare inzwischen freundschaftlich verbunden sind. Sie macht reinen Tisch, beichtet ihrem Mann die Liaison und beschließt, alles hinter sich zu lassen und nach Amerika zu gehen, da für sie eine offene Dreierbeziehung dann doch nicht in Frage kommt.

Zeitgleich mit dem Verlust der Geliebten macht Eschenbachs Firma Bankrott. Und Selma und Ewald, die Betrogenen, finden ein neues Glück miteinander.

Fazit

Schon inhaltlich konnte ich dem Buch nichts abgewinnen. Die bürgerlichen Protagonisten stolpern so seltsam leblos durch die Seiten. Eschenbach, ein langweiliger Egoist, der sich nimmt, was er will, und weder mit der eigenen Tochter, seinen Eltern, der Freundin oder der Geliebten zu einer alltagstauglichen Beziehung in der Lage ist und das körperliche Begehren kurzerhand mit Liebe gleichsetzt. Der den Zusammenbruch seines luxuriösen Lebensstils prima verkraftet, seine teure Immobilie, seinen Oldtimer aufgeben kann und nun zufrieden als Vogelwart werkelt.

Die Silberschmiedin Selma, die mit auf Antik getrimmtem Hopi-Schmuck ihr Geld verdient, kommt aus Polen und darf deshalb so Wendungen benutzen wie „ich war ihm gut“. Der Stararchitekt Ewald, der nicht merkt, dass seine Frau Anna ihn betrügt. Anna, die Studienrätin, die dem Klischee einer Lehrerin entspricht:

Er hatte sie nach ihrer E-Mail-Adresse gefragt. Aber sie sagte, bitte keine Mails. Ich hasse Mails. Ich habe sie, weil ich damit zugeschüttet wurde, abgeschafft. Es geht. Die Schüler müssen sich eben mündlich oder schriftlich melden. Sonst geht die Schreibschrift verloren. Auch Simsen mag ich nicht, schon wegen dieser Dauerverstümmelung der Sprache mit den SMS, was sich doch schon nach SOS anhört. Grässlich. (S. 115)

Anna räsonniert:

Beide haben wir Glück. Lieben unseren Partner. Warum also das? Es gibt keinen Mangel an Liebe. Das ist zutiefst unmoralisch, man ist glücklich und will noch mehr. Das ist maßlos. (S. 128)

Sie flüchtet, als ihr das Beziehungswirrwarr zu viel wird, scheinbar völlig problemlos mitten im Schuljahr nach New York, weil dort, was für ein Glück, ihr Bruder lebt. Sie hat sogar schon eine Green Card und holt dann einfach die Kinder nach. Sie macht eine Galerie auf, hat Erfolg. Das wird nur noch getoppt davon, dass sie an die Heiligkeit der Ehe glaubt und deswegen eine Scheidung von Ewald konsequent ablehnt, aber in Amerika bereits mit dem zweiten Mann zusammen ist.

Für den intellektuellen Anstrich sollen sicherlich die Namen Vogelweide und Eschenbach mit ihren Assoziationen an die deutschen Minnesänger sorgen (warum auch immer). Und Eschenbach beschäftigt sich beispielsweise mit der Frage, ob Liebe überhaupt möglich sei, wenn man sich über das Internet kennenlernt. Ob der moderne Optimierungszwang in allen Belangen nicht schon längst auch im Bereich der Paarbeziehungen angekommen ist. Mit einem Freund diskutiert er darüber, dass sich Passion Handlungsfreiheit verschaffe, „die weder als solche noch in ihren Wirkungen gerechtfertigt werden muss.“ (S. 185)

Auch stilistisch habe ich – von wenigen Stellen abgesehen – schon lange nicht mehr so etwas Dröges gelesen. Eine Vorliebe für seitenweise indirekte Rede und das ausdrucksstarke Verb „sagen“.

Eschenbach erzählte von einem Freund, auch er Engländer, ein Literaturwissenschaftler, durch den er das Land erst richtig kennengelernt habe. Mit ihm sei er durch die Cotswolds gefahren […] Seither war er immer wieder hinübergefahren, nach London, nach Cornwall, Devon, Schottland. Seitdem sammle er die Coronation Mugs. Ein wunderbarer Kitsch. Der reine Camp. (S. 111)

Auf Seite 66 findet sich der folgende Abschnitt. Eschenbach spricht während einer Feier mit einem Schamanen, der auf den hübschen Namen Harald hört:

Und dann sagte er nach einer kleinen Pause, in der er Eschenbach mit seinen grünen Augen musterte, Sie sehen übrigens sehr gestresst aus. Das ist gut möglich, sagte Eschenbach, erst heute Morgen habe er mit seinem Geschäftspartner eine Auseinandersetzung gehabt. Hoffentlich laut, fragte Harald. Ja, sehr laut. Das ist gut, sagte der Schamane. War Selma mit Ihnen auf, wie sagt man, auf einer Tour? Zweimal, sagte Harald und streichelte dabei die kleine Pelzpfote an seiner Halskette. (S. 66)

Und bei Stellen wie „Plötzlich begegnet uns jemand, und wir wissen, dieser Jemand ist unser Schicksal“ fühlte ich mich direkt in einen Kitschroman versetzt.

Anmerkungen

Sandra Kegel äußerte sich in der FAZ wenig begeistert: „Tatsächlich will Uwe Timm die Liebe in all ihren Erscheinungsformen ausloten. Das tut er ein bisschen so, als habe ihm beim Schreiben eine Liste vorgelegen, die es abzuhaken galt. […] Wie gern hätte man von diesem Autor etwas Überraschendes oder gar Neues über das Begehren erfahren. Stattdessen wirft er einen überreflektierten Blick auf unsere Wirklichkeit, der zu stereotypen Bildern führt.“

Volker Hage wird deutlicher: „Das Schönste an diesem Roman ist sein Schauplatz.“ Seiner Kritik an der Sprache des Romans kann ich mich nur anschließen.

In der Süddeutschen äußert sich Kristina Maidt-Zinke am 3. Oktober 2013 ebenfalls bekümmert. Nur ungern würde sie das Buch auf eine einsame Insel mitnehmen: „Der Roman ist mit literarischen und zeitgeschichtlichen Anspielungen so übersät wie der Buchumschlag mit Vogeltrittspuren, aber alles bleibt in flachen Gewässern, versandet im Namedropping. Und noch mehr irritiert, dass die Erzählung tief in den handwarmen Schlick eines Berliner Lifestyle-Milieus einsinkt …“

Hier geht’s lang zum Video-Tipp von Iris Radisch, die sich verhalten positiv äußert, auch wenn sie gewisse Vorhersehbarkeiten bemängelt,  und hier findet man ein Gespräch mit dem Autor von 2005.

Die Besprechung im Rahmen der Aktion „5 lesen 20“ findet man auf Atalantes Historien.

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg (2011)

Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahmegerät zu stecken, da blickte er von seinem Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe. Der Löwe sah zu ihm her, ruhig sah er zu ihm her aus dem Liegen, denn der Löwe lag auf dem Bucharateppich, in geringem Abstand zur Wand.

So also beginnt der vom Feuilleton in Lobgesängen gepriesene und mit dem Georg-Büchner-Preis 2013 ausgezeichnete Roman Blumenberg von Sibylle Lewitscharoff.

Die Handlung ist rasch erzählt: Der alternde Philosophieprofessor Blumenberg findet eines Tages in seinem Arbeitszimmer einen Löwen vor. Hin und wieder besucht der Löwe sogar die Vorlesungen des Professors, doch bleibt er für die Studenten unsichtbar. Eine uralte Nonne ist die einzige, die ihn ebenfalls sehen kann. Besonders interessiert ist Blumenberg an seinen Studenten nun gerade nicht, trotzdem wird der Leser mit den Lebenswegen von Isa, Hansi, Gerhard und Richard traktiert, die bei Blumenberg studiert haben. Sie alle sterben jung und am Ende – das darf man verraten, ohne sich eines Spoilers schuldig zu machen – treffen sich die Toten mit dem verstorbenen Blumenberg und dem Löwen in einer Höhle – Platon lässt grüßen – und lösen sich allmählich in zunehmender Erinnerungslosigkeit auf. Doch der große Blumenberg erfährt dabei so etwas wie eine Auferstehung oder Heiligsprechung oder was auch immer:

Königlich, königlich schollernden Klanges fuhr Blumenberg! aus dem Rachen des Löwen. War der Mann in der Höhle bisher nicht viel mehr gewesen als Luft an der Luft, schien auf den Namenszuruf hin eine andere Materie ihn zu befüllen. Lichtsendendes Blut zirkulierte in seinen Adern. Er strahlte und zitterte und hielt die schwankenden Arme weit ausgebreitet. Da hieb ihm der Löwe die Pranke vor die Brust und riß ihn in eine andere Welt. (S. 216)

Doch das Ganze funktioniert einfach nicht. Blumenberg schwankt zwischen Ergriffenheit und dezentem Understatement:

Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht, dachte Blumenberg. (S. 11)

Ob nun der Löwe, „so wirkmächtig er sich auch zeigte, doch nur ein Hirngespinst“ ist, bleibt letztlich offen. Allerdings geht vom Löwen nicht nur ein Kraftstrom aus, „der Blumenberg ungemein belebte“ (S. 25), sondern auch ein starkes „Fluidum des Trostes“, das den Philosophen widerlegt, der doch gerade noch über die Trostbedürftigkeit bei gleichzeitiger Untröstlichkeit des Menschen doziert hatte.

Jetzt auch kann sich Blumenberg an traumatische Dinge, wie den Tod von Verwandten in Theresienstadt und seine Zeit im Lager Zerbst, erinnern: „Aber der Löwe sorgte dafür, daß es ohne Angst geschah.“ (S. 126)

Und gar:

Der Löwe war gekommen, ihn in seinem Wesen zu hegen, wie dies kein Mensch je für ihn getan hatte oder je würde für ihn tun können. Einerseits. Andererseits war es bedauerlich, dass der Löwe keinerlei Wildheit gezeigt oder gar zum Sprung auf ihn angesetzt hatte. Sonst hätte er, Blumenberg, wie einst Hieronymus in einer wohlkomponierten Haltung der Andacht und mit süßer Beredsamkeit dem Löwen Zurückhaltung aufnötigen müssen. (S. 35)

Letztlich gewährt der Löwe so etwas wie spirituellen Trost, der jedoch völlig diffus bleibt:

Im geheimen floß aus dem Löwen die nie versiegende Zusicherung, das Netz der über Himmel und Erde geworfenen Namen, welches die Menschen zu ihrer Beruhigung ersonnen hatten, sei selbst dann noch reißfest, wenn Physiker, Astronomen, Biologen und philologische Raspelwerker mit feinen Scheren und Schabwerkzeugen emisg an jedem Namen und jeder Metapher, die im Gefolge der Namen heraufgezogen war, herumschabten und -schnitten. (S. 132)

Fazit

Ich war bereit, den Löwen zu sehen. War bereit, selbst den aufdringlichsten Hinweisen auf den Löwen in der Kunstgeschichte nachzugehen. Fand es aber schon arg dick aufgetragen, Blumenberg, den katholisch getauften Juden, als Nachfolger des Heiligen Hieronymus zu stilisieren, der ebenfalls einen Löwen als Begleiter in seinem „Gehäus“, der Studierstube, hatte.

Am Ende bleibt ungeklärt, warum ich Blumenberg und seinem Löwen überhaupt habe folgen sollen. Blumenberg, der die Bitte eines todkranken Freundes, ihn noch einmal zu besuchen, als frechen Zeitdiebstahl ansieht, der wie ein Eremit, ein Heiliger geschildert wird, der so von allen losgelöst sein nächtliches Arbeiten vorantreibt, dass seine Familienmitglieder keinen einzigen Auftritt haben. Abgesehen davon, dass seine Frau ihn eines Morgens tot auffinden darf.

Und dann die Sprache! Wendungen wie „Die gebrechliche Letztzeit war über ihn gekommen“ (S. 200) sind zumindest im ersten Teil noch unverbraucht und ausdrucksstark. Doch grelle Metaphern wie „Er fühlte sich ausgeglüht, als hätte man mit einem Flammenwerfer auf seinen Schädel gezielt. Jetzt hockte er da mit einem Haufen Asche im Hirn.“ (S. 118) oder „Der Löwe fungierte als Zuversichtsgenerator, der die Härchen des Protests, die sich in Blumenbergs Denken immer wieder aufstellten, ein wenig glattbürstete“ (S. 129) sind schon fast komisch und Passagen wie die folgende lassen ein arges Kopfweh „über mich kommen“:

Der Handprobe hatte sich Blumenberg nach wie vor enthalten. Zartdünne Berührpunkte existierten zwischen ihm und dem Löwen auch so. Ohne seine Einbildungskraft sonderlich anzustrengen, spürte er das Fell des Löwen an seiner Wange, spürte er die Tatze des Löwen auf seiner Schulter. Fühlte er solchen Kontakt, war er dem Zwang zur radikalen Selbstverfügung enthoben. Von der Enthärtung der physischen Wirklichkeit bei unverwandt in die Erscheinung hineinblühendem Sein ging etwas zutiefst Beruhigendes aus. (S. 123)

Ich lese Goethe, Shakespeare, Dostojewski. Doch nie wieder Lewitscharoff. Oder sollte es sich hier gar um einen Fall von „Des Kaisers neue Kleider“ handeln?

Anmerkungen

Hier geht es lang, wenn man wissen möchte, wie die Jury die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Lewitscharoff begründet.

Patrick Bahners spricht in der FAZ von einem königlichen Lesevergnügen, auch Uwe Justus Wenzel in der NZZ ist sehr angetan.

Auf literaturkritik.de klingt das schon wesentlich kritischer:

Es ist aber nicht die Abstrusität der Geschichte, die den Leser am Schluss ein wenig ratlos zurücklässt – abstruse Geschichten ist man von Sibylle Lewitscharoff wahrhaftig gewöhnt. Es ist das Zerfaserte der Geschichten, die nirgendwo hinführen, die seltsam verbindungslos und ohne erschlüsselbaren Sinn vor einem stehen.

Georg Diez auf Spiegel Online ist der einzige, der gegen Lewitscharoff polemisiert:

Jetzt mal im Ernst: Würden Sie dieser Frau Ihre Kinder anvertrauen? Würden Sie diese Frau zu sich nach Hause einladen? Würden Sie ihr ein Buch abkaufen?

Er begründet seine Aversion u. a. damit, wie die Autorin die Rolle der Sprache, des Stils bewertet. Sie schreibt tatsächlich so seltsame Dinge wie:

Der Stil wurzelt im Ethischen. Wie etwas erzählt wird, entscheidet sehr wohl darüber, ob darin die winzigen messianischen Sprengkapseln enthalten sind, deren die Literatur so bedürftig ist. Erlösung heisst das Zauberwort. Der Stil muss den Gnadenschatz bergen, der Erlösung vom Bann des Alltäglichen verspricht, Erlösung von Schmutz und Schuld, die wir alle, schwache, böse, schutzbedürftige Wesen, die wir sind, unablässig in uns und um uns anhäufen. […]

Nicht so sehr in die Ohren derer, die heute leben, müssen wir unsere Geschichten erzählen, sondern in die feinen Ohren der Toten. Mit ihnen müssen wir Verbindung aufnehmen. Es ist die vornehmste Aufgabe der Literatur, Totenwache zu halten und Totengespräche zu führen. Von der Weisheit der Toten müssen wir schmausen, an ihren Leiden muss sich unsere Gerechtigkeit messen.

Um zu ihnen zu gelangen, enthält unsere Grammatik die mehrfach gestaffelten Vergangenheitsformen, die in einem mühsamen Prozess der Menschwerdung entwickelt wurden, der einhergeht mit einer immer komplexeren Fähigkeit des Erzählens. Konjunktiv und Futurformen befreien uns vom So-und-nicht-anders-Sein, im Konjunktiv liegt sogar die schwindelerregende Möglichkeit, das Unmögliche im Gewand des Möglichen zu denken. Heute wird mit Vorliebe durchgängig im Präsens erzählt, kurzsätzig obendrein. An den Toten geht solches Erzählen vorbei. Sie sind nicht gemeint und antworten deshalb auch nicht. Wir alle bezahlen den Verlust der reichen Gedächtnisformen teuer. Stillos sterben wir im Präsens, ohne uns mit unserem Tod ins grosse Buch einzuschreiben, das einst von unserer Bosheit, unserer Grossherzigkeit, unseren Leiden und Freuden erzählen soll. (Lewitscharoff, in der Neuen Zürcher Zeitung, 31. Oktober 2009)

Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929)

Als der Portier aus der Telefonzelle 7 herauskam, war er ein wenig weiß um die Nase herum; er suchte seine Mütze, die er im Telefonzimmer auf die Heizung gelegt hatte. „Was war’s denn?“ fragte der Telefonist an seinem Schaltbrett, Hörer vor den Ohren und rote und grüne Stöpsel in den Fingern.

So beginnt der zehnte und immer noch lesenswerte Roman von

Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929)

Wir werden also sofort aus unserer Zeit der Handys und Smartphones herausgeholt und in das Berlin der zwanziger Jahre versetzt.

Georgi, der kleine Volontär, fasst am Ende des Romans die Handlung ganz zutreffend zusammen:

… kolossaler Betrieb. Immer ist was los. Einer wird verhaftet, einer geht tot, einer reist ab, einer kommt. Den einen tragen sie per Bahre über die Hintertreppe davon, und zugleich wird dem anderen ein Kind geboren. Hochinteressant eigentlich. Aber so ist das Leben – (S. 308)

Im Grand Hotel, dem vornehmsten Hotel der Stadt, treffen Menschen aufeinander, deren Lebenswege sich für kurze Zeit kreuzen und die danach nicht mehr die sein werden, die sie vorher waren.

Im Zentrum der Handlung stehen zu Beginn zum einen die alternde Balletttänzerin Grusinkaya, die spürt, dass ihre besten Tage hinter ihr liegen, und die noch einmal der Liebe begegnet. Zum anderen trifft der Leser den charmanten, lebenslustigen Hochstapler Baron von Gaigern, der ganz und gar seinem Vergnügen lebt und nun nach den überstandenen Gefahren des Krieges nach Wegen sucht, wieder zu Geld zu kommen. Dabei kämen ihm die wertvollen Perlen der Grusinkaya gerade recht. Außerdem begegnen wir dem braven Familienvater Generaldirektor Preysing, der schwierige, ja eigentlich ausweglose Geschäftsverhandlungen zu führen hat und dem in Berlin seine lang gepflegte Wohlanständigkeit abhanden kommt.

Von Kriegstraumata gezeichnet ist hingegen Doktor Otternschlag, der verzweifelt darauf hofft, dass irgendetwas passiert, das ihn aus seiner Lethargie und Einsamkeit erlösen könnte.

Er hatte einmal eine kleine persische Katze besessen, Gurbä mit Namen; seit die mit einem gewöhnlichen Dachkater davongegangen war, sah er sich darauf angewiesen, seine Dialoge mit sich selber zu erledigen. (S. 15)

Otternschlag ist auch derjenige, der seine hoffnungslose Sicht auf die Welt dem Hilfsbuchhalter Kringelein erklärt:

Gott weiß, was für Wunder Sie erwarten von so einem Hotel. Sie werden schon merken, was los ist. Das ganze Hotel ist ein dummes Kaff. Genau so geht’s mit dem ganzen Leben. Das ganze Leben ist ein dummes Kaff, Herr Kringelein. Man kommt an, man bleibt ein bisschen, man reist ab, Passanten, verstehense. Zu kurzem Aufenthalt, wissense. Was tun Sie im großen Hotel? Essen, schlafen, herumlungern, Geschäfte machen, ein bißchen flirten, ein bißchen tanzen, wie? Na, und was tun Sie im Leben? Hundert Türen auf einem Gang, und keiner weiß was von dem Menschen, der nebenan wohnt. Wennse abreisen, kommt ein andrer an und legt sich in Ihr Bett. Schluß. (S. 52/52)

Am interessantesten fand ich jedoch Kringelein – aus Preysings Fabrik -, der kurz zuvor erfahren hat, dass er unheilbar krank ist.

Kringelein hatte von Geburt an das normale Leben des Kleinbürgers geführt, das etwas verdrossene, aufschwunglose und verzettelte Leben des kleinen Beamten in der kleinen Stadt. Er hatte früh und ohne starken Antrieb geheiratet, ein Fräulein Anna Sauerkatz, Tochter des Kolonialwarenhändlers Sauerkatz, eine Person, die ihm von der Verlobung  bis zur Hochzeit sehr hübsch vorkam, aber kurz nach der Heirat häßlich wurde, unfreundlich, geizig und voll kleinlich-wichtiger Schwierigkeiten. (S. 26)

In einem Brief schwindelt er seiner Frau vor, noch einige Arzttermine vor sich zu haben, bevor er in ein Erholungsheim geschickt werde. Doch in Wahrheit hat er sein Erspartes und eine kleine Erbschaft an sich genommen und will nun im Grand Hotel herausfinden, wie sich Leben eigentlich anfühlt. Doch zu Beginn bekommt er erst einmal seine gesellschaftliche Randstellung zu spüren. Im Hotel wird er zunächst in einem der schlechtesten Zimmer untergebracht, der erste Abend war „mit Verlegenheiten durch Trinkgelder, falsche Ausgänge, mit verwirrten Fragen und kleinen Peinlichkeiten aller Art“ (S. 46) gefüllt.

Doch er gewinnt Baron von Gaigern als – keineswegs uneigennützigen – Mentor. Mit seiner Hilfe kleidet er sich bei einem teuren Herrenausstatter ein und erlebt zum ersten Mal „das taumelnde Leichtwerden, das zum Geldausgeben gehört“ (S. 187).

Doch zeigt Baum dabei geradezu liebevoll, dass der Erwerb der hochwertigen und passenden Kleidung nicht nur einen Konsumrausch darstellt, sondern Kringelein eben auch in die Lage versetzt, sich wie ein feiner Mann zu verhalten, alte Rollenmuster zu verlassen und sich selbst neu kennenzulernen. Er hat seinen großen Auftritt, als er seinem Chef gegenüber nicht mehr katzbuckelt, sondern ihm ins Gesicht sagt, was für ein hundsmiserabel mieser und gedankenloser Chef Preysing all die Jahrzehnte gewesen ist. Überhaupt spielt Geld eine entscheidende Rolle in vielen der geschilderten Episoden.

Gaigern lädt ihn zu einer Spritztour mit seinem Wagen ein – für Kringelein die erste Autofahrt überhaupt – und organisiert sogar einen Flug für ihn. Kringelein ist stolz, seine Ängste zu überwinden, und verlangt gierig nach immer neuen Eindrücken auf der Suche nach dem wahren Leben.

Indirekt verdankt Kringelein seinem Chef Preysing, dass er in der Person Flämmchens, einer lebenslustigen hübschen Frau, sogar die Schönheit findet:

Das gibt es, dachte er, das gibt es. So etwas Schönes gibt es wirklich. Es ist nicht gemalt wie ein Bild und nicht ausgedacht wie ein Buch und nicht so ein Schwindel wie auf dem Theater. Das gibt es, daß ein Mädchen nackt ist und so wunderbar schön, so ganz schön, so ganz – er suchte ein anderes Wort, fand aber keines. Ganz schön, konnte er nur denken, ganz schön. (S. 278)

Kringelein, der Todkranke, ist derjenige, der der Aufenthalt im Grand Hotel im Gegensatz zu den anderen nicht bereut:

Denn – lang oder kurz – es ist der Inhalt, der das Leben macht; und zwei Tage Fülle können länger sein als vierzig Jahre Leere: das ist die Weisheit, die Kringelein mitnimmt, […] (S. 303)

Fazit

Baums bildhafte Sprache hat vielleicht gerade durch die Patina, die ihr die vergangenen 80 Jahre verliehen haben, ihren Reiz, auch wenn ihr Stil als einfach und kunstlos galt, eben als der typische Stil einer erfolgreichen Unterhaltungsautorin.

Vom Neubau her hopste die Musik aus dem Tea-Room in Synkopen an den Wandspiegeln entlang. Der butterige Bratenduft der Diner-Zeit fächelte diskret daher, aber hinter den Türen des großen Speisesaales war es noch leer und still. (S. 7/8)

Nur Begriffe wie „Neger“ und „Rasse“ (auf den Baron bezogen) klingen uns heute zu Recht unangenehm in den Ohren.

Doch davon abgesehen, habe ich den Roman gern und mit Interesse gelesen.

Werner Fuld bescheinigt dem Werk in seinem Aufsatz „Die Drehtür als Schicksalsrad“ eine elegante Leichtigkeit und erläutert, dass die amerikanische Literaturkritik für diesen Roman den Begriff der „group novel“ geprägt habe.

Die Handlung war aus dem bisher obligaten Privatbereich der Wohnung in die ungeschützte Öffentlichkeit eines Hotels verlegt, in dem sich Menschen begegnen, die sich privat nie kennenlernen würden. Sie sind ihrer gewohnten Sphäre entledigt, sie brechen sogar mit ihrer Vergangenheit, um nur noch in einer veränderten Gegenwart zu leben, die jeder für sich, und sei es auf Kosten des anderen, nutzen will. (zitiert nach: Marcel Reich-Ranicki, Hrsg.: Romane von gestern – heute gelesen 1918 – 1933, Fischer 1989, S. 157)

Zwar wurde moniert, dass die Personen eher Typen statt Individuen wären, doch da jede für sich versucht, Antworten auf die Fragen nach dem Sinn im Leben zu stellen, fand ich sie gar nicht so schablonenhaft.

Anmerkungen

Ein hübscher Artikel zu Vicki Baum erschien 1950 im Spiegel.

Eine begeisterte Besprechung findet sich auf dem englischsprachigen Blog Beauty is a sleeping cat. Auch Karthauses Bücherwelt hat den Roman gern gelesen.

Und hier gibt es die Besprechung auf Sätze&Schätze.

Doktor Otternschlag jedenfalls meint:

Gibt es das Leben überhaupt, wie Sie sich es vorstellen? Das Eigentliche geschieht immer woanders. Wenn man jung ist, denkt man: Später. Später denkt man: Früher war es das Leben. Wenn man hier ist, dann denkt man, es ist dort, in Indien, in Amerika, am Popokatepetl oder sonstwo. Aber wenn man dort ist, dann hat sich das Leben gerade weggeschlichen und wartet ganz still hier, hier, von wo man davongerannt ist. (S. 51)

Die Zitate wurden der sehr ansprechend gestalteten Ausgabe der Büchergilde Gutenberg entnommen.

Zur Autorin

Vicki Baum, eigentlich Hedwig Baum, wurde 1888 als Kind einer jüdischen Familie in Wien geboren. Sie arbeitete zunächst als Harfenistin und wurde zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik.

1931 ging sie nach Amerika, da ihr bekanntester Roman Menschen im Hotel mit Greta Garbo verfilmt werden sollte. 1932 siedelte sie nach Kalifornien über, 1933 fielen auch ihre Werke der Bücherverbrennung zum Opfer. 1938 nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an und schrieb fortan nur noch in Englisch. 1960 starb sie in Hollywood.

Markus Werner: Am Hang (2004)

Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn. Verrückterweise bin ich sogar versucht mir einzubilden, er schleiche in diesem Augenblick ums Haus – mit oder ohne Dolch. Dabei ist er ja abgereist, heißt es, und ich höre nur Grillen und aus der Ferne nächtliches Hundegebell. Da fährt man über Pfingsten ins Tessin, um sich in Ruhe zu vertiefen in die Geschichte des Scheidungsrechts, und dann kommt einem dieser Unbekannte in die Quere, dieser Loos, und bringt es fertig, mich so aufzuwühlen, daß alle Sammlung hin ist.

So beginnt der Roman des Schweizer Schriftstellers

Markus Werner: Am Hang (2004)

Zum Inhalt

Der 35-jährige, ledige Scheidungsanwalt Clarin will im Tessin ein Arbeitswochenende einlegen. Dabei lernt er auf der Ausflugsterrasse eines Hotels einen älteren Mann kennen. Die beiden kommen während des Essens ins Gespräch, finden sich nicht unsympathisch, trinken und reden, auch über immer persönlichere Themen, und sie beschließen, das Gespräch am nächsten Abend fortzusetzen.

Und so besteht das Buch über weite Strecken aus der Wiedergabe dieser Gespräche, die sich allmählich zu einem Duell der Lebensanschauungen ausweiten.

Clarin ist ein eher oberflächlicher – man könne auch sagen – beziehungsunfähiger Zeitgenosse, der nicht an Liebe glaubt, die Ehe für eine Unmöglichkeit hält und alle Freundinnen abserviert, sobald diese anfangen zu „klammern“ oder beginnen, sich eine gemeinsame Zukunft auszumalen.

Er rühmt sich seiner Freiheit und muss doch erstaunlich oft an Valerie denken, der er vor einem Jahr den Laufpass gegeben hatte, und zwar hier im Tessin, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie ihm lästig wurde mit ihren Versuchen, all seinen Wünschen zu entsprechen.

Loos hingegen sagt über seine zwölf Jahre dauernde Ehe mit Bettina:

Mir ist sie Heimat gewesen. (S. 14)

Seit einem Jahr sei er Witwer und eigentlich habe er den Verlust noch nicht verwunden. Etwas, das Clarin gar nicht nachvollziehen kann.

Daneben werden viele andere Themen gestreift, doch die Frage nach der „richtigen“ Definition von Paarbeziehung durchzieht das ganze Buch. Loos ist derjenige, der gegen den Zeitgeist aufbegehrt, ob er sich in gerade angesagten „Dreiviertelleggings mit Raubkatzendruck“, dem Handy, dem hippen Singlesein äußert oder in der Orientierungslosigkeit der vielen, die nicht mehr wissen, welche Werte denn nun für ihr Leben gelten sollen.

Wer soll noch wittern, was vorgeht, wenn die Jungen vor lauter fahriger Betriebsamkeit, das heißt vor Apathie verblöden und die Alten vor lauter Nachsicht? (S. 26)

In dem Moment, wo eine Tendenz sich durchsetzt, mag sie auch noch so irre Züge tragen, ist sie auch schon im Recht. Was viele tun und billigen, kann gar nicht falsch sein: das ist die Logik, nicht wahr, die Logik des Blödsinns, die jeden Kritiker für blöd erklärt, nicht wahr, ich verliere den Faden. (S. 29)

Wissen Sie, was ich mir dann und wann ausmale, wenn ich auf meinem Sofa liege? Die Welt nach dem planetarischen Stromausfall! Und alle Aggregate am Ende, die Akkus leer, die Batterien ausgelaufen – das globale Gerassel verstummt. Stillstand und aschgraue Monitore. Belämmerte Menschen, getrennt von den Geräten, mit denen sie verwachsen waren, herausgerissen aus ihrer viereckigen Schattenwelt und geblendet vom Glanz der anderen. Hören Sie überhaupt zu? (S. 41)

Loos ermuntert Clarin, auch etwas von sich preiszugeben, und so wird Clarins egozentrische Sicht, mit der er sich alle Fragen nach Verantwortung oder den Folgen seines Tuns bisher vom Leibe gehalten hat, immer offensichtlicher.

Für Clarin – und vielleicht auch für Loos – endet die Begegnung äußert verstörend, und um wieder Klarheit zu gewinnen, schreibt Clarin die Geschichte auf:

Nun gut und so oder so, ich werde diesen Mann nicht los, indem ich mir befehle, nicht mehr an ihn zu denken. So würde er sich nur noch breiter machen und mein Bewußtsein noch irritierender verengen. Ich kenne das Phänomen, seit mich Andrea, es ist fünfzehn Jahre her und ich war zwanzig, wie einen Schirm hat stehenlassen. Inzwischen weiß ich eigentlich, wie man den Mechanismus unterläuft und wie mit einem Durcheinander von verfilzten Fäden methodisch zu verfahren wäre. Den Anfang suchen. Den Knäuel sorgsam entknoten, entwirren. Das Garn abwickeln, ohne Hast, und zugleich ordentlich und straff aufwickeln auf eine Spule. (S. 6 der Taschenbuchausgabe)

Doch ich bezweifle, dass Clarin lernfähig ist, Stille ist ihm höchstens als Ruhe zum Arbeiten angenehm, ansonsten flieht er sie:

Als mein Wein kam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich dem Fremden erneut zu nähern – ich bin ein kontaktfreudiger Mensch und finde es unnatürlich, zu zweit an einem Tisch zu sitzen und zu schweigen-, ich hob mein Glas und sagte: Zum Wohl, mein Name ist Clarin. (S. 9-10)

Fazit

Irgendwann ging mir der Konjunktiv der wiedergegebenen Gespräche gehörig auf die Nerven.

Am Schluss kam zwar noch einmal kurzzeitig Spannung auf, aber genau dieses Ende warf logische Fragen auf, die mir den ganzen Roman als nicht stimmig und als zu konstruiert erscheinen ließen. Ein Problem ist sicherlich auch, dass der Leser Valerie und Bettina nur aus Sicht der Männer erlebt, dadurch sind die Frauenfiguren nicht vor männlichem Wunschgefasel gefeit und bleiben seltsam leblos.

Der 1944 geborene Schweizer Autor hatte mich mit Bis bald sehr für sich eingenommen, doch abgesehen von einigen Passagen, in denen er wieder eine wunderbar klare und präzise Sprache findet, dass es eine Freude ist, hat mich Am Hang unbetroffen und ein wenig gelangweilt zurückgelassen.

Mir war die Anlage des Romans zu statisch, zu konstruiert, zu gewollt.

In diesem Fall bietet der Wikipedia-Artikel zum Roman eine lesenswerte kleine Einführung in die Rezeption des Werkes.

Josef Bierbichler: Mittelreich (2011)

Nu lass du den doch auch mal ran, murmelt der alte Mann und schlägt mit seiner Linken nach dem flatterhaften Vogel. Is nich alles für dich! Hier kriegt jeder was ab, nich nur die Großen. Auf dem Rücken seiner rechten Hand wippt fett ein Spatz und sticht mit seinem Schnabel nach dem Krümel Brot in seiner linken.

So beginnt das Romandebüt des 1948 am Starnberger See geborenen Schauspielers und Schriftstellers Josef Bierbichler.

Das Buch, das vom Spiegel als ein „Ereignis“ bezeichnet wurde, ist so etwas wie ein Gegenroman zu Blasmusikpop von Vea Kaiser. Hier ist der Blick auf Heimat, auf Provinz, genauer auf einen Hof und eine Gaststätte an einem See in Bayern nicht mehr liebevoll-ironisch, sondern ernüchtert und zutiefst pessimistisch.

Aber jetzt zum Inhalt

Den Rahmen des Romans bildet die Geschichte Viktors, des Knechts, den es nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bayern verschlagen hat und der nun die Geschicke der Seewirtsfamilie aus nächster Nähe beobachten kann. Zu Beginn des Romans füttert Viktor die Spatzen und zu dieser Szene kehren wir am Ende des Buches zurück. Zwischen diesen beiden Punkten begleiten wir über ca. 100 Jahre die Familien des jeweiligen Seewirts vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis 1984.

Mit den allmählich zahlreicher werdenden Sommergästen wird zunächst der Grundstock zu einem bescheidenen Wohlstand gelegt.

Mit den Gästen kam ein wenig Weitblick. Sie kamen in den kleinwinkligen Häusern so nahe heran, dass man ihnen nicht mehr auskommen konnte. Man machte ihnen Platz, wo es ging. Wo es nicht ging, saß man mit ihnen zusammen und hörte zu. Und langsam sickerte die Welt hinein, wo vorher Dunst und Erde war. (S. 15)

Im Zentrum steht vor allem die Familie der zweiten Generation: Pankraz, der seinen Traum auf eine Opernkarriere aufgeben muss, um die elterliche Seewirtschaft zu übernehmen, da sein Bruder nach einer Schussverletzung im Ersten Weltkrieg verrückt geworden ist. Der junge Seewirt heiratet seine Jugendliebe Agnes, doch seine Frau ist seinen ekelhaft rechthaberischen Schwestern ein ewiger Dorn im Auge, daran ändert auch die Geburt von drei Kindern nichts. Von diesen wiederum erfahren wir nur Näheres über Semi.

Immer wieder richtet sich der Blick des Erzählers auf die Scheinfrömmigkeit, die Fassade der Wohlanständigkeit, den Biedersinn, hinter dem sich Abgründe auftun. Weil gar nicht sein kann, was nicht sein darf, erklären die Eltern kurzerhand, dass der junge Semi sich den sexuellen Missbrauch im katholischen Internat nur einbildet. Er möge bitte nicht mehr davon reden. Und nach den großen Ferien muss das traumatisierte Kind wieder zurück in die Hölle.

Aber auch die Knechte, Mägde, die Sommergäste und die Flüchtlinge, die nach 1945 in die Gegend kamen, haben ihre Auftritte. Dabei entstehen aber keine vollständigen Charakterbilder, sondern eher Schnappschüsse von Typen oder wie Iris Radisch in ihrem Lesetipp sagt, von vormodernen Menschen, die ihr Leben lang am selben Ort blieben und sich noch nicht als Individuum mit einem eigenen Lebensentwurf verstünden.

Wir erfahren, wie die Dorfbevölkerung auf die Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg reagiert, wie die ersten Fernsehgeräte Einzug ins Dorf halten und wie die Einheimischen ihre Ressentiments gegen die Flüchtlinge irgendwann auf die wachsende Zahl der „Gastarbeiter“ übertragen.

Die Gesellschaft wandelt sich: Im Wirtschaftswunderland bricht die junge Generation mit altehrwürdigen Traditionen. Und die Sommergäste von einst sind zu Touristen geworden, die das ganze Jahr anreisen und deren Verhalten immer freizügiger wird. Als die ersten Touristen „oben ohne“ oder ganz nackt die Liegewiese belagern, weiß sich ein Bauer zunächst noch zu helfen und gießt kurzerhand Gülle um die ausgebreiteten Handtücher. Doch nach und nach setzt sich der Kapitalismus durch und man erkennt, wie viel Geld mit dem zunehmenden Gästestrom zu machen ist, dafür enteignet man auch schon mal die Besitzer attraktiver Seewiesengrundstücke.

Bierbichler schafft es, eine ganz eigene und unverbrauchte Sprache für seinen Anti-Heimatroman zu finden. Manchmal allerdings störte mich die Allwissenheit des Erzählers, uns wird genau gesagt, wie die Menschen zu sehen und zu beurteilen sind, ohne dass das immer so den Menschen abzuspüren ist. Das kann auch manchmal ins Holzschnittartige abgleiten. Oft werden wesentliche Dinge oder längere Zeitabschnitte nur kurz rekapituliert, dann wieder stehen die Protagonisten quasi im Scheinwerferlicht auf der Bühne und haben ihren Auftritt.

Dabei ist Bierbichler nicht zimperlich, es gibt eine Passage, bei der man sich kurzzeitig in einen Splatterfilm versetzt sieht: Man findet die Leiche des Paters, der die Jungen im Internat missbraucht hat, auf äußerst unschöne Weise auf, man könnte auch sagen, fachmännisch zugerichtet. Semi, der Seewirtssohn, hatte kurz vorher noch bei einer Hausschlachtung assistieren müssen. Realität oder eine surreale Rachefantasie des Opfers?

Im Mittelreich zwischen Gut und Böse, Diesseits und Jenseits – auch so lässt sich der Titel lesen – geschehen Dinge, die in ihrer Grausamkeit keiner klassischen Sage nachstehen. Es wird gemordet, geschlachtet, geliebt, es treten Hermaphroditen, tragische Helden und Chöre auf. Doch geordnet nach klassischem Maßstab ist hier nichts. Auch wenn chronologisch einigermaßen stringent 80 Jahre Deutschland erzählt werden: Die Handlung erinnert an die braun getönten Wimmelgemälde von Bosch und Breughel, denn die Szenen stehen um kein Zentrum, sondern spielen auf vielen kleinen Bühnen ihre Tragödien durch. (Kathrin Schumacher, Deutschlandradio)

Für mich am interessantesten: Bierbichlers Blick auf die Natur des Menschen. Da gibt er sich keinen Illusionen hin: Anhand von scheinbar belanglosen Gesprächen und gedankenlosem Stammtischgerede macht er die politische Einstellung der Bewohner, ihre Verdrängung der Geschichte und ihre tief sitzenden Vorurteile, ihre Unbelehrbarkeit deutlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg heißt es vom Seewirt lapidar, er könne sich an Details des Krieges nicht weiter erinnern und „wünsche nicht länger danach gefragt zu werden. Ende.“ (S. 67/68)

Nur wenn beim Wirt alle Vorhänge schon zugezogen waren und kein Fremder mehr in der Gaststube saß, wenn genug Bier und ein paar Schnäpse die weichen Birnen noch weicher hatten werden lassen und die Sehnsucht nach Rechtfertigung des Gewesenen noch sehnsüchtiger geworden war – dann war auch in den letzten Jahren schon hie und da etwas von der trotzigen Aufsässigkeit zu spüren, die dem aufgepfropften Schuldgefühl mannhaft Paroli zu bieten bereit war, das alle haben sollten, wenn es nach den Besatzern gegangen wäre, aber keiner so richtig spüren konnte und wollte, der trotz allem unverbogen und standhaft geblieben war. Wenn alles passte und die richtigen Leute beieinandersaßen, dann war es ein Leichtes, den verlorenen Krieg noch einmal genau durchzugehen und nachträglich zu gewinnen. Und auch, wen der Führer und seine Mannen vergessen hatten damals, als die Zeit drängte und nicht mehr alles erledigt werden konnte, was noch zu erledigen gewesen wäre – das alles kam an solchen verschwiegenen Abenden zur Sprache und beschäftigte die Köpfe auch dann noch, wenn sie schon wieder nüchtern waren. (S. 150/151)

Nur Tucek, der tschechische Tagelöhner, wehrt sich nach dem Krieg gegen dämliche Nazisprüche und formuliert so etwas wie einen Appell, der immer und überall gilt:

Früher ihr immer habt gesagt: Nix wissen! Alle Deitsche. Und dann habt ihr doch was gewusst. Und jetzt ihr redet wieder, ohne was zu wissen. Also was? Hast du gewusst was, oder hast du nix gewusst. Wenn du nix hast gewusst, dann frage. Geh und frage! Aber rede nicht Quatsch. (S. 182)

Doch der Seewirt will sich von einem einfachen Knecht keine Vorwürfe machen lassen. Unverschämtheiten werde er an seinem Tisch nicht länger dulden.

Auch die anderen nicken murmelnd zu des Seewirts klarer Sprache und zeigen damit an, dass der Teppich, der das unter ihn Gekehrte bisher deckte, noch immer tadellos den Heimatboden ziert. (S. 184)

Am Ende bin ich zwiegespalten: 392 Seiten und keine einzige sympathische Hauptperson, alle verstrickt in ihre Schwächen, Bosheiten und blinden Flecken. Das sorgt für eine betrübliche Lektüre.

Doch auf der anderen Seite ist diese fast ein Jahrhundert überspannende Chronik faszinierend. Die Geschichte sichtbar gemacht an einer allmählich zerbröckelnden Familie. Sperrig, wuchtig und von einem Menschenkenner erzählt, der für die menschliche Natur nur noch Spott und wenig Hoffnung hat. Der vorletzte Satz des Romans lautet:

Die Erde ist keine Heimat.

Hier findet man ein Interview aus dem Spiegel mit Bierbichler.

Vea Kaiser: Blasmusikpop (2012)

Alle Holzfäller schworen, sie hätten jenen Stammrutsch, der Johannes Gerlitzen zu Sommerbeginn 1959 die Schulter ausrenkte und den rechten Arm brach, nicht kommen sehen. Zu Johannes‘ Glück waren es nur fünf gefällte Fichten – Äste und Zweige waren bereits abgeschlagen -, die so schwer auf dem feuchten Waldweg lasteten, dass dieser abrutschte.

So beginnt das aberwitzig-gute Romandebüt Blasmusikpop von Vea Kaiser, die bei Erscheinen des Buches 23 (!) Jahre alt war.

Zum Inhalt

Johannes Gerlitzen wird nun also von den anderen Männern nach Hause gebracht, mit dem ortstypischen Starrsinn lehnt er es ab, einen Arzt aus der Stadt kommen zu lassen. Unter Zuhilfenahme einer kompletten Schnapsflasche wird ihm die Schulter eingerenkt und der Arm geschient. Dabei geraten die Männer in Streit.

Erst als Elisabeth [die Frau Johannes] einen Kübel Brunnenwasser über ihnen ausgoss, ließen sie voneinander ab. Seit sie Kinder waren, ging das so, und Elisabeth hatte, da sie unmittelbar neben den Ötschs wohnten, immer einen Kübel kalten Wassers parat. Am Gartenzaun standen fünf davon. (S. 12)

Johannes ist auf längere Zeit nicht in der Lage, seiner Arbeit als Holzschnitzer nachzugehen und vertieft sich stattdessen in die Bestände der kleinen Gemeindebibliothek in seinem abgelegenen Bergdorf in den Alpen. Diese Lektüre hat ungeahnte Folgen: Er findet seine große Leidenschaft, die Wissenschaft, und beschließt, Frau und Kind zurückzulassen, in die Hauptstadt zu reisen und dort Doktor zu werden.

Für die Dorfbewohner, die ihn davon abhalten wollen, sich in die feindliche Welt der „Hochgeschissnen“ hinauszuwagen, steht fest: Johannes ist verrückt geworden. Doch nichts kann ihn umstimmen, und so marschiert er einfach mal los.

Nun kann eine furiose Familien- und Dorfgeschichte über drei Generationen ihren Lauf nehmen, über die ich gar nichts weiter verraten möchte, weil ich jeden beneide, der diese Fülle an Geschichten, Lebensfreude, Menschenfreundlichkeit, eigenwilligen Figuren und unbekümmerter Situationskomik noch vor sich hat.

Zunächst befürchtete ich, dass das Ganze wie eine hübsche Seifenblase nicht wirklich für fast 500 Seiten reichen und sich in einer launigen Dorfchronik  erschöpfen würde, die über die wenigen traurigen Stellen rasch und nicht wirklich überzeugend hinweg huschte. Auch die quasi-wissenschaftlichen Exkurse des Enkels von Johannes zur Geschichte St. Peters fand ich arg erschöpfend. Dieser hat sich seinen Helden Herodot zum Vorbild genommen, um das Leben der „Bergbarbaren“, wie er seine Mitbürger freundlich-spöttisch nennt, zu erforschen.

Aber dann passiert das Gegenteil: Die lange Vorgeschichte passt am Ende wunderbar zu der Geschichte des Enkels, der seine liebe Not hat, mit seiner Herkunft aus dem Dorf der Barbaren zurande zu kommen; einem Dorf, das sich jedem Kontakt mit höherer Schulbildung, Hochsprache und Zivilisation so weit wie möglich entzieht und seine eigenen Regeln und Gepflogenheiten hat. Und das Ende des Buches ist so köstlich, dass ich selbst als kompletter Fußballmuffel kurz davor war, mein Herz für den Fußball zu entdecken.

Johannes, der Enkel, durchlebt seinen ganz eigenen Bildungsroman und er zeigt, dass wir erst dann sinnvoll in die Zukunft gehen können, wenn wir Frieden mit unserer Herkunft geschlossen haben, vielleicht sogar die Blindheit ablegen können, mit der wir diese bisher betrachtet haben.

Im Gegensatz zu Sigrid Löffler, die dem Buch eine naive Feier des Hinterwäldlertums unterstellt, halte ich den Roman für eine anregende Auseinandersetzung mit der Frage, was Provinz und Heimat für uns bedeuten. Sigrid Löffler schreibt:

Vea Kaiser ist eine opulente Fabuliererin; sie schwelgt in skurrilen Details und kann sich gar nicht genug tun, die Schrullen der kauzigen Dörfler genüsslich und liebevoll auszumalen. Sie ist auch eine begnadete Ausblenderin großer Realitätsbereiche, die ihr nicht ins Harmonisierungskonzept passen. Ihr positives, gänzlich unproblematisches Heimatbild lässt sie sich nicht trüben, auch nicht dadurch, dass ihre Dörfler alle Erscheinungsformen der urbanen Moderne ablehnen. Eine kritische oder auch nur ironische Distanz der Erzählerin zur Zivilisations- und Bildungsfeindlichkeit der Dörfler ist nirgends bemerkbar. Im Gegenteil. Es herrscht ein wohliger Ton heiteren und behaglichen Einverständnisses mit jedem noch so plumpen Zeichen der demonstrativen Rückständigkeit der Dörfler. (Kulturradio vom rbb, 13. August 2012)

Als Beispiel für die Tumbheit der Dorfbewohner führt Löffler ihre angebliche Technikfeindlichkeit an, ihre Ignoranz gegenüber Internet, Facebook und Handys. Sie hat dabei leider übersehen, dass gerade Johannes, der einzige Gymnasiast, der Verehrer Herodots, der Anhänger der „Zivilisation“ in diese Techniken erst durch seine neugewonnenen Freunde im Dorf eingeweiht werden muss.

Überhaupt ist gerade das eine der Stärken des Buches, dass Kaiser Schwarzweiß-Malerei vermeidet. So wenig wie sie das Misstrauen der Dorfbewohner gegenüber der Welt da draußen verschweigt, so offen bleibt am Ende auch, ob die nun denkbare Öffnung z. B. gegenüber dem Tourismus nun wirklich das Gelbe vom Ei sein wird. Und Löfflers Vorwurf der Ironiefreiheit lässt mich zweifeln, ob wir überhaupt das gleiche Buch gelesen haben.

Viel eher könnte man an Kleinigkeiten herummäkeln, am Titel, an sprachlichen Patzern wie „senile Altersbettflucht“ oder Metaphern, die wiederholt werden, oder daran, dass Simona, die im letzten Teil des Romans eine entscheidende Rolle spielt, ein bisschen zusammenkonstruiert wirkt. Aber ehrlich gesagt, das ist völlig unerheblich, ich war nach den 479 Seiten enttäuscht, dass der Roman schon zu Ende war, und wäre auch noch die nächsten dreißig Jahre den Leuten in St. Peter am Anger treu geblieben.

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Markus Werner: Bis bald (1992)

Mir wurde schwindlig, kaum daß ich eingestiegen war. Es roch nach Haarlack, es roch nach allem, wonach solche Menschen riechen.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Bis bald des 1944 geborenen Schweizer Lehrers und Autors, der mit einer Arbeit zu Max Frisch promovierte.

Der Ich-Erzähler Lorenz Hatt, Mitte vierzig, leicht misanthropisch und Denkmalpfleger, macht Urlaub in Tunesien. Er bucht einen dieser vom Hotel organisierten Tagesausflüge und bereut das schon kurz nach dem Einstieg in den Bus:

… mich störte einzig das Geschwätz des Reiseleiters, der zwar vorzüglich Deutsch und Französisch sprach, aber alles so mechanisch hersagte, wie man nur tausendmal Gesagtes sagen kann. Auch die Späße waren erprobt, man lachte zuverlässig, meine Verstimmung wuchs. Ich sah überall abstoßende Hinterköpfe auf dürren Hälsen oder auf verspeckten Hälsen, überall sah ich die schauderhaftesten Ohren, das fleischigste gehörte meinem Vordermann […] Um mich abzulenken, betrachtete ich eine Weile lang Grünbergs Armbanduhr, aber auch sie war häßlich, klobig wie jede Uhr, die mehr als Uhr sein will. Die in Zeitzonen eingeteilte Weltkarte auf dem Ziffernblatt empfand ich als Hochstapelei, und daß der schlummernde Grünberg jetzt noch den Mund öffnete, was den geistreichsten Schläfer zum Trottel macht, verdroß mich vollends. (S. 8 der Taschenbuchausgabe)

Doch dann passiert es: In einer der antiken Anlagen erleidet Hatt einen Herzinfarkt und überlebt. Zurück in der Schweiz schenken ihm die Ärzte nach einem zweiten Infarkt irgendwann reinen Wein ein: Findet sich kein Spenderherz für ihn, wird er sterben. Ohne Spenderorgan geben ihm die Ärzte noch maximal sechs Monate.

Während er nun auf die Nachricht wartet, dass man ein passendes Organ für ihn gefunden hat, erzählt er einem Zuhörer, über den wir nichts Näheres erfahren, seine Erinnerungen, seine Gedanken und Assoziationen. Er denkt an Regina, seine Frau, von der er aber schon lange getrennt lebt, an seinen Sohn Hans, dessen Tod die Eltern endgültig voneinander entfremdet hat. An seinen Beruf, in den er sich geradezu blindwütig hineingestürzt hat, um nicht über das Scheitern seiner Ehe nachdenken zu müssen. Und in dieser Situation kann es natürlich nicht ausbleiben, dass er sich auch um sein Warten auf ein Spenderherz und um den Tod so seine Gedanken macht:

Ich dachte also in dieser tunesischen Toilette an Regina, weil sie für mich, auch lange nach der Trennung, für Heimat stand, für etwas Heimatähnliches auf jeden Fall, sie war der Mensch, dessen Nähe und Beistand ich mir damals gewünscht hätte und manchmal auch heute noch wünsche, wenn ich mich frage, wer mich begleiten könnte, falls das Geschick ein eigentliches Sterben für mich vorsieht und nicht den Überraschungstod, der keiner Begleitung bedarf und mir trotz seines gutes Rufs auch nicht genehm ist. Ich weiß, er gilt den meisten als der schönste, obwohl man ihn nur den bequemsten nennen dürfte. Er ist ein Massenwunschbild, Augen zu, wer abgeht, will’s nicht auch noch wissen, wer wunschgemäß abrupt, das heißt besinnungslos verendet, dem widerfährt gewissermaßen nicht viel Neues. (S. 37)

Wenn er zu erschöpft ist, unterbricht er sich, und der Handlungsfaden wird an anderer Stelle wieder aufgenommen. Und hin und wieder kommt Frau Guhl, die sich um den Haushalt kümmert.

Dieser Lorenz rückt uns ganz nahe, sowohl in seinen Gedanken, die wir allerdings wohl nicht so klar und präzise und nicht so streng und schön ausdrücken könnten, als auch in seinen Versuchen, sich und anderen auf die Spur zu kommen. Dabei ist es egal, ob es um Nichtraucher, die Schweiz, die Tücken des Alleinreisens oder die Frage geht, ob er sich guten Gewissens den Tod eines jungen Motorradfahrers wünschen soll. Diesmal soll nichts unter den Teppich gekehrt, dem Anblick im Spiegel nicht mehr ausgewichen werden.

Eine Meldung kann noch so erschütternd sein, ein Vorfall noch so gräßlich: wenn die Meldung oder der Vorfall oder die Meldung über den Vorfall Elemente enthält, die meinen Standpunkt stützen und meine Sicht der Dinge als richtig erscheinen lassen, dann hat der Vorfall, hat die Meldung für mich auch etwas Lustbetontes. Ich nehme, wie jeder Mensch, am liebsten wahr, was mich bestätigt, das ist fatal, das ist der Anfang der Verblödung, verstehst du, eine Erfahrung müßte etwas sein, was uns widerlegt, was uns zumindest stutzig macht und das heißt weiterbringt und dehnt. Die Lust, die ich empfinde, wenn sich die Welt so gibt, wie ich sie sehe, ist erbärmlich, es ist die Lust des Spießers, der sich mit oder ohne Gartenzaun vom Leib hält, was ihm fremd und neu erscheint. (S. 84)

Scheinbar banale Situationen, die wir alle kennen, wie z. B. das Warten in einem beliebigen Wartezimmer eines beliebigen Arztes, lassen plötzlich und unaufdringlich noch eine andere Dimension durchscheinen. Und Lorenz fragt seinen Zuhörer, also auch uns:

Du blätterst in einer Zeitschrift. Hast du nicht plötzlich das Gefühl, daß du nicht um des Blätterns willen blätterst? Scheint dir dein Blättern nicht ein wenig fahrig? Ist nicht der Augenblick, in dem die Tür sich öffnen wird und du gerufen wirst, für dein Bewußtsein vordringlicher als das, was du gerade liest? Liest du denn überhaupt? Wenn ja: Liest du nicht im Bewußtsein, daß du gerufen werden könntest, bevor du die Lektüre des Berichts beendet hast? Und nimmt dir der Gedanke an diese Möglichkeit  nicht alle Sammlung? Freilich, wenn du nicht blättern und nicht lesen würdest, nur sitzen, nur […] darauf lauern, bis die Tür sich öffnet, dann wäre deine Lage noch beschwerlicher, die Wartezeit verginge kaum … (S. 114)

Und über Sätze wie „Es scheint mir das Organ zu fehlen, das mich ein Ende fassen läßt als Ende.“ (S. 79) lässt sich nicht einfach mal eben hinweglesen …

Krankheit, hatte Sophie gesagt, sei kein Unglück, sondern eine Chance, da sie die gewohnte Lebensführung unterbreche und dadurch auch thematisiere, der Einschnitt, Einbruch, Unterbruch schaffe Distanz und damit Übersicht, kurz, die durch Krankheit erzwungene Atemrast ermögliche jene Besinnung, zu der wir, eingespannt wie wir seien, auf andere Weise kaum noch kämen. Ich hatte entgegnet, daß es für die meisten Menschen besser sei, gesund zu bleiben und nicht zur Besinnung zu kommen – im Klammern gesagt: ich habe auch mich ein wenig mitgemeint -, denn wenn sie zur Besinnung kämen, müßten sie außer mit ihrer Krankheit auch noch mit dem Entsetzen fertig werden, das sie befallen würde, wenn sie ihr Dasein musterten. (S. 189)

Kurz gesagt, Markus Werner berieselt uns nicht; er mutet uns die Auseinandersetzung mit der eignen Endlichkeit zu.

Marcel Reich-Ranicki schrieb 2004 in einer Besprechung von Am Hang: Markus Werner

vermag exakt zu denken und glänzend zu formulieren. Seine Intelligenz kann sich sehen lassen, was man unseren Romanciers nur selten nachrühmen darf, und er hat viel zu sagen. [… und er] gehört spätestens jetzt zu den besten deutschsprachigen Schriftstellern seiner Generation.

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Astrid Rosenfeld: Adams Erbe (2011)

Fängt man an zu schreiben, weil es jemanden gibt, dem man alles erzählen will? Fängt man an zu erzählen, weil der Gedanke, dass alles einfach verschwinden soll, unerträglich ist?

So, eigentlich ganz vielversprechend, beginnt das Romandebüt Adams Erbe (2011) der Autorin Astrid Rosenfeld.

Begeisterte Bloggerinnen allerorten, auch die FAZ und die Neue Zürcher Zeitung nahmen sich des Romans an, der es 2011 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Meine Erwartungen waren also hoch.

Doch nach dem Lesen bin ich enttäuscht und ratlos, was hat die anderen dermaßen entzückt, was habe ich übersehen?

Zum Inhalt: erster Teil

Im ersten Teil erzählt uns der aus einer jüdischen Familie stammende Edward Cohen die Geschichte seiner ungewöhnlichen Kindheit und Jugend. Er wurde in den siebziger/achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren, lebt die ersten Jahre – zusammen mit seiner Mutter – bei seinen Großeltern in Berlin, verbringt die Jugend mit Mutter und halbkriminellem Stiefvater in wechselnden deutschen Städten, lässt sich schließlich durchs Leben treiben und nach oberflächlichen Versuchen, in Berlin ein bisschen zu studieren, ist er irgendwann als junger Mann Besitzer einer Boutique. Genau genommen erzählt er nicht uns diese Geschichte, sondern schreibt sie auf für Amy, mit der er eine Nacht verbracht hat und die dann zurück nach England gegangen ist. Das ist auch gut so, denn damit ist ihre Aufgabe im Buch bereits erledigt.

Zwischenfazit

Dieser Teil des Buches ist eine Art des Schelmenromans, mit der ich so gar nichts anfangen kann. Ich wünschte, das Buch wäre noch einmal kräftig überarbeitet worden. Die ständigen Perspektivwechsel zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Erzähler Edward schrammen unharmonisch gegeneinander.

Ich liebte meine Autos, ich hielt mich für einen Spezialisten und wollte später irgendwas mit Autos machen, wie wohl fast jeder sechsjährige Junge. Ich war wahrlich kein originelles Kind. Und als gerade der goldene Jaguar, das Juwel meiner Sammlung, den weißen Mustang rammte, hörte ich meinen Großvater schluchzen. Er saß hinter mir auf dem Boden. (S. 9 – 10)

Die Personen wirken manchmal witzig, skurril, ein wenig überzeichnet, was vielleicht der Kinderperspektive geschuldet sein soll. Oft aber auch zweidimensional, ja slapstickhaft: die gestrenge Oma, die betrunken-unglückliche Klavierlehrerin, der alberne Professor mit dem albernen Namen, die naiv-herzliche Mutter, der hübsche, aber halbkriminelle Jack Ross etc. Und wer käme auf die Idee, sein Herz jemandem auszuschütten, den er für dumm hält?

Magda (die Mutter des Erzählers Edward) hatte viele Freundinnen. Sie alle hielten meine Mutter für einfältig, trotzdem kamen sie ständig zu Besuch und schütteten ihr in unserem Wohnzimmer ihr Herz aus, denn Magda hatte Zeit und war eine gute Zuhörerin. (S. 14)

Jack Ross, der Stiefvater Edwards, wirkt wie eine Montage: Warum Jack, der so eine Ähnlichkeit mit Elvis haben soll und alle Frauen betört, sofort bereit ist, Magda zu heiraten, die bereits Ende 30 ist, bleibt schleierhaft. Seine Wutanfälle, in denen er Edward auch mal bewusstlos prügelt, bleiben unmotiviert und der Ich-Erzähler behauptet auch noch, dass seine Liebe zu seinem Stiefvater Jack nach einer solchen Prügelorgie noch nicht einmal einen Kratzer davonträgt. Da hilft auch die künstliche Verklärung Jacks als „Gott der Elefanten“ nicht weiter (Edward hatte Jack im Zoo vor dem Elefantengehege kennengelernt).

Zum Inhalt: zweiter Teil

Nach dem Tod der Großmutter findet Edward auf dem Dachboden seiner Großeltern ein noch ungeöffnetes Päckchen mit Aufzeichnungen seines Großonkels Adam, dem er so unwahrscheinlich ähnlich sehen soll. Dass jene Aufzeichnungen noch nie zuvor gelesen wurden, ist schon merkwürdig, denn Edwards Großvater hat auf dem Dachboden quasi seine letzten Jahre verbracht und Edward und seine Mutter haben in dieser Wohnung ja auch jahrelang gelebt.

Diese Aufzeichnungen bilden nun den zweiten Teil der Geschichte. Wir erfahren, dass Großonkel Adam, dem eine gewisse Naivität nicht abgesprochen werden kann, als junger Mann während der Zeit des Nationalsozialismus alles, buchstäblich alles aufs Spiel gesetzt hat, um seine große Liebe Anna vor dem Irrsinn der Barbarei zu retten. Ein verwegenes Unterfangen, für das er – ohne es zu ahnen – das Leben seiner Mutter und Großmutter zerstört.

Ein merkwürdiger Tauschhandel sorgt dafür, dass Adam schließlich sogar bis ins Warschauer Ghetto kommt, wo er Anna vermutet.

Fazit

Der Erzählerton ist jetzt ein ganz anderer, viel ernsthafter, aber ob das Ghetto der richtige Handlungsort ist, um den Versuch zu unternehmen, einem Unterhaltungs- und Liebesroman ein bisschen Spannung und Grusel zu verleihen, scheint mir persönlich mehr als fraglich. Für mich geht das alles nicht richtig zusammen.

Judith Leister hat in der FAZ  vermutet, dass eine ‚derart konventionelle Abhandlung eines so schwieriges Themas wie der Judenverfolgung‘ „dem unbefangeneren Zugang einer neuen Autorengeneration geschuldet“ sein könnte.

Die symmetrische Anordnung der wesentlichen Handlungslinien in Vergangenheit und Gegenwart kann man als künstlich empfinden oder als hilfreich:

Das Strukturprinzip der Spiegelung verbindet die beiden ungleich langen Teile. Nicht nur sehen sich die beiden Protagonisten Adam und Edward verblüffend ähnlich; auch ihre Mütter gleichen sich in ihrer Unscheinbarkeit und die Väter in ihrer Lebensuntauglichkeit, während die Grossmütter Edda und Lara als resolute Damen auftreten. Diese Muster mögen konstruiert erscheinen, aber sie erweisen sich auch als hilfreich für den Leser, der sich in diesem ausufernden Stoff erst einmal zurechtfinden muss.

Keine Ahnung, wieso Beatrice Eichmann-Leutenegger (NZZ vom 12. Juli 2011) diese Muster zur Orientierung gebraucht hat. So kompliziert war das nun wirklich nicht. Außerdem hätte sie noch erwähnen können, dass beide Vaterfiguren frühzeitig das Zeitliche segnen und dass beide Romanteile an eine Frau – einmal an Amy und einmal an Anna – adressiert sind, die beide für den Absender unerreichbar sind und deren Namen sich auch noch ähneln. Seufz.

Und ganz enttäuschend flach fand ich das Ende des Romans, in dem sich die beiden Handlungsstränge kurzzeitig begegnen.

Das Buch wirkt streckenweise wie aus Versatzstücken zusammengehauen, aber das Buch wäre vielleicht eine geeignete Filmvorlage. Und Rosenfeld hat ja als Casterin gearbeitet.

Wer wirklich etwas über Liebe in der Zeit des Nationalsozialismus lesen möchte, der könnte unter diesem Blickwinkel die Lebensgeschichte von Marcel Reich-Ranicki oder die Tagebücher von Viktor Klemperer lesen. Und wer wissen möchte, wie man die Nazi-Gräuel in Literatur übersetzt, dem sei beispielsweise Falladas Jeder stirbt für sich allein empfohlen.

Die TAZ hat in ihrem Montagsinterview vom 9. September 2011 die Autorin gefragt, was genau sie denn mit ihrem Buch, ihrem Erzählen habe festhalten wollen. Rosenfelds Antwort:

Das waren zwei Dinge. Zum einen die Frage, ob eine einzelne persönliche Begegnung für einen Menschen wirklich alles ändern kann. Und dann dieser völlig unoriginelle Gedanke über den Holocaust: Wie konnte das nur passieren? Das Erstaunen darüber, wozu Menschen fähig sind.

Vielleicht habe ich mich genau an dieser Mischung gestört. Auch wenn Rosenfeld selbstkritisch anmerkt:

Es tauchte schon auch die Frage auf, ob man das denn darf: als 34-jährige Deutsche aus der Ich-Perspektive über das Warschauer Ghetto schreiben. Aber der Konsens war, dass es geht. Gleich bei meiner ersten Lesung – bei den Literaturtagen in Rauris – saß im Publikum Aharon Appelfeld. Ein Holocaust-Überlebender, der seine eigenen Lebensgeschichte aufgeschrieben hat. Ich hatte Angst, dass er aufsteht und sagt: „Alles Quatsch!“ Aber er war wahnsinnig nett und hat mich nach Israel eingeladen. Ab da hatte ich keine Angst mehr.

In einem Beitrag des Deutschlandfunk äußert sich Rosenfeld auch zu dem Humor im Buch, den sie zum einen damit begründet, dass das eben ihre Stimme sei, und außerdem glaube sie daran:

… dass vor allem je schwerer das Thema ist, über das man spricht, desto mehr Sinn macht es, darin irgendeine Leichtigkeit zu finden, damit man wirklich die Geschichte bis zum Ende ertragen kann, einfach.

Und schließlich:

Also ich lache wahnsinnig gerne und natürlich gibt es auch die Momente im zweiten Teil, wo es nicht mehr komisch wird. Es ist ja auch fern ab von irgendwie Slapstick oder so was, aber, ja, ich finde das Leben teilweise, es ist halt so was eher nicht Witziges, sondern Groteskes und manchmal steht man da und denkt sich, jetzt muss ich aber lachen, weil es ist absurd.

Der zweite Grund gefällt mir so gar nicht: Warum sollte man das Unerträgliche für den Leser erträglich machen? Ist das nicht doch – wenn auch ungewollt – verharmlosend? Das Grauen wird bekömmlich.

Ein Interview mit der Autorin findet man in der Interview Lounge, in dem sie auch nach ihrer letzten Lektüre gefragt wird. Voller Begeisterung nennt sie Des Menschen Hörigkeit von Somerset Maugham (im englischen Original Of Human Bondage),  das Buch sei „spannend wie ein Krimi, obwohl es überhaupt nichts mit einem Krimi zu tun hat.“

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Klaus Modick: Sunset (2011)

Zwischen Himmel und Meer gähnt der Morgennebel, zieht Strand und Uferstraße in seinen silbergrauen Schlund, scheint aber vor den Palmen zurückzuweichen. Die hageren Stämme recken sich wie Wesen aus mythischen Zeiten, archaische Wächter des Landes, die mit scharf gefiederten Lanzen dem Nebel Einhalt gebieten.

So – in der Bildhaftigkeit ein bisschen bemüht und gekünstelt – beginnt der Roman um einen Tag im Leben des alternden Schriftstellers Lion Feuchtwanger:

Klaus Modick: Sunset (2011)

Kurz zum Hintergrund

Feuchtwanger, 1884 in München geboren und Sohn eines begüterten Margarine-Fabrikanten, fühlte sich schon früh zur Schriftstellerei hingezogen. Er studierte und promovierte, nahm jedoch wegen seiner jüdischen Abstammung Abstand von einer Habilitation.

Mit seinen historischen Romanen wurde er einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits 1918 erkannte er das Talent Brechts, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und Arbeitsbeziehung verbinden sollte, was die beiden jedoch nicht daran hinderte, sich bis zum Tode Brechts zu siezen.

Klaus Modick, Schriftsteller und Übersetzer, hat 1980 mit einer Arbeit zu Lion Feuchtwanger promoviert.

Zum Buch

Das Werk schildert einen einzigen Tag im Leben Feuchtwangers, und zwar im August 1956, als er in seiner amerikanischen Wahlheimat in Los Angeles das Telegramm vom Tode Brechts erhält.

Feuchtwanger ist allein zu Haus, da seine Frau Martha wegen Fragen zur Einbürgerung bei einem Anwalt ist. Die Nachricht vom Tode seines vielleicht einzigen Freundes löst nun eine Flut an Erinnerungen und Reflexionen auch über das eigene Leben und Schreiben aus. Er erinnert sich z. B. an den Tag, als er den jungen Brecht kennengelernte, an ihre nicht immer unkomplizierte Beziehung und ihre Exilantengemeinschaft in Amerika, die keineswegs frei von Tratsch und Spannungen und Eifersüchteleien war.

Zu diesem Kreis gehörten auch Werfels, Heinrich und Thomas Mann und Arnold Zweig. Doch im Laufe der Zeit sterben die ehemaligen Freunde und Weggefährten oder sie kehren nach Europa zurück, während Feuchtwanger unter den Argusaugen der McCarthy-Hysterie versucht, für sich und seine Frau Martha die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Im Laufe dieses Tages muss er nicht nur von seinem Freund Abschied nehmen, sondern sich auch Rechenschaft über sein eigenes Werk und Schreiben geben und sich eingestehen, dass er selbst nun alt ist und die Kräfte schwinden. Andauernde Magenschmerzen machen ihm zu schaffen…

Fazit

Interessant ist das Buch, wenn man der Beziehung zwischen Brecht und Feuchtwanger nachgehen möchte. Als Roman selbst hat mich das Buch kalt gelassen. Es wirkt auf mich an vielen Stellen gekünstelt und „nachempfunden“ und ich habe selten vergessen, dass sich da einer eben vorstellt, wie dieser Tag im Leben Feuchtwanger  ausgesehen haben könnte. Das wirkt kenntnisreich und vorzüglich recherchiert und doch arg blutarm.

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Erich Hackl: Familie Salzmann (2010)

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, das der Historiker Eric Hobsbawm zum Zeitalter der Extreme ernannt hat, trat der damals vierundzwanzigjährige Hanno Salzmann eine Stelle als Kanzleikraft der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse in Graz an.

Mit diesem Satz beginnt Familie Salzmann (2010),die „Erzählung aus unserer Mitte“, von Erich Hackl. 

Zum Autor

Erich Hackl wurde 1954 in Österreich geboren. Stefan Howald schreibt in der Wochenzeitung am 2. September 2010 über ihn:

Seit seinem Erstling vor über zwanzig Jahren hat Erich Hackl praktisch ein eigenes Genre entwickelt und gepflegt. Auf historisch-dokumentarischen Recherchen aufbauend, vergegenwärtigt er Geschichte durchs Einzelschicksal. Hackl, der als Publizist und Übersetzer aus dem Spanischen auch für die WOZ tätig ist, behandelt in seinen Büchern zentrale Brennpunkte des 20. Jahrhunderts: den spanischen Bürgerkrieg, den deutschen Faschismus bis hin zu Auschwitz, die Verfolgung der Roma, lateinamerikanische Diktaturen und Aufstandsbewegungen. Den Sprachlosen und Vergessenen verleiht er eine Stimme und hält sie im kollektiven Gedächtnis.

Eva Menasse hat ihn 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einmal treffend als einen “ besessene(n) Rechercheur und Grenzgänger zwischen Literatur und literarisch-historischer Reportage“ bezeichnet.

Zum Buch

Auch dieses Werk wurde sorgfältig recherchiert, Originaldokumente wurden verwendet, Archive durchstöbert und Interviews geführt.

Schon auf der ersten Seite wird den LeserInnen mitgeteilt, dass „Hannos Unglück begann, als er sich mit Jochen Koraus, einem gleichaltrigen Kollegen, anfreundete“.  Und zwei Seiten später heißt es:

… die Attacken auf Hanno verrieten eine intime Kenntnis der Familienverhältnisse, auch wenn sie im entscheidenden Punkt von einer falschen Voraussetzung ausgingen. Es war vor allem dieser eine beiläufig geäußerte Satz, der Hanno nachhaltig schaden sollte: Meine Oma ist einem KZ umgekommen. (S. 9)

Der Roman wird in weiten Teilen von einem nüchtern berichtenden Beobachter erzählt. Und der Leser muss lange warten, bis er erfährt, was es mit Hannos Unglück nun auf sich hat, denn zunächst wird die ganze Familiengeschichte nachgereicht:

Hannos Großmutter wurde am 5. Februar 1909 in Kothvogl, einem Dorf nahe der Ortschaft Stainz in Bezirk Deutschlandsberg, als vorletztes von dreizehn Kindern des Ehepaares Josef und Elisabeth Sternad geboren und eine Woche später unter dem Namen Juliana im Taufregister der Pfarre eingetragen.“ (S. 9)

Aus ärmlichen Verhältnissen kommend, sucht die Österreicherin, als sie alt genug ist, eine Anstellung als Dienstmagd und kommt dabei bis nach Bad Kreuznach in Deutschland. Dort lernt sie ihren späteren Mann, den überzeugten Kommunisten Hugo Salzmann, kennen, mit dem sie einen Sohn haben wird. 1933 müssen sie vor den Nationalsozialisten fliehen, zunächst ins Saarland, dann nach Paris. Die weiteren Etappen sollen hier nicht vorweggenommen werden.

Sorgfältig recherchiert, kühl mitgeteilt, ist die Lektüre bedrückend, aber aufgrund der zeitlichen Eingrenzung vom Leser ja auch „einzuordnen“: „Aha, die brutale Verfolgung der Kommunisten in Deutschland, noch eine Facette des Nationalsozialismus, über die ich jetzt ein bisschen mehr erfahren habe.“

Doch dann kommen die letzten Seiten des Romans, die wie ein Hieb in den Magen sind. Wir sind wieder bei Hanno, Mitte der neunziger Jahre, in der „Mitte unserer Gesellschaft“, und können es fast nicht glauben, was da Beängstigendes geschieht. Wer sich spätestens dann nicht fragt, was in Gesellschaft und unserer menschlichen Natur schiefläuft, dem ist auch nicht mehr zu helfen.

Abschließend hier noch der Link zu einem Ausschnitt aus einer Autorenlesung mit Erich Hackl in der Stadtbücherei Würzburg.

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein (1947, ungekürzte Neuausgabe 2011)

Die Briefträgerin Eva Kluge steigt langsam die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch. Sie ist nicht etwa deshalb so langsam, weil sie ihr Bestellgang so sehr ermüdet hat, sondern weil einer jener Briefe in ihrer Tasche steckt, die abzugeben sie hasst, und jetzt gleich, zwei Treppen höher, muss sie ihn bei Quangels abgeben. Die Frau lauert sicher schon auf sie, seit über zwei Wochen schon lauert sie der Bestellerin auf, ob denn kein Feldpostbrief für sie dabei sei.

So beginnt

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein (1947; ungekürzte Neuausgabe 2011)

Vorbemerkung

Fallada hieß eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen und lebte von 1893 bis 1947. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass dieser Roman erst 2009 ins Englische übersetzt und dann im englischsprachigen Raum zu einem phänomenalen Erfolg wurde? Dabei hatte schon Primo Levi das Buch als „the greatest book ever written about the German resistance to the Nazis“ bezeichnet.

Daraufhin kramte der Aufbau-Verlag mal etwas genauer in seinen Archiven und entdeckte das ursprüngliche Manuskript. So kam es 2011 zu einer Neuausgabe, diesmal ohne all die Veränderungen, die Falladas damaliger DDR-Lektor für angemessen hielt und gegen die der Autor ja nicht mehr hatte vorgehen können.

Zum Inhalt

Erzählt wird die Geschichte des Arbeiterehepaares Anna und Otto Quangel. Nachdem die beiden die Nachricht vom „Heldentod“ ihres Sohnes erhalten haben, kommen sie zu der Überzeugung, etwas gegen das herrschende Hitler-Regime tun zu müssen. Sie beschließen, Postkarten zu schreiben, in denen sie in einfachen Worten zum Protest aufrufen und die sie heimlich in öffentlich zugänglichen Geschäfts- und Wohnhäusern verteilen. Um sie herum gruppiert Fallada noch die Geschichten vieler anderer; von Mitläufern, Spitzeln, überzeugten Gestapo-Halunken, Kommissaren, Aufrechten, Gaunern, Opfern, Kommunisten oder Mitgliedern der Hitlerjugend.

Zur Entstehungsgeschichte

Das Buch ist oft genug bedrückend, wie Fallada selbst geradezu warnend in seinem Vorwort betont:

Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. […] Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.

Ja, Fallada war wirklich nicht begeistert, als Johannes R. Becher, Mitbegründer des „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und späterer Kulturminister der DDR, ihm vorschlug, die Geschichte des Berliner Ehepaares Hampel als Grundlage für einen Roman zu verwenden. Der Kulturbund hatte nämlich Prozessakten von Widerstandskämpfern erhalten und suchte nun Autoren, die darüber schreiben konnten. Hampels hatten von 1940 bis 1942 auf Karten und in Briefen gegen das Regime aufbegehrt. „Aber Fallada lehnte ab: Er selbst habe sich im großen Strom mittreiben lassen und wolle nicht besser erscheinen, als er gewesen war.“ (Nachwort von Almut Giesecke, S. 689 der Taschenbuchausgabe)

Jürgen Kaube schreibt am 18.03.2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Dann aber nimmt ihn ‚die völlige Trostlosigkeit des Stoffes‘, dem jede Aussicht auf die Zukunft fehle, doch gefangen: Soeben erst aus einer Entziehungskur und einem Nervenzusammenbruch wieder auftauchend, schreibt er gut achthundertfünfzig Manuskriptseiten in kaum vier Wochen, nach dem vorliegenden Druck sind das mehr als zwanzig Buchseiten pro Tag. Man fasst diese Leistung gar nicht, zumal der Roman gut erzählt ist. Keine drei Monate später stirbt Fallada, durch Morphium, Alkohol und Arbeit physisch ruiniert, an Herzversagen.“

Fazit

Das Buch ist in weiten Teilen sowohl bedrückend als auch schmerzhaft. Wenn mir schon als Leserin der fiktive Selbstmord einer zu Tode gehetzten Jüdin so nahegeht, dann bekommt man zumindest eine winzigkleine Ahnung von dem damals alltäglichen Leiden. Das finde ich für Literatur sehr, sehr viel. Das Buch lässt einen manchmal geradezu vergessen, dass es in großen Teilen eine literarische Fiktion ist.

Manchmal ist es aber sogar witzig, vor allem auch spannend, ein ganz kleines bisschen hoffnungsvoll und so unglaublich lebensnah. Man kann die Figuren sehen und förmlich mit Händen greifen. Es lässt einen vor allem auch besser verstehen und nachvollziehen, wie sich das ganz alltägliche Leben unter einer Terrorherrschaft verändert, wie übelste Triebe wie Machtgier, Grausamkeit und Habgier sich nun ungehindert austoben dürfen. Und wie das Denunziantentum wie ein Krebsgeschwür um sich greift, das daraus resultierende Misstrauen und das Emporheben und Ehren des Primitiven, des Brutalen und Dummen.

„Alle haben sie Angst!“, entschied das Braunhemd verächtlich. „Warum eigentlich? Es ist ihnen doch so leicht gemacht, sie brauchen nur zu tun, was wir ihnen sagen.“

„Das ist, weil die Leute das Denken nicht lassen können. Sie glauben immer, mit Denken kommen sie weiter.“

„Sie sollen bloß gehorchen. Das Denken besorgt der Führer.“ (S. 210)

Und so ist es kein Zufall, dass die Quangels auch folgende Karte schreiben:

Führer, befiehl, wir folgen! Ja, wir sind eine Herde Schafe geworden, die unser Führer auf jede Schlachtbank treiben darf. Wir haben das Denken aufgegeben… (S. 491)

Das Buch zeigt die Umwertung aller Werte, wenn unklar zu werden droht, was eigentlich falsch, was eigentlich richtig und recht ist:  Der Anwalt setzt noch ein Gnadengesuch auf, in dem er auf „Irrsinn“ plädieren will:

Das Gnadengesuch wurde aufgesetzt, Irrsinn war der Anlass, der den Führer zur Gnade bestimmen sollte, aber der Anwalt wusste gut, dass sein Mandant nicht irrsinnig war. (S. 631)

Und es geht auch um die Frage, ob und wem der kleine private Widerstand überhaupt nutzt. Letztlich geht es um die Frage des Gewissens. Woher wissen wir, was gut und recht ist, und sind wir bereit, danach zu leben?

Helen Dunmore schreibt im Guardian am 7. Januar 2011: „Alone in Berlin, with its emphasis on the solitude in which moral choices are made, and the human loneliness of those who are persecuted, forces the reader back on very difficult questions. What, inside such a solitude and in such a society, would we do ourselves? Would we resemble the Quangels, or would we resemble those who type out their interrogation records? Fallada shows very clearly how terror, used as a matter of routine, rapidly corrupts individuals, neighbourhoods, cities and a whole nation.“

Sibylle Berg: Der Mann schläft (2009)

Ich war alt genug  zu wissen, dass es Glück ist, einen zu treffen, den man so gern hat, dass er einen nie stört. (S. 11)

Eine nicht mehr junge Frau, Verfasserin von Gebrauchsanweisungen, an deren Nutzen sie selbst nicht glaubt, sitzt auf einer chinesischen Insel fest, auf der sie eigentlich nur den Urlaub mit ihrem Partner verbringen wollte, doch der Mann kommt ihr abhanden, als er eine Besorgung erledigen wollte. Sie leidet, wartet auf seine Rückkehr, trauert und blickt auf die vier gemeinsamen Jahre mit dem Mann zurück. Und so wechseln die Kapitel zwischen der Gegenwart auf der Insel und dem Rückblick auf die gemeinsame Vergangenheit ab.

Auf Dauer wirkt das etwas ermüdend.

Bergs Sprache ist wie immer sehr pointiert, mit wunderbar klaren Beobachtungen und stets leicht säuerlicharrogantem – oder anders ausgedrückt – misanthropischem Unterton, z. B. wenn sie eine Bekannte beschreibt:

Allein war sie immer gewesen, und wie fast alle, die immer allein blieben, hatte sie sich fast ausschließlich mit Projektionen aufgehalten, war davon ausgegangen, dass jeder Mann, der sie in Aufregung versetzte, das Gleiche für sie empfinden müsste, hatte wegen der mangelnden Zivilcourage der Männer die meiste Zeit ihres Lebens auf Nachrichten gewartet, die nie eintrafen, war bitter geworden über dem Warten und fühlte sich betrogen. […] Wie hilfreich es für viele wäre, sich nur kurz von außen betrachten zu können. Der seltsamen Bekannten wäre dann klargeworden, dass es für niemanden einen Grund geben konnte, sein Leben mit ihr zu teilen. Die Chance, dass sich einer fand, der sie für den Sonnenschein seiner Existenz hielt, war sehr gering. […] Sie war ein Mensch, den nichts auch nur für eine kurze Zeit glücklich machen konnte. Ich glaube, sie hatte das Gefühl, wunschlos zu sein, nie kennengelernt. Es gab nichts, was sie nicht auf sich bezog; sah sie eine schöne Landschaft, so erschien es ihr ungerecht, dass sie darin kein Haus besaß. (S. 40/42)

Auch die Neue Zürcher Zeitung schreibt am 8. September 2009 in ihrer Rezension Das Zen der Müdigkeit:

Sibylle Berg zeichnet ein zauberhaftes Porträt einer Misanthropin, der es zunehmend nicht gelingt, uns Leser und sich selbst von ihrem Existenz- und Weltekel zu überzeugen. Sie liebt sich mehr, als sie sich zugesteht, und sie hängt stärker am Leben, als ihre kultivierte Todessehnsucht vermuten lässt. Sie leidet wie ein Hund und hundert Mal mehr als jeder Verzweifelte in einem gediegenen französischen Film. Sie sagt die schrecklichsten Sätze und trifft damit ins Prekäre der Existenz […] Und geradezu abgründig komisch entlarven ihre Bonmots jede Liebhaberei als blinde Schwärmerei: ‚Italien war attraktiver gewesen, als ich es noch nicht so genau gekannt hatte.‘ […] Sibylle Bergs Roman kokettiert auf vielfältige Weise mit einem gepflegten Lebensüberdruss; aber das bildet lediglich die Staffage dieser Reise in die Einsamkeit. Im Hintergrund lauern die Melancholie, die Trauer über eine unzulänglich eingerichtete Welt und die stille Wut am eigenen Ungenügen.

Aber irgendwann nervt’s als Attitüde, alle Personen, selbst die Chinesen sprechen den typischen Sibylle Berg-Sound. Und manchmal hoffnungslos plump und anbiedernd, speziell wenn die Erzählerin meint, über Christen (Sekten, Gurus, für sie ohnehin alles das Gleiche) lästern zu müssen.

Dabei stellt sie selbst eine der großen Menschheitsfragen, wie man nämlich die Vergänglichkeit des Lebens aushalten kann. Warum sie allerdings meint, dass man mindestens einmal am Tag das eigene unvermeidliche Ende betrauern soll, wenn doch sowieso alles so blöd ist, bleibt ein Widerspruch, den sie nicht auflöst.

An einer Stelle merkt die Erzählerin an, dass sich bisher keiner

der Anstrengung unterzogen [habe], eine Liebe zu schildern, die ruhig und still verlief, die freundschaftlich war und eine gewisse Niedlichkeit ausstrahlte. Von Liebe berichten, so schien es, ausschließlich Personen, die mit dem Begriff und dem Gefühl dazu nicht vertraut sind. (S. 95)

Sie versucht also genau das: ihre gedämpfte stille Zweisamkeit der letzten vier Jahre zu beschreiben. Das Ideal: am besten den ganzen Tag mit dem anderen im sicheren Bett  zu verbringen. Dies sei das Glück; dafür und auch für die brutale Katastrophe, von einem Moment auf den anderen plötzlich allein zu sein, findet sie Worte, die treffen und einem ganz neu erscheinen.

Auch das Zwiespältige und Doppeldeutige an unserer Vorstellung von Liebe wird nicht verschwiegen: Liebt man bloß, weil man Angst hat, allein zu sein? Liebt man bloß, um sich so in seiner behaglich-privaten Idylle die Welt – und unsere Verantwortung – vom Leib zu halten?

Das stellt man sich doch nicht vor, in seinen Träumen von Liebesgeschichten; dass die Anwesenheit von jemandem vierundzwanzig Stunden am Tag bedeutet, das eigene Leben zu ändern; man träumt von Sekundenaufnahmen, von Wegen in der Herbstsonne, Licht, das durch Küchentüren fällt, und Großmutter lebt noch. Dass es hauptsächlich meint, neben einem anderen zu gehen, zu liegen oder zu stehen, wenn man davon spricht, sein Leben miteinander zu verbringen, ist ein Umstand, der in der Weltliteratur kaum Erwähnung findet. Ich konnte mich sehr gut neben dem Mann aufhalten. (S. 97)

Und in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 23. August 2009 sagt sie ein paar sehr vernünftige Dinge über die seltsamen Ideen, mit denen viele an der Partnersuche scheitern.

Doch vor allem der Schluss des Romans hat mich nicht überzeugt. Berg sagt zwar im Interview, das im Buch abgedruckt ist, dass die Art, in der der Leser das offene Ende interpretiert, dessen Bewusstseinsstand widerspiegele, aber im Grunde fehlt ihr einfach eine schlüssige Motivation für das Verschwinden des Mannes. Zwar mag es im tatsächlichen Leben egal sein, wodurch die Katastrophe zuschlägt, „wenn das eintritt, vor dem man sich immer am meisten gefürchtet hat“, und nur die Frage zählt, wie man dann weiterleben kann. Aber für eine Romanhandlung finde ich es schon ein bisschen wurstig.

Den Begeisterungsausbruch eines Rezensenten, dass Berg eine der wenigen deutschen Autoren sei, für die es sich lohne, eine Buchhandlung zu überfallen, finde ich – um ein Lieblingsadjektiv der Erzählerin zu bemühen – eher niedlich.

Hier noch ein Zitat, das der ein oder anderen vielleicht hilft, das Schnarchen des Partners besser zu ertragen:

Das war der Zeitpunkt, an dem auch wir meist das Licht ausschalteten, ich mich zum Einschlafen nahe an den Mann legte und den kleinen Geräuschen lauschte, die schöner waren als alle, die ich kannte, weil sie einer machte, den man mochte, und weil er doch leben musste, um Geräusche zu machen, die mir ein Zelt bauten, in der Nacht. (S. 249)

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Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe: Bildungsroman (2011)

„Setzen“, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte: „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf“; und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie mit den Ökosystemen, den Naturhaushalten, den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen unter den Arten, zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, dem Wirkungsgefüge von Gemeinschaft und Raum.

Mit diesen Sätzen beginnt Der Hals der Giraffe: Bildungsroman von Judith Schalansky. Am Ende frage ich mich, warum ich das bloß gelesen habe.

Eine Biologie- und Sportlehrerin, in der DDR sozialisiert, bis ins Mark verknöchert – keine Ahnung, wie sie zu ihrer Tochter gekommen ist, die aus gutem Grund, wie man später erfährt, in Amerika lebt und sicherlich nicht mehr ins dieses ostdeutsche Kaff zurückkehren wird. Ihr Leben eine einzige Tristesse, ihre Ehe eine sprachlose Wohngemeinschaft, sie selbst unfähig, ihre Schüler als Menschen wahrzunehmen, weshalb sie auch das Mobbing, das in ihrer Klasse stattfindet, komplett und konsequent empathielos ignoriert.

Ihre Versuche, wirklich alles mit Darwin, Anpassung und Erblehre zu erklären und sich das Leben und die Sinnfragen vom Leib zu halten, am Ende natürlich zum Scheitern verurteilt.

Abhauen war ja keine Kunst. Das hatte sie immer den anderen überlassen. Es hatte nur eine ganz kurze Zeit gegeben, in der sie mit dem Gedanken spielte. Aber das war lange her. Sie war geblieben. Freiheit wurde überbewertet. Die Welt war entdeckt, die meisten Arten bestimmt. Man konnte getrost zu Hause bleiben. (S. 42)

Der bissig-resignative Erzählton wird konsequent durchgehalten, doch die Frage bleibt: Warum soll man das lesen?

Da, wo es spannend werden könnte, wo ihr die Wirklichkeit ganz nahe rückt, als ihr Direktor sie mit der Frage konfrontiert, ob sie das Mobbing in ihrer Klasse tatsächlich nicht bemerkt habe, wo man nun gern ihre Reaktion darauf wissen würde, ist das Buch zu Ende.

Doris Dörrie: Was machen wir jetzt (1999)

 Ich bin im Begriff, meine Familie zu verlieren. Meine Ehe ist auf dem Hund, und meine Tochter Franka hat sich in einen Kerl verknallt, der sie nach Indien entführen will.

So beginnt

Doris Dörrie: Was machen wir jetzt (1999)

Also männliche Midlife Crisis, die den Antihelden unfreiwillig in ein buddhistisches Kloster führt, wo er auf seine Tochter aufpassen soll, damit die mit dem attraktiven Lama nicht einfach abhaut. Flott geschrieben, aber die Personen bleiben Typen, der Zufälle sind viele, das Ende aufgesetzt.

Ein bisschen Lebenshilfe nach dem Motto:

Der schönste Augenblick eures Lebens, sagt er zärtlich, der schönste Augenblick ist – jetzt. … Warum?… Sehr einfach. Weil es der einzige eures Lebens ist. Dieser Augenblick kommt nie wieder. Und wenn ihr ihn verpaßt, verpaßt ihr euer Leben…. Hört auf zu rennen, sagt Rinpoche leise, wie zu einem Kind, das aufhören soll, mit seinem Essen zu spielen. Hört auf, der Zukunft hinterherzurennen. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht da, die Gegenwart ist euer Zuhause.

Als Film würde ich mir das gern gefallen lassen, aber Volker Hages Einschätzung: „Lange hat es keine Autorin mehr gewagt, so mutig in die Seele eines Mannes zu blicken.“ finde ich dann doch etwas weit hergeholt. Mutig? Mutig sind die Menschen, die in Syrien ihren Protest unter Lebensgefahr auf die Straßen tragen.

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott (2009)

Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen. Und da sieht man, wie ein Mensch sich verändern kann. Weil heute bin ich die Ruhe in Person.

So beginnt

Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott (2009)

Nun geht mir meine ursprüngliche Begeisterung für die Kriminalromane um Brenner, die ich zuerst in Neuseeland in einem der backpackers entdeckt habe, doch ein wenig abhanden. Diese so eigene Erzählerstimme kam mir diesmal arg bemüht vor. Ja, sogar wurschtig, der Erzähler ist zwar im letzten Band ins Jenseits befördert worden, redet aber trotzdem weiter: Die Leichen häufen sich eher so nebenbei, weil der Erzähler mehr mit sich, seinen Assoziationen und Kommentaren beschäftigt ist. Ab und zu aber ein Satz, den ich in seiner treffenden Boshaftigkeit am liebsten mal in meinem Bekanntenkreis ausprobieren würde, müsste ich nicht fürchten, dann doch um einen Bekannten ärmer zu sein:

So wie man einen Vielredner manchmal bitten muss: Sprich doch deine interessanten Gedanken in einen Plastiksack und stell ihn mir vor die Tür, ich hör’s mir später an. (Taschenbuchausgabe, S. 93)

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Daniela Strigl erklärte aber in der Frankfurter Allgemeinen vom 26. September 2009 den unverwechselbaren Reiz der Haas’schen Sprache sehr treffend:  „Haas ist Haas wegen seiner Sprache. Die verdankt sich wesentlich einer urösterreichischen Form: der Suada. Eine scheindialogische Attitüde, die sich an ein Vis-à-vis richtet, das programmatisch nie zu Wort kommt, die ihm die Welt erklärt und im Übereifer Satzglieder verschluckt, weil sich die eh von selber verstehen: „Seelenverwandtschaft Hilfsausdruck“. Die eigentliche Heldin des Buches ist diese Rede, die sich quasi materialisiert, die ihre Plastizität aus dem Gesprochenwerden bezieht und deshalb beim Vorlesen noch gewinnt – als würde ein unendlich redseliger Mensch am Wirtshaustisch schwadronieren, in einer Sprache allerdings, die den mündlichen Ausdruck zu einer höchst raffinierten Pseudonatürlichkeit verfremdet. Wer liest, also eigentlich zuhört, ist dem Redner ausgeliefert, seinen Idiosynkrasien, seiner Besserwisserei, seinem Hang zur Arabeske und zu gezielt danebengetroffenen Bildern: „Hör zu, warum soll jedes Blutbad mein persönliches Bier sein.“

Theodor Fontane: Grete Minde (1879)

‚Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz niedrig, und zwei Junge drin.‘   ‚Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?‘   ‚Ich sag es nicht. Du mußt es raten.‘

Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbargärten voneinander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein Mädchen und ein Knabe, ließen sich nur halb erkennen, denn so hoch sie standen, so waren die Himbeerbüsche hüben und drüben doch noch höher und wuchsen ihnen bis über die Brust.

So beginnt

Theodor Fontane: Grete Minde (1879)

Die Novelle spielt zu Beginn des 17. Jahrhunderts und handelt von einer jungen Frau, die aus Hass, Rache und Enttäuschung 1617 die Stadt  Tangermünde an der Elbe anzündet und dabei nicht nur sich, sondern viele Menschen in den Tod reißt.

Ich glaube kaum, dass so – durch Herzenskälte der Familie – Wahnsinn entsteht. Jedenfalls läuft die Tragödie geradezu mechanisch zwanghaft ab. Am Ende alle tot. Die Personen eindimensional, und gerade der miese Bruder ein richtiger Pappbösewicht.