Christopher Fowler: Full Dark House (2003)

Nachdem schon The Book of Forgotten Authors von Christopher Fowler (1953 – 2023) eine so vergnügliche Lektüre war, war ich gespannt auf Fowlers preisgekrönte Kriminalromane um die beiden Londoner Sonderermittler Arthur Bryant und John May. Der erste Band Full Dark House erschien 2003, der letzte Band London Bridge is falling down kam 2021 heraus.

Full Dark House beginnt mit einem Paukenschlag.

It was really a hell of a blast. The explosion occurred at daybreak on the second Tuesday morning of September, its shock waves rippling through the beer-stained streets of Mornington Crescent. It dentonated car alarms, hurled house bricks across the street, blew a chimney stack forty feet into the sky, ruptured the eardrums of several tramps, denuded over two dozen pigeons, catapulted a surprised ginger tom through the window of a kebab shop and fired several roofing tiles into the forehead of the Pope, who was featuring on a poster for condoms opposite the tube station. (S. 11)

Die Explosion hat die Diensträume der Peculiar Crime Unit – spezialisiert auf äußerst merkwürdige Verbrechen, die die reguläre Polizei nicht mal mit der Feuerzange anpacken würde – pulverisiert, das Tragische dabei ist, dass Arthur Bryant, mit über 80 der dienstälteste Ermittler der Unit, sich noch im Gebäude befunden hatte, und so findet einige Tage später seine Beerdigung statt. Sein überlebender Partner John May, nur drei Jahre jünger als grumpy Arthur, sieht nur eine Möglichkeit, mit der Trauer um seinen Kollegen weiterleben zu können. Er muss herausfinden, wer seinen übellaunigen, für allerlei Esoterisches offenen und stets frierenden Partner umgebracht hat.

Es verdichten sich die Hinweise, dass die Spuren bis zurück in den Zweiten Weltkrieg führen. Während des Blitz, als London 1940 und 1941 von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde, lösen der 19-jährige John und der 22-jährige Arthur ihren ersten gemeinsamen Fall. Eine Reihe seltsamer Todesfälle gefährdet die unfassbar teure Aufführung der Oper Orpheus in the Underworld im Palace Theatre, die die Moral der kriegszermürbten Londoner heben soll.

Und so wechselt die Geschichte zwischen dem immer neue Haken schlagenden Fall, der inzwischen 60 Jahre zurückliegt, und der Gegenwart, in der John den Mord an seinem Freund und Kollegen klären muss.

Sind Zeitsprünge oft nicht mehr als ein nervtötendes Mittel, mit dem künstlich Spannung erzeugt werden soll, war das hier nicht der Fall: In beiden Zeitebenen verfolgt man die Geschehnisse quasi mit angehaltenem Atem. Unbedingt will man wissen, wie es weitergeht, und zwar egal, in welchem Jahr man sich gerade befindet.

Das Zweite, was diesen Krimi auszeichnet, ist die gelungene Einbettung in die zwei Zeitebenen. Hier hat einer zum Blitz und zum London der Kriegsjahre und auch zum Theater recherchiert und die Informationen in die Handlung  verwoben. Man erfährt also einiges und wird vermutlich mit neuem Interesse das ein oder andere noch mal nachlesen, beispielsweise zum Palace Theatre, bei dem ich am liebsten sofort eine Führung hinter den Kulissen buchen würde.

Der zweite Band der Reihe The Water Room greift ebenfalls Londoner Stadtgeschichte auf, indem die inzwischen leider nicht mehr zugänglichen bzw. übertunnelten und zubetonierten Flüsse Londons eine wesentliche Rolle spielen.

Die beiden Detektive, die die Handlung tragen, sind eigenständig genug gezeichnet, um an ihnen auch als Personen Anteil zu nehmen. Und wo bitte hat man schon mal gehört, dass die Protagonisten des ersten Bands einer Krimireihe um die 80 Jahre alt sind? Dadurch können sowohl die Transformationsprozesse, die London durchgemacht hat, als auch die Probleme der zwei Männer beim Älterwerden mit in den Blick genommen werden.

Fazit: Die ersten beiden Bände um die beiden alten Herren, die sich gerne kabbeln und selten einer Meinung sind, sehr, sehr gern gelesen.

Der dritte Band war dann allerdings eine herbe Enttäuschung, er enthielt viel zu viele Personen, Klischees und zusammengestümperte Charakterzeichnungen. Das Buch war stellenweise nicht nur unglaublich brutal, sondern ärgerte mich zusätzlich durch dermaßen an den Haaren herbeigezogene Handlungselemente, die vermutlich eher zu Fowlers Vergangenheit als Schreiber von Horrorgeschichten passen, sodass ich, was diese Krimireihe angeht, doch erst einmal pausiere …

Fowler hat übrigens auch einen Blog betrieben. Hier die Sätze seines letzten Eintrags:

It’s very hard to write now without falling asleep or forgetting what I was going to say. If there’s something I really need to get out I’ll put it on Twitter. So you might want to check your old  @peculiar feed once in a while. All fun things have to come to an end. I love you all. Except for that horrible old troll – are there any other kind?

There, now you have a smidgen of extra time on your hands, go have fun.

…and read a book.

Agatha Christie: The Mysterious Affair at Styles (1920)

The Mysterious Affair at Styles, der erste Krimi um den belgischen Privatdetektiv Hercule Poirot setzte die unglaubliche Karriere von Agatha Christie (1890 – 1976) in Gang. Geschrieben 1916, aber erst 1920 als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht, war der Krimi das erste Buch von Christi, das von einem Verlag angenommen wurde, alle früheren Publikationsversuche waren gescheitert.

Zu ihrem ersten Giftmord inspiriert haben Christie sowohl die belgischen Flüchtlinge in Torquay als auch ihre Arbeit als ausgebildete Apothekenhelferin während des ersten Weltkrieges.

So wird der Held bei seinem ersten Auftreten beschrieben:

He was hardly more than five feet four inches but carried himself with great dignity. His head was exactly the shape of an egg, and he always perched it a little on one side. His moustache was very stiff and military. Even if everything on his face was covered, the tips of moustache and the pink-tipped nose would be visible. The neatness of his attire was almost incredible; I believe a speck of dust would have caused him more pain than a bullet wound. Yet this quaint dandified little man who, I was sorry to see, now limped badly, had been in his time one of the most celebrated members of the Belgian police. (S. 23)

Auf dem Landsitz Styles, auf dem der zur Selbstüberschätzung neigende Captain Arthur Hastings, der uns die Geschichte erzählt, gerade zu Gast weilt, wird die vermögende Familienpatriarchin tot aufgefunden. Ein Arzt, der schon früh morgens ganz überraschend in der Nähe weilt, vermutet, dass die alte Dame vergiftet worden sei. Zum Glück kann Hastings seinen alten Freund Poirot, der zufällig in just diesem Dorf als belgischer Flüchtling – der Roman spielt während des Ersten Weltkrieges – untergebracht ist, dazu überreden, sich des Falls anzunehmen.

Christie hatte einfach eine Begabung, ihre Leser*innen sofort in das Geschehen hineinzuziehen; und auch wenn einige Figuren schon sehr holzschnittartig, manchmal auch mit leicht rassistischen Untertönen geschildert werden, bin ich der Handlung lange Zeit halbwegs vergnügt gefolgt. Die Auflösung am Ende wirkte auf mich allerdings wie eine sehr lange und sehr langweilige Vorlesung, die Poirot vortragen muss, da nicht alle Handlungsfäden organisch angelegt wurden.

Dem kleinen belgischen Detektiv kann ich immer noch nicht besonders viel abgewinnen. Das Gute daran: Ich muss jetzt nicht alle weiteren Poirot-Bände – insgesamt 33 an der Zahl – lesen, denn ich bin und bleibe Anhänger der Miss Marple-Fraktion.

Auch Agatha Christie hat im Laufe der Jahrzehnte nicht nur sehr bereut, ihn nicht von Vornherein als jüngeren Mann angelegt zu haben, sie hätte ihn auch gern selbst gemeuchelt, beugte sich jedoch dem Geschmack ihrer Leser*innen.

Mehr Spaß als an Poirot hatte ich an den Seitenhieben auf den Ich-Erzähler Hastings.

[Poirot sagt] ‚… But we must be more intelligent. We must be so intelligent that he [the murderer] does not suspect us of being intelligent at all.‘ I acquiesced. ‚There, mon ami, you will be of great assistance to me.‘ I was pleased with the compliment. There had been times when I hardly thought that Poirot appreciated me at my true worth. (S. 142)

Zum Weiterstöbern: Das Kapitel in Christies Autobiografie  über die Entstehung von The Mysterious Affair at Styles liest sich sehr fluffig.

Kulturbowle hat, was ich sehr reizvoll fand, diesen ersten Band um Poirot gelesen und im Anschluss daran den letzten Band, in dem Poirot ermittelt.

Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day (1989)

The Remains of the Day – ein Buch, über das sich ein Blogeintrag eigentlich gleich aus zwei Gründen verbietet: Zum einen wünschte ich mir vor dem Schreiben einer Besprechung dringend, mich zumindest kurzzeitig zurück ins Studium zu beamen zu können, um mich einige Wochen lang nur mit diesem Buch zu befassen. Zum anderen werden die meisten ohnehin den Roman oder zumindest die kongeniale Verfilmung mit Anthony Hopkins und Emma Thompson (1993) kennen. Hilft aber alles nichts, wenn der Blog u. a. auch eine Gedächtnisstütze meiner gelesenen Bücher sein soll, müsst ihr da jetzt mit mir durch.

Kazuo Ishiguro (*1954), der als fünfjähriger Junge mit seinen Eltern von Japan nach Großbritannien zog und Japan erst ca. 30 Jahre später wieder besuchte, ist einer der ganz großen Namen der britischen Literatur im 20. Jahrhundert. Für The Remains of the Day – auf Deutsch erschienen unter dem Titel Was vom Tage übrigblieb – bekam er den Booker Prize und 2017 dann – er hielt die Nachricht zunächst für einen Scherz – die größte denkbare Ehrung:

The Nobel Prize in Literature for 2017 is awarded to the English author Kazuo Ishiguro “who, in novels of great emotional force, has uncovered the abyss beneath our illusory sense of connection with the world”.

Doch zurück zum Buch: Stevens, der Jahrzehnte als Butler für den inzwischen verstorbenen Lord Darlington gearbeitet hat, steht nun – Mitte der fünfziger Jahre – in Diensten des reichen Amerikaners Mr Farraday, der Darlington Hall gekauft hat. Dieser schlägt ihm eines Tages vor, einen kurzen Urlaub zu nehmen. Zögernd nimmt Stevens das Angebot an und während seiner kleinen Reise, auf der er sogar die ehemalige Haushälterin Miss Kenton besuchen will, hat er einige aufschlussreiche Begegnungen mit zufälligen Reisebekanntschaften. Doch es ist auch eine Zeit der intensiven Erinnerungen an seine Arbeit auf Darlington Hall während der zwanziger und dreißiger Jahre. 

Er entsinnt sich der Scharmützel mit der aufgeweckten Miss Kenton, die vergebens versucht, Stevens, der sich völlig hinter dem Panzer seiner Berufstätigkeit verkrochen hat, zu einem wärmeren, individuelleren und mutigeren Ausdruck seiner Persönlichkeit zu animieren.

Stevens denkt auch an seinen stocksteifen Vater zurück, der nach dem Ende seiner eigenen Butlerkarriere seine letzten Jahre auf Darlington Hall verbringt.  Geradezu zärtlich beschreibt Miss Kenton in einem Brief an Stevens ihre Erinnerung an den Moment, als der alte Mann wenige Tage nach einem Sturz vor dem Gartenhaus, der im Grunde das Ende seines Arbeitslebens bedeutet hat, im Garten hin und her wandert:

If this is a painful memory, forgive me. But I will never forget that time we both watched your father walking back and forth in front of the summerhouse, looking down at the ground as though he hoped to find some precious jewel he had dropped there. (S. 50)

Vor allem aber erinnert sich Stevens an seine Arbeit, er macht sich ausführliche Gedanken darüber, wer sich ein herausragender Butler nennen dürfe, welche Charakteristika ein solcher aufweisen müsse. Dabei spielt der Begriff der dignity, der Würde, eine Schlüsselrolle. Würde wird von Stevens als ein berufliches Ethos definiert, bei das einem keinerlei persönliche Meinungen erlaubt. Man habe so vollständig in Loyalität, exzellenter Dienstausübung und Vertrauen zu seinem verehrten Arbeitgeber aufzugehen, dass Gefühle, eigene Sorgen oder Ansichten gänzlich unterdrückt werden – und vielleicht irgendwann gar nicht mehr wahrgenommen werden können. Privatheit dürfe sich ein guter Butler grundsätzlich nur erlauben, wenn er ganz allein sei.

The great butlers are great by virtue of their ability to inhabit their professional role and inhabit it to the utmost; they will not be shaken out by external events, however surprising, alarming or vexing. They wear their professionalism as a decent gentleman will wear his suit: he will not let ruffians or circumstances tear it off him in the public gaze; he will discard it when, and only when, he wills to do so, and this will invariably be when he is entirely alone. (S. 43)

Das Problem, das Stevens erst allmählich und zögerlich auf seiner Reise bewusst wird, ist, dass ihn seine Ansprüche und Verblendungen vermutlich um sein Lebens- und Liebesglück gebracht haben. Entsprechend sagt Ishiguro in einem Interview über seine Hauptfigur:

He’s articulate and intelligent enough to do quite a good self-deception job.

Auch in Bezug auf seinen Dienstherrn Lord Darlington, der sich den Nazis angedient und immer wieder Darlington Hall für konspirative Treffen zur Verfügung gestellt hat, hat Stevens die Wahrheit nicht sehen und wahrhaben wollen. Selbst die von Lord Darlington angeordnete Entlassung zweier jüdischer Hausmädchen wird von Stevens vielleicht nicht gutgeheißen, aber keinesfalls offen in Frage gestellt.

Warum nun liest sich das nun so aufregend? So faszinierend?

Weil man Stevens so nahe kommt. Ishiguro schreibt so überzeugend, als könne er sich in dem Kopf seines Ich-Erzählers umschauen. Man mag kaum glauben, dass es nicht irgendwo einen Stevens gibt, gegeben hat, einfach weil wir förmlich in seine verschrobenen, rührenden und auch liebenswürdigen Gedanken hineinschauen können. Und wer wäre nicht konsterniert, wenn er liest, dass Stevens nie einen Tag frei genommen und abends stundenlang in der Halle gestanden hat, um zu warten, ob Lord Darlington oder seine Gäste noch Wünsche haben. Und dann gar der Moment, als Stevens bei einer wichtigen Gesellschaft die Tränen beim Portwein-Einschenken übers Gesicht laufen. Ich verrate hier nicht, warum er weint. Selbst diese Tränen leugnet er noch ab.

Ishiguro schafft es – keine Ahnung, wie er das macht – Stevens dabei nicht lächerlich zu machen. Im Gegenteil: Stevens Überlegungen, mit denen er in seiner Tätigkeit als Butler einen größeren Sinn geben wollte, und sein Anspruch, seine Arbeit bestmöglich zu verrichten, die Größe seiner Verblendung und seines Selbstbetruges haben auch etwas Tragisches. Genauso wie sein Bestehen darauf, dass er nur dort privat sein wolle, wo er ganz allein ist. Was für ein Gegensatz zu dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Trend, per Social Media möglichst viele Grenzen zwischen ‚privat’ und ‚öffentlich’ einzureißen. Wozu natürlich auch das Bloggen über die von uns gelesenen Bücher gehört … 

Gleichzeitig wird neben den Klassenschranken der britischen Gesellschaft die Gefahr der blinden Loyalität, des Nicht-selbst-denken-Wollens und des Verantwortung-Abgebens verhandelt. Doch wie in einem Spiegelkabinett vermeidet Ishiguro alle platten Eindeutigkeiten, wozu sein unzuverlässiger Ich-Erzähler beiträgt, der uns zwar vieles wahrheitsgemäß berichtet, sich aber zum Schutz seines Selbstbildes sehr eigenwillige Interpretationen der Geschehnisse zurechtlegt.

Zwischendurch ist das Buch aber auch witzig, berührend und dann wieder zum Haareraufen und sprachlich natürlich sowieso ein Genuss und am Ende ist man froh, dass Mr Farraday seinen Butler Stevens, der sicherlich eine der einsamsten literarischen Figuren ist, wenigstens auf diese Reise geschickt hat, an deren Ende Stevens vermutlich abgeklärter, mit weniger Verdrängtem und Unterdrücktem und mit einer neuen, ehrlicheren „Würde“ zurückkehrt.

Peter Beech verneigt sich vor diesem Roman mit dem Fazit:

We get a picture of a man trying desperately to keep a lid on his emotions – and what a complete picture it is. The Remains of the Day does that most wonderful thing a work of literature can do: it makes you feel you hold a human life in your hands. When you reach the end, it really does seem as if you’ve lost a friend – a laughably pompous, party-hat-refusing, stick-in-the-mud friend, but a good friend nonetheless. You want to give him a hug, except he’d be outraged.

Hier noch eine Würdigung des Werks von Salman Rushdie.

Des Weiteren ist ein Interview mit Graham Swift im BOMB Magazine erhellend; darin erläutert Ishiguro u. a., warum er einen Butler, diesen quasi englischen Mythos, zu seiner Hauptfigur gemacht hat. Der Autor erklärt außerdem, was ihm thematisch am Herzen liegt:

I’m interested in this business of values and ideals being tested, and people having to face up to the notion that their ideals weren’t quite what they thought they were before the test came.

Zum Weiterstöbern: Hier geht es lang zur Besprechung seines vierten Romans The Unconsoled (1995). Ganz anders und doch genauso faszinierend.

Nachtrag: Ich schmökere mich gerade durch den schmalen Band Imagining Mr Stevens: Approaches to Ishiguro‘s The Remains of the Day (2022) von Peter Freienstein und Paul W. Maloney. In neun knackigen Aufsätzen auf insgesamt 115 Seiten wird der Roman unter verschiedenen inhaltlichen und stilistischen Gesichtspunkten interpretiert und analysiert. Man entdeckt dabei definitiv weitere Feinheiten des Romans und weiß die Kunstfertigkeit des Autors noch mehr zu schätzen. Gefällt mir sehr.

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Krimi-Tüte mit Cozy Mysteries

In der letzten Zeit habe ich einige Cozy Mysteries gelesen, also Krimis, die mit wenig Gewalt und blutigen Details auskommen und stattdessen möglichst unterhaltsam, aber dennoch spannend daherkommen, vielleicht sogar ein bisschen Screwball Comedy enthalten und die geneigte Leserschaft dabei nicht mit schlechtem Stil oder lieblos zusammengestöppelter Handlung verärgern.

Christianna Brand: Heads you lose (1988) 

Heads you lose von Christianna Brand spielt während des Zweiten Weltkrieges und ist der erste Band um Inspector Cockrill.

Die 38-jährige Grace Morland macht sich illusorische Hoffnungen auf einen Heiratsantrag ihres Nachbarn, den attraktiven und wohlhabenden Stephen Pendock und seines Zeichens Herrenhausbesitzer. Doch der wird sich gerade seiner Zuneigung zu der jüngeren und hübschen Francesa Hart bewusst, die er seit deren Kindheit kennt. Als an einem Dezemberabend Francesca in geradezu kindlicher Freude vor allen ein neues Hütchen präsentiert, kann Grace ihre Eifersucht nicht länger zügeln und lässt sich zu der Bemerkung hinreißen, dass sie mit einem solch liederlichen Fetzen nicht mal tot im Graben liegen möchte. Ein paar Stunden später ist Grace tot, sie liegt im Graben und trägt sogar den Hut Francescas.

Der Kreis der Tatverdächtigen ist klein, sind doch nur Francesca, ihre Schwester Venetia und deren Mann Henry Gold und die Großmutter der beiden jungen Frauen sowie James Nicholl, ein gerade zu Wohlstand gekommener Bekannter, über die Feiertage zu Besuch bei Stephen.

Alles ein bisschen düsterer als bei Agatha Christie, die unangenehmen Seiten und blinden Flecken der Beteiligten werden schärfer akzentuiert, wodurch das Erzählen moderner wirkt. Ein gelungener Auftakt, auf dessen Fortsetzung ich gespannt bin.

Lawrence Block: Burglars can‘t be Choosers (1977)

Lawrence Blocks (*1938) Krimis um den hauptberuflichen Einbrecher und Dieb Bernard G. Rodenbarr, der sich darauf versteht, unbemerkt in Wohnungen und Villen einzudringen und jedes noch so sichere Schloss zu knacken, machen Spaß, auch wenn der Aufbau der Bücher sich immer wieder ähnelt. Denn jedes Mal gerät Bernie bei seinen Beutezügen vom Regen in die Traufe und er hat auch schon einige Zeit hinter Gittern verbracht, eine Erfahrung, die er ungern wiederholen möchte.

Oft wird er von jemandem „gebucht“, in dessen Auftrag er wertvolle Gegenstände und Preziosen erbeuten soll.

I turned the knob, eased the heavy door inward half an inch or so. My blood was really up now. You never know for certain what‘s going to be on the other side of the door. That‘s one of the things that makes it exciting, but is also makes it scary, and it‘s still scary no matter how many times you‘ve done it. Once the lock‘s open, though, you can‘t do it an inch at a time like an old lady slipping into a swimming pool. So I pushed the door open and went inside. (S. 4)

Diesmal geht es um eine blaues Behältnis, nur zigarrenkistchengroß, in blaues Leder eingeschlagen, das sich im Apartment eines Mr. Flaxford, und zwar in dessen Schreibtisch, befinden soll. Dieser scheinbar kleine Auftrag soll ihm 5000 Dollar einbringen. Doch so gründlich Bernie den ganzen Schreibtisch durchsucht, es ist kein blaues Kästchen zu finden. Just als er die Wohnung unauffällig und bedauerlicherweise unverrichteter Dinge verlassen will, hört er einen Schlüssel in der Tür. Und ehe er sich versieht, stehen zwei Polizisten in der Wohnung, die von Nachbarn alarmiert worden sind, die seltsame Geräusche gehört hätten. Doch damit nicht genug des Schlamassels, als die Polizisten die Wohnung kontrollieren, entdeckt der jüngere der beiden eine Leiche im Schlafzimmer und fällt vor Schreck in Ohnmacht. In Sekundenbruchteilen entschließt sich Bernie, den zweiten Polizisten niederzuschlagen, zu flüchten und auf eigene Faust auf Mördersuche zu gehen. Was nicht unwesentlich dadurch erschwert wird, dass die ganze New Yorker Polizei nach ihm sucht und sein Konterfei am nächsten Tag die Titelseiten sämtlicher Zeitungen ziert.

Spritzige Dialoge, spannend und eine ordentliche Auflösung. Kann man mehr von lesen. Inzwischen gibt es bereits zwölf Bücher und einige Erzählungen um Bernie und seine illegalen Aktivitäten.

2020 ist eine deutsche Neuauflage der Übersetzung von Sepp Leeb unter dem Titel Ein Einbrecher zum Verlieben erschienen, bei der mir allerdings nach dem Vergleich der ersten Absätze schon nicht wohl war. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ganze Sätze und Satzteile in der Übersetzung einfach unter den Tisch fallen, Bedeutungen verändert werden oder die gehobene Ausdrucksweise Bernies sehr reduziert, ja plump wiedergegeben wird.

Richard Coles: Murder before Evensong (2022)

Der umtriebige und inzwischen pensionierte Kirchenmann Richard Coles legt hier den ersten Band um Pfarrer Daniel Clement vor, der seit acht Jahren seinen Dienst in Champton versieht. Der Mittvierziger lebt mit seiner verwitweten, aber durchsetzungsfreudigen Mutter und zwei mäßig erzogenen Dackeln im Pfarrhaus und ab und an kommt sein jüngerer Bruder, ein Schauspieler, zu Besuch, meist dann, wenn es gar nicht passt.

Die Geschichte spielt 1988 und Coles nimmt sich viel Zeit und noch mehr Seiten, das Dorf, seine BewohnerInnen, deren Tratschereien, den Standesdünkel des örtlichen Adligen Bernard de Floures und den Streit zu schildern, den die Idee des Pfarrers, im Kirchengebäude endlich eine Toilette einzubauen, im Dorf auslöst.

Doch eines Abends wird der Cousin Bernards mit eingeschlagenem Schädel in der Kirche aufgefunden. Niemand kann sich vorstellen, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, diesen friedfertigen, wenn auch sehr dem Alkohol zugeneigten Heimatforscher den Garaus zu machen. Als ein weiterer Toter zu beklagen ist, steht das Dorf Kopf.

Gefielen mir zunächst der ruhige Erzählton, das Verweilen bei Details und den zahlreichen Dorfbewohnern, die alle irgendwann ihren kleinen oder größeren Auftritt haben, so fehlte mir doch irgendwann etwas Entscheidendes. Hier wird quasi gar nicht oder eher im Vorbeigehen ermittelt. Nur zaghaft werden falsche Fährten gelegt und gegen Ende fällt die Auflösung des Falls dem Pfarrer arg unvermittelt wie Schuppen von den Augen. Ein bisschen mehr Plot, ein bisschen mehr Entwicklung bei den Handlungsfäden hätte dem Buch doch sehr gut getan. Und die Verankerung des Geistlichen in seinem Glauben und der daraus resultierenden Weltsicht fand ich in den Kriminalgeschichten James Runcies um Sidney Chambers wesentlich tiefgründiger.

Fiona Veitch Smith: The Jazz Files (2015)

War Murder before Evensong mir oft zu statisch und fiel die Lösung am Ende etwas hilflos vom Himmel, begibt sich Fiona Veitch Smith mit The Jazz Files ans andere Ende des Spektrums. Handlung und Tempo satt, was wiederum etwas auf Kosten der Charakterisierung geht. Aber der erste Band um die junge Poppy Denby, die 1920 aus ihrem methodistischen Elternhaus irgendwo auf dem Lande nach London kommt, ist dafür sehr hübsch ins Zeitgeschehen eingebettet.

Poppy, die davon ausgegangen ist, dass sie ihre auf den Rollstuhl angewiesene Tante Dot im Haushalt unterstützen soll, erfährt bei ihrer Ankunft in London, dass das nur ein Vorwand war, um Poppys Eltern zu beruhigen. Tante Dot, eine ehemalige Schauspielerin, und ihre Freundin Grace Wilson, die vor dem Krieg zu einem Kreis streitbarer Suffragetten gehörten, ermuntern Poppy stattdessen, sich nach einer beruflichen Tätigkeit umzusehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Und siehe da, sie bekommt die Stelle als Assistentin des kleinwüchsigen Chefredakteurs der Globe Mail.

Eigentlich soll Poppy das Büro des Redakteurs entrümpeln und dort endlich mal für Ordnung sorgen. Stattdessen findet sie sich, schneller als sie Hatschi sagen kann, in rasante und nicht ungefährliche Ermittlungen verwickelt, die sich um Skandale in höchsten Kreisen drehen, um korrupte Polizisten und eine adlige Tochter, die zu Unrecht in einem „mental asylum“ weggesperrt wurde.

Ist die Charakterzeichnung auch nicht gerade subtil, so machen dies Tempo und vor allem Zeitkolorit wieder wett. In einem aufregenden Jazzclub trinkt Poppy das erste Mal Champagner. Eine aufstrebende Schauspielerin am Old Vic wird bald bald zu Poppys bester Freundin. Und der Fotoreporter Daniel ist – wie könnte es anders sein – schon von der ersten Begegnung an ganz reizend und immer, wenn Not am Mann ist, zur Stelle.

Doch vor allem habe ich viel gelernt und nebenbei noch weiter recherchiert, was die britische Frauenbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts anging. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Krimi zu lesen. Flotte Unterhaltung mit Mehrwert. Ob man nun auch die fünf Folgebände lesen muss, steht vielleicht auf einem anderen Blatt.

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Elizabeth Bowen: The Hotel (1923)

She frowned at her own reflection: Was this what all these people really saw when they looked at her? She was accustomed to stare at people as from a point of vantage, forgetting she too had a face. They had thoughts, too (with these she often forgot to credit them); did they also think as they looked at oneself? (S. 23)

Bei The Hotel handelt es sich um den ein wenig spröden Debütroman der irischen Schriftstellerin Elizabeth Bowen (1899-1973), die u. a. mit Virginia Woolf befreundet war.

In einem Hotel an der italienischen Riviera verbringen einige britische Touristen zum Teil mehrere Wochen, wobei wir sie bei ihren Versuchen begleiten, die Zeit gepflegt und oft genug auch gelangweilt herumzubringen. Sie spielen Tennis, zeichnen ein wenig, beobachten einander, picknicken, gehen in die nächstgelegenen Cafés, tratschen, sind auf Brautschau und pflegen ihre Illusionen, wobei der kurzzeitige Ausfall des Hotelaufzugs für einige ein Ärgernis von unfasslicher Tragweite darstellt.

Einzelne halten sich für etwas Besseres und blicken auf die italienischen Angestellten des Hotels herab, als befände man sich höchstpersönlich im Dienste des Empires. Ältere verheiratete Männer träumen davon, noch einmal mit einer ganz jungen Frau ein Glück zu erleben. Und die zwei adligen Mrs und Miss Pinkerton sind einer Ohnmacht nahe, als ein Neuankömmling, Pfarrer Milton, in Unkenntnis der hotelinternen Absprachen, es wagt, ihr Bad und sogar ihre Badeschwämme zu benutzen.

Sleep, the uneasy sleep of daylight, had today been the refuge of many, for cold rain fell ceaselessly past the windows. It was a transparent rain without mist, like summer rain in England, through which trees and buildings for a great distance could be seen distinctly in a Japanese conventionality and flatness. Leaves and long palm-fonds shone and trickled. Curtailed in this pale gloom, the Hotel seemed permeated by a sense of the rain‘s despairing persistency, against which the reasonable conviction of visitors that the sun, bound by contract with the locality, must soon appear again put up cold walls around around the inward emptiness. In many rooms the tick of the travelling clocks, the stutter of rain along the balconies, were being listened to attentively. (S. 54)

Meine ursprüngliche Hoffnung, dass gerade das Gespinst an Verbindungen, zu denen so ein längerer Hotelaufenthalt doch führen könnte, sich als interessant erweist, erfüllt sich nicht. Stattdessen geht es immer ausschließlicher um Sydney, eine kluge junge Frau, die – sicherlich im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der damaligen Zeit – studiert und nun der Einladung gefolgt ist, ihre ältere Cousine Tessa an die Riviera zu begleiten.

Sydney verbringt viel Zeit mit der von ihr verehrten, weltgewandten, ca. 40-jährigen Mrs Kerr, die sich im Laufe der Handlung als ausgesprochen manipulativ erweist. Die Freundschaft der beiden wird von den anderen Hotelgästen kritisch beäugt und als problematisch, ja als „unhealthy“ wahrgenommen. Doch als ihr 20-jähriger Sohn überraschend zu Besuch kommt, lässt Mrs Kerr Sydney schnöde fallen, vielleicht auch, weil sie sich ihrer Macht über Sydney zu sicher ist. Sydney ist daraufhin tief verletzt und desorientiert, was wiederum gravierende Folgen auch für weitere Hotelgäste hat.

Das Ganze wirkt klug beobachtet und wird nun nüchtern, distanziert und in langen Sätzen erzählt, ein wenig so, als ob man Insekten seziert. An keiner der Figuren habe ich wirklich Anteil genommen, was aber neben der Erzählweise auch daran liegen könnte, dass sich die meisten der ProtagonistInnen schon lange selbst abhanden gekommen sind, geht es doch vor allem um das Aufrechterhalten der Fassaden und darum, der Einsamkeit zu entfliehen.

As winter comes on with those long evenings one begins to feel hardly human, sitting evening after evening in an empty room. One can‘t always be going out or visiting people or inviting people to come to one. If I shut my drawing-room door, I begin to feel restless at once; it feels so unnatural shutting oneself in with nobody. If I open it, one hears the servants laughing, or something to worry one. I am fond of reading, but I always begin to feel that books are so bad; then of course I realize, well, it‘s not fair, is it, to expect a book to take the place of human society? […] Once I sat with the door open and, believe me, I could hear four different clocks ticking – I counted them – in different parts of the flat. It‘s not, of course, that I‘m nervous, but I really begin to feel – if you‘ll understand my saying anything so extraordinary – as if I didn‘t exist. If somebody does come to the door or the telephone does ring, I‘m almost surprised to find I‘m still there. One would go mad if one were not able to get abroad. (S. 63)

Die englische Wikipedia schreibt:

Bowen was greatly interested in „life with the lid on and what happens when the lid comes off“, in the innocence of orderly life, and in the eventual, irrepressible forces that transform experience.

Hier noch ein interessanter Blog-Eintrag zum Roman und Elizabeth Bowen.

L. M. Montgomery: Anne of Green Gables (1908)

‚I‘m so sorry for people who live in lands where there are no Mayflowers,‘ said Anne. ‚Diane says perhaps they have something better, but there couldn‘t be anything better than Mayflowers, could there, Marilla? And Diana says if they don‘t know what they are like they don‘t miss them. But I think that is the saddest thing of all. …‘ (S. 132)

Die Erstausgabe dieses kanadischen (Jugendbuch-)Klassikers von Lucy Maud Montgomery (1874 – 1942) erschien 1908.

Montgomery, deren eigenes Leben leider keineswegs so sonnig verlief wie das ihrer berühmten Protagonistin, hatte schon als ungefähr Zwanzigjährige die Grundidee zu  Anne of Green Gables:

Elderly couple apply to orphan  asylum for a boy. By mistake a girl is sent them. (Montgomery in einem Tagebucheintrag vom 16. August 1907, S. 284)

1906 war der Roman fertig, doch kein Verlag wollte ihn veröffentlichen. Es hagelte Absagen von vier wichtigen amerikanischen Verlagen und das Buch verschwand zunächst in der Schublade. Erst Page Co. nahm das Manuskript an und knebelte die unerfahrene Montgomery mit unrechtmäßigen Verträgen und verkaufte sogar Rechte, die ihnen die Autorin nie überlassen hatte. Die Keimzelle für spätere, lange Rechtsstreitigkeiten vor Gericht.

In ihrem ersten Roman geht also um die liebenswerte, elfjährige Vollwaise Anne Shirley, die von einem älteren Geschwisterpaar, der herben Marilla und dem schüchternen und stillen Matthew Cuthbert, adoptiert wird, das auf dem Bauernhof Green Gables lebt und eigentlich einen Jungen aus dem Waisenhaus holen wollte, der später dann auch auf dem Hof ordentlich hätte mit anpacken können.

Stattdessen landet aufgrund eines Missverständnisses Anne Shirley bei ihnen, ein zerstreuter Wildfang, naturverbunden, klug, lerneifrig und zur Freundschaft begabt. Aufgrund ihrer Verträumtheit und Impulsivität gerät Anne immer wieder in arge Schwierigkeiten und die arme Marilla weiß sich angesichts Annes quasi nie versiegenden Redeflusses manchmal nicht anders zu helfen, als ihr ein strenges Redeverbot zu erteilen. Nebenbei bemerkt: Die Figur der Marilla macht für Margaret Atwood das Buch gerade auch für erwachsene LeserInnen interessant.

I cast ‚moral‘ and ‚Sunday school‘ ideals to the winds and made my ‚Anne‘ a real human girl. Many of my own childhood experiences and dreams were worked up into its chapters. […] There is plenty of incident in it but after all it must stand or fall by ‚Anne‘. She is the book. (Montgomery in einem Tagebucheintrag vom 16. August 1907, S. 284)

Und es ist Montgomery wirklich wunderbar gelungen, „a real human girl“ zu schildern. Nichts Süßliches, kein didaktischer Zeigefinger, stattdessen sagt Anne ehrlich, was sie denkt und empfindet, und ihr kindliches Leiden an peinlicher oder altmodischer Kleidung, ihre Loyalität, die Aufregungen in der Schule, ihr Sinn für Natur und für Schönheit, alles wird mit einem so unverstellten Blick auf das Empfinden eines sensiblen Mädchens erzählt, dass das Buch auch nach über 100 Jahren unglaublich frisch wirkt.

I did not write Green Gables for children. (S. 293)

Das Buch machte Montgomery auf einen Schlag bekannt. Es dauerte nicht lange, bis Folgebände und erste Übersetzungen erschienen. Verfilmt wurde das Buch natürlich auch. Die Schauplätze ihrer Romane auf P.E.I (Prince Edward Island), der kleinsten der kanadischen Provinzen, wurden zu literarischen (und touristisch ausgeschlachteten) Pilgerstätten, die besonders bei japanischen Touristen beliebt sind.

‘… I wouldn‘t want to be [a Christian] like Mr. Superintendent Bell.‘ ‚It‘s very naughty of you to speak so about Mr. Bell,‘ said Marilla severely. ‚Mr. Bell is a real good man.‘ ‚Oh, of course he‘s good,‘ agreed Anne, ‚but he doesn‘t seem to get any comfort out of it….‘ (S. 140)

Fußnote: Die ausgezeichnete und umfangreiche Norton Critical Edition gibt nicht nur einen guten Überblick zu diversen Aspekten der Entstehung, Wirkung und Rezeption, sondern bietet auch reichhaltiges Quellenmaterial, zum Beispiel Ausschnitte aus L. M. Montgomerys Tagebüchern, in denen sie beispielsweise einander komplett widersprüchliche Kritiken auflistet, was doch sehr hübsch zeigt, dass eben auch professionelle Kritiker oftmals nicht viel mehr als Geschmacksurteile abgeben.

One of the most charming girls in modern fiction.

Anne is overdrawn and something of a bore. (S. 293)

Halten wir uns also an Mark Twain, der Montgomery’s Anne als „the dearest and most moving and delightful child since the immortal Alice“ bezeichnet haben soll.

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Mark Hodkinson: No one round here reads Tolstoy (2022)

Der Schriftsteller Mark Hodkinson, der Jahrzehnte für die Times und andere Zeitungen und Bücher zu Fußball(mannschaften) und Musik geschrieben hat, gründete den Pomona Verlag, in dem er nicht nur seinen eigenen Debütroman The Last Mad Surge of Youth (2009), sondern auch eine sehr gelobte Salinger-Biografie herausgebracht hat. Doch damit nicht genug, seit diesem Jahr liegt auch seine spannende Autobiografie mit dem vielsagenden Titel No one round here reads Tolstoy vor. 

The walls are closing in. They used to be over there, a few metres away. Now, if I lean over I can touch them. This is what happens when you collect books and store them on big shelves in a small house. The process occurs imperceptibly, similar to the passing of time, where you think little has changed but then see a picture of yourself from a decade ago and sigh, ‘Bloody Hell!‘ I had no idea that 3,500 books (and ever rising) was an especially large number. The same as I thought having one book in my childhood home wasn‘t particularly unusual either. (Vorwort)

Geboren Mitte der sechziger Jahre, wuchs Mark in Rochdale auf, einer Stadt ca. 16 Kilometer nordöstlich von Manchester, in einem Arbeiterhaushalt, in dem es genau ein Buch gab. Die Wahrscheinlichkeit, eines Tages Vielleser, Schriftsteller, Verleger und Besitzer von über 3500 Büchern zu sein, war also gering.

I had succumbed to what Americans call BABLE: Book Accumulation Beyond Life Expectancy. How did I get here? Asked this on a Friday night after a few pints and I‘m looking for a chair to stand on. Appealing for quiet, please. Amid the chest thuds, quiver in my voice, I‘m telling everyone (two pals and the barmaid) that it‘s because I‘m ambitious and hopeful and ever seeking and each new book bears witness to a restless desire, of wanting, needing more, always more. And, and if I were to divest myself of these books would I not be conceding that my time on earth is finite and that I‘m going to die without everything I own? Who of us can defer so meekly to mortality? (S. 13)

Diesen Weg vom Arbeiterkind aus einem Ein-Buch-Haushalt zum stolzen und manchmal trotzigen Besitzer Tausender von Büchern zeichnet Hodkinson nun in 351 Seiten nach. Am Rande sei erwähnt, dass er sicherheitshalber sogar psychologische Beratung in Anspruch nimmt, um herauszufinden, ob und was mit ihm angesichts seiner Sammelwut möglicherweise nicht stimmt. Lisa erklärt ihm:

On one hand, by having such a collection and planning to read all these books, you are making a fantastic statement of hope and revealing an investment in future self, […] Even if you recognise you probably won‘t have time to read them all, you are already forming a relationship with mortality which we all must do at some point in our lives. The snag is the frustration you say you feel that comes with this realisation. This is something you need to deal with and accept. (S. 313)

Marks Elternhaus ist ganz anders als das in Streulicht von Deniz Ohde, obwohl beide aus einem Arbeiterhaushalt kommen. Der Familienzusammenhalt bei den Hodkinsons ist stark, eher bodenständig mit klar verteilten Geschlechterrollen; Tante, Onkel, Großeltern wohnen um die Ecke.

Parenting wasn‘t a complex issue in the 1970s. They didn‘t fret or read self-help books. The definition of a good parent was feeding and clothing your children, keeping them warm, loving them – what more was there to worry about? (S. 19)

An seiner Gesamtschule gilt er manchen Mitschülern als feiner Pinkel, weil seine Eltern nicht getrennt sind. Niemand aus seinem Bekanntenkreis kommt aus einem Akademikerhaushalt oder arbeitet in einem Büro. Seine Eltern

seldom showed tactile affection but their love and loyalty  to me and my sister was constant, absolute. No one I knew owned or played a musical instrument. […] Outside of visiting cafés while on holiday, we never ate out as a family. At home, we had the same meals depending on the day of the week. […] The television was always on. No original artwork was on the walls. […] Dad went to the pub every night. Mum accompanied him to the pub at least once a week. (S. 17-18)

Our house was noisy, busy, messy, neighbours and family passing through (my uncle and aunty lived next door), doors banging, the dog barking, budgie whistling, Mum and Dad bickering, the telly blaring and Elvis crooning everlasting love (S. 27)

Schon als Kind sammelt er Fußballkarten, Kastanien, Bierdeckel, Briefmarken, eben alles, was er in die Hände bekommen kann.

… to this day, I cannot pass a conker (Kastanie) without picking it up and putting it in my pocket. Sunlight reflected in the deep reddish brown of a fresh-from-shell conker is a handful of heaven. (S. 22)

Seine Freunde am Lesen entwickelt Mark vermutlich, als er mehrere Wochen wegen beginnenden Asthmas die Schule versäumt. Seine Schulerfahrungen sind ohnehin eher trübe, Wissensdurst und die Freude am Lernen müssen getarnt werden, damit man nicht in eine Außenseiterrolle gemobbt wird. Die Lehrkräfte desillusioniert, wenig engagiert und wie selbstverständlich davon ausgehend, dass die Kinder allesamt in die Fußstapfen der Eltern treten werden.

Im Elternhaus wird Mark zunächst nicht unterstützt. Den Vater treibt massiv die Sorge um, dass ein Junge, der auch gern mal allein ist und dann noch ständig liest, vermutlich irgendwann schwul wird und folglich keine Freundin findet. Der Vater sieht Lesen vor allem als eine weibliche Beschäftigung an. Männer arbeiten mit den Händen, bauen ein Haus, reparieren Autos, gehen in die Kneipe, sind gesellig und heiraten jung und seine Mutter will ihm tatsächlich lange nicht glauben, dass er eine Brille braucht.

Besonders die Liebe Marks zu seinem Grandad – damit kriegt man mich immer – ist innig und auch deshalb etwas Besonderes, weil der Großvater zeitlebens zum Teil gravierende psychische Probleme hat. Die Spaziergänge mit ihm durch die öden Industrielandschaften gehören für den Enkel zu den wichtigsten Erinnerungen, wird er hier doch von seinem Großvater auf Augenhöhe angesprochen und erhält wichtige Lektionen fürs Leben. Leider kommt Gran, die Großmutter, in diesem Buch viel zu kurz. Die wenigen Szenen mit ihr machen Lust auf nähere Bekanntschaft mit dieser tapferen und loyalen Frau.

Allerdings haben trostlose Schule und sein bildungsfernes Elternhaus den unerwarteten Vorteil, dass Bücher und Musik (Sex Pistols, The Smiths) für den Teenager etwas Cooles und Erstrebenswertes werden, mit denen man – auch bei Gleichgesinnten – seine eigene Identität findet und definiert, eben weil man sie für sich selbst entdeckt, sich unbedarft, aber voller Neugier seine eigenen Pfade anlegen kann.

Nothing was handed down, from either pupils or teachers; I had to find it myself. Maybe, in a world where books, for example, were shared, recommended, deconstructed, they might have become an easy currency and soon felt ordinary, nothing special. Instead, books became crucial in reinforcing my outsider stance, getting me through and forming my personality. (S. 59)

So lehnt er, während er gerade den Punk für sich entdeckt, The Hobbit von Tolkien aus tiefstem Herzen ab, während  Catcher in the Rye von J. D. Salinger und A Kestrel for a Knave von Barry Hines zwei seiner Lebensbücher werden. 

I opened it [Catcher in the Rye] and read the first page. No book has had the same impact since. I was breathless; within the first few paragraphs it felt like reading a letter sent exclusively to me. I flicked through more pages, unable to believe that a novel could be so consistently truthful and personal. I was unsure at first whether I had enough money to buy it. I decided there and then: if I have to, I will steal this book. (S.81)

Hodkinson entdeckt als Jugendlicher Second-Hand-Läden, den Penguin Verlag, Somerset Maugham, D. H. Lawrence und die Leihbücherei. Von da an ist kein Halten mehr. Und irgendwann verblüfft er seinen Berufsberater mit seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden. Und seine zweite große Liebe, die Musik, wird ebenfalls immer wichtiger, vor allem, wenn sie auch noch mit filmischen oder literarischen Verweisen gespickt ist. Besonders Morrissey, ebenfalls aus einem Arbeiterhaushalt, wird sein Idol.

Selbst Familienurlaube, die man als Teenager ja nicht unbedingt immer begrüßt, sind für ihn eine Wonne, vorausgesetzt, es regnet.

I could think of nothing more blissful than seven days in a caravan, rain lashing on all sides and a pile of thirty-one books. (S. 125)

Hodkinson verschweigt nicht, dass eine solche Entwicklung auch bei ihm notgedrungen eine Distanzierung zu seinem Elternhaus bedeutete. Schon als Kind wusste er, dass er ein bisschen anders als seine übrige Familie tickt, doch als er als Siebzehnjähriger für seine Journalisten-Ausbildung am College von zu Hause wegziehen muss, ist das für die ganze Familie, ihn eingeschlossen, ein großer und schmerzhafter Schritt.

An Beziehungen gewinnen vor allem die zu seinem Großvater und zu seinem guten Freund Pete an Farbe. Man bekommt darüberhinaus einen Einblick in die massiven Veränderungen der britischen Gesellschaft unter Margaret Thatcher. Dazu gibt es manchmal etwas wahllos eingestreute Informationen und Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen, wie zu Klappentexten, dem Standesdünkel bei der Beurteilung von Literatur, zu Autorenfotos, zum Niedergang der Zeitungen, zur Rolle des Internets und zur Schließung zahlreicher Büchereien – in nur 10 Jahren wurden 20 % aller britischen Büchereien geschlossen. Die Entwicklung der verbleibenden Büchereien zu sogenannten „community hubs“, bei denen es um alles Mögliche geht, aber nicht ums Lesen, findet er übrigens grundfalsch.

Sehr schön fand ich seine Liste an Adjektiven auf S. 100, die ihm schon jeden Klappentext verleiden. Ich musste mich sehr zurückhalten, um die hier nicht auch noch zu zitieren. 

Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen und seine Auseinandersetzung mit einzelnen Büchern sowie mit den Angry Young Men fand ich besonders prägnant und gelungen. Die weiteren Stationen auf dem Weg zum Journalisten und Schriftsteller waren dann – für mich – nicht mehr ganz so wichtig.

Natürlich erfahren wir, welche SchriftstellerInnen – meist Männer – seine Lesebiografie geprägt haben – nicht ungefährlich, weil man sich dann gleich wieder einige Bücher auf die eigene Leseliste setzen möchte – und eine Antwort auf seine Ausgangsfrage gibt es auch. 

I knew it as a child, as I do an adult – why I collect. I wanted to store up sufficient stuff, my stuff, so that tomorrow, next week or at some point in the future, near or distant, I could surround myself with it, submerge myself, become it. I am suspicious of anyone who doesn‘t feel the same way. How can they live so much in the now with no regard to a better, quieter, reflective, rainy day tomorrow – which is what a collection guarantees.  (S. 23)

Nachdem Hodkinson spaßeshalber ausgerechnet hat, dass er anscheinend seit seinem 13. Lebensjahr durchschnittlich 1,5 Bücher pro Woche gekauft hat, was ja dann doch gar nicht so viel sei, ist er mit sich und der Welt wieder im Reinen.

In fact, I am mystified how anyone can go through life and manage not to bring home 1.5 books per week. (S. 270)

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June Wright: Reservation for Murder (1952)

Es war mal wieder Zeit für ein Krimi-Schätzchen á la Agatha Christie. Und da kam die Neuauflage von Reservation for Murder, ursprünglich 1952 erschienen, der australischen Schriftstellerin June Wright (1919-2012) gerade recht.

Der Schauplatz des Romans ist Kilcomoden, ein Wohnheim für junge berufstätige Frauen, fünf Meilen von Melbournes Zentrum entfernt, das von Nonnen unter der Leitung von Mother Mary St. Paul of the Cross geführt wird.  (In Melbourne gab es damals mehrere dieser Wohnheime oder „hostels“ für junge Frauen vom Land, die zum ersten Mal weit entfernt von ihren Familien wohnten, weil sie studierten oder ihrer ersten Arbeit nachgingen.) Kilcomoden

was one of those fine old colonial-style houses built to weather the passing of years – but unfortunately not of domestic staff. Once the family home of a rich draper, and no doubt intended by him to be the home of his descendants, it now sheltered twenty-five business girls from shrewish landladies, malnutrition and week-end boredom. […] the waiting list for admission was long. (S. 21)

So muss sich die geneigte Leserin zwar zunächst einmal darum bemühen, den Überblick über die Namen der Bewohnerinnen zu behalten, doch die Ich-Erzählerin Mary Allen ist eine angenehme, schlagfertige und zuweilen scharfzüngige Begleiterin durch alle Krisen (ausgelöst durch anonyme Briefe, Eifersüchteleien und persönliche Befindlichkeiten) und Mördereien.

For eight years now I had been catching the eighty-twenty bus to the city […], where I was an unenterprising, but adequate, secretary to an even more unenterprising firm of solicitors, and returning home on the five-thirty. Over the weekend I played a little diffident golf or tennis, worked in a frustrated sort of way on two crossword puzzles, and enjoyed the mild courtship of a slightly balding young  man called Cyril. (S. 22)

Mary Allen ist es auch, die nachts am Eingangstor buchstäblich über die erste Leiche, einen unbekannten Mann, stolpert.

Die nach außen hin immer leicht abwesend wirkende, aber in Wirklichkeit natürlich scharf beobachtende Mother Paul – für viele Kritiker die heimliche Protagonistin – zieht derweil im Hintergrund ihre Fäden und sorgt u. a. dafür, dass Mary Allen den sympathischen Ermittler O‘Mara mit allen notwendigen Insider-Informationen aus dem Wohnheim versorgt.

Ich fand den ersten Band von dreien um Mother Paul ausgesprochen vergnüglich. Die jungen Frauen wirken in ihren Auseinandersetzungen und ihrer Lebensgestaltung (sie haben keinen eigenen Schlüssel für die Haustür und müssen spätabends von der jeweils dazu Beauftragten hereingelassen werden) manchmal zwar eher wie biestige Teenager, doch das hat die Spannung und den Unterhaltungsfaktor nur unwesentlich beeinträchtigt. Daneben erlaubt der Krimi kleine Einblicke in einen Alltag vor 70 Jahren.

Und die Frage, wie intelligente Frauen sich ihre Zukunft vorstellen, taucht auch hier auf. Fenella, eine berufstätige Freundin Marys, findet es ganz und gar deprimierend, als sie im Laufe der Ermittlungen eine gewisse Rhoda Baker besuchen. Diese wohnt in einem schäbigen Vorstadtviertel, ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder.

‘Can you imagine anything more deadly, Mary? Born, bred and married all in the one place – and what a place! I bet she never ventures further than town and then only for the summer sales, and her husband potters in the garden all the week-end.‘ When she saw the few depressed-looking shrubs struggling for life in the Baker garden, and the sun-burnt couch-lawn, she added: ‚Or tinkers with the radio wearing a waistcoat and no collar.‘ (S. 132)

Im interessanten, elfseitigen Vorwort zu Reservation for Murder von Derham Groves erfahren wir nicht nur, woher die Inspiration für eine Nonne als Ermittlerin stammt, sondern auch, dass June in ihrer Ehe mit Stewart Wright nicht glücklich war. Sie hatten zwar sechs Kinder zusammen, aber Stewart wollte immer, dass sie aufhört zu schreiben, dabei waren ihre Romane sehr erfolgreich. Ihr Mann dürfte sich mit dieser Meinung nicht allein gewusst haben, selbst in den Kritiken von damals war es immer wieder ein Thema, wie man zugleich erfolgreiche Schriftstellerin und eine gute Mutter sein könne.

Ich freue mich über die Neuauflage der insgesamt sieben Krimis von June Wright bei Dark Passage, einem Imprint von Verse Chorus Press. Die übrigen müssen nun auch noch her.

Wrights Lieblingskrimi war übrigens Gaudy Night von Dorothy Sayers.

Hier geht‘s lang zum Nachruf im Sydney Morning Herald.

Stella Gibbons: The Swiss Summer (1951)

Das eskapistisch-lockerfluffige The Swiss Summer stand – wie auch die übrigen Werke von Stella Gibbons (1902 – 1989) – immer im Schatten ihres bekanntesten Buches The Cold Comfort Farm. Umso besser vielleicht, dass ich das noch gar nicht kenne. The Swiss Summer jedenfalls macht auch nach über 70 Jahren noch Spaß. Oder wie der Guardian schrieb:

For holiday reading it would be hard to find anything better.

Die 43-jährige Lucy Cottrell lernt zufällig die betagte Lady Dagleish kennen. Deren Gesellschafterin Freda Blandish soll im Auftrag der alten Dame in die Schweiz reisen, um sich dort vor Ort um ein Chalet ihres verstorbenen Mannes zu kümmern. Das hatte die Schweiz vor Jahrzehnten Sir Burton Dagleish in Anerkennung seiner Dienste um die Bergsteigerei geschenkt. Im Grunde soll alles vorbereitet werden, um das Berghaus verkaufen zu können, das nun schon seit Jahren kaum genutzt wird. Nur die alte Utta aus dem Dorf schaut einmal die Woche nach dem Rechten.

Freda wurden von Lady Dagleish Hoffnungen gemacht, dass sie Chalet und Grundstück eines Tages erben werde und sie somit ihren langgehegten Wunsch, dort eine Pension zu eröffnen und dann für immer finanziell unabhängig zu sein, in die Tat umsetzen kann.

Verständlich, dass Freda alles andere als entzückt ist, als Lady Dagleish aus einer Laune heraus und weil sie Lucy Cottrell sympathisch findet, Lucy anbietet, Freda zu begleiten. Lucy ist begeistert, dem schmutzigen und hässlichen London für drei Monate zu entkommen und Urlaub in der bezaubernden Schweizer Bergwelt machen zu dürfen. Auch ihr geliebter Mann gönnt ihr den Aufenthalt von Herzen. Als Gegenleistung soll sie Freda bei der Inventur ein wenig zur Hand gehen, doch diese wittert in ihr eine Nebenbuhlerin auf das erhoffte Erbe.

Die Situation wird nicht einfacher, als Fredas gesellschaftlich unbeholfene Tochter Astra und noch weitere Freunde von Freda im Schweizer Bergdomizil auftauchen und Lucy gebeten wird, in ihren Briefen an Lady Dagleish darüber Stillschweigen zu bewahren. Lucy möchte die alte Dame nicht hintergehen, gleichzeitig mag sie’s harmonisch und geht gern den Weg des geringsten Widerstandes.

Und so nehmen drei erlebnisreiche Monate ihren Lauf, in denen Lucy sich nicht nur mit den halbseidenen Bekannten von Freda herumärgern, sondern sich auch um ihren eigenen Neffen und dessen Freund kümmern muss, die ebenfalls für kurze Zeit auf dem Berghof zu Gast sind. Und über allem wacht Utta, die alte Haushälterin, die sich dem Erbe des verstorbenen Bergsteigers Dagleish verpflichtet fühlt und spürt, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Doch Lucy wäre nicht Lucy, wenn sie trotz der Unbill diese Wochen nicht aus tiefstem Herzen – und die LeserInnen mit ihr – genießen würde. Sie ist in den Bergen am rechten Platz, genießt die Natur auf ihren Wanderungen in vollen Zügen, kann dem oberflächlichen Touristentreiben in den Städten wenig abgewinnen und ist immer froh, wenn es wieder zurück auf den Berg geht. Trotz ihrer scheinbaren Passivität geht Lucy ihren Weg und nutzt ihre Spielräume, selbst wenn die zunächst recht begrenzt erscheinen.

The Swiss Summer ist ohne Frage ein Wohlfühlbuch; bereits bei seiner Erstveröffentlichung konnten sich die britischen LeserInnen damit aus den oft noch schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen nach dem Zweiten Weltkrieg wegträumen. Am Ende ist man/frau mit der Auflösung aller Handlungsfäden einverstanden. Gleichzeitig sorgen Ironie, ein unbestechlicher Blick auf menschliche Eigenheiten – allein wie Utta geschildert wird, ist unvergesslich – und Empathie für die verschiedenen Charaktere dafür, dass das Buch nicht in den Kitsch abstürzt.

So muss sich beispielsweise Astra, gerade weil sie nicht hübsch ist, besonders mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit sie den gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern überhaupt entsprechen will. Nach dem Blättern in den entsprechenden amerikanischen Frauen-Zeitschriften fragt sie sich, ob eine Frau überhaupt noch Zeit für sich habe:

The difficulty of Love: first, with lipstick and foundation cream, permanent wave and nail paint, exercises and hair-brushing, scent and perfectly chosen clothes, you must prepare your body. Next, with a gay, sweet, friendly manner, never showing jealousy or possessiveness, never intruding upon a man‘s private life yet never withdrawing yourself from him so far as to appear cold, and never, oh never, dreaming of hinting that you would welcome the opportunity to perform that task for which Nature had endowed you, you must prepare your personality. And finally, when you had secured a man of your own (but it was quite fatal to believe that you had secured him permanently) you must exercise infinite tolerance, charity, good sportsmanship, intelligence, submission, self-reliance (but not too much of the latter), and tender familiarity combined with wild sweetness in being his wife. It would also help if you could listen, sew, and cook. (S. 95)

Alle menschlichen Wirrungen und kleinen Intrigen sind eingebettet in die beeindruckende Landschaft des Berner Oberlands und nach der Lektüre möchte man – trotz des Kinderbuchcovers der Dean Street Press-Ausgabe – unverzüglich den Koffer packen.

Nachtrag

Bei allem Unterhaltungswert ihrer Werke sollte man nicht übersehen, dass Stella Gibbons in ihren Romanen gesellschaftliche Veränderungen in Großbritannien nachzeichnet und dabei Standesdünkel, Egoismus und Ressentiments, sei es gegen Ausländer oder Angehörige der „niederen Klassen“ mit Witz und Verve aufs Korn nimmt.

Vor allem aber werden Möglichkeiten weiblicher Selbstbestimmung erkundet. Manchmal „nur“ in der Schilderung interessanter Nebenfiguren wie Katy aus A Pink Front Door (1959), einer begabten Chemikerin, die aber nach ihrer Heirat rasch hintereinander drei Kinder bekommen hat und die sich nun wohl alles weitere wissenschaftliche Arbeiten abschminken kann. Als sie sich an ihre Studienzeit erinnert, heißt es:

How they had theorised! Every contemporary problem and every timeless one had been brought out, dissected and prescribed for by herself and the young men whom she had known. Yes, every problem except one – What does a young woman with brains do when she gets caught in a trap? […]

She drank some beer and tried to control this despairing desire for revenge on something or someone. […] she ought to be thankful. She was thankful … only, she didn‘t feel it. She only felt the unceasing aching in her limbs and the unending procession through her tired mind of minute domestic details, and she thirsted for solitude and the pleasures of the intellect. (S. 162)

Angela hingegen, eine Figur aus The Woods in Winter (1970), hat ihren Verlobten im Ersten Weltkrieg verloren und alle gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie ihr restliches Leben nun selbstlos ihrer dominanten Mutter widmen wird. Als ihr ein nicht „standesgemäßer“ Farmarbeiter den Hof macht, wird ihr klar:

It occurred to her that all her life she had been taught to be truthful, but never to be truthful to herself about what she felt and wanted. (S. 170)

In The Woods in Winter (1970), Gibbons letztem zu Lebzeiten veröffentlichten Roman, spielt Ivy Gover, eine fast fünfzigjährige Witwe, die Hauptrolle. Trotz diverser Anträge will sie nicht mehr heiraten und kommt nach der Erbschaft eines kleinen Häuschens auf dem Land so recht in ihr Element. Sie hat schwarze Augen und eine ungewöhnlich enge Beziehung zu Tieren, das wird auf einen Großvater zurückgeführt, der angeblich den Roma angehörte. Gleich zu Beginn des Buches erfahren wir, wie sie einen Collie stiehlt, der von seinen Besitzern nur an der Kette gehalten wurde.

Häusliche Sauberkeit, Smalltalk, regelmäßige Mahlzeiten und gute Manieren werden ihr zunehmend unwichtig und eigentlich will sie nur ihre Ruhe haben und wirkt doch immer wieder, vielleicht gerade deshalb, positiv auf ihre Nachbarn und Nachbarinnen ein.

for the first time in her life, she was living as she had always unknowingly wanted to live: in freedom and solitude, with an animal for close companion. (S. 72)

Charles Dickens: David Copperfield (1850)

Unruhige Zeiten, Bedrückung ob des Angriffskrieges und der unverhohlenen Propagandalügen, dazu viel zu tun, fehlende Konzentration, insgesamt also wenig Ruhe und Muße zum Bloggen. Doch damit mir nicht völlig aus dem Gedächtnis rutscht, was ich gelesen oder auch nur angelesen habe, hier wenigstens ein kurzer und deshalb sicherlich auch unausgewogener Blick auf den über 800 Seiten dicken  Schmöker David Copperfield von Charles Dickens, der 1850 das erste Mal in Buchform erschien und der den Lebensweg Copperfields von der Kindheit bis zu seinen ersten erfolgreichen Gehversuchen als Schriftsteller nachzeichnet. Ähnlichkeiten zu der Biografie des Autors sind dabei kein Zufall und Dickens hat diesen Roman immer das liebste seiner fiktiven Kinder genannt.

Was für ein berührender Anfang, Kinderfiguren sind wirklich eine Stärke des Autors. Die Leiden des jungen David, nachdem seine naive Mutter einen gar gräßlichen Stiefvater ins Haus geholt hat, sind fein beobachtet und erzürnen noch nach 170 Jahren die Leserin. Auch die zunächst fürchterlichen Internatserfahrungen Davids geben einen guten Einblick in mancherlei Untiefen des viktorianischen Schulsystems.

Doch dann wird der Ich-Erzähler immer blasser und nichtssagender, alle anderen Figuren in diesem gesellschaftlichen Panoptikum, die David bei seinem allmählichen sozialen Aufstieg begleiten, sind interessanter. Schließlich verliebt er sich in die süße, leider etwas unerwachsene, dafür aber sehr lebendige Dora. Hier finden sich tatsächlich einige wenige selbstironische Stellen:

If I may so express it, I was steeped in Dora. I was not merely over head and ears in love with her, but I was saturated through and through. Enough love might have been wrung out of me, metaphorically speaking, to drown anybody in; and yet there would have remained enough within in, and all over me, to pervade my entire existence. (S. 474 der Ausgabe der Everyman‘s Library)

Er heiratet Dora und muss nun schmerzhaft erkennen, dass sie niemals seine Seelengefährtin oder wenigstens eine tüchtige Hausfrau werden wird. So wird sie kurzerhand vom Erzähler zu einer tödlichen Krankheit verdonnert, damit David nach angemessener Frist die überirdisch langweilige und unrealistisch brave Agnes, die schon als Zehnjährige den Haushalt des Papas so entzückend im Griff hatte, zum Traualtar führen kann.

Und diese Doppelmoral: Dem schönen und charismatischen Jugendfreund Steerforth, der systematisch eine junge Frau verführt und anschließend an seinen Dienstboten verschachern wollte, trauert Copperfield hinterher, doch die junge Emily muss ihr Leben lang für ihren „Fehltritt“ büßen und emigriert, nachdem ihr Vater sie gerade noch rechtzeitig aus dem Moloch London retten konnte, zusammen mit ihrem Vater nach Australien. Die Frauengestalten bei Dickens sind wirklich nur zum Haareraufen, klischeehaft und von eindimensionalem Wunschdenken geprägt: die schöne Sünderin, die edle Gattin und Hausfrau, die Kindfrau, die treue Dienstbotin, die skurrile Tante.

Letztendlich gab es mir hier von allem ein bisschen zu viel: zu viel Melodramatik, zu viel Sentimentalität und Überzeichnung – man denke nur an Uriah Heep – und zu billige Lösungen: Nachdem Copperfield mit seiner Agnes glücklich der häuslichen Ruhe frönen kann, verschifft der Erzähler, das hat schon Chesterton zu Recht bemängelt, kurzerhand alle, die jetzt noch den ruhigen Lebensgang der Hauptfigur stören könnten, nach Australien.

Paula Byrne: The Adventures of Miss Barbara Pym (2021)

Die Biografie von Paula Byrne zu der britischen Schriftstellerin Barbara Mary Crampton Pym, die durch diverse Neuübersetzungen allmählich auch in Deutschland bekannter wird, ist eine riesengroße Lesefreude. Informativ, unterhaltsam und auch beglückend, da steckt das ganze Leben drin. Die über 600 Seiten lasen sich weg wie nichts. Oder genauer gesagt, wie ein Roman selbst.

Man nimmt an Pyms Leben Anteil, weil es der schwungvollen, aber nicht unkritischen Biografin gelingt, eine für Pym angemessene Form und Sprache zu finden. Hier passt einfach alles: der Stil, die Recherche, die einem – wenn man nicht aufpasst – gleich wieder Bücher auf die Wunschliste setzt, sowie ein interessantes Leben der Hauptperson mit seinen diversen Höhen und Tiefen, eingebettet in sich rasant ändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Dazu kommt, dass Byrne auf viele Briefe und Tagebücher zurückgreifen kann, aus denen man so wunderbar zitieren kann.

Barbara Pym wurde 1913 geboren, ihr Vater war Anwalt. Die Familie kann ihren beiden Töchtern – Barbaras Schwester Hilary wurde 1916 geboren – ein Studium in Oxford finanzieren, wobei damit zunächst nicht zwingend eine berufliche Tätigkeit angestrebt wurde. Barbara träumt jedoch schon als Studentin davon, Schriftstellerin zu werden.

Im Nachhinein kann man vermutlich von Glück sprechen, dass ihr erster Roman Some Tame Gazelle – den sie schon 1934 geschrieben hat – erst 1950 veröffentlicht wird. Bis dahin hatten ihr Freunde, eigene Einsicht und die politische Entwicklung deutlich genug vor Augen geführt, dass die politisch naiven Szenen des Buches, die im Nazi-Deutschland der 1930er Jahre spielten und den Nationalsozialismus eher als drollige Randerscheinung abtaten, restlos gestrichen gehörten.

Ihr Studium der englischen Literatur am Frauen-College St Hilda‘s genießt Pym in vollen Zügen. Schon allein für diese Einblicke in eine ganz andere Welt hätte sich die Lektüre gelohnt.

Rules dated back to ancient times. Black gowns had to be worn, chapel attended, gate hours kept. Most societies remained male preserves. […] Male dining clubs flourished and were riotous events resulting in shattered windows, broken furniture and damaged flowerbeds. […] St Hilda‘s was a particularly strict college, with firm rules about gentlemen callers. Undergraduates were permitted to receive gentlemen friends not related to them on Tuesday afternoons only. The gates closed at 9.10 p.m. As late as the 1990s, students had to write down the name of their gentlemen visitors, and if they stayed the night that information had to be submitted to the porter‘s lodge. […] Punishment was fierce for transgression of rules – particularly so for women. […] As late as 1961, St Hilda‘s expelled a female undergraduate discovered with a man in her room after the gates had closed. (S. 24/25)

Allerdings waren besonders die männlichen Studierenden trotz der strengen Vorschriften wohl auch immer recht gewitzt, wenn es darum ging, sich bei Regelverstößen nicht erwischen zu lassen, und im geradezu aberwitzigen Alkoholkonsum sah man anscheinend ohnehin kein Problem.

Pym jedenfalls ist erst einmal so fasziniert von den Kinos, den Partys, der wunderbaren Architektur und vor allem den Gelegenheiten zum Flirten, dass sie am Ende des ersten Semesters feststellt, dass sie in Zukunft wohl etwas fleißiger würde studieren müssen.

Im Mai 1933 hat sie dann die erste Verabredung mit dem von ihr angebeteten etwas älteren Studenten Henry Harvey. Zusammen mit seinem homosexuellen Freund Robert „Jock“ Liddell werden die drei nahezu unzertrennlich. Für Pym ist die Liebe zu Harvey der Beginn einer jahrelangen Obsession. Fast ein Jahr später schreibt sie in ihr Tagebuch:

I am beginning to feel the wee-est bit hostile towards Henry, and to think that the glamour of being his doormat is wearing off. (S. 100)

Harvey behandelt sie oft miserabel, allerdings dauert es Jahre inclusive diverser Rückfälle, bis sie sich endgültig eingesteht, dass er sie nur als Spielzeug und sexuellen Lückenfüller benutzt hat und sie ihm mit ihrer unkritischen Verehrung vermutlich nur auf die Nerven gefallen war. Er hat keine Skrupel, sie als „common property“ zu beschimpfen oder sie in Begleitung betrunkener Männer zurückzulassen und sich anschließend wieder die Socken von ihr stopfen zu lassen.

Henry‘s dreadful behaviour set the pattern for Pym‘s relationships with other men: the more badly they treated her, the more deeply in love she felt. The worst aspect of it all was that she knew this and was powerless to stop herself. (S. 90)

Dennoch bleiben die drei ein Leben lang in Kontakt und Robert Liddell, der später selbst schreibt, erweist sich später als unfassbar guter Freund, der den Weg Pyms zur Schriftstellerei mit Klugheit und der nötigen Sturheit begleitet.

Ein weiterer Mosaikstein in Barbaras Lebenslauf sind ihre mehrmaligen Besuche im Nazi-Deutschland der dreißiger Jahre. Pym hatte an der Universität Deutsch gelernt und war von deutschen Filmen und der Literatur begeistert. 1934 fährt sie das erste Mal mit einer Studentengruppe aus Oxford nach Deutschland. Tausende taten es ihr gleich; die Bemühungen Goebbels, Deutschland als ein wunderbares Land zu präsentieren, trugen Früchte.

‘Germany Invites You‘ claimed the Thomas Cook & Son posters showing images of beautiful young people in lederhosen and Tyrolean hats, fairyland castles and mountain ranges framing the background. (S. 106)

Pym verliebt sich in die vermeintliche deutsche Ordnung, das Land und den attraktiven SS-Mann Friedbert Glück. Politisch ist und bleibt sie noch längere Zeit völlig unbedarft. Den allgegenwärtigen Judenhass und die Hetze teilt sie nicht, kann sie aber völlig ausblenden. Sie ist am Boden zerstört, als sie nach ihrer Rückkehr von ihrer ersten Deutschlandreise ihre kleine Hakenkreuz-Brosche verliert, die ihr der SS-Mann Glück geschenkt hat. Noch 1938 reist sie gegen den Willen ihrer Familie und ihrer Freunde nach Deutschland und anschließend nach Polen, um dort die Kinder einer jüdischen Familie zu unterrichten. Doch schon wenige Wochen später verschlechtert sich die politische Situation, sie kehrt nach England zurück und ist wie vom Donner gerührt, als es tatsächlich zum Kriegseintritt Großbritanniens kommt.

Während des Krieges tritt sie dem Women‘s Voluntary Service bei und hilft u. a. ihrer Mutter, die evakuierte Kinder in ihrem Haus aufnimmt. Das ist das erste Mal, das Pym in intensiveren Kontakt mit der Arbeiterklasse kommt, was sie durchaus das ein oder andere Mal befremdlich findet. 1941 beginnt sie für die Zensurbehörde in Bristol zu arbeiten, wo ihre Deutschkenntnisse gefragt sind. Dort lebt sie mit ihrer Schwester Hilary, die für die BBC arbeitet, und weiteren Erwachsenen sowie einigen Kindern in einem Haus zusammen.

In ihrer Mitbewohnerin Honor Wyatt findet Pym eine gute Freundin und Mentorin. Mit deren getrennt von Honor lebendem Mann Gordon Glover hat Pym eine weitere unglückliche Liebesaffäre; der charmante Mann teilt ihre Liebe zu Jane Austen und macht sie bekannt mit den Trivia von Logan Pearsall Smith. Doch schon nach zwei Monaten beendet er die Beziehung, im Gegensatz zu Pym hatte er kein Interesse an einer langfristigen Beziehung. Auch diese Affäre hinterlässt tiefe Wunden.

Um ihrer Niedergeschlagenheit zu entkommen, bewirbt sie sich bei dem Women’s Royal Naval Service (Wrens). Sie wird angenommen und so führt sie ihre Arbeit für die Zensurbehörde bis nach Italien, wo sie in Neapel stationiert ist.

1945 ziehen Barbara und Hilary, die sich inzwischen von ihrem Mann getrennt hat, in eine gemeinsame Wohnung in London.

From this time on, Barbara and Hilary Pym would live together in a manner envisaged in the novel Barbara had written when she was twenty-two. The sisters were extremely compatible, shared the same jokes and lived in great harmony together, though each had their own circles of friends. (S. 381)

1946 beginnt sie, für das International Institute of African Languages and Cultures zu arbeiten. Sie findet sich allmählich mit dem Gedanken ab, dass sie wohl nie heiraten und Kinder haben wird.

‚Maybe I shall be able to keep my illusions as it doesn‘t look like I shall ever get married.‘ (S. 380)

Stattdessen wird ihr immer wichtiger, endlich einen Verleger für Some Tame Gazelle zu finden. 1950 ist es so weit und Cape veröffentlicht ihren ersten Roman. Schon 1952 erscheint Excellent Women, der Roman, den viele für ihr Meisterwerk halten. Sie bekommt großartige Kritiken, genießt das Leben als frisch gebackene Autorin und ihre Begegnungen mit Größen wie Elizabeth Taylor oder Elizabeth Bowen. Auch ihre finanzielle Situation entspannt sich zusehends.

Sie veröffentlicht bis 1961 sechs Romane, die alle ihre Leserschaft finden und von den Kritikern und anderen Autoren geschätzt werden. Der Dichter und Schriftsteller Philip Larkin schreibt ihr nach dem Erscheinen von No Fond Return of Love (1961) einen begeisterten Brief, der Beginn einer intensiven und herzlichen (Brief-)Freundschaft. Doch es sollte 15 Jahre dauern, bis sich die beiden das erste Mal begegnen. Die Freundschaft wird bis zu Barbaras Tod 1980 andauern.

1963 entpuppt sich als eines der schlimmsten Jahre für Pym. Der Winter ist nicht nur der kälteste in England seit über 200 Jahren – die Schwestern leben in einem Haus ohne Zentralheizung -, sie werden auch noch zweimal ausgeraubt. In dem Monat, in dem die Beatles Please, Please Me herausbringen, dann der Schock: Pyms Verleger Tom Maschler vom Verlagshaus Cape erklärt ihr brieflich, dass ihre Bücher nicht mehr zeitgemäß, ja altmodisch seien. Er lehne die Veröffentlichung ihrer weiteren Werke ab. Es findet sich auch kein anderes Verlagshaus, das in den Sechzigern glaubt, dass sich diese Bücher über alte Jungfern, die jeden Sonntag zur Kirche gehen, noch verkaufen. Und so bleibt An Unsuitable Attachment in der Schublade liegen und wird erst nach dem Tod der Autorin 1982 veröffentlicht.

She [Barbara Pym] was one of the most liberated, independent women of her time. Ever since Oxford, she had been sexually active and unashamed of being so. One of her friends explained: ‚You see, Barbara liked sex‘. Nor did she feel the need to settle down to a conventional married life, despite several offers. The trouble was, her novels of quiet female independence did not exactly brim with sex, drugs and rock and roll. (S. 487)

Die folgenden 14 Jahre nennt Pym ihre „wilderness years“, Jahre, in denen sie schreibt, ihre Romane überarbeitet und doch keinen Verleger findet. Dazu kommen finanzielle Sorgen. Sie verdient am anthropologischen Institut nicht besonders viel, zudem hatten sie und Hilary ihren Vater finanziell unterstützt, als dieser Bankrott gegangen war.

Larkin ist empört, als er erfährt, dass auch Faber, sein eigener Verlag, nichts von Pym veröffentlichen will. Er schreibt im August 1965 sehr hellsichtig an Charles Monteith:

Personally, too, I feel it is a great shame if ordinary sane novels about ordinary sane people doing ordinary sane things can‘t find a publisher these days. This is in the tradition of Jane Austen & Trollope and I refuse to believe that no one wants its successors today. (S. 521)

I like to read about people who have done nothing spectacular, who aren‘t beautiful or lucky, who try to behave well in the limited field of activity they command, but who can see, in little autumnal moments of vision, that the so-called big experiences of life are going to miss them. […] presented not with self-pity or despair or romanticism, but with realistic firmness & even humour. (S. 521)

Hier klingt auch an, was Pym immer wichtig war: die Bedeutung kleiner, unscheinbarer Details, das Gewöhnliche, das Ausloten innerer Zustände scheinbar uninteressanter Menschen.

Pym‘s interest in trivia, ephemera, the life of ordinary things, roots her novels into specific times and yet they somehow transcend the quotidian and take on a timeless quality. As with Jane Austen, her realism is what enables her readers to inhabit her world, her characters, her sense of place and mood. (S. 578)

1971 wird bei Pym Brustkrebs diagnostiziert. Sie wird unverzüglich operiert. 1973 geht sie in Rente.

Im Januar 1977 passiert dann, womit niemand mehr gerechnet hat. Das Times Literaray Supplement hatte anerkannte Kritiker und Schriftsteller sowohl nach maßlos überschätzten als auch sträflich unterschätzten AutorInnen des 20. Jahrhunderts gefragt. Nur Pym wird zweimal als die am meisten unterschätzte Schriftstellerin genannt, einmal von ihrem Freund Philip Larkin, der sich schon seit Jahren für sie eingesetzt hatte, aber auch von dem Hochschullehrer, Biografen und Schriftsteller Lord David Cecil.

All of a sudden, Pym was hot news. Radio Oxford came for an interview; letters poured in from friends, and the telephone rang constantly. (S. 571)

Macmillan erklärt sich sofort bereit, ihren Roman Quartet in Autumn veröffentlichen. Das Buch schafft es auf Anhieb auf die Shortlist des Booker Prizes. Auch andere lange in der Schublade vor sich hin dämmernde Titel werden nun von ihr veröffentlicht; in Amerika wird ihr Name zum ersten Mal überhaupt wahrgenommen.

Then came another great accolade: she was invited to appear on BBC Radio 4‘s flagship programme Desert Island Discs. (S. 586)

Die Sendung wird im Juli 1978 aufgenommen. Die Frage, was sie auswählen würde, wenn sie nur ein einziges Musikstück auf die Insel mitnehmen dürfe, beantwortet sie mit dem Weihnachtslied „In the bleak midwinter“, gesungen vom Chor des King‘s College, Oxford, denn es vereine Lyrik, Musik und den christlichen Glauben.

Barbara stirbt 1980 im Alter von 66 Jahren, der Krebs war zurückgekehrt. Fortan setzt sich Hilary, ihre Schwester, zusammen mit ihrer beider Freundin Helen Hunt für das Vermächtnis der Autorin ein. Die Grabstätte der beiden Schwestern – Hilary stirbt 2004 – befindet sich in Finstock, ihrem letzten gemeinsamen Wohnort.

Hier eine Interpretation von In the bleak midwinter von Dan Fogelberg.

Und noch ein Satz aus ihrem Tagebuch:

‘Everything seems gloomy and dark when you‘re lying awake in the middle of the night. One day, perhaps soon – it will be better.‘ (S. 352)

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Lennie Goodings: A Bite of the Apple (2020)

Wow, hier macht Lennie Goodings, eine wegweisende Frau der britischen Verlagslandschaft – Verlag Virago – nicht nur Lust aufs Lesen, sondern eröffnet mir auch einen vertieften Blick auf die Frage, warum ich lese, was ich lese, oder anders ausgedrückt, warum es wichtiger denn je ist, sich dem Lesen und der Literatur auch aus einem weiblichen Blickwinkel zu nähern. Gilt übrigens auch für Männer.

Zum Hintergrund

Inzwischen dürfte es überall angekommen sein: Frauen wurde es in früheren Jahrhunderten ungleich schwerer oder gleich unmöglich gemacht, sich als Autorinnen zu etablieren. So überrascht es nicht, dass in der älteren Literaturgeschichte die Männer dominieren, das lässt sich trotz der ein oder anderen nachträglichen Wiederentdeckung nun auch nicht mehr rückgängig machen. Doch das Frappierende ist, dass sich diese Benachteiligung und Abwertung weiblicher literarischer Auseinandersetzung mit sich und der Welt – wenn inzwischen meist subtiler – bis in die Gegenwart zieht. Und so sind beispielsweise in Büchern, die sich mit Büchern beschäftigen, männliche Autoren bis in die Gegenwart hinein grundsätzlich in der Überzahl.

Seitdem wir angefangen haben, unser eigenes Leseverhalten genauer in den Blick zu nehmen, stellen wir fest, dass der größte Teil unserer eigenen Schullektüre von Männern geschrieben wurde, dass viele Leserinnen keinerlei Berührungsängste haben, sich auch mit männlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen, doch dies umgekehrt viel seltener der Fall ist. Und eine Entsprechung zu dem meist herablassend-abwertend gemeinten Begriff „Frauenliteratur“ gibt es auch nicht. Im Englischen gibt es ebenfalls zwar „the woman writer“, aber niemals einen „man writer“.

Zum Buch

Erst 1975 wurden der britischen Öffentlichkeit Nachrichtensprecherinnen „zugemutet“; vorher waren Meinungsumfragen (und männliche Sprecher) immer zu dem Ergebnis gekommen, dass weibliche Stimmen nicht „acceptable“ seien (siehe hierzu auch den Artikel im Tagesspiegel, der an Wibke Bruhns erinnert).

In den Siebzigern entstanden in Großbritannien im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen einschließlich der zweiten Welle der Frauenbewegung auch eine Reihe an Zeitschriften und Kleinverlagen, die u. a. dieser Diskriminierung entgegenwirken wollten. Carmen Callil gründete 1973 den Verlag Virago, der fast ausschließlich Autorinnen eine Bühne bietet und in dem sich Leserinnen mit ihren Erfahrungen wiederfinden sollten. 

Virago wanted to address all women and all of women‘s experiences. It challenged the idea of niche publishing from the start. […] The refusal to be seen as marginal; the desire to inspire and educate and entertain all women, and men too; to bring women‘s issues and stories into the mainstream; to demonstrate a female literary tradition: these passions and beliefs were the bedrock of Virago. (S. 13)

Lennie Goodings, eine junge Kanadierin, kam 1977 nach London und ergatterte 1978 einen Teilzeitjob bei Virago.

I am just twenty-five, Canadian, new to Britain, and in awe of this formidable woman [Carmen Callil], but as there are only two of us in the office I feel emboldened to ask: ‘Why did you start Virago?‘ She looks up and, without missing a beat, replies, ‘To change the world, darling. That‘s why.‘ I know I am in the right place. (Vorwort)

Nach einem Jahr wollte Goodings eigentlich zurück nach Kanada, um sich dort einen ordentlichen Job zu suchen. Nun, das hat nicht geklappt, inzwischen ist sie Vorsitzende des Verlags und  hat 2020 A Bite of the Apple (der angebissene Apfel ist das Logo des Verlags) veröffentlicht. Der Untertitel bringt es auf den Punkt: A Life with Books, Writers and Virago.

Dieser Verlag wurde, im Gegensatz zu vielen anderen Projekten der damaligen Zeit, von Anfang an als Unternehmen angelegt, das selbstverständlich Gewinn erwirtschaften sollte. Das Verlagsprogramm besteht bis heute aus Neuauflagen von beinahe in Vergessenheit geratenen Autorinnen, feministischen Grundlagenwerken, Sachbüchern, Romanen, Anthologien, Jugendbüchern, Lyrik, Reiseliteratur und Taschenbuchausgaben bekannter Werke von Frauen. Diese große thematische Bandbreite ist sicherlich eine der Stärken des Verlags, der inzwischen ein Imprint von Little, Brown and Company ist, die wiederum gehören seit 2006 zur Hachette Book Group.

Goodings schreibt mit ansteckender Begeisterung und herzerwärmender Ehrlichkeit über das Engagement der Gründerinnen und die Entwicklung des Verlags, der als kleine Ein-Raum-Klitsche angefangen hat.

We had one loo with a door that didn‘t reach the floor or ceiling. That‘s where we went to have a cry when it was all too much. And, frankly, it often was. (S. 36)

Sie zeichnet nicht nur den Gegenwind aus bestimmten feministischen Kreisen und die finanziellen Erwägungen nach, die zu den diversen Eigentümerwechseln führten, sondern auch die internen Krisen und unterschiedlichen Standpunkte (die natürlich von der Presse begeistert als Zickenkrieg verfolgt wurden).

Aber noch wichtiger: Man bekommt einen Einblick in die Strömungen des Feminismus, die sich auch anhand der Autorinnenauswahl und der Backlist sowie der Diskussionen bei Lesungen verfolgen lassen. Dabei haben sich die Verantwortlichen des Verlags nie für eine Richtung und eine allein gültige Definition von Feminismus vereinnahmen lassen. 

Es gibt immer wieder wunderbare Anekdoten und Einblicke in die Arbeit mit nicht immer unkomplizierten Autorinnen:

Though not every author wants an editor‘s views. One of our Virago editors once asked an author into the office to discuss her manuscript, which she had printed out and carefully annotated with pencilled suggestions and edits. The author looked at it, then took the entire pile of paper, walked to the open window, tossed it all out into the street, and left. (S. 208)

Einige der zum Teil weltberühmten Schriftstellerinnen sind ihr zu Freundinnen geworden, wie Margaret Atwood, Angela Carter und Sarah Waters etc. Maya Angelou wurde in Großbritannien erstmals von Virago verlegt und die Parties mit ihr müssen legendär gewesen sein.

I Know Why the Caged Bird Sings had never been published in the UK despite it being well known in America since its publication in 1969. Maya Angelou told us that her memoir had been sent to British publishers in the 1970s but they had all turned it down, saying no one would be interested in the story of a young black girl growing up in the American South. She loved us for taking a chance on her… (S. 142)

Goodings beschäftigt sich mit den Fragen, warum manche Autorinnen weder bei Virago verlegt werden möchten noch wollen, dass ihre Bücher beim Women’s Prize for Fiction, einem renommierten Literaturpreis, eingereicht werden. Und wie könne man erklären, dass die meisten Männer keine Bücher von Frauen lesen wollen und nur ihren Geschlechtsgenossen zutrauen, welthaltig zu schreiben? Sie zitiert Anne Enright, die unser Wahrnehmungsproblem überspitzt, aber doch zutreffend auf den Punkt bringt:

It is tempting to [… conclude] that men and women are read differently, even when they write the same thing. If a man writes ‘The cat sat on the mat‘ we admire the economy of his prose; if a woman does we find it banal. If a man writes ‘The cat sat on the mat‘ we are taken by the simplicity of his sentence structure, its toughness and precision. […] If, on the other hand, a woman writes ‘The cat sat on the mat‘, her concerns are clearly domestic, and sort of limiting. (S. 241)

Aber Goodings geht auch auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein, in denen sich Verlagsarbeit abspielt. Mitte der neunziger Jahre fiel die Buchpreisbindung in Großbritannien, was maßgeblich dazu beitrug, dass in den folgenden zwei Jahren ca. 500 selbstständige Buchhandlungen schließen mussten.

Gleichzeitig verfolgt Goodings – durchaus selbstkritisch – wie sich das ursprüngliche Anliegen, Bücher von und für Frauen zu veröffentlichen, erweitern und ausdifferenzieren musste: Neue Blickwinkel kommen dazu: der moderne, subtile Sexismus, Rassismuserfahrungen, Migrationserzählungen und Bücher von und für PoC und GLBTQ-LeserInnen. Schon seit Jahrzehnten gibt es in Großbritannien Bestrebungen, mehr PoCs den Zugang zum Verlagswesen zu ermöglichen. Margaret Busby beispielsweise gründete in den Achtzigern die Organisation GAP – Greater Access to Publishing -, zu deren Mitgliedern auch Lennie Goodings gehört. Busby schrieb 1984 in einem Zeitungsartikel:

Is it enough to respond to a demand for books reflecting the presence of ‚ethnic minorities‘ while perpetuating a system which does not actively encourage their involvement at all levels? The reality is that the appearance and circulation of books supposedly produced with these communities in mind is usually dependent on what the dominant white (male) community, which controls schools, libraries, bookshops and publishing houses, will permit.

Die Bereitschaft, bisher ausgegrenzten, unsichtbaren Mitgliedern der Gesellschaft zuzuhören, sie zu veröffentlichen, sorgte allerdings auch für missliche Situationen. In den späten Achtzigern war der Verlag begeistert über das Manuskript einer Rahila Khan, die sich als „British Asian“ bezeichnete. Das Buch wurde gedruckt und ausgeliefert. Dann stellte sich heraus, dass das Ganze nur inszeniert war.  Hinter dem Pseudonym Rahila Khan verbarg sich ein weißer anglikanischer Geistlicher, der wohl hoffte, auf einer vermeintlichen Welle politischer Korrektheit rascher veröffentlicht zu werden. Die Viragos waren not amused und ließen das Buch einstampfen. Der Vorfall sorgte für allerlei Erheiterung und Spott, stieß aber gleichzeitig wichtige Debatten an (siehe zum Beispiel folgenden Artikel How Virago blew up the canon).

A Bite of the Apple ist wahrlich ein Augenöffner; wie wichtig es ist, eine vielseitige Verlagslandschaft zu haben, wie wichtig es ist, sich überhaupt einmal klarzumachen, von welchen Verlagen man etwas kauft/liest, wie viel es noch in der Literaturgeschichte zu entdecken gibt und wie sehr unser Leseverhalten von Männern geprägt worden ist. Über die Frage, die Goodings immer wieder gestellt wird, ob denn heutzutage ein solcher Verlag überhaupt noch vonnöten sei, kann man am Ende nur freundlich lächeln.

Es war höchst spannend, wie Goodings hier den Vorhang gelüftet und uns einen Einblick in ihre Liebe zur Literatur, der sie zutraut, Leben zu verändern, und in vierzig Jahre Verlagsarbeit gegeben hat.

Dass Goodings dabei nicht müde wird, die einflussreiche Liste der Virago Modern Classics zu erwähnen, ist allerdings eine der Gefahren, denen man beim Lesen nicht ausweichen kann. 

The Virago Modern Classics began in 1978 with the idea of blasting this canon [of great literature] wide open: to challenge the narrow notion of ‚great‘ and also to challenge the idea of who gets to decide what is great. (S. 238)

Das Einzige, was ich Virago ein wenig übelnehme, ist der unschöne Ausruf der Virago-Gründerin Carmen Callil „Below the Whipple line I will not go“, mit dem sie Bücher ablehnte, die ihrem Qualitätsstandard nicht entsprachen. Das bezog sich auf den ihrer Meinung nach schrecklichen Stil von Dorothy Whipple, einer in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts sehr populären Autorin. Nun, das finde ich Dorothy Whipple gegenüber doch eher ungerecht. Und ich freue mich, dass die Neuauflagen von Whipples Büchern eine wertschätzendere Heimat im 1998 gegründeten Persephone Verlag gefunden haben – und dort zu den finanziell einträglichsten Titeln gehören.

Hier noch ein informativer Artikel aus dem Guardian zur Entwicklung des Verlagshauses.

PS: Nach der Lektüre war ich neugierig, welche Bücher ich schon hier auf dem Blog vorgestellt habe, die (auch) von Virago verlegt worden sind. 

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Min Jin Lee: Pachinko (2017)

History has failed us, but no matter.

Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber was macht das schon.

Mit diesem Satz beginnt der ca. 500 Seiten starke Roman der Amerika-Koreanerin Min Jin Lee – von Barack Obama für seine Schilderung von Resilienz und Mitgefühl hochgelobt und einer der National Book Award Finalists von 2017. Das Buch erzählt über mehrere Generationen hinweg die Geschicke einer koreanischen Immigrantenfamilie in Japan. Lesenswert, wenn auch nicht das vollkommene Meisterwerk, das manche amerikanische Kritiker aus ihm machen wollten.

Die deutsche Übersetzung Ein einfaches Leben von Susanne Höbel erschien 2018. Anscheinend war den deutschen LeserInnen der englische Titel, dessen Bedeutung sich erst später erschließt, aber dadurch doch auch reizvoll und letztlich wesentlich treffender ist, nicht zuzumuten.

Die Handlung umfasst die Jahrzehnte von 1910 bis 1989 und beginnt mit der 16-jährigen Südkoreanerin Sunja, die nie ein freies Korea erlebt hat. Seit 1905 galt Korea als Protektorat Japans, 1910 wurde es als Kolonie eingegliedert. Sunjas Familie ist arm und hält sich mit einer kleinen Herberge über Wasser. Das junge Mädchen verliebt sich in einen reichen älteren Landsmann, den Fischhändler Koh Hansu, der dem naiven, aber willensstarken Mädchen Geschenke mitbringt und ein wenig Aufmerksamkeit widmet. Sie ist sicher, er wird sie ehelichen, doch Hansu ist längst mit der Tochter eines – freundlich formuliert – einflussreichen Mannes in Japan verheiratet, ein Umstand, den er zu erwähnen vergaß. Als Sunja schwanger wird, ist Hansu durchaus erfreut und will sie irgendwo als Mätresse unterbringen und sich um ihren Lebensunterhalt und die Erziehung des Kindes zumindest finanziell kümmern. Doch das kommt für die stolze Sunja nicht in Frage.

Gleichzeitig würde aber ein uneheliches Kind unauslöschliche Schande über sie und ihre Mutter bringen, deshalb willigt sie ein, den freundlichen Prediger Isak zu heiraten, der auf dem Weg nach Japan ist, um dort in einer kleinen christlichen Gemeinde zu arbeiten. Die Ehe der beiden wird wider Erwarten glücklich und Sohn Noa hält Isak lange für seinen leiblichen Vater.

Ihr Leben in Japan ist hart. Sie sind arm und auf die Unterstützung von Isaks Bruder und Schwägerin angewiesen, in dessen Häuschen sie auch leben. Der Familienzusammenhalt ist enorm, gleichzeitig steht Sunja öfter vor dem Dilemma, ihrem Schwager gehorchen zu müssen, auch wenn sie seine Entscheidungen nicht immer gutheißen kann. Überhaupt, die Rolle der Frau, ein Sprichwort besagt, das Los der Frau sei es zu leiden, was eigentlich nur bedeutet, das auszulöffeln, was die Männer eingebrockt haben. Hansu, der Vater von Sunjas Sohn Noa, wird ebenfalls noch eine Rolle spielen.

Das war spannend, anrührend und interessant, wusste ich bis dahin doch so gut wie nichts über Korea im 20. Jahrhundert und über den (institutionalisierten) Rassismus und die Diskriminierung, der koreanische Einwanderer, Zwangsarbeiter oder gar Christen in Japan ausgesetzt waren. Gleichzeitig zeigt der Roman, wie sich Stück für Stück die Lebenswelt der nachfolgenden Generationen verändert. Durch die Entbehrungen, die unfassbare Arbeit und Beharrlichkeit der Elterngeneration kann die nächste Generation dann schon zur Schule geschickt werden und versuchen, aus dem Hamsterrad von nicht enden wollender körperlicher Arbeit auszusteigen.

Die beiden Söhne, Noa wissbegierig, intelligent und fleißig, Mozasu eher praktisch veranlagt und schnell mit den Fäusten, schlagen deshalb schon ganz andere Wege ein als Mutter, Tante und Onkel. Und erst für Noa und Mozasu öffnen sich Entscheidungsspielräume und stellen sich Identitätsfragen. Gleichzeitig wird die emotionale Bindung an die ursprüngliche Heimat der Eltern geringer, irgendwann wird nicht mehr von Rückkehr gesprochen. Der gesellschaftlich verankerte Rassismus und die Diskriminierungserfahrungen bleiben, aber sie sehen anders aus. Passt man sich an und ist vielleicht sogar besser als die Einheimischen, wird man beneidet und angegiftet. Geht man beruflich in die Bereiche, mit denen ein „anständiger“ Japaner nichts zu tun haben will, ist man ein Krimineller. Der eine kommt damit zurecht und sieht nicht ein, sich davon sein Leben verleiden zu lassen, ein anderer geht daran zugrunde.

So verkörpert diese Familie fast schon prototypisch das Schicksal ungeliebter Immigranten überall auf der Welt.

Der erste Teil des exzellent recherchierten Romans war wie aus einem Guss, ein traditionell erzählter und detailreicher Familienschmöker mit unvergesslichen Szenen, der ab und an an die Romane des 19. Jahrhunderts erinnert und trotz gewisser Süßlichkeiten nicht ohne Anspruch ist.

Es ist unmöglich, nicht an Sunjas Familie und ihrem Ergehen Anteil zu nehmen oder die aktuellen Bezüge zu unserer Gegenwart wahrzunehmen. Es gefiel mir auch, dass nicht alle Emotionen und Gedanken ausbuchstabiert wurden. Das passte zu dieser schlichten, doch würdevollen und sturen Frau und die großen politischen Umwälzungen werden hier ausschließlich anhand ihrer Auswirkungen auf die einfachen Leute erzählt. Das ist stimmig und schockierend zugleich.

Doch irgendwann zerfaserte die Geschichte; die Autorin Min Jin Lee (*1968 in Südkorea) wollte einfach zu viel. Ihre Absicht, alle möglichen denkbaren Lebenswege der nachfolgenden Generationen und damit auch alle nur denkbaren Immigrationserfahrungen zur Sprache kommen zu lassen, war zu offensichtlich. Lee verzettelt sich in Namen und Schicksalen, die zum Teil auf maximale Dramatik gebürstet werden, mich dann aber kalt gelassen haben. Hätte die Autorin Sunja und ihre direkten Nachkommen als Zentrum der Handlung zwischendurch nicht so aus den Augen verloren, kurzum das Buch um 150 Seiten gekürzt, wäre ein wirklich beeindruckendes Werk entstanden.

PS: Manche Rezensenten erklären gleich zu Beginn, woher der englische Titel Pachinko kommt. Ich fand viel interessanter, das erst zu klären, als der Begriff das erste Mal im Roman auftaucht.

Eine Verfilmung ist geplant.

Der Sidney Morning Herald bringt es auf den Punkt:

Is Pachinko a masterpiece? No. But it is one of those books that takes a mighty bite of big-time subject matter and has its own kind of grandeur.

Amanda Cross: In the Last Analysis (1964)

Durch die deutsche Neuauflage von Die letzte Analyse im Dörlemann Verlag bin ich überhaupt erst aufmerksam auf dieses Krimi-Schätzchen aus den Sechzigern geworden. Was für ein Glück. Dabei konnte man die Bände um die resolute Literaturprofessorin Kate Fansler schon vor über 20 Jahren in Deutschland erstehen.

Der ursprüngliche deutsche Titel des ersten Bandes lautete Gefährliche Praxis. Ansonsten wurde die Übersetzung von Monika Blaich (*1942) und Klaus Kamberger (*1940) vom Dörlemann Verlag beibehalten. Meine Besprechung bezieht sich allerdings auf die englische Neuausgabe von 2018.

Kurz zum Inhalt:

Die ältere Studentin Janet Harrison fragt Professorin Kate Fansler, ob diese ihr einen guten Therapeuten empfehlen könne. Und so kommt es, dass Janet eine Psychoanalse bei Emanuel Bauer beginnt, einem anerkannten Analytiker und sehr guten Freund von Kate. Die beiden waren auch mal ein Liebespaar, aber das ist lange her.

They had been lovers for a time – they had no one but themselves to consider – yet this had been far from central to their mutual need. After that first year,  they would no more have considered making love than of opening a mink ranch together […] (S. 46)

Wenige Wochen später wird nun jene Studentin ermordet aufgefunden, auf der Analysecouch Emanuels. Erstochen mit einem Messer aus Bauers Küche. Sonnenklar, dass Kate alles in ihrer Macht Stehende unternehmen muss, um Emanuel, seine entzückend planlos schwatzende Frau Nicola und schließlich sogar sich selbst von dem ungeheuerlichen Verdacht reinzuwaschen, die junge Frau getötet zu haben. Dabei spannt sie ihren guten Bekannten Reed Amhearst, seines Zeichens Staatsanwalt mit besten Kontakten zur Polizei, und Jerry, den jungen und äußerst abenteuerlustigen Verlobten ihrer Nichte, ein.

Mag Kate die Idee zur Klärung des Falls auch etwas unmotiviert aus heiterem Himmel überkommen, war mir das dann schon völlig egal, weil man bis dahin so viel Spaß am intelligenten und literarischen Schlagabtausch der Beteiligten hatte und Kate und ihre Freunde schon längst ins KrimileserInnenherz geschlossen  hat.

‚I don’t think this case is helping your disposition – you’re beginning to sound petulant. What you need is a vacation.‘ (S. 119)

Dass das Buch mit seiner emanzipierten und belesenen Protagonistin dabei ein bisschen Retro-Charme versprüht und gleichzeitig zeitlose Kritik an der Bürokratisierung des Universitätsbetriebs und Einblicke in die menschlichen Natur liefert, macht die Lektüre umso lohnender.

‚Oh, dear, I keep forgetting about the police. Are they getting restive?‘ (S. 96)

Oder wie Andrea Gerk feststellt: „Screwball Comedy mit Mehrwert“.

Ich jedenfalls habe die nächsten Bände schon geordert.

Die Autorin Carolyn Gold Heilbrun (1926 – 2003), eine feministische, amerikanische Literaturprofessorin an der Columbia University in New York, legte sich für ihre 15 Bände um Kate Fansler das Pseudonym Amanda Cross zu, um ihr Renommee als Literaturwissenschaftlerin nicht zu gefährden. Ihre Krimis waren unglaublich erfolgreich und wurden weltweit übersetzt. Ihr erster Band kam in der Kategorie „Bestes Debüt“ sofort auf die Shortlist für den Edgar Award.

Mit 77 beging sie Suizid, da sie nach Aussage ihres Sohnes sicher war, die Reise sei vorüber, ihr Leben habe sich erfüllt, aber nicht weil sie erkrankt oder depressiv gewesen sei. Dazu passt der längere Essay  A Death of One’s Own von New York.

 

Christina Hardyment: Heidi’s Alp – One Family’s Search for Storybook Europe (1987)

Bei dem wie üblich nur mäßig erfolgreichen Versuch, meine Buchregale zu entrümpeln, fiel mir dieses unschön vergilbte Secondhandbuch, das schon seit Jahren in meinem Regal herumlungerte, wieder in die Hände. Und was soll ich sagen – ich habe schon lange nicht mehr mit so viel Vergnügen einen Reisebericht gelesen. 

Die britische Autorin Christina Hardyment (*1946) hat im Laufe ihres Lebens zahlreiche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen geschrieben. In Heidi’s Alp (1987) geht es um eine siebenwöchige Reise, die sie 1985 mit ihren vier Töchtern Susie, Daisy, Ellie und Tilly durch Europa unternommen hat. Die jüngste Tochter ist fünf, die älteste ist zwölf. Das Gefährt der Wahl ist ein Wohnmobil, das auf den Namen Bertha getauft wird.

Gradually the idea surfaced. Why not steal a summer? Make a journey, part Toadlike, self-indulgent adventure, and part education in the old idiom of the Grand Tour. Take the children right out of school for May and June, the loveliest months, and amble unhurried around Europe well ahead of the August crowds. […] But what sort of approach would appeal to the children? Every parent knows the miseries of trailing round museums and art galleries with unwilling children in tow. No one gets far up the mountain peak with an opinionated five-year-old. (S. 2/3)

Also wird die Reiseroute in groben Zügen anhand literarischer Gesichtspunkte festgelegt. Es sollen Orte und Landschaften besucht werden, die bedeutsam für wichtige Werke der Kinderliteratur waren. Unterwegs werden den Mädchen die Geschichten vorgelesen – manche kennen sie bereits, wie die Geschichten um Heidi von Johanny Spyri -, dazu gibt es Hintergrundinfos der wohlinformierten Mutter, kleine Museen und die dazugehörigen Landschaften.

Die ersten zwei Wochen werden sie ab Holland noch von einer guten Freundin samt Baby Sarah begleitet. Sieben Menschen in einem Wohnmobil, davon ein Baby, das stellt alle auch vor ziemlich unliterarische Herausforderungen. In den letzten Wochen verstärkt Tom, der Vater der vier Mädchen, die Reisetruppe.

Eckpfeiler der Routenplanung:

  • Hans Brinker and the Silver Skates von Mary Mapes Dodge (Holland)
  • Die Märchen – und die Reisen – von Hans Christian Andersen (Dänemark)
  • Lübeck
  • Der Rattenfänger von Hameln (Deutschland)
  • Diverse – auch mir noch unbekannte – Städte und der Brocken im Harz (auch im ehemaligen Gebiet der DDR)

By the time we reached the border it was dusk. The western horizon glowed a welcome home beyond the barriers, but first we had to undergo a search much more thorough than the one on our arrival. The children were amazed to see a large mirror on wheels was rolled out and solemnly passed to and fro under the van to see if anything – or anybody – was attached underneath. The bonnet was opened, the engine inspected, all the drawers emptied, the books reshuffled. Nothing could have contrasted more startlingly with the casual waves given at all the other borders we had crossed. ‚But if people want to leave the country, why don’t they let them?‘ asked Ellie. (S. 133)

  • Märchen der Gebrüder Grimm und Schloss Wilhelmshöhe (Kassel)
  • Rothenburg ob der Tauber
  • Schloss Neuschwanstein
  • Auf den Spuren Harlequins in Venedig (Italien)
  • Pinocchio (Collodi in Italien)
  • Der Schiefe Turm von Pisa
  • Heidi von Joanna Spyri (Maienfeld, Schweiz)
  • Zürich
  • Wilhelm Tell
  • Lauterbrunnen und Fahrt zum Jungfraujoch
  • Bücher über den Bären Mary Plain von Gwynedd Rae (Bern)
  • Eiffelturm in Paris
  • Die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten von Jean de Brunhoff

Aber genauso werden freie Tage und immer auch ein bisschen Luft für spontane Ausflüge und vom Wetter abhängige Ideen sowie große Vergnügungsparks eingeplant; in Legoland fahren sich die Mädchen in den diversen Fahrgeschäften schwindlig, während sich die zwei Mütter Titanias Palast anschauen.

Bei Museumsbesuchen wird auch mal zu Tricks gegriffen, damit die Töchter nicht vor lauter Langeweile die Galerie sofort wieder verlassen wollen.

Normally our progress through picture galleries and museums is indecently  rapid, but today [Schloss Wilhelmshöhe] was different. We bought the girls each four postcards in the entrance hall and then set them the challenge of finding the originals. Since the gallery is spread over three enormous floors of the palace […] Tom and I very soon lost sight of all four of them, and enjoyed a restful half hour of guessing painters wrongly. (S. 148)

Und so entsteht eine charmante und ehrliche Mischung aus Familienmemoir, Reisebericht (mit all den schönen und chaotischen Seiten, die unerwartet geschlossene Museen und das beengte Leben im Wohnmobil mit sich bringen; kleinen Unfällen inclusive), landeskundlichen Impressionen (holländische Fahrradfahrer und die schweizerische Ordnungsliebe sind der Erzählerin ein echter Dorn im Auge) und literarischer Vor-Ort-Erkundung, bei der ich viel Neues erfahren habe. Hardyment recherchierte akribisch vor, während und nach der Reise zu den AutorInnen und Geschichten, so kann sie mühelos interessante und manchmal auch skurrile Informationen an passender Stelle einflechten. Ihre literarische Entdeckerfreude ist einfach ansteckend.

Das Ganze geschrieben mit Tempo, Wissen, Witz und (mütterlicher) Selbstironie.

Hans-Christian Andersen, auf dessen Spuren die kleine Reisetruppe immer mal wieder wandelt, war 1831 mit dem Schiff von Kopenhagen nach Lübeck gereist. Über die Nacht in seiner Kabine mit zwei weiteren Männern schreibt er:

‚one with his legs against the head of the other. I happened to be in the middle, and now one of them would ask me to move my legs, the other to move my head; I was too long for them.‘ ‚Just like us in Bertha,‘ said Daisy feelingly. ‚I wish Ellie didn’t kick so much.‘ (S. 73)

Manches mutet inzwischen nostalgisch an. Eine Reiseplanung ohne Internet, Kinder ohne Handys, und wenn man liest, dass ihre ungeplante Übernachtung auf „Heidis Almhütte“ oberhalb von Maienfeld zu den Höhepunkten ihrer Tour gehört – auch dank der Gastfreundlichkeit des Senners -, der zwar schon damals von einigen japanischen Touristen berichtet, dann ahnt man, dass derlei Erfahrungen in der heutigen touristisch durchgetakteten Marketingwelt nicht mehr  möglich sind.

Zu gern würde ich wissen, was die Töchter später über diese Reise gedacht haben. Wie war es wohl mit einer so literaturbegeisterten Mutter?

Als ihre beiden älteren Töchter auf der Rückreise Vorschläge machen, wohin die nächste große Tour führen könnte, empfindet Hardyment das als das schönste Kompliment überhaupt.

That assumption that we would be going again, that confidence that they would enjoy it. I felt as pleased as the mother hen in the ‚Ugly Duckling‘ when her brood hatches. I’d hatched a brood, too, a brood of travellers. And romantic ones, at that. Real swans. (S. 247)

Ich jedenfalls bin unglaublich gern mit auf diesen Trip gegangen und war so infiziert, dass ich alle naslang unterbrechen musste, weil ich rasch noch etwas recherchieren wollte. Und natürlich überlege ich jetzt, was ich als nächstes lese: The Wind in the Willows oder Travels with Charley von John Steinbeck? Oder doch Pinocchio?

Next day was positively slovenly – late to rise and late to bed, with much relaxed non-achievement in between. (S. 80)

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Heather Lende: If you lived here, I’d know your name (2005)

If you lived here, I’d know your name ist ein unvergleichliches Buch, das mir nicht nur die Stadt Haines in Alaska mit ihren ca. 2500 EinwohnerInnen auf die innere Landkarte geschrieben hat.

Lende, die ursprünglich aus New York stammt, aber mit ihrem Mann und zwei Hunden nach dem College irgendwie in Alaska hängengeblieben ist und seit 1984 in Haines lebt, hat in der dort einmal wöchentlich erscheinenden Lokalzeitung inzwischen über 400 Nachrufe geschrieben und war ebenfalls verantwortlich für die Duly Noted-Rubrik, wo so dies und das gesammelt wird, was in einer Kleinstadt des Erwähnens für wichtig erachtet wird. Beispiele dieser Duly Noted-Kurznachrichten finden sich zu Beginn eines jeden Kapitels.

Die Autorin hat mit ihrem Mann Chip fünf Kinder großgezogen, inzwischen vier Bücher geschrieben und in diversen Publikationen veröffentlicht. Und das, obwohl sie immer nur „around the edges of a busy life“ geschrieben hat. 2021 wurde sie zum Alaska State Writer Laureate ernannt.

Und nun zum Problem dieses hinreißenden Buches: Wie soll man den Inhalt beschreiben? Es geht in großen Kapiteln, die eher locker durch eine jeweilige Überschrift zusammengehalten werden, assoziativ, ziemlich unchronologisch und herrlich chaotisch mäandernd um das Leben in Haines, sehr nah dran an der eigenen Biografie, den Freunden und Nachbarn, aber auch an den Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, die die Autorin dann besucht, um die Nachrufe schreiben zu können.

Überhaupt ist das Leben in Alaska nicht ungefährlich, Menschen sterben auf der Straße, die kleinen Segelflugzeuge zerschellen am Berg; eine befreundete Familie ruft mitten in der Nacht an, das Fischerboot ihres Sohnes ist in einen Sturm geraten. Man möge bitte beten. Drei Menschen können gerettet werden, doch die Leiche des Sohnes wird nie gefunden.  Der Weg durch die Trauer, den die Mutter des jungen Mannes geht, wird auf nur einer halben, aber sehr eindrücklichen Seite erzählt.

Es geht darum, wie man die politischen Querelen zwischen strammen Republikanern und Liberalen aushält, die auch vor einem kleinen Ort wie Haines nicht Halt machen, um Umweltzerstörung und die Frage, ob die Schule nach miesen Mobbingvorfällen einen Workshop zu Homosexualität abhalten sollte, genauso aber auch um die Wunden und Traumata des indigenen Volkes der Tlingit, ihre Bemühungen, ihre Kultur zu leben, sie manchmal sogar erst wieder zu lernen.

Paul tells me he’s learning the Tlingit language so he can believe the stories of his people, not just know the plots. When he was young, missionaries and the government prohibited Alaskan natives from speaking their language and living traditionally. They often took Tlingit children from their homes and families, placing them in boarding schools as far away as Washington and Oregon. Now Paul is a grandfather and is committed to relearning  a way of living that he says is not lost but rather hiding, just below the skin. (S. 38)

Lende liebt ihre neue Heimat, die oft gefährliche und atemberaubend schöne Natur, das Joggen mit ihrem Hund, ihre Familie, das Räuchern der Fische, das Beerensammeln mit den anderen Frauen, bei dem man laute Musik spielt, um die Bären zu vertreiben, das Engagement von so vielen Menschen für das Gemeinwohl und unzählige Aktivitäten, die man hier vermutlich mit dem Etikett Ehrenamt versehen würde, dort aber wohl eher unter normaler Nachbarschaftshilfe verbucht. Sogar die Aufgaben des Bestatters werden von einem Ehepaar unentgeltlich übernommen. Man muss die beiden nur fragen.

Die Haustür wird nicht abgeschlossen, die Autoschlüssel bleiben stecken, die Tageszeitung ist nie aktuell, da sie erst eingeflogen werden muss. Eine Entbindungstation gibt es schon seit Jahren nicht mehr und ein entzündeter Blinddarm kann lebensbedrohlich sein, je nachdem, ob der Pass über die kanadische Grenze aufgrund der Schneefälle noch passiert werden kann.

Ihre zweite Tochter bekommt Lende während eines entsetzlichen Schneesturms. Die zukünftige Großmutter kommt extra angereist.

Mom had arrived from New York a few days earlier on a ferry coated with ice. The usual four-and-a-half-hour trip had taken nearly eight as northern gales kept the boat form moving at full speed. Mom was one of the few passengers who didn’t get sick. She also didn’t know it was dangerous at all. She’d never been on the ferry before and assumed it was always like that.

Nach nur fünf Stunden in der damaligen Krankenstation können Heather und Baby Sarah zurück nach Hause. Am nächsten Morgen moderieren Freunde von Heather eine Radiosendung.

… and they talked on air about the new Lende baby, telling listeners that her name was Sarah […] and her weight was eight pounds, two ounces. As for the state of the mother’s health: „I saw Heather shoveling the driveway today on my way to work,“ Steve said.

I thought my mother woud kill me. „He’s kidding, Mom,“ I told her. „It’s a joke.“ She was not amused. (S. 14)

Ebenso erfahren wir von Wohltätigkeitsbuffets, bei denen jeder mit Begeisterung viel mehr ausgibt, als er eigentlich wollte, um einer Familie finanziell unter die Arme zu greifen, die die teure medizinische Behandlung des Kindes nicht mehr allein stemmen kann. Und die Aufführungen der Laienspielgruppe, bei denen man wirklich alle Mitwirkenden kennt, bleiben Lende länger in Erinnerung als der Besuch des Musicals Cats in New York.

Lendes Arbeit als Verfasserin der Nachrufe, die auch mal zwei Zeitungsseiten lang sein können, bringt sie nicht nur mit den unterschiedlichsten Charakterern, Lebensentwürfen und Schicksalen zusammen, sondern konfrontiert sie natürlich auch mit Frage, wie Menschen auf den Verlust reagieren, worin sie Trost und Halt finden.

Aber genauso sinniert sie darüber, was es bedeutet, wenn ihr zehnjähriger Sohn zum ersten Mal mit seinem Vater auf die Jagd geht, und warum es ihr wichtig ist, dass ihre Töchter als Deckhands auf einem Fischerboot jobben, auch wenn sie weiß, dass das keine ungefährliche Aufgabe ist.

Das Besondere an diesem Buch ist neben der schieren Fülle an Geschichten aber vor allem der Blick der Erzählerin auf die Welt. Zurückgenommen, dezent selbstironisch und humorvoll. Warmherzig, dankbar, im Glauben geerdet, den Menschen zugewandt, bescheiden.  Zupackend und hoffnungsvoll.

Da wird mit der gleichen Selbstverständlichkeit davon erzählt, dass man ein Roma-Waisenmädchen adoptiert, wie davon, dass es gar nicht so einfach ist, zu Hause mal in Ruhe ein schönes Ei-Sandwich zu essen, da einem ständig Anrufe, spontane Gespräche und Aufgaben dazwischenkommen.

Wer wissen will, was ein Drache mit einem Feuerlöscher, der mit 25 Kilo Mehl gefüllt ist, mit Weihnachtsstimmung zu tun hat, muss das Buch nun trotz meiner wie immer ausufernden Inhaltsangabe doch noch selbst lesen. Ich jedenfalls, am Ende der 281 Seiten angekommen, könnte gleich wieder von vorn beginnen. Eine Wundertüte von Buch, das sowohl Kritiker als auch LeserInnen beglückt hat und dazu einlädt, unter anderem darüber nachzudenken, wo sich unser Leben fundamental von dem der Einwohner Haines‘ unterscheidet. Vermutlich ist das bei uns oft viel zersplitterter, vereinzelter und ego-bezogener.

Lende hingegen ist sich sicher:

It’s as if we are all moving through this world on a big old ship, holding on to one another as we cruise up the generous river of life. The water that floats us is always new, yet it flows in the same direction, over the same old sand. (S. 44)

Oder wie es an anderer Stelle heißt, an der Lende die Schriftstellerin Annie Dillard zitiert:

How we spend our days, of course, is how we spend our lives. (S. 85)

Einzig das Cover fand ich etwas dürftig, aber gut, das sollte niemanden abhalten.

Wer noch ein bisschen weiterstöbern möchte, könnte beispielsweise dem Hinweis zu Elisabeth Peratrovich nachgehen oder sich gleich auf dem Blog Lendes festlesen.

Robert Barnard: Sheer Torture (1981)

Sheer Torture des britischen Englischprofessors Robert Barnard (1936 – 2013) ist ein vergnüglicher Auftakt zu der Serie um den Ermittler Peregine „Perry“ Trethowan. Perry ist alles andere als entzückt, ausgerechnet in einem Mordfall tätig werden zu müssen, in dem sein eigener Vater das Opfer ist.

Nicht aus Trauer oder Betroffenheit, sondern weil er seiner schauderhaften Familie und seinem Vater, der nie einen Hehl aus seinen sadomasochistischen Neigungen gemacht hat, schon als junger Mann den Rücken gekehrt hat. Doch das hilft nun alles nichts. Sein Vorgesetzter beordert Perry zurück ins Herrenhaus der Familie, zurück zu seiner Schwester, den zwei bizarren Tanten – von denen eine ihre jugendliche Verehrung für Hitler immer noch glücklich vor sich herträgt-, dem reichen Onkel und zwei Cousins sowie einer Schar unerzogenener und ständig schreiender Gören.

Zu allem Überfluss lädt sich auch noch Jan, die Ehefrau Perrys, selbst zu dem Familientreffen ein, und dabei war Perry so froh, sie seit Jahren von seiner Sippe ferngehalten zu haben.

Robert Barnards Dialoge sind schlagfertig, es gibt Tempo, Witz und Spannung, sodass sich das Buch über weite Strecken wie ein Krimi des Golden Age liest – Barnards großes Vorbild war Agatha Christie – und man sich zwischendurch wundert, durch die Seitenhiebe auf Mrs Thatcher daran erinnert zu werden, dass die Handlung doch in den achtziger Jahren spielt.

Aus derselben Reihe las ich auch The Case of the Missing Brontë. Da kann man dann zeitgleich Spaß an Krimis mit seiner Freude an den Geschwistern Brontë kombinieren. Es geht um ein (mutmaßliches) Manuskript, das die reizende pensionierte Lehrerin Edith Wing von ihrer Cousine geerbt hat und natürlich für Tunichtgute aller Art eine finanzielle Verlockung sondergleichen darstellt. Darüberhinaus bekommt noch ein bestimmter Typ an raffgieriger pseudofrommer Freikirche ihr Fett ab. Ebenfalls spannend, allerdings fehlen über weite Strecken die hübschen Schlagabtausche in den Dialogen.

Hier der kurze, aber informative Nachruf auf Barnard im Guardian.

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Elizabeth Taylor: Mrs Palfrey at the Claremont (1971)

Anlässlich der Übersetzung ins Deutsche noch einmal ein Blick zurück auf einen sprachlich besonders feinen Roman.  Mrs Palefrey at the Claremont (1971) stellt sich unerschrocken, kühl, manchmal ironisch und immer unsentimental den Themen Alter und Einsamkeit. Sehr gern gelesen. Das Buch zwickt und zwackt auch dann noch, wenn man es längst ausgelesen hat. Es beginnt mit den Sätzen:

Mrs Palefrey first came to the Claremont Hotel on a Sunday afternoon in January. Rain had closed in over London, and her taxi sloshed along the almost deserted Cromwell Road, past one cavernous porch after another, the driver going slowly and poking his head out into the wet, for the hotel was not known to him. This discovery, that he did not know, had a little disconcerted Mrs Palefrey, for she did not know it either, and began to wonder what she was coming to. She tried to banish terror from her heart. She was alarmed at the threat of her own depression.

Dieses Buch ist der elfte und damit letzte Roman der britischen Autorin Elizabeth Taylor (1912 – 1975), der noch zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurde. Taylor wurde zwar schon immer von ihren SchriftstellerkollegInnen geschätzt, doch von der Öffentlichkeit erst in den letzten Jahren wirklich entdeckt. Robert McCrum nahm den Roman Mrs Palefrey at the Claremont sogar in seine Liste der 100 besten englischsprachigen Romane auf, die 2015 im Guardian veröffentlicht wurde und – wie immer bei solchen Listen – zu munteren Diskussionen und alternativen Vorschlägen führte.

Im Februar 2021 erschien unter dem Titel Mrs Taylor im Claremont im Dörlemann Verlag die Übersetzung von Bettina Abarbanell. Endlich – kann man da nur sagen; das war längst überfällig. Doch zurück zum Inhalt.

Da Mrs Palefrey, Witwe eines kolonialen Verwaltungsbeamten, nicht mehr besonders gut zu Fuß ist, überlegt sie, ob es nicht vernünftiger wäre, ihr Haus Rottingdean aufzugeben, in dem sie mit ihrem Mann Arthur nach dessen Pensionierung mehrere glückliche Jahre verbracht hat.

Und so beschließt sie, für ihre letzte Lebensetappe, die sie noch bei halbwegs guter Gesundheit verbringen kann, ein Hotel zu ihrem Wohnsitz zu machen. Ihre Wahl fällt auf das Londoner Claremont Hotel, das mit verbilligten Wintertarifen wirbt. Ein Wechsel, der verständlicherweise schmerzhaft ist.

She thought of Rottingdean, imagined it, with the leaves coming down – or down already – on the lawns, and this softness in the air; but at the very idea of ever going back there, her heart heeled over in pain. (S. 189)

Doch mit einer „stiff upper lip“-Haltung versucht sie vom ersten Tag an, ihre Traurigkeit über die neue Situation unter Kontrolle zu halten, was ihr nicht immer so recht gelingt, zumal die Beziehung zu ihrer in Schottland lebenden Tochter recht kühl und nichtssagend ist und ihr Enkel es kaum für nötig erachtet, sie überhaupt einmal im Hotel zu besuchen, obwohl er ebenfalls in London lebt.

The silence was strange – a Sunday-afternoon silence and strangeness; and for the moment her heart lurched, staggered in appalled despair, as it had done once before when she had suddenly realised, or suddenly could no longer not realise that her husband at death’s door was surely going through it. Against all hope, in the face of all her prayers. (S. 4)

Wir lernen auch die anderen Dauergäste kennen, einsame alte Menschen, nach Kontakten und Neuigkeiten dürstend, nahezu vergessen von der Welt, abhängig von den Launen der Verwandtschaft, die ab und an zur Gewissensberuhigung ihre Pflichtbesuche absolviert.

So kämpfen alle einen Kampf gegen die Verengung des eigenen Handlungsspielraums und gegen die Langeweile, in der sogar das Studieren des eintönigen Speiseplans eine willkommene Abwechslung darstellt.

… Mrs Palefrey considered the day ahead. The morning was to be filled in quite nicely; but the afternoon and evening made a long stretch. I must not wish my life away, she told herself; but she knew that, as she got older, she looked at her watch more often, and that it was always earlier than she had thought it would be. When she was young, it had always been later.

I could go to the Victoria and Albert Museum, she thought – yet had a feeling that this would be somehow deferred until another day. (S. 8)

Ein weiterer Feind ist die drohende körperliche Hinfälligkeit, denn alle wissen, dass sie das Hotel verlassen müssen, sobald sie gebrechlich oder gar inkontinent werden. Schon das Überqueren der Straße kann dabei ein Angst auslösender Vorgang sein, weil da kein Arm ist, der einen stützen könnte.

Eines Tages stürzt Mrs Palefrey auf einem ihrer Spaziergänge und lernt so den jungen mittellosen Schriftsteller Ludo kennen. Da sie sich schämt, dass ihr eigener Enkelsohn sie noch nicht besucht hat, gibt sie Ludo den anderen Mitbewohnern kurzerhand als ihren Enkel Desmond aus. Ludo spielt das Spiel in einer Mischung aus Langeweile und Mitleid mit, zumal er immer wieder Zitate und Situationen aus dieser Bekanntschaft als Material für sein Romanprojekt verwenden möchte.

Für Mrs Palefrey ist Ludo allerdings unwahrscheinlich wichtig, da er außerhalb der Hotelwelt der einzige ist, mit dem sie ab und an Kontakt hat.

Sprachlich superb. Als Ludo ihr ein Küsschen auf die Wange gibt, heißt es:

At the same time, he registered the strange, tired petal-softness of her skin, stored that away for future usefulness. And the old smell, which was too complex to describe yet. (S. 35)

Falls meine Notizen zum Inhalt ein bisschen dröge wirken, täuscht das, denn auch wenn der Roman natürlich kein Action-Thriller ist, lebt das Buch von einer inneren Spannung. Es ist fast unmöglich, sich der Einsamkeit des Alters, die hier ganz kühl und scheinbar beiläufig seziert wird, zu entziehen.

When she was young, she had had an image of herself to present to her new husband, whom she admired; then to herself, thirdly to the natives (I am an Englishwoman). Now, no one reflected the image of herself, and it seemed diminished … (S. 3)

Symptomatisch ist, dass nur an einer Stelle der Vorname der Hauptfigur genannt wird. Es gibt einfach niemanden mehr, der so vertraut mit Mrs. Palefrey ist, dass er sie mit ihrem Vornamen anreden könnte.

Und die Mitbewohner, mit denen Mrs Palefrey nun ihre Tage verbringt, werden ja nicht deshalb zu Freunden, nur weil man ihnen dauernd nahe ist. Im Gegenteil, spitze Bemerkungen werden ausgetauscht, Denkweisen und Temperamente, die früher nicht kompatibel gewesen wären, sind es auch jetzt nicht.

Manche kommen besser mit der Situation zurecht – dabei ist es hilfreich, wenn man geistig eher schlicht gestrickt ist -, andere schlechter. Der eine sieht einen Ausweg in der Illusion einer späten Ehe, der andere im Trinken. Die dritte in einer unablässigen Neugier.

Der ganze Handlungsstrang um Ludo, der ebenfalls einsam ist, hat mich persönlich weniger angesprochen. Viel interessanter fand ich die kühlen und genauen Beobachtungen, mit denen uns der Erzähler Mrs Palefrey nahebringt.

Although she felt too old to do so, she knew that she must soldier on, as Arthur might have put it, with this new life of her own. She would never again have anyone to turn to for help, to take her arm crossing a road, to comfort her; to listen to any news of hers, good or bad. She was helplessly exposed – to the idiosyncrasies of other old people, the winter coming on, her aches and pains and loneliness … (S. 189)

Aber wir sehen auch ihre Sehnsucht nach Gesehenwerden und ihre Herzlichkeit, mit der sie Ludo beschenkt. Ihr so menschlicher Wunsch nach Zuwendung. Manchmal finde ich ihre Fähigkeit zur Selbstreflektion und ihre – seltenen – Anflüge von Heiterkeit, in denen sie sich völlig unsentimental Rechenschaft über ihre Situation gibt, geradezu altersweise.

Als sie überlegt, dass sie – als ihr Mann noch lebte – das Glück ihrer langen Ehe als selbstverständlich ansah, ohne damals überhaupt verstanden zu haben, dass sie glücklich war, heißt es am Ende:

People are sorry for brides who lose their husbands early, from some accident, or war. And they should be sorry, Mrs Palefrey thought. But the other thing is worse. (S. 64)

Und am Ende habe ich auch verstanden, warum sie dann tatsächlich nie das Victoria and Albert Museum besucht hat.

Wer sich nun fragt, wer Elizabeth Taylor war und ob man noch mehr von ihr lesen sollte, der möge hier weiterlesen.

Rónán Hession: Leonard and Hungry Paul (2019)

Was für ein feines, außergewöhnliches Buch. Ein klarer Fall für meine Kategorie der freundlichen Bücher.

Das Debüt des irischen Musikers Rónán Hession, der bisher nur Erzählungen veröffentlicht hatte, handelt von Leonhard und Hungry Paul, zwei ledigen Freunden in den Dreißigern, die so ziemlich das Gegenteil dessen verkörpern, was als momentan angesagt gelten könnte. Sie posen nicht auf Instagram – Hungry Paul hat noch nicht einmal ein Handy -, sie hatten weder eine traumatische Kindheit noch hatten sie je eine Freundin. Sie sind im menschlichen Miteinander ein wenig unbeholfen bzw. ungeübt und mögen weder größere Menschenansammlungen noch Smalltalk mit Fremden. Sie sind weder schlagfertig noch in irgendeiner Weise herausragend und im Grunde die, die normalerweise übersehen und überhört, bestenfalls etwas mitleidig belächelt werden. Genau deshalb sind sie aber auch unverbogen, verschwenden keine Energie auf Selbstdarstellung, sondern haben Zeit, sich ihren eigenen Interessen zu widmen und sich ihre eigenen Gedanken zu machen.

Leonhard, der beruflich Nachschlagewerke für Kinder schreibt und langsam die Nase voll hat von den seelenlos wie am Fließband entwickelten Büchern, hat gerade seine Mutter verloren, mit der er zusammengewohnt hat. Über sie heißt es:

She was a person for whom kindness was a very ordinary thing, who believed that the only acceptable excuse for not having a bird feeder in the back garden was that you had one in the front garden. (S. 2)

In der Trauer wird ihm bewusst, wie ruhig und einsam sein Leben ist.

He found book shops to be comforting places and book buying a comforting activity, but he was an absent-minded reader these days, the act of reading that much more solitary without his mother pottering around the house in the background. (S. 4)

Hungry Paul wohnt ebenfalls noch bei seinen Eltern  und ist – abgesehen von seinen Einsätzen als Ersatzbriefträger – im Grunde arbeitslos.

In truth, he never left home because his family was a happy one, and maybe it’s rarer than it ought to be that a person appreciates such things. (S. 6)

Abends besucht Leonhard oft seinen Freund und dessen Familie, dann wird geredet, ferngesehen und es werden Brettspiele gespielt.

Hungry Paul lived on a knife edge between a passion for board games and an aversion to instruction booklets. (S. 14)

Pauls Schwester Grace, die ein klein wenig zur Besserwisserei und zum Helfersysndrom neigt, steht kurz vor der Hochzeit mit Andrew und macht sich Sorgen, dass ihre Eltern sich durch die Fürsorge um Paul vielleicht um die Freiheit bringen, endlich ihren verdienten Ruhestand zu genießen. Hungry Paul wird derweil von seiner Mutter verdonnert, sie in Zukunft bei ihren ehrenamtlichen Besuchen im Krankenhaus zu begleiten. Da würde ich am liebsten gleich spoilern, wie das weitergeht. Aber nein, tue ich nicht.

Heimlich nimmt Paul außerdem an einem Wettbewerb teil, der ausgerufen wurde, um eine zeitgemäßere Schlussformel für die allgegenwärtigen E-Mails zu finden. Das wiederum führt zu einigen unvorhersehbaren Turbulenzen und Bekanntschaften.

Leonhard hingegen lernt zufällig in seinem Großraumbüro eine junge Frau kennen, was allerdings ebenfalls mit diversen Tücken und Fallstricken behaftet ist und ihn mehr als einmal heftig in die Bredouille bringt.

Diesen beiden bedächtigen freiwillig-unfreiwilligen Eigenbrötlern in ihrem unspektakulären Dasein folgen wir nun. Dass das streckenweise eher kunstlos und etwas spröde runtererzählt wird, hat nur selten gestört, da der Autor es durch freundlichen Humor, die Balance zwischen ernsten, leichten und schrägen Szenen und reizende Zwischenbemerkungen schafft, dass ich mir mehr Stellen angestrichen habe, als ich hier zitieren kann. Und vielleicht muss man diese Geschichte ja auch genau so erzählen, da der Stil zu den beiden Männern passt wie der Deckel auf die Dose.

Die beiden Freunde Leonhard und Hungry Paul werden dabei nicht als Freaks vorgeführt, sondern als rundherum glaubwürdige und würdige Charaktere geschildert, die man sofort in seinen Freundeskreis adoptieren möchte.

Paul sagt an einer Stelle über sich:

As you know, I have always been modestly Hippocratic in my instincts: I wish to do no harm. My preference has always been to stand back from the world. Much like the Green Cross Code, I like to stop, look and listen before getting involved in things. It has stood me well and kept me on peaceful terms with my fellow man. […] the trick is to know how much of the world to let in, without becoming overwhelmed. (S. 18/19)

Und dann könnte man sich abends mit ihnen die Zeit vertreiben bei Brettspielen und anregenden Gesprächen über den „Schrei“ von Munch, die Ausdehnung des Universum und den ganzen Rest. Und von ihnen lernen. Mit angemessenen Schweigepausen, versteht sich.

For the two friends, the bleaching of the coral reefs was as current as the latest general election; the discovery of new dwarf planets was as relevant as last night’s penalty shoot-out; and Marco Polo was discussed as others might gossip about the latest red carpet ingénue. (S. 15)

Mary Whipple fasst es auf ihrem Blog treffend zusammen, wenn sie schreibt:

With two main characters who have little to suggest that their stories will become the charming, funny, insightful, and un-put-down-able chronicles that eventually evolve, Irish author Rónán Hession demonstrates his own creativity and his own ideas regarding communication and its importance or lack of it in our lives.  He ignores the generations-old traditions of boisterous Irish writing and non-stop action in favor of a quiet, kindly, and highly original analysis of his characters and their unpretentious and self-contained lives.  In this way, he draws in his readers and makes them identify, however impossible that may seem, with two young men whose enjoyment of the small moments makes them less needful of communicating, especially with more worldly, socially active, and often less thoughtful people.

Hier geht’s lang zur Besprechung von Carrie O’Grady im Guardian.

Arnold Bennett: The Old Wives‘ Tale (1908)

Ursprünglich hatte ich The Old Wives‘ Tale von Arnold Bennett, veröffentlicht im Jahr 1908, nur rasch anlesen wollen, in der Hoffnung, mich zügig von einem miserabel gedruckten Taschenbuch mit zu kleiner Schrift zu verabschieden. Dumm gelaufen. Auch wenn die ersten Seiten gewöhnungsbedürftig waren und die Perspektive mir manchmal zu unorganisch zwischen distanziert-ironisch-allwissend und dann wieder psychologisch-feinfühlig wechselte, hatte mich Bennett (1867 – 1931) doch rasch am Haken mit seiner Geschichte um zwei Schwestern, die wir auf ihren Lebenswegen vom jungen Mädchen bis zur alten Frau begleiten. Dabei spielt die Handlung ungefähr zwischen den 1860ern und 1907.

Constance und Sophia Baines wachsen in der schmutzigen und rußigen Provinzstadt Bursley auf, unschwer erkennbar als das heutige Burslem im Pottery District (Staffordshire). Ihre Eltern betreiben ein gut gehendes  Textilwarengeschäft. Dem Wunsch Sophias, eine Lehrerinnenausbildung zu absolvieren und  sich damit aus der Enge des Ladens zu emanzipieren, stehen die Eltern verständnislos und ablehnend gegenüber, während Constance sich in dem engen Milieu wohlfühlt und ihr ganzes Leben in der Stadt und sogar im selben Haus wohnen wird. Gleichwohl hat Constance eine wache Auffassungsgabe und betrachtet sich und ihre Umwelt durchaus liebevoll kritisch, auch wenn ihr die religiösen und gesellschaftlichen Konventionen zeitlebens eine Stütze sind.

Unfortunately one might as well argue with a mule as with one’s soul. (S. 310)

Sophia hingegen wird ausbrechen, naiv und voller Selbstüberschätzung auf einen albernen Schuft hereinfallen, und doch nicht unter die Räder kommen. Den Großteil ihres Lebens wird sie in Paris verbringen, in dem auch Bennett mehrere Jahre lebte, und dort ihren Weg gehen.

Im letzten und vielleicht aufregendsten Teil des Buches begegnen sich die Schwestern wieder. Sie sind inzwischen alt und der Leser/die Leserin zieht mit ihnen Bilanz über ihr Glück, ihr Unglück, ihre Ehen und vor allem über die unbarmherzig voranschreitende Zeit, die letztendlich alle vermeintlichen Unterschiede in ihren Lebenswegen einebnet.

Dass Bennett dabei sowohl die Geschichten der Nachbarn als auch die gesellschaftlichen Bedingungen und Veränderungen miteinbezieht, sei hier nur am Rande erwähnt, ist aber sicherlich einer der Aspekte, die dazu beigetragen haben dürften, dass das Buch heute von vielen als einer der Meilensteine des englischen Realismus angesehen wird.

Ewald Standop und Edgar Mertner schreiben in ihrer Englischen Literaturgeschichte (1983), nachdem sie einen kurzen Abriss des Inhalts gegeben haben:

Diese dürren Fakten lassen freilich das Wichtigste außer acht: das gewaltige Panorama des Lebens, das Bennett einzufangen versteht, die kleinen und großen Wechselfälle des Lebens, die Nichtigkeiten, die plötzlich Bedeutung gewinnen, aber auch außergewöhnliche Dinge wie die Beschießung von Paris. (S. 569)

Für John Wain ist die Qualität des Werkes, das Bennett trotz vielerlei anderer Verpflichtungen in nur 11 Monaten fertigstellte, ebenfalls unstrittig. In seiner Einleitung zur Taschenbuchausgabe von 1983 nennt er drei Gründe, aus denen das Buch Anspruch auf Ruhm erheben könne:

It is one of the most successful attempts, if not the most successful, to rival in English the achievement of the French realistic novel […] It is one of the most complete and satisfying novels of English provincial life. And it is a standing proof that a writer of the male sex can write with real perception about the imaginative  and emotional lives of women.

In Tim Heads Vorwort der schönen Folio Society-Ausgabe von 2004 klingt das schon abgeklärter. Head ist sich bewusst, dass Bennett zur Zeit nicht besonders angesagt ist.  Doch auch er ist sich sicher:

The book is a life enhancer, and it would be a poor spirit which is not the better for reading it. (S. X)

In Englische Literaturgeschichte (2004) hingegen, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber, taucht Bennett dann gar nicht mehr auf. Vom Markstein des englischen Realismus hin zum völligen Vergessenwerden. So schnell kann’s gehen…

Zum Abschluss noch eine kleine Lebensweisheit des Arztes, der Constance zu mehr Unternehmungslust überreden will:

I’m deeply attached to my bed in the morning, but I have to leave it. (S. 531)

Was mich grummelig macht und irritiert, ist der Umstand, dass es anscheinend zurzeit keine deutsche lieferbare Ausgabe dieses Romans  mehr gibt. Jeder Blödsinn wird veröffentlicht, aber ein Klassiker über eine Zeit im Umbruch mit einer Fülle an unvergesslichen Charakteren wird nicht mehr verlegt? Und nur nach längerem Herumsuchen habe ich eine gebrauchte englische Ausgabe der Folio Society gefunden, die dann hoffentlich mein billiges Taschenbuch von 1990 ersetzen kann.

Kleine Krimi-Tüte mit Wentworth und Cotterill

Colin Cotterill: The Coroner’s Lunch (2004)

Der erste Band The Coroner’s Lunch (2004) aus der Reihe um Dr. Siri Paiboun, den einzigen Rechtsmediziner in Laos, hat mir richtig gut gefallen. 2008 erschien die deutsche Übersetzung von Thomas Mohr unter dem Titel Dr. Siri und seine Toten.

Nicht nur die Hauptfigur, der renitente 72-jährige Arzt Siri Paiboun, ist hinreißend sympathisch gezeichnet. Dieser wird nach der kommunistischen Machtergreifung 1975 als Rechtsmediziner zwangsrekrutiert, obwohl er sich eigentlich nach Studium in Frankreich und Jahrzehnte langen Kämpfen im Dschungel von Vietnam auf seinen Ruhestand gefreut hatte. Stattdessen muss er sich nun in dem kommunistischen Land mit Mangelverwaltung, obereifrigen Vorgesetzten, Behördenwillkür und unliebsamen Erinnerungen herumärgern.

After seventy-two years, he’d seen so many hardships that he’d reached the calmness of an astronaut bobbing about space. Although he wasn’t much better at Buddhism than he was at communism, he seemed able to meditate himself away from anger. Nobody could recall him losing his temper. (S. 13)

Neben dem trockenen Humor, Siris Freunden und einem beachtlich verzwickten Fall um den Tod einer hohen Parteifunktionärin hat mich gerade der Schauplatz überzeugt: Laos, ein Land, von dem ich nun wirklich so nahezu gar nichts wusste.

Auf dem Blog Schöner Schein gibt es einen Artikel zum Autor.

Der Krimi macht Lust, sich über das Buch hinaus mit der Geschichte des Landes und seiner Kultur zu beschäftigen. Dabei lernt man dann nicht nur, dass Laos eines der am heftigsten bombardierten Länder ist, wurde es doch in den Krieg zwischen kommunistischen und antikommunistischen Mächten hineingezogen. Das wiederum hat Auswirkungen bis heute, liegt doch ein großer Teil der Bomben und Minen bis heute im Boden.

Aber daneben gibt es unter anderem auch die Ebene der Steinkrüge. Wie faszinierend.  Hunderte von großen Steinkrügen, zum Teil über 200o Jahre alt und seit 2019 UNESCO-Weltkulturerbe.

Patricia Wentworth: The Case is Closed (1937)

So wie ich von Cotterills Krimi angetan war, so war ich von dem ersten Krimi um die ältere Ermittlerin Miss Silver zunehmend genervt. Dabei fing The Case is closed (1937) von Patricia Wentworth ganz vielversprechend an. Witzig, unterhaltsam. Ein bisschen screwball-comedy-mäßig.

Hilary Carew sat in the wrong train and thought bitterly about Henry. It was Henry’s fault that she was in the wrong train – indisputably, incontrovertibly, and absolutely Henry’s fault, because if she hadn’t seen him stalking  along the platform with that air, so peculiarly Henryish, of having bought it and being firmly  determined to see that it behaved itself, she wouldn’t have lost her nerve and bolted into the nearest carriage. (S. 3)

Hilarys Freundin Marion Grey ist schwer vom Schicksal getroffen. War Marion vor kurzem noch eine bezaubernde glückliche Ehefrau, so muss sie sich allmählich mit dem grauenhaften Gedanken abfinden, dass ihr Mann, der schuldig gesprochen wurde, seinen wohlhabenden Onkel umgebracht zu haben, wohl Jahrzehnte im Gefängnis bleiben wird und dies – wenn überhaupt – nur als gebrochener Mann verlassen wird.

Doch Hilary Carew, die beste Freundin und Mitbwohnerin Marions, trifft zufällig in einem Zug auf eine ältere, verhärmte Frau, die ihr Dinge zuflüstert, die andeuten, dass im Prozess möglicherweise nicht alle Fakten auf den Tisch gekommen sind.

Zum einen hat mich an dem Krimi gestört, dass Miss Silver erst sehr spät ihren Auftritt hat – ist das in den Folgebänden ähnlich? Doch was ich wirklich nicht mehr unterhaltsam finden konnte, sondern mir den letzten Nerv geraubt hat, war Hilary. Ihre hanebüchene Naivität und Selbstverständlichkeit, mit der sie ständig dem möglicherweise wahren Mörder in die Arme läuft, waren auch mit ihrem zarten Alter von 22 Jahren nicht zu entschuldigen. 

Charles Dickens: Great Expectations (1861)

Ich hoffe sehr, dass ihr alle wohl und behütet ins neue Jahr gekommen seid!

Beginnen wir das Blogjahr mal nicht mit dem eigentlich obligatorischen Rückblick, sondern mit etwas anderem. Mir war mal wieder klassisch zumute, also tat ich, was man viel öfter tun sollte, und griff beherzt zum 13. Roman von Charles Dickens (1812 – 1870), der zunächst als Fortsetzungsroman in Dickens eigener Zeitschrift erschien, bevor er dann 1861 als Buch veröffentlicht wurde.

Die Geschichte wird uns von Pip selbst erzählt und beginnt, als er ein ca. siebenjähriger Waisenjunge ist, der bei seiner ständig prügelnden Schwester und deren herzensgutem, aber wenig durchsetzungsfähigen Mann Joe Gargery, einem Schmied aufwächst. Eine Familienkonstellation, deren Wurzeln wie bei so vielen der Dickens‘schen Protagonisten in der katastrophalen Kindheit Dickens liegen.

Mrs. Joe was a very clean housekeeper, but had an exquisite art of making her cleanliness more uncomfortable and unacceptable than dirt itself. Cleanliness is next to Godliness, and some people do the same by their religion. (S. 20, Ausgabe der Everyman’s Library)

Eines Abends, als er auf dem Kirchhof die Gräber seiner Eltern und verstorbenen Geschwister besucht, wird er fast zu Tode erschreckt von einem Sträfling, der von einem der an der Küste liegenden Gefängnisschiffe geflohen ist. Der namenlose Gefangene bringt den verängstigten Jungen dazu, ihn nicht zu verraten und ihm Nahrung und eine Feile aus der Schmiede zu bringen, sodass er sich von den Ketten befreien kann.

Später wird Pip als eine Art Unterhaltungsspielzeug von der durchgeknallten Miss Havisham in ihr Haus eingeladen, die das Verschwinden ihres treulosen Bräutigams am Tag der geplanten Hochzeit nie verwunden hat. Dort lernt er die junge und hinreißend schöne Estella, die Adoptivtochter Miss Havishams, kennen. Er verliebt sich unsterblich in sie, obwohl ihm bewusst ist, dass sie seine Gefühle nicht erwidert und überhaupt seltsam gefühltskalt ist.

I never  had one hour’s happiness in her society, and yet my mind all round the four-and-twenty hours was harping on the happiness of having her with me unto death. (S. 287)

Irgendwann erfährt Pip, dass ihm ein anonymer Gönner  finanziell dazu verhelfen will, ein Gentleman zu werden. Da sein ganzes Trachten danach ausgerichtet ist, Estella für sich zu gewinnen und er sich seiner ärmlichen und ungebildeten Herkunft schämt, nimmt er das Angebot, nach London zu ziehen und dort zum Gentleman zu werden (ohne sich bewusst zu machen, was genau das sein soll), mit Freude an. Er weiß, solange er grobe Arbeitsschuhe trägt und seine Hände von körperlicher Arbeit zeugen, wird Estella ihn niemals ernsthaft als Ehemann in Erwägung ziehen.

Wie er dann in London an echte und falsche Freunde gerät, ein Snob wird, der seinen besten Freund noch fast mit in den Abgrund reißt und trotz allem im Laufe der spannenden Handlung, bei der sich die vielen Fäden allmählich entwirren, doch zu einem verantwortlich handelnden Erwachsenen wird, das ist alles ganz großes Kino. (Über den mehrdeutigen Schluss mit seinem Anklang von Kitsch, den Dickens eigentlich gar nicht geplant hatte, gehen wir jetzt mal großzügig hinweg.)

Also: Trotz aller Übertreibungen und Überspitzungen und mancher Schwarzweißmalerei ist der Roman, der heute als einer der besten Romane Dickens und als ein Meilenstein der englischen Literatur gilt, ein pralles Sittengemälde mit unvergesslichen Charakteren und Szenen, ein Beweis, dass Dickens ein großartiger und oft genug spöttischer Erzähler ist. Wer könnte sich den ersten Seiten und des kindlichen Schreckens erwehren und nicht wissen wollen, wie die Geschichte weitergeht?

Was mich beim Wiederlesen beeindruckte, war die Feinfühligkeit, mit der Dickens hier seine Hauptfigur gezeichnet hat. Wie Pip sich seiner Herkunft schämt, seinen liebevollen Stiefvater verleugnet, obwohl dieser ihm immer nur Gutes getan hat, wie er vor sich selbst immer wieder Ausreden und Beschönigungen für sein Verhalten findet und zum unsicheren Snob wird, der sich zunächst maßlos verschuldet und nur über einen sehr wackligen inneren Kompass verfügt. Sowohl bei den Schauplätzen als auch bei zahlreichen Nebencharakteren hat man oft schon nach wenigen Sätzen ein Bild vor Augen, da Dickens so bildhaft erzählt:

Bentley Drummle, who was so sulky a fellow that he even took up a book as if its writer had done him an injury, did not take up an acquaintance in a more agreeable spirit. S. 192)

Die bitteren Seitenhiebe auf die gesellschaftlichen Bedingungen sind ebenfalls beeindruckend; mir gefiel zum Beispiel sehr, wie Dickens anhand der Figur des John Wemmick, der für den Anwalt Jaggers arbeitet, zeigt, wie sehr die Arbeitswelt einen zwingt, eine Rolle zu spielen, die mit der Person, die man privat ist, überhaupt nichts mehr zu tun hat.

Daneben geht es aber auch um die Leichtigkeit, mit der man das Recht beugen kann, wenn man die entsprechenden finanziellen Mittel hat, die Unmöglichkeit, als Kind aus einer armen Familie auch nur eine halbwegs vernünftige Bildung zu bekommen, die Heuchelei und Speichelleckerei derjenigen, die Pip, als er als vermögend gilt, hofieren, sich zu seinen besten Freunden erklären und ihn im nächsten Moment, ohne mit der Wimper zu zucken, fallen lassen würden. Und vor allem die Aussichtslosigkeit, sich auf redliche Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn man nie die Chance dazu bekommen hat, sowie die Lässigkeit, mit der England unliebsame Menschen – manchmal reichte schon ein gestohlener Brotlaib – nach Australien deportiert hat, sind mit einer Wucht geschildert, die die Leser damals sicherlich auch emotionalisieren und politisieren sollte.

Eine Facette gibt es allerdings, die an Dickens immer wieder irritiert, seine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, glaubhafte Frauengestalten zu entwerfen. Sie sind entweder so überirdisch gut, dass sie als engelhafte und unkörperliche  Wesen den Weg des Mannes erhellen sollen und sind dementsprechend zum Gähnen, oder sie sind ausschließlich rabiate Wüteriche wie Pips Schwester. Eine weitere Variante ist die untüchtige und verwöhnte Ehefrau, die dem wackeren Ehemann nur ein Klotz am Bein ist. Übrigens nur einer der Aspekte, bei denen die Hintergrundinformationen aus Fred Kaplans Biografie von 1988 ganz erhellend sind.

Be that as it may, he [Mrs. Pockets Vater] had directed Mrs. Pocket to be brought up from cradle as one who in the nature of things must marry a title, and who was to be guarded from the aquisition of plebeian domestic knowledge. So successful a watch and ward had been established over the young lady by this judicious parent, that she had grown up highly ornamental, but perfectly helpless and useless. (S. 178)

Kleine gemischte Tüte

Auch wenn die Fotos hier auf dem Blog nahelegen, dass ich nur noch spazierengehe, nein, ich lese auch noch, aber manche Titel lohnen die Erwähnung nicht und bei anderen reicht nicht immer die Zeit, die Ruhe oder die Lust für einen längeren Beitrag. Deswegen heute eine kleine gemischte Dezembertüte.

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet (2020)

Wieder sehr gern gelesen, das neueste Buch von Meyerhoff, der sich ja schon mit seinen ersten drei Bänden seiner Alle Toten fliegen hoch-Reihe in mein Lieblingsregal geschrieben hat. In Hamster im hinteren Stromgebiet erzählt der Schauspieler nun, wie das ist, wenn man vier Monate nach seinem 51. Geburtstag einen Schlaganfall erleidet und sich ziemlich viel verändert. Das Buch ist wieder mit diesem fassungslos staunenden und punktgenau beobachtenden Blick geschrieben, komisch, verwundbar, ehrlich, spannend und anrührend.

Bei Meyerhoff hat das Wort Selbstdarsteller auf einmal gar nichts Negatives mehr. Wäre er keiner, könnte er uns nicht so mitreißend in seinen Kosmos ziehen. Er ermöglicht ein empathisches Lesen, bei dem man in dem einen Moment ebenfalls im Notartzwagen sitzt, dann über die trefflichen Charakterskizzen seiner Mitpatienten kichert, Anteil an seinem Ergehen und dem seiner Familie nimmt, um im nächsten Moment zu überlegen, was man in seinem eigenen Leben langsam mal auf die Kette kriegen sollte. Und wie unfassbar zerbrechlich wir doch alle sind.

Eine meiner Lieblingsstellen schildert übrigens, wie seine damals vierzehnjährige Tochter glückselig nigelnagelneue schneeweiße Sneaker gegen ein abgelatschtes verdrecktes Paar eintauscht. Es hätte ihr viel zu lange gedauert, bis ihre neuen Schuhe so schön alt ausgesehen hätten.

Dorothy Evelyn Smith: O, The Brave Music (1943)

Smith (1893-1969) erzählt hier aus der Ich-Perspektive die Kindheit und Jugend von Ruan Ashley, einer fantasiebegabten und lebhaften Predigertochter, die durchaus Mühe hat, sich immer in den von den Konventionen  und ihrem Vater festgezurrten Grenzen zu bewegen, die vor dem Ersten Weltkrieg für junge Mädchen galten.

Ich habe schon lange keine schönere und warmherzigere Schilderung einer Kindheit gelesen, die – auch aufgrund der unglücklichen Ehe der Eltern – nicht ungefährdet war, aber Ruan wäre nicht Ruan, wüßte sie nicht, dass Bücher, das Moor und bestimmte Menschen  wie z. B. Rosie Day immer auch eine Zuflucht in so mancher Misere bieten können. Und auch wenn das Buch nicht alle Melodramatikfallen umschifft, hat hier der Verlag British Library mit der Neuauflage alles richtig gemacht.

Buchhandlung Almut Schmidt

Und das wäre schon vor Monaten dran gewesen: Im Sommer habe ich es endlich geschafft, im Urlaub mal den rasenden Buchhändler Hauke Harder live und in Farbe in seinem Laden in Kiel anzutreffen und ihn und seine Frau um diverse Bücher zu erleichtern. Es ist ziemlich cool und inzwischen eher selten, dass mir Buchhändler, egal, was ich da aus dem Regal fische, etwas Hilfreiches zu dem jeweiligen Buch sagen können und auch gleich noch der nächsten Kundin zurufen, was eventuell für sie passen könnte. Und auch wenn die Ladenfläche nicht riesig ist, war das Sortiment anregender und vielfältiger als in vielen wesentlich größeren Buchhandlungen.

Würde ich nicht so viel auf Englisch lesen, wäre es wohl nicht bei der einen Tüte geblieben. Beim nächsten Kielbesuch bin ich wieder dort, auch wenn eine Frage unbeantwortet bleibt: Wie machen die das? Wann liest Hauke das? Die sind ja nicht nur im Internet unterwegs, sondern im Radio, im Fernsehen, in der Zeitung, auf YouTube. Vielleicht gibt er heimlich auch noch Zeitmanagement-Seminare?

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Richard Osman: The Thursday Murder Club (2020)

Für Mai 2021 ist die deutsche Übersetzung des herrlich schrägen und filmreifen Krimis The Thursday Murder Club (2020) von Richard Osman angekündigt, auch wenn sich mir nicht erschließt, warum aus dem englischen Thursday im Deutschen dann der Montagsmordclub werden muss, aber das nur am Rande.

Die Ausgangslage ist erfrischend anders: Elizabeth, Ron (ehemals Gewerkschafter), Ibrahim (Psychiater im Ruhestand) und Joyce (ehemalige Krankenschwester) sind rüstige Senioren jenseits der 70 und wohnen in einem luxuriösen Seniorenzentrum in Kent auf dem Gelände eines ehemaligen Klosters (Swimmingpool, Bibliothek und Zumba inclusive).

Donnerstagabends treffen sich die Herrschaften, um ungeklärte Kriminalfälle aus der Vergangenheit aufzurollen. Das Ganze ein intellektueller Zeitvertreib. Begonnen hatte es damit, dass Penny, ehemalige Ermittlerin und ebenfalls Mitglied im Donnerstagsclub, bei ihrer Pensionierung unerlaubterweise Akten solcher Cold Cases mitgenommen hatte. Doch inzwischen ist Penny schwer dement und liegt schon seit längerem im der benachbarten Krankenstation der Einrichtung.

Doch dann, wie könnte es anders sein, wird tatsächlich jemand umgebracht, und zwar der Unsympath Tony Curran, frisch gefeuerter Geschäftspartner des Investors Ian Ventham, der gleich neben dem Seniorendorf eine weitere Anlage bauen lassen will.

Natürlich ist die Seniorentruppe auf die Zusammenarbeit mit der Polizei angewiesen. Erste Kontakte werden geknüpft, als die neue Polizistin Donna den üblichen Vortrag über Sicherheitsfenster etc. halten will. Die alten Herrschaften machen Donna mit Charme und Beharrlichkeit schnell klar, dass sie nichts mehr darüber hören wollen, dass man sich den Ausweis des Stromablesers zeigen lassen solle, erstens könnten einige sowieso nicht mehr so gut sehen und überhaupt:

I’d welcome a burglar. It would be nice to have a visitor. (S. 9)

Donna freut sich, dass sie keinen langweiligen Vortrag halten muss und so beginnt eine ungewöhnliche und nicht immer unproblematische Zusammenarbeit.

Osman schafft es, hier so viele Handlungsfäden zu verwickeln, aufzudröseln, nur um sie gleich wieder anders zu verknoten, dass es eine wahre Freude ist. Selbst wenn es gegen Ende auch ein Faden weniger hätte sein dürfen, auch ein Quentchen weniger Melodramatik an einer Stelle wäre in Ordnung gewesen. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

Osman haut hier eben keinen Klamauk raus. Er nimmt seine Figuren ernst; die Einsamkeit, die Traurigkeit der Verwitweten und das Wissen der Alten darum, dass man sich auf der letzten Strecke des Lebens befindet, grundieren das Buch und erden es.

Außerdem gefiel mir, wie auch Donna und ihr Chef Chris mit ihren privaten Sorgen und Ängsten geschildert werden. Und wer in seinen Krimis keine unappetitlichen Splatterszenen lesen möchte, ist hier ebenfalls gut aufgehoben.

Gleichzeitig ist das Buch hinreißend komisch und dazu ein echter Krimi, der immer neue Haken schlägt. Also, unbedingte Schmökerempfehlung.

Die Kritiker sind begeistert und, kein Wunder, die Filmrechte wurden bereits an Steven Spielberg verkauft.

 

Miss Read: Village School (1955)

Mit großem Vergnügen schmökere ich mich gerade durch die Reihe um die Erlebnisse einer englischen Dorfschullehrerin, geschrieben von Dora Jessie Saint (1913 – 2013), deren Künstlername auf dem Geburtsnamen ihrer Mutter beruht. In den Neunzigern wurde diese charmante Reihe auch ins Deutsche übertragen. Der erste Band erschien unter dem Titel Dorfschule.

Saint hat selbst Jahrzehnte lang unterrichtet, was man den Büchern anmerkt. Sie bieten Entspannung, viel Idylle, eine sehr überschaubare und (fast) heile Welt, wobei das Unschöne und menschlich Verwerfliche allerdings nicht völlig ausgespart werden. Es gibt vernachlässigte Kinder, untreue Ehemänner und den Vater, der seine Familie verprügelt und dem Nachbarn die Hühner stiehlt.

Doch meist ist das Aufregendste, dass jemand neu ins Dorf zieht, der Kirchenchor einen Ausflug unternimmt oder sich ein Junge auf dem Schulhof verletzt und die anderen brüllen, er sei bestimmt tot, ganz bestimmt, sich die Verletzung aber glücklicherweise nur als oberflächlicher Kratzer herausstellt. Oder wenn die Katze eine Ratte mit ins Haus bringt, die im Gegensatz dazu leider doch noch nicht tot ist.

Gleichzeitig hat Miss Read aber einen klaren Blick auf eine Gesellschaft im Umbruch: Viele können sich die Reparaturen ihrer Strohdächer, bei denen die Städter immer ins ahnungslose Schwärmen geraten, nicht mehr leisten. Die ersten kleinen Dorfschulen werden bereits geschlossen, mehr und mehr Leute ziehen in die Stadt, wollen keine „schmutzige“ Arbeit mehr verrichten und verlieren so den Bezug zu ihrer Herkunft und ihrer Hände Arbeit.

Und es liest sich durchaus interessant, wie doch vor gar nicht langer Zeit der Unterricht in so einer Dorfschule aussah. Was für ein Rundumpaket die Lehrerinnen liefern mussten, um für ihre Klasse – die ja immer mehrere Jahrgänge umfasste – die Grundlagen im Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Religion, Musik und Sport zu legen, und zwar so ganz ohne mediale Unterstützung.

Dazu erledigten sie die komplette Bürokratie, teilten das angelieferte Mittagessen aus und schlugen sich mit Beamten der Schulaufsichtsbehörde herum, die nun ganz dem neuen Zeitgeist folgend der Meinung waren, dass es nicht gut sein könne, wenn einige Kinder schon mit fünf Jahren fließend lesen könnten. Und da erstaunt es dann doch, wie miserabel die Bezahlung und die spätere Höhe der Rente war. Zwischenduch war ich verblüfft, wie aktuell sich manches las.

There has been much discussion recently on the methods of marking compositions. Some hold that the child should be allowed to pour out its thoughts without bothering overmuch about spelling and puntctuation. Others are as vehement in their assurances that each word misspelt and incorrectly used should be put right immediately. (S. 117)

Las sich der erste Band streckenweise noch zu sehr nach sozialem Kommentar, hat sich die Autorin ab dem zweiten Band freigeschrieben. Es macht Spaß, ihre Kämpfe mit der grimmigen Putzfrau der Schule, ihrer dominanten Freundin oder mit der neuen Hilfslehrerin mitzuverfolgen, die sehr theoretische Ideen zur Kindererziehung mitbringt. Neben den Vorkommnissen in der Schule sind der Wechsel der Jahreszeiten, die Dorfgemeinschaft mit ihrem allgegenwärtigen Tratsch und Klatsch und das Eingebettetsein in Traditionen und Feste wichtige Themen.

Die Ich-Erzählerin zeichnet ein bodenständiger, liebevoller, oft auch ironischer und sehr genauer Blick auf sich, die ihr anvertrauten Kinder und ihre Mitmenschen aus, der viel Vergnügen macht. Ihre Bücher sind keine Axt für das angeblich gefrorene Meer in uns, sondern eher eine Einladung zum Innehalten, Teetrinken und Pausemachen. Zum gelasseneren und entspannteren Blick.

Miss Gray and I had spent a long singing lesson picking our choir. This was not an easy task, as all the children were bursting to take part, but Miss Gray, with considerable tact, managed to weed out the real growlers, with no tears shed.

‚A little louder,‘ she said to Eric, ’now once again,‘ and Eric would honk again, in his tuneless, timeless way, while Miss Gray listened solemnly and with the utmost attention. Then, ‚Yes,‘ she said in a considering way, ‚it’s certainly a strong voice, Eric dear, and you do try: but I’m afraid we must leave you out this time. We must have voices that blend well together.‘

‚He really is the Tuneless Wonder!‘ she said to me later, with awe in her voice. ‚I’ve never known a child quite so tone-deaf.‘ I told her that Eric was also quite incapable of keeping in step to music; the two things often going together. Miss Gray had not come across this before and was suitably impressed. (S. 109)

Und wenn die ersten warmen Sommertage kommen, dann ist es ausnahmsweise auch in Ordnung, wenn man den Kindern am Nachmittag The Wind in the Willows vorliest oder Schüler und Lehrerin mal viel mehr tagträumen, als ganz fürchterlich viel zu schaffen. Falls man nicht ohnehin gleich eine spontane Wanderung durch die Felder und Wälder der Umgebung unternimmt, bei der man so schon wieder Anschauungsmaterial für die nächste Naturkundestunde sammeln kann.

Wem das zu viel Schule ist: Die Autorin hat noch eine zweite Reihe um die Bewohner des fiktiven Dorfes Thrushcross Grange geschrieben. Auch die eher nostalgisch geprägt und ziemlich weit weg von den modernen Tendenzen der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber niemals süßlich, niemals platt, dafür konnte Miss Read viel zu gut, zu witzig und zu anschaulich schreiben. Die Leserinnen danken es ihr bis heute.

The book, of which I had read such glowing reports, I hurled from my bed of pain about 11 a.m., when the heroine – as unpleasant a nymphomaniac as it has been my misfortune to come across – hopped into the seventh man’s bed, under the delusion that this would finally make her (a) happy, (b) noble and altruistic, and (c) interesting to her readers. Could have told the wretched creature by page 6, that, spinster though I am, this is not the recipe for happiness. (Village Diary, S. 22)

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Maile Meloy: Bewahren Sie Ruhe (OA 2017)

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Do not become alarmed. Ich bin überrascht über die vielen positiven Besprechungen, die mir – freundlich ausgedrückt – etwas einseitig vorkommen.

Der Roman über die völlig aus dem Ruder laufende Kreuzfahrt zweier befreundeter amerikanischer Familien in Südamerika – die Frauen sind Cousinen – ist zwar spannend, keine Frage. Aber gleichzeitig ist er überfrachtet mit Unwahrscheinlichkeiten und Thrillerelementen.

Während die zwei Mütter mit ihren Kindern an einem Landausflug teilnehmen, die Väter sich beim Golfspielen vergnügen, passiert das Unglück: Die eine Mutter döst ein, die andere spaziert mit dem attraktiven Reiseführer ein paar Meter in den Wald. Niemand bemerkt, dass die spielenden Kinder, die auf dem Fluss mit einem selbst gebastelten Floß spielen, mit der Flut ins Landesinnere getrieben werden. Nachdem sich die Kinder an Land gerettet haben, beschließt der älteste Junge zurückzuschwimmen. Das Krokodil am Flussufer sieht er nicht.

Die anderen Kinder, eines davon Diabetiker, machen sich auf den Weg ins Landesinnere und hoffen, jemanden zu treffen, der sie zu ihren Eltern und zum Schiff zurückbringt. Dummerweise begegnen sie dabei Drogenhändlern, die einen ihrer Kuriere im Urwald verscharren. Und so entspinnt sich zum einen die Odyssee der Kinder, die um ihr Überleben kämpfen, und zum anderen die verzweifelte Suche der Eltern, die mit Bürokratie, fremder Kultur, Schuldgefühlen, Vorwürfen und bodenloser Verzweiflung zu kämpfen haben. Spannend, wie gesagt, man will wissen, wie dieses Drama ausgeht, und immer wieder schimmert das ernsthafte Anliegen des Erzählers durch, uns zu zeigen, wie fragil unser so vermeintlich sicherer Alltag ist. Ein einziger Moment auf einer Kreuzfahrt, die doch gerade der Luxus-Erholung und dem Vergnügen dienen sollte, reicht aus und nichts mehr ist so, wie es war und wie es sein sollte.

‚Weißt du, ich hab den Eindruck, wir haben die ganze Zeit in so einer komischen Blase gelebt, in der es völlig undenkbar war, dass man sein Kind verliert. In Wirklichkeit passiert das allerdings ständig, jeden Tag, überall auf der Welt, schon seit Menschengedenken, und die Leute leben einfach weiter. Sie können sich ja schlecht auf den Boden legen und einfach nur noch schreien.‘

Aber was neben den überflüssigen Thriller-Mätzchen die Lektüre streckenweise zu einer Last gemacht hat, war die Sprache. Das klang nicht rund, nicht geschmeidig, eher so, als ob sich die Autorin dauernd überlegt hätte, was ihre Hauptfiguren jetzt wohl mal denken und sagen könnten. Es stellt sich die Frage, wie viel davon möglicherweise auch auf das Konto der Übersetzerinnen geht, denen beispielsweise der Unterschied zwischen Reliquie und Überbleibsel nicht klar zu sein scheint. Als einer der Väter sich Vorwürfe macht, heißt es in der Übersetzung:

Aber so war es nicht gewesen. Stattdessen war er mit Gunthers Freund, dieser Kolonialismusreliquie, zum Golfplatz gefahren. Benjamin hatte sich im Auto mit Sonnencreme eingeschmiert, Raymond hatte dankend abgelehnt und sich einen Sonnenbrand geholt. Dämlich. (S. 175)

Im Original steht aber:

But that wasn’t what had happened. Instead, he’d gone golfing with Gunther’s friend, that colonial relic, Benjamin had slathered up with sunscreen in the car, smearing it over his face. He’d offered the bottle, but Raymond had turned it down, and wound up getting a black man’s sunburn. Dumb.

Zusammenfassend würde ich sagen: Unterhaltungsliteratur mit reizvoller Grundidee und maximal hölzernen Dialogen.

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Kazuo Ishiguro: The Unconsoled (1995)

Der vierte Roman des britischen Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro The Unconsoled (1995) hat mich auch beim wiederholten Lesen maximal verwirrt und gleichzeitig fasziniert, denn während wir den surrealen Erlebnisketten des Protagonisten Ryder folgen, lösen sich die Grenzen zwischen Realität, Fiktion und Traum wie Nebelschwaden auf. Das Buch hat KritikerInnen und Leserschaft sowohl begeistert als auch völlig ratlos zurückgelassen. Selbst bei der Frage, um was es eigentlich in diesem Buch gehe, gibt es keine Einigkeit.

Nun aber zum Inhalt:

Der bekannte und von allen sehnsüchtig erwartete Pianist Ryder trifft in einer nicht namentlich genannten europäischen Stadt, möglicherweise in Österreich, ein. Dort hat er am Donnerstag einen Auftritt, dessen Modalitäten ihm aber seltsam unklar sind. Anscheinend soll er außerdem vor seinem Konzert einen kurzen Vortrag halten, für den er den kulturellen Zustand der Stadt eruieren und bei dem er keine der diversen Fraktionen mit ihren Günstlingen unfair behandeln will. Mal ganz abgesehen davon, dass einige Übungsstunden und die Inaugenscheinnahme des Konzertgebäudes sicherlich ebenfalls sinnvoll wären.

Doch Ryder hat seltsame Erinnerungslücken, weiß nicht, welche Informationen er bereits erhalten hat und wer für was zuständig ist. Dazu kommt seine unselige Neigung, es wirklich allen recht machen zu wollen und auf gar keinem Fall irgendwelche Wissenslücken zuzugeben. Sein Selbstbild darf nicht in Frage gestellt werden, und so wäre es ihm peinlich, bei irgendetwas nachzufragen, was ihn natürlich nur immer tiefer in den Schlamassel reitet und ihn wichtige Termine versäumen lässt.

Zu allem Überfluss wollen alle, mit denen er in Berührung kommt, irgendetwas von ihm. Das beginnt bei seiner Ankunft im Hotel, als der Portier Gustav, der die merkwürdige Angewohnheit hat, die Koffer im Aufzug nicht abzustellen, den Pianisten nicht nur inständig bittet, an einem der Treffen einer merkwürdigen Portiersrunde teilzunehmen, sondern auch anfragt, ob Ryder nicht einmal mit seiner Tochter Sophie sprechen könne, die in letzter Zeit so niedergedrückt wirke. Gleichzeitig scheint Ryder aber eine komplizierte Beziehung mit Sophie zu verbinden. Möglicherweise ist der kleine Boris sogar ihr gemeinsamer Sohn.

Aber da sind noch viele weitere, wie zum Beispiel der Hotelmanager, dessen Sohn, andere Künstler oder ehemalige Schulfreunde, die in traumhaften Sequenzen plötzlich auftauchen. Bei manchen der Anliegen scheint es sich nur um kleine Gefälligkeiten zu handeln, die sich dann aber durch leicht surreale Ereignisketten und Ryders Hang zum Unverbindlichen zu wahren Gebirgen auftürmen. Manchmal scheint ihm sein Image als Helfender wichtiger zu sein als die Hilfe selbst. Dass sich bei seinen Unternehmungen das Zeitkontinuum hin und wieder aufzulösen scheint und Orte plötzlich nicht mehr da sind, wo sie sein sollten, ist auch nicht wirklich hilfreich. Und so wird Ryder bei allem, was er zu tun versucht, unterbrochen und bringt im Grunde nichts zu Ende, und zwar weder für sich noch für andere. Nichts Kleines und nichts Großes.

Michael Wood schrieb 1995:

It’s not that a sense of suspense or of climax is created; far from it. But there is a kind of excitement in Ryder’s stumbling from errand to failed errand, as if nothing were certain in life except the interruption of whatever you are trying to do. We know he’s not going to get anywhere; he’s not going to unravel his relationships, help his friends, please his parents, give his concert or his speech, sort out this terribly self-preoccupied town. But it’s hard work not getting anywhere. Ryder’s endless distraction from his multiplying purposes is so distracting that we can hardly bear it. His life is overwhelmed by irrelevance, buried under pointless but irresistible demands.

Die Reaktionen der Kritiker reichten nach dem Erscheinen von The Unconsoled dann auch von Ratlosigkeit, Entsetzen und Hohn – der Autor habe eine ganz neue Dimension eines schlechten Buches geschrieben – bis hin zu großer Begeisterung und der Aufnahme in den Kanon der modernen britischen Literatur.

Doch worum geht es in diesen über 500 Seiten nun wirklich? Auch bei dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. In seinem lesenswerten Aufsatz hält Geoffrey Maloney beispielsweise das Spannungsfeld zwischen dem öffentlichen Leben als Künstler und dem privaten Leben als Individuum für das eigentliche Thema, obwohl das meiner Meinung nach zu eng gedacht ist.

… an isolated and intelligent artist: Ryder, the pianist, caught between the duties and responsibilities of his personal life and the duties and responsibilities which flow from his public identity. In essence it is a novel about the role of the artist in society and the gap which exists between personal and public images.

Sam Jordison, der wie ich auch verwirrt und gleichzeitig begeistert von diesem Buch ist, betont eher die Traumlogik und den Witz, die Absurditäten und das Spiel mit dem Leser, der ständig genarrt und in seinen Erwartungen enttäuscht werde. Das eigentliche Thema ist für Jordison jedoch der Stress, dem der moderne Mensch pausenlos ausgesetzt sei. Dafür spreche, dass Ryder in all seinen Ruhephasen oder wenn er schlafen möchte, permanent gestört und wieder aufgescheucht wird. Im Grunde erfahren wir nicht, was er tun würde, könnte er nur einmal selbst seinen Tagesablauf bestimmen.

Ich weiß, in einigen Jahren werde ich es zum dritten Mal lesen. Das heißt nicht, dass das Werk nicht ruhig 100 Seiten kürzer hätte sein dürfen und das repetitive Sprechen aller Protagonisten und das Kreiseln der Handlung einem nicht schon auch gehörig auf die Nerven fallen können.

Dennoch: Es ist, als hätte Ishiguro vieles von dem, was sich so im Kopf eines Menschen befinden kann, nach außen gestülpt und in Handlung übertragen, all die liebevollen und all die boshaften Gedanken, verdrängte Schuld und Lebensträume, die Prägungen aus der Kindheit, die einem noch als Erwachsenen manchmal zusetzen, Alkoholismus, die Frage nach der Kunst, beschädigte Kommunikation innerhalb der Familie, das Versagen als Partner oder als Elternteil, die Illusionen, der Wunsch nach Anerkennung, aber auch die kindliche Freude, und nicht zuletzt unsere unzähligen Versäumnisse, das Großsprecherische, die Scham, die Wut, die Beschönigungen, die Ausreden und Verteidigungsstrategien, wenn Masken und Fassaden einzustürzen drohen. Und: die verschwendete, die vergeudete Zeit.

Dafür bringt der Autor schon mal unsere Vorstellungen vom Ablauf der Zeit durcheinander, fährt mit uns Achterbahn und betritt diverse Spiegelkabinette. Das, was wir da auch von uns selbst sehen, mag uns nicht immer gefallen, doch es wirkt immer eigenartig vertraut.

Hier sind tatsächlich fast alle Ungetröstete. Alle sind auf der Suche nach jemandem, der ihnen zuhört, sie wahrnimmt und der ihnen bestätigt, dass sie und ihre Sorgen das Zentrum des Universums sind, doch derjenige, von dem sie sich das versprechen, ist doch selbst bloß auf der Suche und mit dem, was man von ihm erwartet, völlig überfordert.

Oder wie es auf der Seite des Nobelpreises heißt:

The Nobel Prize in Literature 2017 was awarded to Kazuo Ishiguro „who, in novels of great emotional force, has uncovered the abyss beneath our illusory sense of connection with the world.“

1996 erschien die deutsche Fassung unter dem Titel Die Ungetrösteten. Wie schnelllebig der Literaturbetrieb funktioniert, sieht man auch daran, dass dieser Roman auf Englisch als gebundene Ausgabe nur noch aus Amerika – gegen entsprechenden Aufpreis – lieferbar ist. So werde ich also auch weiterhin mit meiner langsam arg vergilbten Taschenbuchausgabe mit der fürchterlich kleinen Schriftgröße vorliebnehmen.

Zum Weiterstöbern: Hier geht es lang zur Besprechung seines dritten Romans, The Remains of the Day (1989), für das Ishiguro mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde.

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Sigrid Nunez: A Feather on the Breath of God (1995)

Nachdem ich The Friend von Nunez gelesen hatte, wollte ich mehr von dieser Autorin lesen und landete bei ihrem Debütroman A Feather on the Breath of God, der 1999 auch auf Deutsch erschien.

Das schmale Werk von 180 großzügig gesetzten Seiten ist stark autobiografisch und erkundet die dauerhaften Beschädigungen, die eine Immigrantenkindheit aus – wie wir heute sagen würden – bildungsfernen Verhältnissen mit sich bringen kann. Auch Nunez‘ Mutter war – wie die der Ich-Erzählerin – Deutsche, ihr Vater hatte chinesisch-panamaische Wurzeln. Die Eltern hatten sich in Deutschland kennengelernt, waren dann gemeinsam nach Amerika gegangen und haben sich und den drei Töchtern dann ein höchstmöglich dysfunktionales Familienleben beschert.

Nunez selbst hat das Buch als ihr „real hybrid genre book“ bezeichnet.

Even though there are parts that are based on my parents, with little distance between author and narrative, it isn’t really a memoir, because there’s a sufficient amount of distortion and invention. (Renée H. Shea: The Secret Facts of Fiction: A Profile of Sigrid Nunez, 2006)

Der erste große Abschnitt Chang geht den Erinnerungen an die Vaterfigur nach, der entweder abwesend ist, weil er sieben Tage die Woche den kärglichen Lebensunterhalt mit mies bezahlten Jobs verdient oder abends stumm in der Küche sitzt, während die anderen sich im Wohnzimmer aufhalten. In der Wohnung gibt es nichts, was auf die Heimat des Vaters hindeutet, er spricht zeit seines Lebens schlecht Englisch, doch es kommt auch niemand auf die Idee, dass es eine gute Idee sein könnte, den Kindern Chinesisch beizubringen.

We must have seemed as alien to him as he seemed to us. To him we must always have been „others“. Females. Demons. No different from other demons, who could not tell one Asian from another, who thought Chinese food meant chop suey and Chinese customs were matter for joking. I would have to live a lot longer and he would have to die before the full horror of this would sink in. And then it would sink in deeply, agonizingly, like an arrow that has found its mark. (S. 23)

Das zweite Kapitel Christa beschäftigt sich mit der Mutter, die seit ihrer Ankunft in Amerika heimwehkrank und unglücklich ist, sie lässt das an den drei Töchtern, doch auch vor allem an ihrem Mann aus, dem sie vorwirft, zu wenig zu verdienen, den sie klein und verächtlich macht, weil er die deutschen Namen der Töchter nicht richtig aussprechen kann, dem sie die Trennung androht, nur um dann doch alles beim Alten zu lassen. Im Laufe ihres Lebens sagt sie schreckliche Dinge, von denen die Tochter sagt:

Some things it would be death to forgive. (S. 180)

Aus dieser wenig Halt gebenden und unberechenbaren Atmosphäre flüchtet die Tochter lange in die Traumwelt des Balletts –  A Feather on the Breath of God – bis sie erkennt, dass ihr die wirkliche Begabung dazu fehlt. Im Nachhinein ist sie möglicherweise auch froh gewesen, ihrem Körper nicht länger die Schmerzen und den Hunger zufügen zu müssen, nur damit dieser den männlich geprägten Schönheitsvorstellungen des Balletts entspricht.

Now, of course, I can say precisely what it was that was happening to me. I had discovered the miraculous possibility that art holds out to us: to be a part of the world and to be removed from the world at the same time. (S. 101)

Lange fragte ich mich, wozu ich als Leserin die nüchtern und fast klinisch sachlich geschilderte Ehehölle, diese Kindheit und Jugend überhaupt kennenlernen musste, in der die Kinder außerdem damit zurechtkommen mussten, als „half-breeds“ beschimpft zu werden.

The last thing I would have believed back then was that one day it would be fashionable to be Chinese; or that I had only to wait a few years, till I reached adolescene, to hear people say that they envied me my exotic background. (S. 85)

Doch im vierten und letzten Teil Immigrant Love beantwortet sich das. Die Ich-Erzählerin erzählt von einer Affäre, die sie als gestandene Sprachlehrerin mit einem ihrer Schüler, einem verheirateten 37-jährigen Ex-Junkie aus Russland eingeht.

Und hier – gegen Ende – bindet Nunez mit nur einem Satz plötzlich das ganze Werk zusammen, man sieht, wie alles zusammenhängt, dass niemand von uns seinen Kindheitskatastrophen und -versehrungen unbeschadet entkommt, die im Falle einer missglückten Immigration der Eltern umso tiefgreifender sind.

Doch obwohl besonders der Schluss, ja ein einziger Satz,  mich mit der Kunst von Nunez versöhnte, bin ich überrascht, wie wenig nach zwei drei Wochen mir noch erinnerlich ist, wie wenig der Roman nachhallt. Vermutlich waren es mir dann doch zu viele assoziativ aneinandergereihte Erinnerungen, wie Bilder aus einem fremden Familienalbum, wobei die Gefühle und Gedanken der Beteiligten über weite Strecken verborgen blieben.

Der poetische Titel verdankt sich übrigens einem Zitat Hildegard von Bingens.

End of the semester. It is very late and I am alone in my room. A narrow desk by the window, overlooking the courtyard that is slowly filling up with snow. Books open on the desk, bright lamp, cigarettes, a boyfriend’s photograph. I will sit there all through the night, I will smoke all the cigarettes, and in the morning I will cross the courtyard to answer questions about literature and the tragic sense of life. The sound of a pen scratching in the night ist a holy sound. I want to get down something T. S. Eliot said: Human beings are capable of passions that human experience can never live up to. (S. 118)

Sigrid Nunez: The Friend (2018)

Herbert liest befand, dass Allegro Pastell von Leif Randt eines der hässlichsten Bücher sei, die er je gekauft habe.  Ich überlege noch, ob ich die Gestaltung zu The Friend von Sigrid Nunez (*1951) nicht mindestens genauso schlimm finde. Jedenfalls hätte mich das Cover beinahe dauerhaft verschreckt.

Aber auch die Stichworte zum Inhalt „Frau um die fünfzig trauert um ihren besten Freund, einen etwas älteren Literaturdozenten und Schriftsteller, der Suizid  begangen hat und ihr ein Kalb von einer Deutschen Dogge vermacht, wobei ein Haustier in ihrer kleinen Mietwohnung im Wohnblock ohnehin verboten ist“ hatten zunächst nicht so wirklich bei mir verfangen.

Warum das Buch dann trotzdem hier gelandet ist, ich weiß es nicht mehr, begeisterte Kritiken allerorten, der National Book Award 2018 und was soll ich sagen: Das Buch ist klug und bewegend und als ich am Ende angekommen war, wollte ich am liebsten gleich wieder von vorn beginnen. So eines der seltenen Bücher, nach deren Lektüre ich gar nicht das Bedürfnis hatte, viel darüber zu schreiben. Alles spricht für sich. Und von Sentimentalitäten keine Spur.

Nunez hat ihrer Ich-Erzählerin einige autobiografische Details mitgegeben. Auch diese lebt in New York City und ist Dozentin für Creative Writing und Schriftstellerin. Die Protagonistin scheint zunächst sehr understated, geradezu überreflektiert. Sie beobachtet messerscharf, ironisch und ihre Erinnerungen mäandern durch die Jahrzehnte der Freundschaft mit dem einstmals so charismatischen, dreimal verheirateten Macho-Mann, der zunehmend irritiert war, dass junge Frauen nicht mehr am Sex mit ihm interessiert waren und dessen Studentinnen auch nicht länger von ihm als „dear“ bezeichnet werden wollten.

I don’t want to talk about you, or to hear others talk about you. It’s a cliché, of course: we talk about the dead in order to remember them, in order to keep them, in the only way we can, alive. But I have found that the more people say about you, […] the further you seem to slip away, the more like a hologram you become. (S. 12)

Dabei geht sie der Frage, ob sie ihn all die Jahre geliebt habe und vielleicht doch nur eines der zahlreichen, zu duldsamen Groupies war, lange aus dem Weg, denn sie vermisst ihn immer noch ganz entsetzlich, an jedem einzelnen Tag, auch als Partner für all die unzähligen Gespräche über Schriftsteller, Bücher, Literatur, deren Grenzen und Möglichkeiten. Über ihre Studenten, die Literatur zunehmend in den Dienst ihrer eigenen – oft sehr begrenzten – Weltsicht nehmen, nur noch nach Safe Spaces auf dem Campus rufen und sich Büchern verweigern, die sie unangenehm berühren, etwas in Frage stellen oder über den eigenen Tellerrand hinausgehen könnten.

Das ganze Buch ist eine einzige große Ansprache an den Toten, der Widerspruch von einer Frau nicht unbedingt geschätzt hat. Überdies ist es eine wunderbare Schilderung des Trauerprozesses, in dem sich die Frau mehr und mehr in sich und ihren Assoziationen zu verlieren droht, obwohl durchaus hilfreiche Freunde im Hintergrund parat stehen. Ist es überhaupt statthaft, seinen Haustieren einen Namen zu geben und was hat es mit dem Buch My Dog Tulip von J. R. Ackerley auf sich?

Dieser Prozess, der aber gleichzeitig auch sehr irdisch daherkommt, umfasst auch die allmähliche Annäherung an Apollo. Immer wieder mal drohen Probleme mit oder durch den großen Hund, was nicht ohne leisen Humor geschildert wird. Apollo mag es, wenn man ihm vorliest, z. B. Rilke.

Und plötzlich Wendungen, die einen wieder alles in Frage stellen lassen. Darüber hinaus ist es auch der Prozess einer Selbstvergewisserung als Frau in einer Welt, in der ehemals attraktive Männer wie der Verstorbene glaubten, jeder Frau – einschließlich seiner Studentinnen – Avancen machen zu dürfen und in der Männergewalt gegen Frauen nach wie vor gang und gäbe ist.

Die vielen Zitate, Abschweifungen und Erinnerungsfetzen, die die belesene Ich-Erzählerin aus ihrer lebenslangen Lektüre einfließen lässt, zeigen, wie sehr Bücher tatsächlich zu ihrem Leben gehören und wie sehr die nächste Generation, die sie unterrichtet, so ganz anders, vielleicht ärmer, an Literatur herangeht.

Was mich vielleicht am meisten an diesem Roman beeindruckt hat, ist wie die Sprache zu der Protagonistin passt. Da ist kein Wort zu viel, alles wird schnörkellos, aber so präzise gesagt, dass man sich nicht vorstellen kann, dass auch nur ein einziger Satz anders hätte formuliert werden können. Schon die ersten Sätze lassen einen nicht mehr vom Haken:

During the 1980s, in California, a large number of Cambodian women went to their doctors with the same complaint: they could not see. The women were all war refugees.

Anette Grube übersetzte das Buch ins Deutsche.

Hier noch ein Artikel mit einigen Hintergrundinformationen aus der New York Times.

 

 

Edward Abbey: Die Einsamkeit der Wüste (OA 1968)

1968 erschien Désert solitaire des Amerikaners Edward Abbey. Was für ein grandioses, größenwahnsinniges, oft genug auch machohaftes Buch. Was für eine elegische und gleichzeitig weitsichtige Liebeserklärung an eine ganz besondere Gegend in Amerika, die man grob mit dem heutigen Arches National Park gleichsetzen kann.

Edward Paul Abbey (1927-1989), Englisch- und Philosophiestudium, fünfmal verheiratet, aufmüpfig, atheistisch, anachistisch, immer auf dem Radar des FBI, arbeitete 1956 und 1957 als Park Ranger im Arches National Monument, dem „schönsten Ort auf Erden“ (S. 15). Als Unterkunft dient ihm ein Wohnwagen.

Der Ort liegt in der Nähe von Moab, einer Kleinstadt im Südosten Utahs. Weshalb ich dort hingegangen bin, spielt keine Rolle mehr; was ich dort vorgefunden habe, ist das Thema dieses Buches. Mein Job begann mit dem ersten April und endete mit dem letzten Septembertag. Mir gefiel die Arbeit und das Canyonland und so kehrte ich im darauffolgenden Jahr für eine weitere Saison zurück. (S. 7)

Einige Jahre später bleibt er für eine dritte Saison.

Es waren schöne Zeiten damals, besonders in den ersten beiden Saisons. Der Tourismus war noch kaum entwickelt, und die Zeit verstrich äußerst langsam, so wie Zeit eben verstreichen sollte, in trägen und langen Tagen, die so weiträumig und frei wie die Sommer der Kindheit waren. Zeit genug also, nichts oder fast nichts zu tun, und das Meiste in diesem Buch habe ich ich, manchmal direkt und unverändert, den Seiten meines Tagebuchs entnommen, das ich in den nahtlos ineinander übergehenden Tagen jener großartigen Sommer führte und füllte. (S. 7)

Sein Job lässt ihm viel Zeit, denn vor allem soll er mit einem Pickup

die Straßen patrouillieren, Touristen aus der Patsche helfen, Feuerholz auf die Campingplätze bringen und den dort anfallenden Müll entsorgen. (S. 23)

Eigentlich wäre es schade, zu viel zum Inhalt zu verraten, denn dieses wilde Potpourri wartet auf beinahe jeder Seite mit Überraschungen auf.

Er will die Mäuse, die sich im Wohnwagen eingenistet haben, zwar nicht töten, holt sich aber eine Schlange in den Wagen, die dem Problem Abhilfe schaffen soll, listet seitenlang Blumen und Pflanzen auf. Kennt anscheinend jede Schlucht, jeden Berg mit Vornamen.

Er spottet über die Möchtegern-Cowboys und Cowgirls mit ihren schicken Cowboystiefeln, die sich – je weniger echten Viehtrieb es noch gibt – vermehren wie die Fliegen auf der Torte. Er philosophiert, z. B. über Naturschutz und die Frage, welche Musik eigentlich der Wüste gemäß sei, und polemisiert gegen die Anstrengungen der Parkverwaltungen, immer mehr Menschen in diese Wildnis zu bringen, koste es, was es wolle. Was wiederum genau das zerstöre, was man jetzt noch dort finden könne. Freiheit. Das Gefühl, Wege selbst zu entdecken. Abends allein am Lagerfeuer zu sein.

… bevor die Nacht aufzieht: Jeder Felsen, jeder Strauch und Baum, jede Blume, jeder Grashalm steht für sich, aufs Lebendigste vereinzelt, doch einander in einer Einheit verbunden, deren Großzügigkeit auch mich und meine Einsamkeit umfasst. (S. 131)

Leider sei der Amerikaner als solches ja nur noch fähig, sich in seinem Auto zu bewegen. Jeder Weg müsse asphaltiert werden und jeder Übergewichtige bis an den Rand des Grand Canyon fahren können. Traumhafte Canyons müssten geflutet werden, damit noch mehr Strom erzeugt werden könne. Irgendwann überall Müll, Leichtsinn und Touristen, die nach dem nächsten Cola-Automaten fragen.

Wie hellsichtig Abbey war, erkennt man daran, dass heute viele seiner Ideen (geführte Ranger-Touren und Shuttle Services statt überallhin mit dem eigenen PKW zu fahren) aufgegriffen werden, um der Touristenhorden einigermaßen Herr zu werden.

Es gibt lyrische Beschreibungen von Gewittern, Stürmen und Tagen, an denen er einem befreundeten Rancher hilft, dessen Vieh aus den Canyons zusammenzutreiben.

Er wandert, mal allein, mal mit einem Kumpel – Frauen spielen auf diesem unendlichen Abenteuerspielplatz nicht mit. Eindrücklich auch das Kapitel zu einer einwöchigen Bootstour, zusammen mit einem Freund, durch den Glen Canyon, der kurze Zeit später für immer und unwiederbringlich unter einem Stausee verschwunden sein wird.

Abbey klettert und kraxelt umher, auch mal ohne Karte oder mit nur ungenügend Wasservorräten ausgestattet. Gehört aber alles dazu, wenn man ein echter Kerl ist. Dennoch ein großer Respekt vor den Kräften der Wüste, die den Menschen in seine Grenzen weist. Wer das nicht versteht, endet wie der Tourist, den der Suchtrupp zwei Tage, nachdem man sein Auto gefunden hat, nur noch tot und aufgedunsen bergen kann.

Dazu Kapitel, die unglaublich plastisch und spannend eine Geschichte erzählen, sei es vom Goldrausch und maßlosen Profiteuren oder sei es von einem alten Pferd, das lieber in der Wüste hungert, als sich wieder von den Menschen einfangen zu lassen.

Die anarchistische Seite des Autors, die ihn immer wieder in Konflikte mit der Obrigkeit gebracht hat, schimmert durch, wenn er beispielsweise auch deshalb die Wildnis schützen möchte, damit die Unangepassten, die Revolutionäre immer einen Rückzugsort haben.

Nein, die Wildnis ist kein Luxus, sie ist eine Notwendigkeit für den menschlichen Geist und so unerlässlich für unser Leben wie Wasser und gutes Brot. Eine Zivilisation, die das Wenige, das noch von der Wildnis übrig ist, die Reserve, das Ursprüngliche, zerstört, schneidet sich von ihren Wurzeln ab und verrät das Prinzip der Zivilisation selbst. (S. 214)

Sein unbändiges tiefes Glück, einfach an diesem für ihn schönsten Ort der Welt sein zu können, sowie seine Trauer, dass der Mensch bereits im Begriff ist, vieles davon zu zerstören, teilen sich dem Leser mit. Als ich zwischendurch mal nach Fotos googelte, um mir von einzelnen Orten ein besseres Bild machen zu können, stellte sich das als überflüssig heraus. Seine Schilderungen waren so präzise, dass ich beim Anschauen der Bilder dachte, ja, genau, so hat er das beschrieben, so habe ich mir das vorgestellt.

Ob Sandsturm oder Sonnenschein, ich bin mit allem zufrieden, so lange ich bei guter Gesundheit bin, zu essen habe, die Erde, um darauf zu stehen, und Augenlicht, um zu sehen. (S. 48)

Das Buch setzt zwar einer Landschaft ein Denkmal. Es aber einfach als „nature writing“ einzusortieren, griffe zu kurz. Es ist großartige Literatur.

Mit einer Einschränkung: Das, was er in einem Kapitel über die Navajo schreibt, ist streckenweise unerträglich herablassend. Zwar möchte er den Ureinwohnern gern das Recht auf eigene Traditionen und Kultur einräumen, doch sobald er da von Geburtenkontrolle schwadroniert, klingt das, als müsse eine Kaninchenplage unter Kontrolle gebracht werden. Er selbst hatte übrigens fünf Kinder. Und kein Wort der Einsicht, dass für die Entstehung der sozialen misslichen Lage vieler Indiander ja der „weiße Mann“ verantwortlich ist.

… ein Mann an einem Tisch neben einem blinkenden Lagerfeuer, inmitten einer hügeligen Einöde aus Steinen und Dünen und Sandsteinmonumenten, die Einöde umgeben von dunklen Canyons und Flussläufen und Bergketten auf einem weiten Plateau, das sich über Colorado, Utah, New Mexico und Arizona erstreckt, und jenseits dieses Plateaus noch mehr Wüsten und größere Gebirge, die Rockies in der Abenddämmerung, die Sierra Nevadas, die in ihrem späten Nachmittag leuchten und weiter und noch weiter der abgedunkelte Osten, der funkelnde Pazifik, die gekrümmten Konturen der großen Erde selbst, und jenseits der Erde das Weltall mit Sonne und Sternen, dessen Grenzen für uns unerkundbar sind. (S. 271)

2016 brachte Matthes & Seitz die Übersetzung von Dirk Höfer unter dem Titel Die Einsamkeit der WüsteEine Zeit in der Wildnis auf den Markt. Herausgekommen ist dabei ein leinengebundenes Schmuckstück, bei dem ich mir allerdings gehaltvollere Informationen zum Autor, auch zu seinen rassistischen Ansichten, und zur Rezeption des Werkes gewünscht hätte.

Hier noch ein passender Artikel von John O’Connor aus der New York Times (2018).

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William Melvin Kelley: A Different Drummer (1962)

Neu aufgelegt, von der internationalen Kritik begeistert besprochen, und nun erschien die deutsche Übersetzung des ca. 200-seitigen Debütromans des afroamerikanischen Autors William Melvin Kelley (1937-2017) von Dirk Gunsteren unter dem Titel Ein anderer Takt im Hoffmann und Campe Verlag.

Die Wiederentdeckung dieses Werks, ursprünglich erschienen auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung in Amerika, als der Autor gerade einmal 24 Jahre alt war, ist längst überfällig. Nicht nur, weil Rassismus in Amerika und Europa in einigen Kreisen wieder salonfähig ist, sondern weil es ein großartiges Buch ist.

Doch zunächst einmal kurz zur Geschichte, die in einem fiktiven Staat irgendwo westlich von Alabama spielt.

Im Juni 1957 lässt sich der junge Schwarze Tucker Caliban, der erst kürzlich ein Stück Land der ehemaligen Sklavenplantage der Willsons gekauft hat, eine Ladung Salz kommen, bestreut damit sein Feld, tötet Kuh und Pferd, setzt sein Haus in Brand und verlässt ohne weitere Erklärung zusammen mit Frau und Kind den Ort, an dem er und seine Vorfahren seit Generationen gelebt und geschuftet haben, zunächst als Sklaven, später als Feldarbeiter und Hausmädchen.

Sie machen sich auf Richtung Norden und lösen damit einen Massenexodus aus. In den nächsten Tagen werden nämlich alle Schwarzen ruhig und schweigend mit ihrer spärlichen Habe diesen Bundesstaat verlassen und versuchen, sich im Norden ein neues Leben aufzubauen.

Und der Leser wird Augen- und Ohrenzeuge der Geschichte, in der es nicht nur darum geht, wie die ersten Sklaven nach Sutton kamen, sondern auch wie die Weißen nun mit dem für sie ungeheuerlichen Vorgang umgehen, dass die Schwarzen ihnen und der widersinnigen Rassentrennung wortlos den Rücken kehren, nicht mehr im Ort einkaufen werden  und sie einfach mit der schmutzigen Arbeit sitzen lassen.

Nun erinnern sich Erzählerstimme und verschiedene weiße Protagonisten an möglicherweise bedeutsame Details aus Vergangenheit und Gegenwart, die vielleicht dabei helfen können, das Unbegreifliche zu verstehen. Dabei kommen die Menschen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was sich in ihrem Auftreten und Handeln niederschlägt. Und immer wieder kehren wir im Verlauf der Geschichte zur Veranda des Lebensmittelgeschäftes zurück, dort treffen sich die Männer des Ortes, um die neuesten Entwicklungen zu bereden.

Es wäre schade, mehr zum Inhalt zu verraten. Viel zu interessant ist es, wie der Autor es schafft, die verschiedenen Stimmen zum Leben zu erwecken. Die Schwarzen selbst kommen nur indirekt zu Wort, doch dass der Auszug gerechtfertigt ist, kann am Ende von niemandem mehr bezweifelt werden.

Der Stil ist oft poetisch, anschaulich und die Gespräche scheinen den Menschen abgelauscht zu sein, die Bilder wuchtig, ohne dass sie aufdringlich wären, wie z. B. bei der Beschreibung der Standuhr, die der erste Plantagenbesitzer extra aus England kommen lässt und die mit aller Sorgfalt eingepackt und vor Stößen und Kratzern auf der langen Schiffspassage geschützt wurde, während die Sklaven auf demselben Schiff unter unbeschreiblichen Zuständen zusammengepfercht wurden.

Dann gibt es auch geradezu sanfte Passagen, in denen fast so etwas wie spöttische Nachsicht mit den Weißen aufscheint, die trotz bester Vorsätze eben auch geprägt sind von der allgegenwärtigen Rassentrennung im Süden der USA. So schreibt David Willson nach seinem Umzug nach Massachusetts:

Just after I got there and found a seat, a negro came in and sat next to me. That’s something I will have to go into at length one of these nights: the absence of segregation. At first, I was disturbed by it, not that I mind its absence so much as when you sit somewhere you usually do not take too much notice of who sits next to you. If you are sitting on a trolley and someone sits next to you, usually you glance at him, then ignore him, that is, if he does not sit on your coattail. But when a negro sits next to me I find myself distracted from what I was reading, or from looking out of the window because I am not used to being that close to a negro in public. And so when this negro sat next to me, I noticed, and continued to notice it. (S. 155)

Das Buch enthält Szenen, die sich unwillkürlich einprägen, und man wünscht sich so dringend, dass die Welt inzwischen eine andere wäre, dass man den Roman als eine (gelungene) Auseinandersetzung mit dem rassistischen Amerika der Vergangenheit lesen könnte, doch nein, er ist aktuell wie eh und je, zeigt er doch die Mechanismen und Facetten menschlichen Verhaltens auf und macht deutlich: Jeder hat eine Wahl. Jeder trifft die Wahl. Täglich. Im Kleinen. Im Großen.

Lesenwert.

Like I said, nobody’s claiming this story is all truth. It must-a started out that way, but somebody along the way or a whole parcel of somebodies must-a figured they could improve on the truth. And they did.  It’s a damn sight better story for being half lies. Can’t a story be good without some lies. (S. 9)

Der Titel bezieht sich übrigens auf ein Zitat von Henry David Thoreau, das aus Walden stammt:

Why should we be in such desperate haste to succeed and in such desperate enterprises? If a man does not keep pace with his companions, perhaps it is because he hears a different drummer. Let him step to the music which he hears, however measured or far away.

Auch Birgit hat auf Sätze & Schätze den Roman besprochen.

Weitere Rezensionen:

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David Park: Travelling in a Strange Land (2018)

Travelling in a Strange Land des nordirischen Autors (*1953), inzwischen auch auf Deutsch erschienen, hat nur einen Nachteil, nämlich dass ich jetzt auch alles andere von ihm lesen möchte. Idealerweise sollte man es im Winter lesen. Ein Vater macht sich nach heftigen Schneefällen und dementsprechend unangenehmen Straßenverhältnissen auf, um seinen kranken Sohn mit dem Auto aus Sunderland in England zu holen, wo der Junge studiert, sodass die Familie zusammen Weihnachten feiern kann. Aufgrund des Wetters sind bereits alle Flüge gestrichen.

Während der langen Fahrt von Belfast nach Sunderland trifft Tom natürlich auch auf andere Menschen und hilft einer verunglückten Autofahrerin, obwohl ihn das wertvolle Zeit kostet. Zudem erinnert sich Tom, ein Fotograf, an die Vergangenheit, an Szenen aus seinem Familienleben und immer deutlicher wird, dass es noch einen zweiten Sohn gibt, zu dem es nur noch eine gedankliche Verbindung zu geben scheint.

Bewundernswert, wie Park es schafft, diesen eher billigen Effekt zum Spannungsaufbau – wir wollen wissen, was damals passiert ist – in den Hintergrund treten zu lassen. Nur allmählich kann Tom sich der Katastrophe, auch sprachlich, annähern. Dieser durchschnittliche Vater, der immer nur das Beste für seine drei Kinder wollte, wächst uns mit seiner Frau Lorna ans Herz und am Ende verstehen wir, warum er und Lorna so überfürsorglich darauf bedacht sind, dass ihr Sohn auf keinem Fall Weihnachten allein in seiner Studentenbude verbringen soll.

Travelling in a Strange Land – der Titel passt, der Vater macht sich auf den langen Weg zum Sohn, er reist in die Vergangenheit und hat dabei seinen ganz eigenen Blick. So werden wir an einer Stelle an das Foto von Denis Thorpe Mr Lowry’s Hat and Coat erinnert.

… taken the day after the painter’s death – shows two coats and hats hanging on pegs in a shadowed hallway, vaguely flowered wallpaper, a dado rail. On one of the coats the lining is facing outward and catching something of the light. The photograph’s about absence, an opened space and a stillness flowing into it, homing in on the relics of someone who once was but is no more.

Sometimes when I go into my children’s rooms I have a strong sense of how closely our lives and the places we live in bear each other’s print. So it’s as if their breathing is still present even in the empty room and all their memories and dreams are somehow seamlessly fused with the folds of a fabric or the grain of a surface. (S. 54)

Außerdem geht es um das schwierige Gelände zwischen Eltern und Kindern und die unüberwindbare Sprachlosigkeit, die oft zwischen den Generationen herrscht. Gleichzeitig ist nicht nur die Trauer, sondern auch das Erwachsenwerden eine Reise durch unbekanntes Gebiet, die nicht jeder meistert. Ein leises, sehr feines Buch. Kein Happy End, aber am Ende so etwas wie eine vorsichtige Hoffnung.

Hier noch ein Interview mit dem Autor, der Jahrzehnte als Lehrer gearbeitet hat, über sein Buch in der Irish News und hier ein älterer Artikel zu Park aus dem Guardian von 2012.

Vita Sackville-West: No Signposts in the Sea (1961)

Das schmale Werk von knapp 150 Seiten war der letzte Roman der erfolgreichen Dichterin und Schriftstellerin Victoria Mary Sackville-West (1892-1962). 1913 heiratete sie Harold Nicolson, die beiden lebten eine offene Ehe und gestalteten einen der berühmtesten Gärten in Großbritannien, Sissinghurst Castle Garden.

Der Inhalt von No Signposts in the Sea ist rasch umrissen. Edmund Carr, ein ca. 50-jähriger erfolgreicher Journalist aus einfachen Verhältnissen, erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat. Kurzerhand beschließt er, eine Kreuzfahrt anzutreten, da er weiß, dass die von ihm verehrte Laura Drysdale, eine wohlhabende Witwe, ebenfalls an Bord sein wird.

It is amusing to observe a batch of new passengers coming on board. From the superiority of the upper deck one gazes down upon the quay-side swarming with native porters and Europeans, distinguishable from the idle crowd of sight-seers who have come to stare at the ship for want of anything better to do. What a medley of noise and colour! Then comes the rush as the gangway is lowered; everyone wants to be first, though there is no conceivable reason for hurry; women hesitate and struggle back, convinced that they have lost their luggage; men enter into argument with the officers in their cool white ducks. The emigrants lugging their poor bundles are directed to a secondary gangway near the stern; they turn this way and that, like panic-stricken cattle. A tall black-bearded man in a red turban clutches a small girl swathed in blue muslin. A Buddhist priest with shaven head and saffron robe falls flat as he stumbles over a rope. A lost child sets up a howl. Is it possible that all this pullulating humanity will ever be sorted out?

It seems like a microcosm of everything that is happening all over the world. (S. 22)

Edmund hat beschlossen, Laura nichts von seiner Erkrankung zu erzählen. Er will kein Mitleid. Doch auch seine Liebe will er ihr verheimlichen. Zum einen ist da seine Unsicherheit, es ist das erste Mal, dass er sich ernsthaft verliebt hat, zum anderen rechnet er sich bei dieser attraktiven Frau keinerlei Chancen aus, zudem will er Laura keinen Kummer bereiten.

Zunächst ist Edmund einfach dankbar, noch diese Zeit mit der geliebten Frau verbringen zu können.

Sometimes I come upon her traces, a cigarette case, a scarf left trailing  upon a chair. For the competent woman I divine her to be, she is curiously  careless of her possessions, but then none so lovable as those who are not all of a piece. These little surprises of inconsistency are endearing enough to mere affection; how much more so when one is in love! The Colonel and I spend quite a lot of time retrieving her belongings. (S. 62)

Doch sein Vorsatz, weder Liebe noch Krankheit zu erwähnen, fallen ihm zunehmend schwerer, da sich die beiden gut verstehen, schöne Momente miteinander teilen und die Gespräche persönlicher werden. Dazu kommt, dass Edmund in dem attraktiven Colonel Dalrymple einen Rivalen wittert, und diese Eifersucht, die er selbst schäbig findet, macht ihm schwer zu schaffen.

… I want my fill of beauty before I go. Geographically I do not care and scarcely know where I am. There are no signposts in the sea. (S. 28)

Der Leser erfährt dies alles aus Edmunds Tagebuch, das Laura ihm geschenkt hat. Dort finden sich auch durchaus spöttische Töne, wenn Edmund sich beispielsweise über den unerfreulichen Anblick mittelalter und unzureichend bekleideter sonnenbadender Mitreisender auslässt.

Ich muss sagen, dass ich diesen ruhigen Roman, dessen Anleihen bei der Biografie der Autorin im Vorwort von Victoria Glendinning erläutert werden, sehr gern gelesen habe. Das geradezu Traumwandlerische, zumindest scheinbar von allen Alltagsdingen losgelöste Leben auf einem Schiff ist wunderbar eingefangen. Und wie sich Edmund jegliches Selbstmitleid verbietet, versucht, mit Würde und seinen Prinzipien gemäß diese Zeit zu verbringen und doch dabei unbeholfen ist und sich seiner selbst und seiner Herkunft im Grunde immer noch schämt, das gefiel mir sehr.

So kauft er während eines Landgangs auf einem der Märkte einen Schal für Laura, doch als eine Mitpassagierin ihm zu verstehen gibt, dass dieser höchstens für eine Haushaltshilfe tauge, aber für eine Dame wie Laura nicht in Frage komme, wirft er ihn heimlich ins Meer.

Der Snobismus und die Herablassung der reichen weißen „Oberschicht“ spielen auch an anderen Stellen eine Rolle. Was allerdings arg unecht klang und  völlig zusammenhanglos im Raum stand, war, dass der armen Laura sogar eine Vergangenheit als Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg angedichtet wurde.

Es passiert überhaupt nichts Unerwartetes in dieser Geschichte, was ich hier nicht negativ meine. Dennoch wirkt sie nach, schon allein durch die ehrliche, wenn auch teilweise verblendete Selbstbefragung Edmunds, und durch den Gegensatz zwischen der reichen inneren Welt eines einzelnen Menschen und der Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit, mit der man eben doch an den meisten Menschen vorbeiläuft. Und im Hintergrund immer das Wissen um die zeitliche Begrenztheit des Lebens.

‚Don’t you envy the early explorers who never knew what might be round the next corner? Fancy coming suddenly on the Grand Canyon when you had no idea of its existence.‘ (S. 45)

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Benjamin Zephaniah: The Life and Rhymes of Benjamin Zephaniah (2018)

Der Guardian hat ihn einmal einen der größten britischen Dichter der letzten Jahre genannt, die Times nahm ihn 2008 in die Liste der 50 wichtigsten Schriftsteller Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg auf.

Die Rede ist von dem Rastafari und Kämpfer gegen Rassismus und Unterdrückung: Benjamin Zephaniah, der sich selbst als Dichter für die Leute bezeichnet, die keine Dichter lesen, und der ziemlich säuerlich reagierte, als man ihm noch unter Tony Blair den Order of the British Empire verleihen wollte. (Die Begründung seiner Ablehung kann man hier nachlesen.)

2018 erschien nun seine Autobiografie und die ist so richtig klasse. Wunderte ich mich zunächst, dass der Autor das Buch sich selbst gewidmet hat, so erscheint das nach der Lektüre als absolut passend und mehr als gerechtfertigt.

Dedicated to me.
And why not?
There was a time when I thought
I wouldn’t live to see thirty.
I doubled that, and now I’m sixty.
Well done, Rastaman, you’re a survivor.
A black survivor.

Das Ganze geht schon damit los, dass Zephaniah im ersten Satz erklärt, dass er Autobiografien hasse,

They’re so fake. The ones I hate the most are those written by individuals who have spent their lives deceiving people and then, when they see their careers (or their lives) coming to an and, they decide it’s time to be honest. […] And don’t get me started on the people who write autobiographies a couple of years after they’re born: the eighteen-year-old pop star who feels life has been such a struggle that it can only help others if he lets the world know how he made it.

Da hängt einer die Meßlatte hoch, ehrlich soll’s werden und man soll was zu sagen haben; Zephaniah löst das alles ein, in einem ans Mündliche angelehnten Stil, humorvoll, bissig, böse, abgrundtief traurig, aufregend. Und man lernt mehr über Großbritannien und seinen oft so zynischen Umgang mit Einwanderen, als einem für die eigene Gemütsruhe manchmal lieb ist.

Vorausschicken möchte ich, dass diese Autobiografie so gar nichts mit den sogenannten Misery Memoirs zu tun hat, obwohl diese Gefahr gerade bei den Kindheitserinnerungen naheliegend gewesen wäre. Aber hier schreibt einer mit so viel Menschenfreundlichkeit und einer energischen Lebensfreude, die im wahrsten Sinne des Wortes kaum totzukriegen ist.

Seine Mutter kommt aus Jamaika und arbeitet als Krankenschwester, sein Vater stammt aus Barbados. Zephaniah wird, wie auch seine Geschwister, in Birmingham geboren. Schon als Kind wird er aufgrund seiner Hautfarbe ausgegrenzt, mit Backsteinen angegriffen, selbst die Schule ist kein sicherer Raum. Die Mutter kann nicht helfen und will die Anfeindungen nicht wahrhaben, es gibt die ersten Erfahrungen mit rassistischen Nachbarn, später die Straßenschlachten mit Anhängern der tiefbraunen National Front.

Dazu kommen familiäre Gewalterfahrungen: Der Vater prügelt Mutter und alle sieben Kinder, bis Mutter und Benjamin flüchten. Das Frauenhaus verweigert ihre Aufnahme, da eine verprügelte jamaikanische Frau nicht so gut zu britischen verprügelten Frauen passe.

Als die beiden schließlich im Haushalt des geschiedenen Pastors Burris ein neues Zuhause finden, gibt es zum ersten Mal so etwas wie eine Vaterfigur für Benjamin, doch auch dort ist das Geld und der Platz für so viele Menschen begrenzt.

We slept three or four to a bed: two up and two down, or two up and one down if you were lucky. Different kids had different kinds of smelly feet, so there were always tough negotiations over who would sleep where. (S. 66)

Er fliegt aus mehreren Schulen, seine Legasthenie wird nicht erkannt, schließlich landet er in einer der berüchtigten Borstals (Erziehungsanstalten), dann im Knast. Eine Karriere als Krimineller oder als Opfer einer Straßenschlacht oder in einer Gefängniszelle scheint vorgrammiert. Doch neben all dem Elend gibt es noch (mündliche) Gedichte, Musik, Sound Systems, noch mehr Musik und Freunde.

Wie nun aus dem Kind aus kaputtem Elternhaus, dem Schulabrecher, der kaum lesen und schreiben kann, dem geschickten Dieb und Hehler im Laufe der Jahre ein gefeierter Dichter, Autor, begeisterter Leser, Besitzer eines netten Anwesens auf dem Lande und weitgereister Aktivist gegen Rassismus, Polizeiwillkür und Unterdrückung wird, dem mehrere Ehrendoktorwürden zuteil werden, erzählt Benjamin Zephaniah auf über 300 Seiten so mitreißend, vollgepackt mit Geschichten, spannend und energiegeladen, dass ich nur staune und bewundere.

Markiert habe ich mir über 60 Stellen, müsst ihr also alle selbst lesen.

Dass sich Zephaniah in seiner humanen Einstellung selbst von den jetzt wieder aus ihren Löchern kommenden Rassisten nicht irremachen lässt – seit den Brexit-Kampagnen sieht auch er sich wieder verstärkt rassistischen Pöbeleien und widerlicher Post im Briefkasten ausgesetzt – zeugt von großer Stärke. Seine Hoffnung, dass er sich aufgrund gesellschaftlicher Verbesserungen langsam als Rastafari-Komiker zur Ruhe setzen könne, habe sich allerdings in Luft aufgelöst. Er müsse wohl noch eine Weile der zornige schwarze Dichter bleiben.

Ein Vorbild also, auch den Ausgegrenzten, den Gewalterfahrenen, den Jugendlichen, von denen die Gesellschaft nur Negatives erwartet, denen mit der „anderen“ Hautfarbe und dann wieder allen, die sich für eine gerechtere und menschenfreundlichere Welt einsetzen.

Well done, Rastaman. Wie wahr.

Hier schreibt Zephaniah über seine Legasthenie und miserablen Schulerfahrungen und hier geht’s zu seiner Homepage.

Bleibt nur die Frage, wann das Buch ins Deutsche übersetzt wird.

 

Marjorie Hillis: Live Alone and Like it (1936)

Das Buch ist ein großer Spaß und – wenn man das Jahr der Erstveröffentlichung anschaut – sehr moderner Ratgeber mit vielen Beispielen, der allen freiwillig oder unfreiwillig ledigen Frauen Mut machen soll, ihr Leben, ihr Erscheinungsbild, ihren Beruf, ihre Finanzen und kulturelle Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen, anstatt zu hoffen, dass es ein anderer für sie tun wird.

Und auch wenn sich vieles seitdem verändert hat, ist Hillis freches und fröhliches Plädoyer gegen Selbstmitleid und ihr Aufruf zur Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben an vielen Stellen zeitlos, oft auch klug und ein echtes Lesevergnügen.

It’s a good idea, first of all, to get over the notion (if you have it) that your particular situation is a little bit worse than anyone else’s.  This point of view has been experienced by every individual the world over at one time or another, except perhaps those who will experience it next year. (S. 13)

Die Autorin Marjorie Hillis (1889–1971) arbeitete über 20 Jahre für die VOGUE und schrieb mehrere erfolgreiche Ratgeber für Frauen und Live Alone and Like It war eines der erfolgreichsten Bücher der dreißiger Jahre.

2005 erschien die deutsche Übersetzung von Sabine Hübner unter dem Titel Live alone and like it: Benimmregeln für die vergnügte Singlefrau.

Richard Hull: The Murder of my Aunt (1934)

Ein feines, fieses Buch, das Richard Hull hier geschrieben hat.

Edward Powell, ein empathieloses Ekel, beschließt, Tante Mildred umzubringen, mit der er auf dem Lande, irgendwo in Wales, lebt. Er hasst das Landleben zwar wie die Pest, doch solange er bei ihr wohnt, muss er zumindest nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Nach Tante Mildreds Tod winken Geld und Unabhängigkeit. So jedenfalls stellt er sich das vor. Doch das Unterfangen erweist sich als schwieriger als gedacht.

Das Besondere: Der Snob Edward ist gleichzeitig der Ich-Erzähler, der uns seine Version der Geschichte präsentiert. Den Leser schaudert’s, da für Edward alles so einfach ist, er als der Mittelpunkt der Welt, dem sich alles und alle anderen unterzuordnen haben. Am Ende fragt man sich tatsächlich, inwieweit eine völlig verquere Erziehung zu dieser Entwicklung beigetragen haben könnte.

Außerdem formuliert Hull hier so klasse auf den Punkt, dass der boshaft-spöttische Ton keineswegs nur der Unterhaltung dient; am Ende hatte ich den Eindruck, eine veritable und glaubwürdige Charakterstudie gelesen zu haben.

As I look back at what I have written in order to relieve my mind of what I feel of this awful place, I see I spoke of ’sodden woods‘. That was the right adjective. Never, never does it stop raining here, except in the winter when it snows. They say that is why we grow such wonderful trees here which provided the oaks from which Rodney’s and Nelson’s fleet were built. Well, no one makes ships out of wood nowadays, so that is no longer useful, and it seems to me that one tree is much like another. I’d rather see less rain, less trees and more men and women. ‚Oh, Solitude, where are the charms?‘ Exactly so. (S. 17)

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Krimilesen bildet: Colorstruck

Nachdem mich der erste Kriminalroman Blanche on the Lam (1992) von Barbara Neely um Blanche White, die schwarze Haushaltshilfe, so begeistert hat, hier ein paar nachgetragene Gedanken zu den Folgebänden.

Der zweite Band Blanche among the Talented Tenth krankte für mich zunächst daran, dass Neely viel zu lange braucht, bis sie anfängt, ihre Geschichte zu erzählen. Allerdings habe ich keinen Moment daran gedacht, das Buch zur Seite zu legen, dafür waren Setting und Hintergrund viel zu interessant, geht es doch um die „feinen Unterschiede“ innerhalb der Gäste einer noblen Ferienanlage für Schwarze, die sich nur die Wohlbetuchten und Erfolgreichen leisten können. Blanche kann sich den Aufenthalt auch nur deshalb leisten, weil sie zugesagt hat, sich einige Tage um die reichen Schulfreunde ihrer Pflegekinder zu kümmern.

So kann Blanche aus nächster Nähe die Fiesheiten und die rassistischen Verhaltensweisen innerhalb der black community beobachten. Glauben doch die hellhäutigeren Gäste sich abgrenzen zu müssen und wertvoller zu sein als die dunkelhäutigeren, ein quasi gegen sich selbst gerichtetes Erbe der Sklaverei, was mit dem Begriff „colorstruck“ beschrieben wird. Einige versuchen mit Make-up und entsprechender Haarbehandlung alles zu tun, um weißer auszusehen. Die Ursprünge dieser traurigen Unlogik gehen auf die Zeit der Sklaverei zurück und werden hier unter dem Abschnitt „United States, History“ näher erklärt.

Diese Unterschiede wirken sich nicht nur bis auf die Tischordnung aus, sondern auch auf die Frage, wer als angemessene Schwiegertochter für den eigenen Sohn gilt.

Ich vermute, dass der Begriff Color Struck selbst auf das Theaterstück Color Struck von Zora Neale Hurston zurückgeht, das erstmals 1926 veröffentlicht wurde.

Die Talented Tenth des Titels wiederum beziehen sich auf die Theorie einer Elite der schwarzen Amerikaner am Anfang des 20. Jahrhunderts, von denen man sich eine Vorreiterrolle bei der gesellschaftlichen Teilhabe aller Schwarzen erhoffte.

Der Begriff wurde von Philanthropen aus der WASP-Oberschicht der Nordstaaten geprägt. W. E. B. Du Bois, ein schwarzer Autor veröffentlichte 1903 einen Essay selben Namens. Dieser erschien im von Booker T. Washington herausgegebenen Sammelband The Negro Problem. (Wikipedia)

Man sieht, auch Krimilesen bildet, und irgendwann kam auch die Geschichte in Fahrt.

Im dritten Band Blanche cleans up hat Neely ihre Geschichte von Anfang an besser im Griff . Es geht u. a. um das Leben in einer Schwarzensiedlung, um Nachbarn, kriminelle Jugendliche, korrupte Politiker, Homosexualität und schmierige Geistliche. Und ich staune und bewundere, wie viele Bälle die Autorin wunderbar jongliert, ohne dass da einer zu Boden fällt.

Auf die Schilderung einer Selbstmordszene hätte ich verzichten können, ansonsten ist dieser schnoddrig-kluge Tonfall der Protagonistin wieder wunderbar. So heißt es über das Wohnzimmer ihrer momentanen Arbeitgeber:

The house was furnished in what Blanche called undeclared rich: gleaming wood chests and tables with the kind of detail that said handmade, sofas and chairs that looked like they’d grown up in the rooms, Oriental carpets older than her grandmama, and pictures so ugly they had to be expensive originals. (S. 4)

Ich bedauere jetzt schon, dass ich nun nur noch einen Band vor mir habe. Reizen andere Schriftsteller ihre Serienhelden manchmal bis zur Erschöpfung des Lesers – und darüber hinaus – aus, wäre ich hier sehr dafür, dass Neely uns noch viele Geschichten von und um Blanche erzählt hätte, die mir – soweit Literatur das überhaupt leisten kann – Zugang zu einer anderen Lebenswirklichkeit ermöglichen.

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Barbara Neely: Blanche on the Lam (1992)

Durch einen Hinweis auf die englische Neuveröffentlichung von 2014 geriet mir dieser mehrfach preisgekrönte Kriminalroman auf den Schirm. Und was soll ich sagen, Barbara Neely (*1941) hat mich mit ihrem ersten Roman um die schwarze Hausangestellte Blanche White so dermaßen überzeugt, dass ich es kaum abwarten kann, den nächsten Band in die Hände zu bekommen.

Auf Deutsch erschien Blanche on the Lam im Fischer Verlag 2016 unter dem Titel Night Girl.

Das Buch funktioniert auf allen Ebenen. Eine Protagonistin, die einen mit ihrer Bodenständigkeit, ihrer Stärke, ihrer Verletzlichkeit und Familienliebe sofort in ihren Bann zieht.

Doch zunächst zur Handlung, die Anfang der neunziger Jahre spielt.

Blanche, Hausangestellte in Farleigh, North Carolina, steht wegen ungedeckter Schecks vor Gericht und wird zu vier Wochen Gefängnis verurteilt. Doch als sich wegen eines Tumults im Gericht die Gelegenheit zur Flucht ergibt, haut sie ab und irrt durch die Straßen. Schließlich steht sie vor dem Haus, zu dem sie ihre Agentur an diesem Morgen eigentlich für einen einwöchigen Job hätte schicken wollen. Sie hat Glück; Grace, die Dame des Hauses, ist zwar ob Blanches Verspätung verärgert, doch letztendlich froh, dass sie noch rechtzeitig gekommen ist, denn am Nachmittag wollen sie, ihr Gatte Everett und der leicht behinderte Cousin Mumsfield zum Landsitz der reichen Erbtante Emmeline fahren und dort ein paar Tage verbringen.

Blanche soll die Familie begleiten und derweil kochen, putzen, bügeln und eben alle anstehenden Arbeiten erledigen.

Doch die Hoffnung, nun einfach einige Tage untertauchen zu können, wenigstens hin und wieder mit ihrer meinungsstarken Mama und ihrer Nichte und ihrem Neffen telefonieren zu können, bis sie finanziell in der Lage ist, nach New York zu flüchten und sich dort ein neues Zuhause aufzubauen, trügt. Irgendetwas stimmt mit dieser Familie nicht. Und das bezahlen schließlich einige mit dem Leben.

Tante Emmeline ist eine grobe Trinkerin, die arrogante Grace ihrem hübschen Gatten hörig und nur Mumsfield und der alte Gärtner Nate, ein Schwarzer, nehmen Blanche ernst und nur diesen beiden vertraut sie.

Blanche leaned back in her chair and adopted a listening pose. Nate had already proved to her that he was a storytelling man. She knew enough storytelling folks – like her Aunt Maeleen, who could bring tears to Blanche’s eyes by telling her about the tragic death and/or funeral of someone neither of them knew – to know that a storytelling person couldn’t be rushed. Their rhythm, the silences between their words, and their intonation were as important to the telling of the tale as the words they spoke. The story might sound like common gossip when told by another person, but in the mouth of a storyteller, gossip was art. (S. 83)

Neely nimmt sich wunderbar Zeit, um uns mit den Figuren, dem Haus und seiner Atmosphäre bekannt zu machen. Wer also schnelle Action und große Detektivarbeit sucht, wäre mit diesem Krimi falsch beraten.

Das hängt auch mit der Perspektive zusammen, die die politisch engagierte Autorin gewählt hat, denn hier wird konsequent aus der Sicht einer schwarzen Frau geschrieben, die ihre einschlägigen Erfahrungen mit Rassismus, Alltagsdiskriminierung und Herablassung in den Haushalten der wohlhabenderen Weißen gemacht hat und die uns ihre Überlebensstrategien ausplaudert. So habe es sich bewährt, sich immer ein bisschen dümmer und gefühliger zu stellen, damit einem die Arbeitgeber vertrauen.

Blanche was reminded of old lady Ivy, out on Long Island. She couldn’t stand to see the help in regular clothes, either. Might mistake them for human beings. (S. 11)

Und ganz ärgerlich wird sie, wenn sie bei sich oder anderen das Ausbrechen der „Darkies‘ Disease“ – der Krankheit der Schwarzen – befürchtet, die Vermutung, dass man tatsächlich von seinen weißen ArbeitgeberInnen anerkannt, ja als gleichwertiger Mensch auf Augenhöhe respekiert und gemocht werde.

There was a woman among the regular riders on the bus she often rode home from work who had a serious dose of the disease. Blanche actually cringed when the woman began talking in her bus-inclusive voice about old Mr. Stanley, who said she was more like a daughter to him than his own child, and how little Edna often slipped and called her Mama. That woman and everyone else on the bus knew what would happen to all that close family feeling if she told Mr. Stanley, or little Edna’s mama, that instead of scrubbing the kitchen floor she was going to sit down with a cup of coffee and make some phone calls. (S. 43)

Deswegen ist Blanche zunächst keineswegs begeistert, als sie merkt, dass Mumsfield und sie fast buchstäblich auf einer Wellenlänge sind.

Selbst die Art und Weise, wie sie an Informationen herankommt, ist von ihrer Hautfarbe geprägt, haben die Schwarzen in Farleigh doch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und es gibt immer jemanden, der jemanden kennt, der etwas weiß oder gehört hat. Außerdem gibt es so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, z. B. an die Morde des Ku-Klux-Klan, und das immer präsente Bewusstsein, Schikanen weißer Gesetzeshüter relativ ungeschützt ausgesetzt zu sein.

So werde ich als weiße Leserin immer wieder daran erinnert, wie die Welt von einem anderen Standpunkt aus aussieht und wie sich das anfühlt.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen fügt sich das organisch in die Handlung und die Charakterisierung dieser tollen Frau ein. Und das Ganze liest sich dabei kein bisschen trostlos, im Gegenteil: Blanche springt einem von den Seiten quasi lebensgroß entgegen. In ihrer Traurigkeit, ihrer Widerborstigkeit, ihrem Stolz und bissigen Humor, ihrer Würde. Mit ihrer ganz eigenen Stimme.

Die Titel der drei weiteren Bände lauten:

  • Blanche among the Talented Tenth (1994)
  • Blanche Cleans Up (1998)
  • Blanche Passes Go (2000)

 

 

James Runcie: Sidney Chambers and the Shadow of Death (2012)

In den letzten Wochen, in denen ich mich vorzugsweise am „Korrekturrand der Gesellschaft“ (Herr Schröder) aufgehalten habe, kamen Lesen und Bloggen naturgemäß zu kurz. Doch ganz ohne Bücher ging’s natürlich trotzdem nicht. So habe ich mich beispielsweise erneut mit Vergnügen durch alle sechs Bände um den sympathischen Pfarrer und Hobby-Ermittler Sidney Chambers geschmökert, die inzwischen verfilmt und ins Deutsche übersetzt worden sind und die ich heute noch einmal in überarbeiteter Fassung vorstellen möchte.

Canon Sidney Chambers had never intended to become a detective. Indeed, it came about quite by chance, after a funeral, when a handsome woman of indeterminate age voiced her suspicion that the recent death of a Cambridge solicitor was not suicide, as had been widely reported, but murder. It was a weekday morning in October 1953 and the pale rays of a low autumn sun were falling over the village of Grantchester.

Zum Inhalt

In Sidney Chambers and the Shadows of Death – auf Deutsch unter Die Schatten des Todes erschienen – sind die sechs ersten Geschichten um Sidney Chambers versammelt, der seinen Dienst an der Kirche St Andrew and St Mary im – real existierenden – Dorf Grantchester ganz in der Nähe zu Cambridge versieht. Im ersten Fall, dem das Buch auch seinen Titel verdankt, kommt im Oktober 1953 nach der Beerdigung eines Anwalts dessen Geliebte zu Sidney und bittet ihn, sich einmal umzuhören. Sie ist sicher, dass ihr Geliebter keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde. Zur Polizei möchte sie nicht, da sie ihre Affäre vor ihrem Mann geheim halten will.

Und so löst Sidney, zusammen mit seinem guten Freund, Inspector Keating, mit dem er jeden Donnerstag ein paar Bierchen trinkt und Backgammon spielt, seinen ersten Fall, dem – sehr zu Sidneys Leidwesen – rasch weitere folgen sollen.

Nun muss er seine Nase in Dinge hineinstecken, die ihn eigentlich gar nichts angehen, und mehr als einmal lenken ihn seine inoffiziellen Gespräche, die er im Laufe der Ermittlungen führen muss, auch über Gebühr von seinen eigentlichen Gemeindeaufgaben und Familienpflichten ab.

Hier noch ein paar Worte zur Hauptperson:

Sidney was a tall, slender man in his early thirties. A lover of warm beer and hot jazz, a keen cricketer and an avid reader, he was known for his understated clerical elegance. His high forehead, aqualine nose and longish chin were softened by nutbrown eyes and a gentle smile, one that suggested he was always prepared to think the best of people. He had had the priestly good fortune to be born on a Sabbath day and was ordained soon after the war. After a brief curacy in Coventry, and a short spell as domestic chaplain to the Bishop of Ely, he had been appointed to the church of St Andrew and St Mary in 1952.

Zuerst war ich enttäuscht, dass das Buch gar kein ausgewachsener Kriminalroman war, sondern eine Sammlung von sechs Erzählungen, die immer so um die 60 bis 70 Seiten umfassen. Aber diese bauen aufeinander auf und in den Folgegeschichten treffen wir immer wieder Personal, das wir schon kennen. So entsteht allmählich ein Kosmos, in dem man immer wieder gute alte Bekannte trifft, sich auskennt und doch stets auf Neue überrascht wird.

So kann es passieren, dass Sidney mit der Witwe aus der ersten Geschichte später einen regen Briefwechsel unterhält, seine Dauerfreundin Amanda in einem Fall kräftig zur Aufklärung beiträgt, um dann im nächsten selbst ins Visier des Täters zu rücken. Ebenfalls zum Stammpersonal gehört die rabiate Haushälterin Mrs Maguire, deren Herrschaftsanspruch später durch den Einzug eines Vikars und einen Labrador immer wieder an seine Grenzen stößt.

Da Sidney nur 20 Minuten mit dem Fahrrad nach Cambridge braucht und London nur eine Stunde Zugfahrt entfernt ist, können die Fälle abwechslungsreich und mit liebevoll gezeichnetem Zeitkolorit gestaltet werden. Schön auch, wenn sich plötzlich literarische Spiegelungen ergeben. In einer Geschichte im zweiten Band wird Sidney als Laienschauspieler für die Verfilmung eines Dorothy Sayers-Krimis engagiert, in einer anderen nimmt er teil an der Trauerfeier von C. S. Lewis. Die Bandbreite der Themen reicht dabei – wenn man alle Bände miteinbezieht – vom Kunstraub, Gewalt in der Ehe, dem Diebstahl einer kostbaren Bibelhandschrift, Missbrauch, einem Mord in einem Londoner Jazz-Lokal über die Spionageaffäre in den Fünfzigern an der University of Cambridge bis hin zu der repressiven Haltung gegenüber Homosexuellen und einem plötzlich verschwundenen Verlobungsring. Manchmal kann sich der geerdete Kirchenmann nur wundern:

‚What a mess people make of their lives,‘ he thought. (S. 13)

Sidneys Beruf, seine Berufung als Pfarrer, ist dabei keine bloße Staffage. Oft erfahren wir sogar, zu welchen Predigtthemen ihn seine Detektivarbeit anregt oder welche Fragen er sich im Bezug auf seinen Glauben stellt. Gerade in diesen Fragen und scheinbar beiläufigen Gedanken liegt ein großer Reiz der Geschichten.

Als er am 7. Mai 1954 im Radio vom Rekord Roger Bannisters hört, philosophiert er darüber, was alles in dieser kurzen Zeitspanne möglich ist. Man könne ein Ei kochen, einen Rekord aufstellen oder wie Sidney Bechet Summertime auf dem Saxofon spielen.

Runcie weiß selbst:

I have to confess there is perhaps an element of preachiness to it all. My editor once said to me: “These are disguised sermons, aren’t they?” I am not ashamed of that and I am hopeful that the television series, as well as being dramatic, consists of thoughtful and moral meditations on subjects such as loyalty, friendship, deceit, cruelty and generosity. There are all the usual human fallibilities and they are taken seriously; but they are also viewed, wherever possible, with a kindly eye. (Hate the sin, but love the sinner.) (Telegraph, 5. Oktober 2014)

Darüber hinaus ist Sidney belesen und kann in einem Gespräch mit seinem Vikar, in dem es darum geht, welche Schriftsteller auf eher seltsamem Weg den Tod fanden, locker mithalten.

And didn’t the Chinese poet Li Po drown while trying to kiss the reflection of the moon in water? (S. 119)

Das Ganze ist hin und wieder von dezentem Humor untermalt. Als sein Freund Inspector Keating ihn dazu bringen möchte, einem verlobten Paar etwas genauer auf den Zahn zu fühlen, entspinnt sich folgender Dialog.

‚When people come to you to be married, you tend to put the couple through their paces beforehand, don’t you?‘
‚I give them pastoral advice.‘
‚You tell them what marriage is all about; warn them that it’s not all lovey-dovey and that as soon as you have children it’s a different kettle of fish altogether… […] There’s the money worries, and the job worries and you start to grow old. Then you realise that you’ve married someone with whom you have nothing in common. You have nothing left to say to each other. That’s the kind of thing you tell them, isn’t it?’
‚I wouldn’t put it exactly like that …‘
‚But that’s the gist?‘
‚I do like it to make it a bit more optimistic, Geordie. How friendship sometimes matters more than passion. The importance of kindness…‘
‚Yes, yes, but you know what I’m getting at.‘ (S. 153)

Kurzum: Ideal für LeserInnen wie mich, die keinen Wert auf ausgedehnte Schilderungen von Brutalität in ihren Krimis legen, die Krimis eher zur Entspannung lesen und dabei trotzdem nicht für blöd verkauft werden wollen.

Gleichzeitig bieten die sechs Bände viele Anregungen und Informationen, denen man nachgehen kann. Ist Sidneys spätere Ehefrau doch Pianistin, sein erster Vikar großer Dostojewski-Fan und seine beste Freundin Amanda Kunsthistorikerin.

Runcie hat einmal gesagt, dass er mit der Reihe „a moral history of post-war Britain“ habe schaffen wollen. Und tatsächlich hat Runcie hier ein Sittengemälde der fünfziger bis siebziger Jahre geschaffen, das sich eher ruhig und mäandernd entwickelt. Und in allen Geschichten geht es nicht nur um die Auflösung, um den Täter, sondern immer auch darum, wie es den Opfern geht.

Manchmal gibt es auch gar keine eigentliche Krimi-Handlung, sondern Sidney holt einfach den von zu Hause abgehauenen Neffen zurück, der sich von seinen Eltern nicht verstanden gefühlt hat.

Überhaupt spielen Beziehungen und Loyalität gegenüber seinen Freunden eine wichtige Rolle, genauso wie die Frage nach dem angemessenen Verhalten, nach der persönlichen Moral, nach Anstand. Und Sidney ist dabei ein geduldiger und aufmerksamer Zuhörer, der den Menschen helfen möchte, sich für das jeweils Richtige zu entscheiden.

Dachte ich zwischendurch, dass die Tiefe der Charakterisierungen vielleicht nicht gerade die Stärke dieser Bücher sei, holt Runcie im sechsten Band noch einmal aus und ich bin beeindruckt, wie feinfühlig und treffend er das Wesen der Trauer beschreibt. Ein sehr würdiger Abschluss der Reihe, obwohl ich trotzdem hoffe, dass sich Runcie das doch noch mal überlegt und der menschenfreundliche Sidney, der inzwischen Archdeacon von Ely ist, weitere Fälle lösen darf.

Perhaps the rest of his life should be like this? he thought. It would involve a concentration on things close to the heart; a dedicated care of friends and family; a quieter existence, one that depended on listening harder and loving better; never resting in complacency; acknowledging faults, doubts and insecurities; the balance between solitude and company, the wish to escape and the need to come home: a loving attention. (James Runcie: Sidney Chambers and the Persistence of Love, S. 266)

Anmerkungen

Der Autor James Runcie scheint ein umtriebiger, kluger und kreativer Kopf zu sein. Hier lohnt ein Blick auf den Wikipedia-Eintrag. Auch die Rezensenten waren angetan. Hier geht’s lang zur Besprechung im Independent.

Mai 2019 erschien der Prequel-Band The Road to Grantchester.

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Louisa May Alcott: Little Women (1868/1869)

Das dürfte einer der seltenen Fälle sein, bei denen ich mir ein Buch nicht gekauft habe, weil ich so erpicht auf den Inhalt war – hatte ich dieses Mädchenbuch doch vor Jahrzehnten gelesen -, sondern weil mir eine so unglaublich ansprechend gestaltete Ausgabe der Annotated Books des Verlages W. W. Norton & Company auf der Frankfurter Buchmesse in die Augen gefallen war. Veröffentlicht wurde dieser Trumm, der mit seinen 736 Seiten über zwei Kilo auf die Waage bringt, 2015. Er ist dementsprechend unhandlich und schon deshalb nicht als leichte Gute-Nacht-Lektüre geeignet.

Louisa May Alcott (1832-1888), die zeitlebens davon träumte, irgendwann ein ernstzunehmendes Werk für Erwachsene zu schreiben, steht mit ihren Romanen um die March-Töchter Jo, Amy, Meg und Beth am Anfang der amerikanischen Mädchenliteratur. Der erste Teil der Trilogie wurde 1868/1869 veröffentlicht,  hat inzwischen Klassikerstatus, wird bis heute gelesen, verfilmt, als Musical auf die Bühne gebracht und wurde in -zig Sprachen übersetzt.

Kann man das heute noch lesen? Ja, ich finde schon, die Geschichte ist viel weniger eindimensional, als ich das in Erinnerung hatte. In diesem fiktiven Haushalt, der sich über große Strecken an das Leben Alcotts und ihrer drei Schwestern anlehnt, wird gelesen, Theater gespielt, den armen Nachbarn das eigene Frühstück gebracht, da arbeiten die zwei älteren Schwestern, um den stets klammen Familienfinanzen aufzuhelfen, denn der Vater kann seiner Familie kein geregeltes Einkommen bieten. Und was hätte sich bis heute an den individuellen Träumen und Eitelkeiten junger Mädchen geändert?

Meg’s high-heeled slippers were dreadfully tight, and hurt her, though she would not own it, and Jo’s nineteen hairpins all seemed stuck straight into her head, which was not exactly comfortable; but dear me, let us be elegant or die. (S. 39)

Die rührseligen und idealisierten Predigten der Mutter werden erträglich, da sich die Erzählerin immer wieder mit ironischen Seitenhieben einmischt. Amys erste künstlerische Gehversuche werden beispielsweise kräftig veralbert.

… and she daubed away, producing pastoral and marine views, such as were never seen on land or sea. Her monstrosities in the way of cattle would have taken prizes at an agricultural fair; and the perilous pitching of her vessels would have produced sea-sickness in the most nautical observer, if the utter disregard to all known rules of ship building and rigging had not convulsed him with laughter at the first glance. (S. 330)

Da wuppen die Töchter und ihre Mutter zusammen mit dem Dienstmädchen Hannah die ganze Arbeit und die Mutter ist durchaus in der Lage, allein die Verantwortung für die Familie zu tragen, während das männliche Familienoberhaupt den ersten Teil der Geschichte irgendwo als Geistlicher im Bürgerkrieg verbringt.

Und auch wenn mir die Mutter oft zu süßlich vollkommen war, vertritt sie Ansichten, die auch heute noch gelten und damals sicherlich auch auf Widerspruch gestoßen sind, z. B. sei es besser, glücklich und unverheiratet zu sein, als in einer unglücklichen Zweckehe leben zu müssen. Und zum Glück gehöre, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen. Das müsse nicht zwangsläufig im eigenen Heim geschehen. Und den Bräutigam suche man sich natürlich nicht des Geldes wegen aus und außerdem könne ein Mann erwarten, dass sich seine Frau auch für Dinge jenseits von Kleidern und Kindererziehung interessiere. Auch Frauen sollten intelligent über Politik sprechen können. Ehe sei eine Institution auf Augenhöhe. Und die Männer sollten bei der Kindererziehung miteinbezogen werden.

Immer wieder zeigt die Erzählerin in all der Idylle auch einen robusten Humor, der das Ganze wohltuend erdet. Als Professor Bhaer Jo zu Hause besucht und abends im Familienkreis ein gemeinsames Ständchen vorschlägt, heißt es nur:

‚You will sing with me; we go excellently well together.‘ A pleasing fiction, by the way, for Jo had no more idea of music than a grasshopper; but she would have consented, if he had proposed to sing a whole opera, and warbled away, blissfully regardless of time and tune. (S. 581)

Was aus heutiger Sicht besonders aus der Zeit gefallen wirkt, ist das Loblied auf die Familie, man hilft einander, verzeiht einander, vertraut einander. Und vor allem: Man erzieht seine Kinder zu bestimmten Tugenden und steht zu seinen Wertvorstellungen der Nächstenliebe. Ja, Charakterbildung sei gar ein lebenslang andauernder Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Bei den Diskussionen, die ich gerade mit Schülern zu der Frage führe, weshalb man das Video des australischen Terroristen, der in Neuseeland 50 Menschen ermordet hat, nicht anschauen sollte, frage ich mich manchmal, wie vielen Eltern eigentlich bewusst ist, dass Werteerziehung auch zu ihren Aufgaben gehört.

Doch hätte ich das Buch hier auf dem Blog vielleicht gar nicht erwähnt, ja, ich hätte es vermutlich nicht noch einmal gelesen, wäre es mir nicht in dieser speziellen Ausgabe begegnet. Bei dem 20-seitigen Vorwort, dem 41-seitigen Lebensabriss der Autorin und den zahllosen Erläuterungen, die sich jeweils links und rechts am Textrand befinden, war ein Kenner am Werk, nämlich John Matteson, ein Professor, der 2008 für seine Alcott-Biografie den Pulitzer Prize gewonnen hat.

Sowohl Vorwort, Lebenslauf als auch die Anmerkungen zum zeitgeschichtlichen Hintergrund helfen, vieles besser einordnen zu können und sich auch vor der ein oder anderen Fehlinterpretation zu hüten. So kommt dem modernen Leser das Buch mit seinen Bezügen zu Bunyans Pilgrim’s Progress sehr stark christlich geprägt vor, die Zeitgenossen bemängelten aber, dass das Buch sich eben nicht genügend auf die Religion beziehe, zumal Alcott einiges diametral entgegengesetzt zu Bunyans Pilgerreise gestalte.

Wir erfahren, dass Jo, in der Alcott sich selbst porträtierte, nach dem Willen der Autorin nicht hätte heiraten sollen, doch da machte ihr ihr Verleger einen Strich durch die Rechnung. Die LeserInnen forderten sehr ungestüm ein, dass Jo ihren Jugendfreund Laurie heiraten müsse. Dem jedoch verweigerte sich Alcott. Also musste ein „unmöglicher“ Bräutigam her, doch auch den schlossen die LeserInnen ins Herz.

Neben zeitgenössischen Rezepten, Liedern, Gedichten und Erläuterungen zu den zahlreichen literarischen Verweisen im Buch, die den Anspruch „normaler“ Jugendbücher weit hinter sich lassen, finden sich viele Hinweise darauf, wo die Geschichten von der autobiografischen Vorlage abweichen und wo Alcott ihre jungen Leserinnen vor gar zu realistischen Härten des Lebens verschonen wollte. Der Tod Beths im Buch wird abgemildert und verklärt, nichts im Gesicht der Verstorbenen deute mehr auf die lange Leidenszeit hin. Doch im Tagebuch der Autorin klingt das nach dem Tod ihrer Schwester ganz anders:

What she had suffered was seen in the face, for at twenty-three she looked like a woman of forty, so worn was she, all her pretty hair gone. (S. 539)

Matteson hilft uns, die Brücke in die Vergangenheit zu schlagen und den Hintergrund, vor dem das Werk entstand, besser zu verstehen. Alcotts Vater beispielsweise, wahlweise ein Träumer und Phantast und in manchen Dingen seiner Zeit um Jahrzehnte voraus, aber auch jemand mit klaren Wertvorstellungen, führte kurzzeitig eine halbwegs florierende Schule. Man erzählte sich von ihm, dass ihm körperliche Züchtigung seiner Schüler zuwider war. Als er sich bei zwei aufmüpfigen Schülern nicht anders zu helfen wusste, befahl er ihnen, ihn, den Lehrer, mit dem Lineal zu schlagen. Die Jungen brachen in Tränen aus und waren von Stund an gehorsam.

Doch als er eine schwarze Schülerin aufnahm, nahmen die Eltern der weißen Schüler reihenweise ihre Kinder aus der Schule. Die Schule musste daraufhin wegen fehlender Einnahmen geschlossen werden.

Überhaupt setzten sich Alcotts für die Abschaffung der Sklaverei ein und waren als Transzendentalisten mit Emerson und Thoreau befreundet. Henry James hat sich bei einem gemeinsamen Abendessen die Mühe gemacht, Louisa extra darauf hinzuweisen, dass sie sich bitte nicht für ein Genie halten solle.  Die Gefahr bestand zwar ohnehin nicht, aber möglicherweise haben ihn die Verkaufszahlen der Schriftstellerin nachhaltig irritiert.

Und dass die über 700 Seiten noch üppig mit alten Illustrationen, Filmszenen und  Zeichnungen der künstlerisch begabten May Alcott, einer Schwester der Autorin, ausgestattet sind, sorgt dafür, dass dieser Ziegelstein auch optisch ein Genuss ist. Da gibt es beispielsweise Fotos aus dem ehemaligen Wohnhaus der Alcotts, in dem sich inzwischen ein Museum befindet, und wir sehen das mehr als 150 Jahre alte Hochzeitskleid von Anna Alcott Pratt, Porträts, Dokumente, Haarlocken und Fotos der Rezeptsammlungen der Familie.

Louisa May Alcotts Lebenslauf ist keineswegs so sonnig, wie man sich das von einer Autorin erfolgreicher Kinderbücher vielleicht vorstellt oder wie man ihr das gewünscht hätte. Im Gegenteil, an ihr blieb letztendlich die Hauptverantwortung hängen, die Familie bis zu ihrem Lebensende finanziell zu unterstützen, der Schwester May Europa-Aufenthalte für ihre Kunststudien zu ermöglichen, Elternstatt an verwaisten Nichten und Neffen zu übernehmen und sich um ihre eigenen Eltern zu kümmern. Die Belastungen führten so weit, dass sie ihren Eltern eingestand, immer öfter an Selbstmord zu denken. Dazu kamen zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigungen. Ihr Traum, nach dem Abschluss ihrer March-Trilogie, die sie als Literatur nie so richtig ernst genommen hatte, endlich ein Werk für Erwachsene zu schreiben, erfüllte sich nicht. Schließlich starb sie nach längerer Krankheit zwei Stunden vor der Beerdigung des eigenen Vaters.

Matteson zieht folgendes Fazit:

The work at which she excelled […] seemed paltry to her. But it was a greater talent than she realized. Her children’s novels, and Little Women in particular, are more than genial entertainment. They are companions. Admitting freely that growing up is hard and that not all dreams come true, they illustrate the virtues and teach the values that form the foundations of a life bravely and honourably lived. (S. lxxvii)

 

Alec Guinness: My Name Escapes Me (1996)

Was für ein süchtig machendes Buch.

Der Ausnahmeschauspieler Alec Guinness (1914-2000) veröffentlichte den zweiten Teil seiner autobiografischen Schriften My Name Escapes Me: The Diary of a Retiring Actor 1996. Auf Deutsch erschien dieses Tagebuch unter dem Titel Adel verpflichtet: Tagebuch eines noblen Schauspielers.

Irgendwo war ich über die Empfehlung dieses Buchs gestolpert, und was soll ich sagen: Obwohl die Aufzeichnungen des über Achtzigjährigen vom 1. Januar 1995 bis zum 6. Juni 1996 von Anfang an zur Veröffentlichung gedacht waren und dementsprechend der Kontrolle und bewussten Auswahl des Künstlers unterlagen, habe ich das nirgendwo als störend empfunden.

Da mischen sich Erinnerungen an seine Karriere, an Filmaufnahmen und verstorbene Freunde mit kurzen Urlaubsschilderungen aus Südeuropa oder mit Einträgen zu Verabredungen zum Essen mit noch lebenden Freunden und Bekannten – gutes Essen ist ihm ein Bedürfnis. Da wird munter parliert, da wird ins Theater oder in Kunstausstellungen gegangen.

Nancy Cunard’s long long elegant feet in the painting by Alvaro Guevara, 1919, look like transatlantic liners. (S.5)

Überall schimmert ein großes Berufsethos durch. So wollte er später am liebsten auch gar nicht mehr auf seine Rolle als Obi-Wan Kenobi in Star Wars angesprochen werden. Die törichten Dialoge taten ihm einfach zu weh und beinahe hätte er einem Jungen ein Autogramm verweigert, als der ihm anvertraute, die Filme schon Dutzende Mal gesehen zu haben. Das wiederum sorgte für eine empörte Mutter.

Oder er schaut abends mit seiner Frau Merula fern, völlig entgeistert, falls man dabei zufällig in vulgäre Trash-Shows hineingerät. Bei Filmen oder Krimis, die Gnade vor seinen Augen finden, werden anschließend die Schauspieler einer fachmännischen Bewertung unterzogen. Selbst seine Lektüre – Montaignes Essays wären sein Buch für die einsame Insel – ist noch davon geprägt, dass er es nicht lassen kann, sich die Dialoge in Büchern wie Theaterstücke vorzusprechen, „with significant pauses and all“. Dummerweise sorgt das immer dafür, dass er so schrecklich lange für ein Buch braucht.

Er, der 1957 für seine Rolle in The Bridge on the River Kwai den Oscar gewann, ist sich völlig im Klaren über die Zufälligkeit, mit der es sich entscheidet, ob man einen Oscar oder eine beliebige andere Auszeichnung zugesprochen bekommt.

A race or a fight or a game can be won but to call something ‚the best‘ in the arts is absurd. I wouldn’t mind betting Dickens would fail to win the Booker Prize (too readable and too funny) and Turner the Turner Prize and poor Keats wouldn’t even be considered for any poetry prize. (S. 16)

Zwischendurch kommt er – dezent – auf sein Alter zu sprechen. Die Trauer, wenn man wieder zu einer Beerdigung eines liebgewordenen Weggefährten muss. Der Schreck, als er in den Straßen Londons stürzt und sich danach nur noch mit Stock aus dem Haus traut. Das Nachlassen seiner Kräfte, Augenprobleme, die nachlassende Konzentration, die ihm nicht mehr erlaubt,  längere Texte auswendig zu lernen. Die Sorge um seine Frau, die noch sechs Monate nach ihrer Hüftoperation nicht richtig laufen kann. Und selbst jetzt noch muss er sich mit unliebsames Stalkern herumärgern, die sich nicht scheuen, plötzlich bei ihnen im Garten zu stehen.

The new armchair has arrived […] It is very comfortable but a touch of effort is needed to get out of it. (S. 86)

Ein wacher Geist, ein Katholik, der so manche gesellschaftliche Entwicklung kritisch und auch besorgt beäugt, der traurig zu Bett geht, nachdem er am 13. März 1996 von dem Schulmassaker in Dunblane erfahren hat.

Turning on TV News at Ten we were appalled to hear of the ghastly, outrageous shooting of small children in the school at Dunblane, Perthshire. It is a numbing horror and the mind goes blank. Sympathy, comfort, love, tears – no words suffice. M and I went to bed silent and miserable. (S. 128)

Ein Mann, der seinem inneren Kompass treu bleibt, dem schlechter Geschmack oder grobe Umgangsformen ein Graus sind und der sich manchmal auch nur kurz angebunden über seine Frau Merula, eine Malerin, äußert, mit der er seit 58 Jahren verheiratet ist. Überhaupt hätte ich gern mehr über sie und den gemeinsamen Sohn Max gelesen. Doch dann erwähnt er wie im Vorübergehen, dass sie ihm jede Woche einen kleinen Blumenstrauß auf seinen Schreibtisch stellt.

Die Selbstverständlichkeit fasziniert, mit der die beiden Ehepartner jeweils die gleichen Bücher lasen, dieselben Filme schauten, im Radio abends Konzerte oder Musik-CDs hörten, um sich daran zu erfreuen, in der Kunst Trost zu finden oder um sich darüber auszutauschen.

Hier schreibt einer sehr menschlich, manchmal melancholisch, ein wenig wehmütig, sich der Endlichkeit bewusst, aber auch trocken, selbstironisch, witzig, boshaft in einem herrlich flüssigen, mühelos wirkenden Stil.

Today I have picked up a very good notice in an American film trade paper for a performance I have never given in a film I have never heard of. It says that I am ‚almost unrecognizable‘ in the film. I like the ‚almost‘. (S. 10)

Kurzum, das Buch mit dem Vorwort seines Freundes John le Carré ist, da man nie weiß, was als nächstes kommt, eine unterhaltsame, aber nie banale Wundertüte. Und ich brauche unbedingt den nächsten Band.

Anne Griffin: When All is Said (2019)

Der Debütroman When All is Said der irischen Autorin Anne Griffin soll irgendwann auch auf Deutsch erscheinen. Recht so!

Das Buch mit dem Untertitel Five Toasts – Five People – One Lifetime hätte sogar das Zeug zum Klassiker gehabt, hätte die Autorin bloß auf ein paar Mätzchen a la Wie-mache-ich- das-Buch-massenkompatibel verzichtet.

Doch noch mal von vorn. Um was geht es überhaupt?

Das Buch beginnt mit den Worten:

Is it me or are the barstools in this place getting lower? Perhaps it’s the shrinking. Eighty-four years can do that to a man, that and hairy ears.

Der 84-jährige Maurice Hannigan sitzt allein an der Bar des Rainsford Hotels in seiner kleinen Heimatstadt und wird im Laufe des Abends im Juni 2014 fünf Toasts auf die Menschen aussprechen, die ihm im Laufe seines Lebens besonders wichtig geworden sind.

Das wären zum einen sein älterer Bruder, seine Frau Sadie, sein Sohn und zum anderen seine Schwägerin und seine Tochter. Die Erinnerungen von der Kindheit bis zu den Geschichten aus der Gegenwart, die sich gegenseitig erhellen, aufeinander verweisen und letztlich alle von urmenschlichen Glücks- und Verlusterfahrungen handeln, springen einen als Leser förmlich an.

Man hört diesem alten Sturkopf, der es von einem einfachen Farmer zum reichen Mann gebracht hat und trotzdem seiner geliebten Sadie bei einem Restaurantbesuch nicht mal ein Eis zum Nachtisch gönnt, fasziniert zu und glaubt ihm jedes Wort. Genauso wie die Tatsache, dass er sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als all das den ihm nahe stehenden Menschen zu sagen.

Auch der Schauplatz, die Bar dieses Hotels, ist von Hannigan bewusst gewählt worden, wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt.

Hätte Griffin bloß mal auf ihren knorrigen Protagonisten, seinen unbändigen Wunsch nach Selbstbestimmtheit und seine tolle Erzählstimme vertraut, was hätte das für ein wuchtiges – und auch berührendes – Buch werden können. Aber nein, die an den Haaren herbeigezogene Geschichte rund um einen Münzdiebstahl und einige kleinere alberne Dramenmomente stutzen das Buch leider an vielen Stellen wieder auf Normalmaß zurück.

Das ändert allerdings nichts daran, dass sich, auch wenn ich Griffin ein bisschen böse bin, Maurice Hannigan in meine innere Bibliothek wohl dauerhaft einschreiben wird.

 

Christopher Huang: A Gentleman’s Murder (2018)

A Gentleman’s Murder ist eine so lohnende Entdeckung im Krimi-Bereich, dass ich dringend hoffe, dass es sich dabei um den Auftakt einer Serie handelt.

1924 in London: Im Britannia, einem dieser gediegenen Herrenclubs, in den nur Gentlemen aufgenommen werden können, die irgendwann ihrem Land als Soldat gedient haben, passiert ein Mord. Interessanterweise ist das Opfer, ein junger Mann namens Benson, erst kurz zuvor überhaupt Mitglied geworden. Etwas widerstrebend hatte er sich auf eine Wette eingelassen, dass es nämlich Woolfe, einem arroganten Schnösel, nicht bis zum nächsten Mittag gelingen würde, einige Wertsachen aus Bensons Schließfach im Tresorraum des Clubs zu entwenden. Leutnant Eric Peterkin wird gebeten, als Schiedsrichter zu fungieren.

Peterkin lässt sich, um den Gewinner unparteiisch ermitteln zu können, vorsichtshalber von Benson die in seinem Schließfach befindlichen Gegenstände zeigen. Dabei handelt es sich wider Erwarten gar nicht um wertvolle oder seltene Dinge, allerdings um Gegenstände, die laut Benson dazu dienen sollen, ein großes Unrecht zu sühnen. Doch am nächsten Morgen liegt Benson erstochen vor dem geöffneten Schließfach.

Peterkin bezweifelt, dass die Angelegenheit in den Händen von Scotland Yard gut aufgehoben ist, beobachtet er doch zufällig, wie der zuständige Kommissar Parker etwas aus dem Zimmer des Ermordeten verschwinden lässt. Und warum wollen alle, dass Peterkin der Sache nicht weiter nachgeht? Doch stur und ehrenhaft wie er nun einmal ist, möchte er nicht nur den Mörder Bensons überführen, sondern am besten noch das große Unrecht ans Licht holen, von dem Benson gesprochen hatte und von dem er nicht im Geringsten weiß, was es damit auf sich hat. Und so nehmen über 300 spannende Krimiseiten ihren Lauf.

Es ist tatsächlich beeindruckend, wie Christopher Huang hier mehreres miteinander ausbalanciert, ohne dass das eine auf Kosten des anderen geht. Da ist zum einen die Hauptperson, Leutnant Peterkin, der zwar einen britischen Vater hat, aber eine chinesische Mutter. Das sieht man ihm auch an. Und wie er mal subtil, mal eklig mit Ressentiments konfrontiert wird, das spiegelt zeitlose Gegebenheiten, mit denen sich Menschen auseinandersetzen müssen, die aufgrund ihres Äußeren zunächst einmal als „anders“ wahrgenommen werden.

The only thing Eric missed about the War was that one had slightly more pressing things to worry about than blood heritage. The respect he’d received from his comrades had not been immediate, but after enough shells and sorties and gas attacks, no one cared anymore who your grandparents were – as long as you did your job well and kept your men alive. (S. 15)

In den ersten Entwürfen war Peterkin noch ein durch und durch weißer Brite, doch Huang, ein chinesischer Architekt, der inzwischen in Kanada lebt, fand es schließlich spannender, seiner Hauptperson Anteile von sich selbst mitzugeben, die ihm gleichzeitig ermöglichten, gängige Klischees zu beleuchten, wie sie gegenüber Chinesen in den zwanziger Jahren gang und gäbe waren. Huang sagt in einem Interview der Washington Post:

I soon came to realize that Eric’s half-and-half heritage said more about me than any direct representation of myself could. He’s not so much me as he is my cultural experience, this combination of Asian blood and European culture.

Dazu kommt ein dezent eingesetzter Humor, der uns dann wieder an die leichten Cozy Crimes erinnert, und Peterkins Freund Avery, der sehr dem Esoterischen zugeneigt ist, hat hier klar die Aufgabe, für ein bisschen Erheiterung in den durchaus auch gefährlichen Ermittlungen zu sorgen.

Doch was diesen Krimi vor allem von gut gemachter Unterhaltungsliteratur unterscheidet und ihn in einer anderen Liga spielen lässt, ist die sorgfältige und immer respektvolle Einbettung in einen bestimmten geschichtlichen Kontext. Dieser taucht in den Krimis, die tatsächlich in den zwanziger oder dreißiger Jahres des letzten Jahrhunderts geschrieben wurden, meist nur als Randbemerkung auf, nämlich die Situation der ehemaligen Soldaten, die in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges gekämpft und gelitten haben. Die, so sie denn überhaupt überlebt hatten, nicht nur Gliedmaßen verloren haben, sondern auch Traumata, Alpträume und Schwierigkeiten bei der Rückkehr in ein ziviles Leben immer mit im Gepäck haben. Auch sechs Jahre nach Kriegsende.

In dem feinen Austarieren dieser verschiedenen Elemente mit einer wirklich spannenden und immer wieder Haken schlagenden Krimi-Handlung hat mich das Debüt Huangs an die besten Bücher Dorothy Sayers erinnert.

Hier gibt es ein Interview mit dem Autor auf der Homepage der Los Angeles Public Library.

Interessant ist vielleicht auch, dass Huangs Krimi bei Inkshares veröffentlicht wurde. Dieser Verlag lässt quasi die LeserInnen entscheiden, was gedruckt wird. Hat ein Buch die erforderliche Anzahl an verbindlichen Vorbestellungen – normalerweise 750 -, dann wird das Buch verlegt.

Doch noch viel besser ist, dass Huang uns Anlass zur Hoffnung gibt, dass wir Eric Peterkin irgendwann wiedertreffen.

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Betty Smith: A Tree Grows in Brooklyn (1943)

Heute geht es um den in weiten Teilen autobiografischen, sehr erfolgreichen und später auch verfilmten, fast 500 Seiten langen Roman A Tree Grows in Brooklyn (1943) von Betty Smith.

Smith (1896-1972) verarbeitet in ihrem Debütroman, der ursprünglich als Autobiografie angelegt war, Erinnerungen an ihre eigene entbehrungsreiche Zeit als Kind armer deutscher Einwanderer in Brooklyn Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.

Im Zentrum stehen die Geschicke der Familie Nolan, allen voran die 1901 geborene Francie, ihr ein Jahr jüngerer Bruder Cornelius und ihre Mutter Katie, deren Eltern aus Österreich stammen, und Vater Johnny aus Irland.

Johnny, mit 21 schon zweifacher Vater, ist liebenswert, musikalisch begabt, gut aussehend und mit seiner familiären Verantwortung völlig überfordert. Tante Sissy hingegen, die Schwester Katies, ist einfach wundervoll in ihrer großzügigen Menschenliebe, auch wenn sich die nicht immer mit den Grundsätzen der katholischen Kirche in Übereinstimmung bringen lässt.

Die Nolans sind arm wie fast alle in diesem Stadtteil und auf den ersten Seiten erfahren wir, wie Francie und Cornelius, der von allen nur Neeley genannt wird, ihren samstäglichen Gang zum Schrotthändler machen, um für das während der Woche gesammelte Papier, Metall und Gummi ein paar Cent zu bekommen. Den Lebensunterhalt verdient im Wesentlichen Francies Mutter, indem sie in mehreren Mietskasernen putzt, während Johnny nur unregelmäßig etwas Geld als Kellner verdient und immer mehr dem Alkohol verfällt.

Obwohl vor allem Francies Kindheit und Jugend im Mittelpunkt stehen, ist für mich die toughe Mutter Katie die eigentliche Heldin des Buches.

Gradually, as the children grew up, Katie lost all of her tenderness although she gained in what people call character. She became capable, hard and far-seeing. She loved Johnny dearly but all the old wild worship faded away. […] Katie had the same hardships as Johnny and she was nineteen, two years younger. It might be said that she, too, was doomed. Her life, too, was over before it began. But there the similarity ended. Johnny knew he was doomed and accepted it. Katie wouldn’t accept it. She started a new life where her old one left off. She exchanged her tenderness for capability. She gave up her dreams and took over hard realities in their place. Katie had a fierce desire for survival which made her a fighter… (S. 97)

Manchmal ist das Geld so knapp, dass Katie mit ihren Kindern tagelang „Expedition zum Nordpol“ spielt, bei der sie alle während eines Schneesturms in einer Höhle festsitzen. Die Lebensmittelvorräte sind knapp.

They had to make it last till help came. Mama divided up what food there was in the cupboard and called it rations and when the children were still hungry after a meal, she’d say, „Courage, my men, help will come soon.“ When some money came in Mama bought a lot of groceries, she bought a little cake as celebration, and she’d stick a penny flag in it and say, „We made it, men. We got to the North Pole.“ (S. 218)

Katie würde niemals Almosen einer Wohltätigkeitsorganisation akzeptieren, eher schon würde sie den Gashahn in der Wohnung aufdrehen.

Sie ist entschlossen, ihren Kindern das zu geben, was sie und ihre Schwestern niemals hatten, nämlich eine anständige Schulbildung, „education“. Und so wachsen Francie und Neeley, deren Großmutter noch Analphabetin ist, mit zwei Büchern auf: einer aus einem Hotel stammenden Gideon-Bibel und einem ausrangierten Büchereibuch, den gesammelten Werken Shakespeares. Fantasie, Literatur und das Schreiben eigener Geschichten werden so schon früh Francies Ausweg aus Einsamkeit und Armut.

Sometimes Francie wavered. She didn’t know whether it would be better to be a band when she grew up or an organ grinder lady. It would be nice if she and Neeley could get a little organ and a cute monkey. All day they could have fun with him for nothing and go around playing and watching him tip his hat. And people would give them a lot of pennies and the monkey could eat with them and maybe sleep in her bed at night. This profession seemed so desirable that Francie announced her intentions to Mama but Katie threw cold water on the project telling her not to be silly; that monkeys had fleas and she wouldn’t allow a monkey in one of her clean beds. (S. 115)

Katie ist eine Frau, die sich keinerlei Selbstmitleid erlaubt, hart gegen sich und gegen andere, wenn sie glaubt, dass das für alle langfristig das Bessere ist. Überhaupt ist das Buch gänzlich unsentimental, auch da, wo Einsamkeit, Sehnsucht und der erste Liebeskummer Francies erzählt werden.

Francie liebt die Schule und ist immer eine sehr gute Schülerin:

Francie like school in spite of all the meanness, cruelty, and unhappiness. The regimented routine of many children, all doing the same thing at once, gave her a feeling of safety. She felt that she was a definite part of something, part of a community gathered under a leader for the one purpose. (S. 163)

Dabei schreien die Abgestumpftheit und die fehlende Empathie der meisten Lehrerinnen zum Himmel. Immer wieder kommt es zu scheußlichen Situationen. Die Kinder sollen beispielsweise eigentlich während der Pause die (viel zu wenigen) Toiletten benutzen, doch die werden von den zehn schlimmsten Schultyrannen bewacht, und nur gegen ein Entgeld lassen sie ihre Mitschüler auf die Toilette. Doch das kann sich kaum ein Kind leisten. Theoretisch darf man – nachdem man die Lehrerin um Erlaubnis gebeten hat – auch während des Unterrichts kurz den Raum verlassen, doch seltsamerweise sieht die Lehrerin immer nur die Meldungen der nicht ganz so armen und besser gekleideten Kinder.

Mit 14 muss Francie die Schule verlassen, ebenso wie ihr ein Jahr jüngerer Bruder. Das Geld ist nach dem Tod Johnnys so knapp, dass sich die Geschwister als älter ausgeben müssen, als sie sind, um Arbeit zu finden. Damit rückt Francies Traum, die High School zu besuchen, um anschließend studieren zu können, erst einmal in weite Ferne.

Die Geschichte endet 1918 und entlässt die Nolans in eine glücklichere Zukunft, symbolisiert durch den ‚tree of heaven‘, den Götterbaum, der im Hinterhof ihrer Mietskaserne gestanden hat.

The tree whose leaf umbrellas had curled around, under and over her fire escape had been cut down because the housewives complained that wash on the lines got entangled in its branches. The landlord had sent two men and they had chopped it down. But the tree hadn’t died … it hadn’t died. A new tree had grown from the stump and its trunk had grown along the ground until it reached a place where there were no wash lines above it. Then it had started to grow towards the sky again. (S. 493)

Fazit

Anna Quindlen weist in ihrem Vorwort der englischen Ausgabe zu Recht darauf hin, dass der Stil des Buches sehr einfach ist:

It is not a showy book from a literary point of view. […] Its glory is in the clear-eyed descriptions of its scenes and people. […] There is little need for embellishment in these stories; their strength is in the simple universal emotion they evoke.

Die Frage, aus welcher Perspektive sie erzählen will, hat die Autorin an manchen Stellen nur unzureichend gelöst, und so wechseln sich personale, psychologisch überzeugende, anrührende Stellen mit manchmal unbeholfen wirkenden auktorialen Abschnitten ab, bei denen Inhalte referiert werden.

Brutalizing is the only adjective for the public schools of that district around 1908 and ’09. Child psychology had not been heard of in Williamsburg in those days. Teaching requirements were easy: graduation from high school and two years at Teachers Training School. Few teachers had the true vocation for their work. (S. 153)

Trotz dieser kleinen stilistischen Schwächen habe ich das Buch gern gelesen. Das ist einfach eine mitreißende Fundgrube an Geschichten und Schicksalen. Die Nolans stehen stellvertretend für viele Tausende Einwandererkinder, die in Amerika ihren Platz gesucht und letztlich gefunden haben. Und natürlich bietet es sich an, Parallelen zu heutigen Einwanderer- und Immigrantenschicksalen zu ziehen.

Das Buch bietet aber nicht nur einen spannenden Einblick in das Schicksal armer Immigranten und in einen ganzen Stadtteil mit seinen Bewohnern, Kneipen und kleinen Läden, sondern verkörpert auch das amerikanische Credo, dass man sich – wie man an Katie sieht – in äußerst widrigen Situationen Stolz und Würde bewahren könne und dass man selbst die Verantwortung für sein Leben übernehmen muss.

Wikipedia schreibt: „… its main theme is the need for tenacity: the determination to rise above difficult circumstances.“ Und nicht zuletzt feiert es den Zusammenhalt in der Familie, unsentimental, ja manchmal geradezu harsch.

Doch dabei werden die Fallstricke auf dem Weg in eine hellere Zukunft, wie z. B. die überstürzte Wahl eines ungeeigneten Ehepartners, Vorurteile, miserable Schulen und bornierte Vertreter der Mittelschicht, nicht verschwiegen. In einer der Schlüsselszenen beschreibt Smith zum Beispiel, wie Francie nicht länger die kitschig verlogenen Geschichten schreiben will, die ihr in der Schule immer Bestnoten eingetragen haben, sondern beginnt, ihren Alltag zu verarbeiten, die Armut, den Alkoholismus ihres Vaters. Ihre Lehrerin ist empört:

‚But poverty, starvation and drunkenness are ugly subjects to choose. We all admit these things exist. But one doesn’t write about them.‘ (S. 321)

‚Drunkenness is neither truth nor beauty. It’s a vice. Drunkards belong in jail, not in stories. And poverty. There is no excuse for that. There’s work enough for all who want it. People are poor because they’re too lazy to work. There’s nothing beautiful about laziness. (Imagine Mama lazy!) ‚Hunger is not beautiful. It is also unnecessary. We have well-organized charities. No one need go hungry.‘ Francie ground her teeth. Her mother hated the word ‚charity‘ above any word in the language and she had brought up her children to hate it, too. (S. 322)

Der Roman war schon bald nach seiner Veröffentlichung unglaublich erfolgreich und wird auch heute noch auf unzähligen englischsprachigen Blogs besprochen.

The book sold 300,000 copies in the first six weeks after it was published. A Tree Grows in Brooklyn is now considered an essential part of American literature. As an indispensable classic, Smith’s book appears on reading lists across the country. It has profoundly influenced readers from all walks of life – young and old alike. The New York Public Library even chose the book as one of the „Books of the Century“  (siehe hier).

1945 wurde der Roman übrigens von Elia Kazan verfilmt.

Doch selbst nach der Veröffentlichung gab es noch Leser, die so dachten wie die Lehrerin im Buch, die Francie ja hatte verbieten wollen, über reale Erfahrungen zu schreiben:

Because Smith wrote about some of the more unsavory aspects of human existence, some critics found the book unacceptable. One Boston woman even wrote a letter to Smith saying that the author of such a book should live in a stable. (siehe hier)

Anlässlich der Neuübersetzung von Eike Schönfeld im Insel Verlag gab es  Besprechungen auf mehreren Blogs:

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Graham Greene: Travels with my Aunt (1969)

Mein Versuch, mich mit Hilfe der Biografie von Ulrich Greiwe dem weitgereisten Schriftsteller Graham Greene (1904-1991) und seinem interessanten Leben anzunähern, endete mit Verdruß und vorzeitigem Abbruch der Lektüre, und zwar genau auf Seite 62.

Ich hatte mich die ganze Zeit schon gegrämt, dass Greiwe, weil er halt so originell sein wollte, seine vor Lobeshymnen überschäumende Biografie in der zweiten Lebenshälfte Greenes beginnen lässt.

Das außerordentliche Leben eines starken, intelligenten und gefühlvollen Mannes. Da bedurfte es eines besonderen biografischen Aufbaus. Eine Biografie also nach dem Inspektor-Columbo-Prinzip: der Fall und das Leben Greenes, von hinten aufgerollt. Nachdem seine ‚Schandtaten‘ und die ‚menschlichen Faktoren‘ seines Daseins bekannt sind, bleibt die Frage: wie konnte es dazu kommen? (S. 10)

Außerdem wurden wichtige Reisen des Autors und politische Hintergründe oft nur kurz angerissen und ich drohte, den Faden zu verlieren ob all der Zeitsprünge, Namen und Infoschnipsel. Doch ab Seite 62 wurde es dann endgültig bizarr.

Direkt nachdem Greiwe den Tod des Schriftstellers im Jahre 1991 konstatiert hat, malt er sich aus, wie die Verleihung des Literaturnobelpreises an Greene hätte aussehen können. Hätte er den Preis einem Kloster gespendet, wäre er betrunken gewesen?

Nur die Kurzsichtigkeit des alten Königs Gustav wäre ihm leider nicht zuteil geworden. Statt dem seinerzeitigen Literaturnobelpreisträger hatte dieser die Ehrung aus Versehen dem Saaldiener überreicht. (S. 63)

Bekanntermaßen erhielt Greene nie den Nobelpreis für Literatur, obwohl dies immer wieder erwartet und von seinen Bewunderern erhofft wurde.

Doch egal, nachdem eine halbe Seite zuvor Greene das Zeitliche gesegnet hat, heißt es plötzlich:

Da die weltweite Rebellion der künftigen geistigen Eliten an den Universitäten Greene durchaus entgegenkam, fühlte er sich politisch erfrischt. Der Vietnamkrieg, dessen Eskalation er 1955 romanhaft vorausgesehen hatte, ging in seine entscheidende Phase. (S. 63)

Auch für mich war das eine entscheidende Phase. Ich habe hier so viele lohnende Bücher, dass ich mich nicht länger mit dieser Biografie herumärgern werde.

Gregor Schuhen hatte ebenfalls wenig Freude an Greiwes Werk. Er schrieb 2004 in der FAZ:

Ferner stiftet die unangemessene Kürze der Biographie mehr Verwirrung als erhellende Informationen. Zu viele Figuren, Namen, Ereignisse und Verstrickungen werden auf zu wenigen Seiten so knapp dargestellt, daß man häufiger als gewöhnlich den Faden verliert. Des weiteren gerät die Darstellung wiederholt zur unreflektierten Lobhudelei.

Stattdessen entstaube ich heute mal wieder einen älteren Artikel aus dem Archiv, und zwar den zu Greenes Roman Travels with my Aunt. 

Er wird uns von Henry Pulling erzählt, der auf der Beerdigung seiner Mutter seine Tante Augusta trifft, mit Folgen, die sich dieser spießige Reihenhauslangweiler in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte ausmalen können:

I met my Aunt Augusta for the first time in more than half a century at my mother’s funeral. My mother was approaching eighty-six when she died, and my aunt was some eleven or twelve years younger. I had retired from the bank two years before with an adequate pension and a silver handshake. […] Everyone thought me lucky, but I found it difficult to occupy my time. I have never married, I have always lived quietly, and, apart from my interest in dahlias, I have no hobby. For those reasons I found myself agreeably excited by my mother’s funeral.

Henry, pensionierter Bankbeamter in den Fünfzigern, begeht den „Fehler“, Tante Augusta nach der Trauerfeier zu besuchen. Dort lernt er Wordsworth kennen, den aus Sierra Leone stammenden und um Jahrzehnte jüngeren Liebhaber seiner Tante. Wordsworth schmuggelt dem armen Henry Marihuana in die Urne mit der Asche seiner Mutter, um einer Polizeikontrolle zu entgehen. Und so gerät das wohlgeordnete, aber zum Weinen langweilige Leben Henrys kräftig in Unordnung.

Am Anfang eher widerstrebend erklärt er sich bereit, seine Tante auf einer Reise nach Brighton zu begleiten.

We sat down in a shelter. The lights ran out to sea along the Palace Pier and the edge of the water was white with phosphorescence. The waves were continually pulled up along the beach and pulled back as though someone were making a bed and couldn’t get the sheet to lie properly. […] This trip was quite an adventure, I thought to myself, little knowing how small a one it would seem in retrospect. (S. 42)

Schließlich reisen sie sogar im Orient Express von Paris nach Istanbul. Tante Augusta führt ihn an Plätze und lässt ihn mit Menschen zusammentreffen, die für sie sehr wichtig gewesen sind. Henry erfährt dabei auch so einiges über seine eigene Familie, das er sich nicht hätte träumen lassen. Vor allem aber erzählt Tante Augusta aus ihrem abenteuerlichen Leben. Moral und Gesetze haben dabei eine eher nebensächliche Rolle gespielt.

‚I have an impression,‘ my aunt said, ‚that you are really a little shocked by trivial illegalities. When you reach my age you will be more tolerant… (S. 63)

Sie war Prostituierte, was Henry lange als Mitgliedschaft in einer Theatergruppe missverstehen will. Tante Augusta hat jedenfalls eine Menge Gefahren überstanden, Geld gewonnen und verloren, getrunken, viel Spaß gehabt und freizügig geliebt. Dazu ist sie auch weiterhin fest entschlossen, mit dem Unterschied, dass Henry sie von nun an begleiten soll.

Das führt natürlich zu allerlei komischen Situationen, denn Henry ist keineswegs überzeugt davon, dass ihn seine stets gewissenhaft ausgeübte Karriere als Bankbeamter auf so ein halbkriminelles Vagabundenleben, inclusive Gefängnisaufenthalten, CIA-Agenten und ehemaligen Nazi-Kollaborateuren, angemessen vorbereitet hat.

Fazit

Man kann das Buch auf mehrere Arten lesen. Zum einen als eine leichtfüßige Gaunerkomödie, die den Helden aus der Langeweile seiner Vorgartenidylle mit Dahlienzucht und einsamen Nachbarn in die Sphäre seiner lebenslustigen, kriminellen und liebenden Tante bis hin nach Paraguay führt. Dann wäre Tante Augusta der Weckruf, sein Leben mit allen Sinnen zu leben und zu genießen.

Regret your own actions, if you like that kind of wallowing self-pity, but never, never despise. Never presume yours is a better morality. […] But you, I suppose, never cheated in all your little provincial banker’s life because there’s not anything you wanted enough, not even money, not even a woman. You looked after people’s money like a nanny who looks after other people’s children. Can’t I see you in your cage, stacking up the little fivers endlessly before you hand them over to their proper owner? (S. 106)

Aber auch eine andere Lesart ist denkbar. Greene selbst hat Langeweile als eines seiner größten Probleme angesehen. Die Biografen streiten immer noch, ob er nun als junger Mann Russisches Roulette gespielt habe oder nicht.

Und wenn man sich die Hauptfigur näher anschaut, ist unter der Schale des einsamen und braven Bankbeamten von Anfang an etwas verborgen, was ihn zu einem würdigen Sohn seiner echten Mutter macht. Auch Henry Pulling ist froh über alles, was die Langeweile wenigstens kurzzeitig vertreibt. Schon die sensationslüsternen Gedanken, die ihm bei der Einäscherung seiner Stiefmutter durch den Kopf gehen, sind da ganz aufschlussreich.

Not many people attended the service, which took place at a famous crematorium, but there was that slight stirring of excited expectation which is never experienced at a graveside. Will the oven doors open? Will the coffin stick on the way to the flames? (S. 4)

Seine Beschreibung von Tante Augusta bei dieser Trauerfeier ist genauso unverblümt wie später deren eigene Redeweise.

I was surprised by her brilliant red hair, monumentally piled, and her two big front teeth which gave her a vital Neanderthal air. (S. 4)

Henry jedenfalls ähnelt Tante Augusta immer mehr. Schon nach einer kleinen Reise nach Brighton stellt er fest:

I discovered for the first time in myself a streak of anarchy. Had it been perhaps the result of my visit to Brighton or was it possibly my aunt’s influence (and yet I was not a man easily influenced), or some bacteria in the Pulling blood? (S. 47)

Nach einer weiteren Reise, die ihn und seine Tante bis nach Boulogne führte, hat er den Geschmack an seinem bisherigen Leben endgültig verloren.

I was afraid of burglars and Indian thugs and snakes and fires and Jack the Ripper, when I should have been afraid of thirty years in a bank and a take-over bid and a premature retirement and the Deuil du Roy Albert. […] I had lost the taste for dahlias. When weeds swarmed up I was tempted to let them grow. […] As I went upstairs to bed I felt myself to be a ghost returning home, transparent as water. I was almost surprised to see that my image was visible in the glass. (S. 159/160)

Aber er bleibt nicht auf Dauer daheim. Der Sirenenruf der Tante lockt ihn später sogar bis nach Südamerika, wo er nur noch mit milder Toleranz auf sein früheres Leben zurückblickt.

It was as though I had escaped from an open prison, had been snatched away, provided with a rope ladder and a waiting car, into my aunt’s world, the world of the unexpected character and the unforeseen event. (S. 200)

Doch je lebendiger sich Henry fühlt, umso mehr macht er sich gemein mit den Wertvorstellungen seiner Tante. Egal ist dann, woher der Geldsegen kommt, der ihnen Villa und Lebensunterhalt in Paraguay finanziert. Egal ist, dass die Tante ja nicht jünger wird und die Landessprache nicht spricht. Egal, dass um sie herum Korruption, Gewalt und Armut herrschen.

Half ruined huts stood at the very edge of the cliff and naked children with the pot-bellies of malnutrition stared down on us as the boat passed … (S. 210)

Auch Wordsworth, der Tante Augusta treu ergeben ist, taucht wieder auf. Er – der verliebte Narr – wird wie zur Zeit der Rassentrennung zum Essen in die Küche verbannt, weil der zurückgekehrte Liebhaber Augustas ihn, vielleicht aus Eifersucht, nicht in der Nähe haben mag. Schließlich schickt Augusta Wordsworth einfach weg, obwohl er sie über Jahre geliebt und auf ihren Reisen begleitet und beschützt hat. Eiskalt bekennt sie, dass Wordsworth nichts anderes als ein Lückenfüller gewesen sei. Und selbst die Nachricht seines gewaltsamen Todes kommentiert sie nur mit

‚Yes, dear, all in good time, but can’t you see that now I am dancing with Mr Visconti?‘ (S. 261)

Tante Augusta fasst ihre Moral für Henry bündig zusammen: In England

You will think how every day you are getting a little closer to death. It will stand there as close as the bedroom wall. And you’ll become more and more afraid of the wall because nothing can prevent you coming nearer and nearer to it every night while you try to sleep […]

Im Gegensatz dazu steht das Leben in Paraguay.

Tomorrow you may be shot in the street by a policeman […] or a man may knife you in a cantina because you can’t speak Spanish and he thinks you are acting in a superior way […] My dear Henry, if you live with us, you won’t be edging day by day across to any last wall. The wall will find you of its own accord without your help, and every day you live will seem to you a kind of victory. ‚I was too sharp for it that time,‘ you will say, when night comes, and afterwards you’ll sleep well… (S. 222)

Und Henry stellt – kurzzeitig inhaftiert – tatsächlich fest, dass er zwar nicht ganz sicher ist, wie er aus der Bredouille wieder rauskommen soll, doch dass er sich eigentlich ganz wohl dabei befinde, denn sein alter Feind, die Langeweile, ist verschwunden.

I am in a small cell ten feet by six, and I have nothing to sleep on but a piece of sacking. I have no idea what is going to happen next, but I confess I am not altogether unhappy, I am too deeply interested.

Am Ende seiner Entwicklung steht sogar die Aussicht, als fast Sechzigjähriger „a gentle and obedient child“ von 16 Jahren zu heiraten, was ich dann doch reichlich unappetitlich finde. Das Problem der Langeweile ist gelöst, doch um welchen Preis?

Ich habe Travels with my Aunt also eher als eine Charakterstudie gelesen, die im Gewand einer Komödie auftritt. Und diese zwei unterschiedlichen Seiten, das Unterhaltsame, Absurde und Skurrile und die für mich eher ins Negative verlaufende Entwicklung Henrys, konnte ich beim Lesen nicht immer in Einklang bringen. Der trockene Witz war jedoch oft große Klasse:

… and in any case I have a weakness for funerals. People are generally seen at their best on these occasions, serious and sober, and optimistic on the subject of personal immortality. (S. 4)

Anmerkungen

Gern verweise ich auf die Besprechungen auf Philea’s Blog und Durchleser’s Blog.

Die Inspiration zu der Figur der Tante lieferte wohl die 1885 geborene Elizabeth Moor, die 40 Jahre lang als Ärztin auf Capri praktizierte.

 

Molly Keane: Good Behaviour (1981)

Da ersteht man irgendwo – ich weiß schon gar nicht mehr wo – zufällig ein Secondhand-Exemplar eines Romans von einer irischen Schriftstellerin namens Molly Keane, die man bis dahin gar nicht auf dem Schirm hatte, und ehe man sich versieht, hat man ein Buch gelesen, das der kleinen Riege der Lieblingsbücher zugefügt wird.

Es beginnt – scheinbar ganz unspektakulär – damit, dass die Ich-Erzählerin, die 57-jährige Aroon St. Charles, aus vornehmer, aber verarmter anglo-irischer Familie, ihrer bettlägrigen Mutter das Essen bringt, hübsch angerichtet auf liebevoll dekoriertem Tablett.

Rose, schon seit ihrer Jugend Dienstmädchen in der Familie, weist noch darauf hin, dass die sich die alte Dame doch schon immer vor Kaninchenfleisch geekelt habe. Doch Aroon nimmt darauf keine Rücksicht. Und tatsächlich: Aroons Mutter wird übel, sie verstirbt noch während des Essens. Rose macht Aroon daraufhin ganz fürchterliche Vorwürfe, denen wir im Stillen sofort zustimmen.

Es scheint für den Leser also schon nach wenigen Seiten klar zu sein, wie egozentrisch und manipulativ, ja eiskalt Aroon doch ist. Und die merkwürdige Reaktion Aroons auf die wüsten Anschuldigungen von Rose tun ein Übriges.

Yes, she [Rose] stood there across the bed saying all these obscene, unbelievable things. Of course she loved Mummie, all servants did. Of course she was overwrought. I know all that – and she is ignorant to a degree, I allow for that too. Although there was a shocking force in what she said to me, it was beyond all sense or reason. It was so entirely and dreadfully false that it could not touch me. I felt as tall as a tree standing above all that passionate flood of words. I was determined to be kind to Rose. And understanding. And generous. I am her employer,  I thought. I shall raise her wages quite substantially. She will never be able to resist me then, because she is greedy. I can afford to be kind to Rose. She will learn to lean on me. There is nobody in the world who needs me now and I must be kind to somebody. (S. 8/9)

Man spürt, irgendetwas wird hier verdrängt und schöngeredet. Doch was genau?

And I do know how to behave – believe me, because I know. I have always known. All my life so far I have done everything for the best reasons and the most unselfish motives. I have lived for the people dearest to me, and I am at a loss to know why their lives have been at times so perplexingly unhappy. I have given them so much, I have given them everything, all I know how to give – Papa, Hubert, Richard, Mummie. At fifty-seven my brain is fairly bright, brighter than ever I sometimes think, and I have a cast-iron memory. If I look back beyond any shadow into the uncertainties and glories of our youth, perhaps I shall understand more about what became of us. (S. 9/10)

Ja, und genau das tut Aroon. Sie erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend und an ihre Zeit als junge Frau.

Ihr Vater ein Verschwender, Liebhaber unzähliger Frauen, ausschließlich interessiert an Pferden, Jagd und gutem Essen, dem es nicht in den Kopf geht, dass einfache Leute wie der Automechaniker oder der Weinlieferant die Dreistigkeit haben, ihn mit unbezahlten Rechnungen die Stimmung zu verderben anstatt dankbar zu sein, ihm zu Diensten sein zu dürfen. Trotzdem schafft er es, eine Art Beziehung zu seinem Sohn Hubert und seiner Tochter Aroon aufzubauen. Zumindest, wenn die Kinder mutig auf ihren Pferden dahinjagen.

Aroons Mutter lebt nur für ihre Kunst; unbezahlte Rechnungen, die spätestens nach dem Tod ihres Ehemannes immer drängender werden, stopft sie einfach in eine Schublade. Problem erledigt. Und obwohl in dieser Familie niemand gewalttätig wird, dürfte „Mummy“ mir als eine der schauderhaftesten Mutterfiguren der Literatur in Erinnerung bleiben.

Die Kinder werden älter, durch ihren Bruder Hubert lernt Aroon den Nachbarssohn Richard näher kennen. Die beiden Familien hatten einst dasselbe liebevolle Kindermädchen, das sich – der Leser weiß warum – eines Tages im See ertränkt hat.

Mehr soll hier zum Inhalt gar nicht gesagt werden, da jede Seite eine neue Facette dieses dysfunktionalen, nur auf den äußeren Schein bedachten Familienlebens offenlegt. Ich weiß jedenfalls nicht, wann ich das letzte Mal eine so unter die Haut gehende und dabei absolut glaubwürdige Charakterschilderung gelesen habe. Und es wird dabei offensichtlich, was passiert, wenn über die wesentlichen Themen nicht geredet werden darf, entweder weil dann die hübschen Lebenslügen der Wohlanständigkeit offenbar würden oder weil man menschlich so verarmt ist, dass man im Grunde tatsächlich nichts mehr zu sagen hat. Alles, sogar die Trauer, wird unter dem Deckmantel des „Good Behaviour“ zugedeckt. Selbst wenn der Mantel dabei ordentlich verrutscht.

Am Ende ist Aroon eine beschädigte Frau, die vieles nicht sehen oder verstehen will und schließlich auch nicht mehr erkennen kann, wo ihr Glück vielleicht hätte liegen können. Man hätte ihr das anders gewünscht.

Darüber hinaus ist der Roman auch spannend, man wird – auch von der intensiven Stimme dieser Ich-Erzählerin, die keinen Hehl aus ihren Sympathien und  Antipathien macht und eine scharfe und bissige Beobachterin ist – vorwärtgetrieben, sodass die Lektüre keineswegs so deprimierend und trostlos ist, wie man anhand des Inhalts vielleicht vermuten könnte, zumal sie schöne Momente wie das Tanzengehen mit ihrem Bruder oder Richard und gutes Essen in vollen Zügen genießen kann.

Und es ist faszinierend zu sehen, wie Aroon, die uns das doch alles erzählt, so selten die richtigen Schlüsse aus dem Erlebten ziehen kann, ohne dass wir sie deswegen verachten oder für dumm halten würden. Ein gelungener Balanceakt.

Molly Keane (1904-1996) hat es mit ihrem Roman Good Behaviour von 1981, der auf Deutsch unter dem Titel Eine böse Geschichte erschien,  auf die Shortlist des Booker Prizes geschafft. Und die mehrmalige Booker Prize-Trägerin Hilary Mantel wünscht dem Buch noch viel mehr Aufmerksamkeit:

A real work of craftmanship, where the heroine is also the narrator, yet has no idea what is going on. You read it with mounting horror and hilarity as you begin to grasp her delusion.

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Alan Bradley: The Sweetness at the Bottom of the Pie (2009)

Wie bei meinem letzten Blogbummel schon angedeutet, steht mir der Sinn zurzeit nicht nach „gehobenerer“ Lektüre. Die Korrekturenstapel häuften sich bedenklich und dann die Blogs, auf denen in rasanter Folge neue bummeltaugliche Beiträge erscheinen … Da bleibt also nur der Griff ins Cozy Crime Regal, da das herrlich entspannt.

Und genau darum geht es heute, um den ersten Band einer Serie, der mir beim Wiederlesen richtig Spaß gemacht hat und den ich deshalb, wenn auch reichlich verspätet, heute vorstellen möchte.

Die Handlung beginnt mitten in einer der zahlreichen Auseinandersetzungen dreier Schwestern:

It was as black in the closet as old blood. They had shoved me in and locked the door. I breathed heavily through my nose, fighting desperately to remain calm. I tried counting to ten on every intake of breath, and to eight as I released each one slowly into the darkness. Luckily for me, they had pulled the gag so tightly into my open mouth that my nostrils were left unobstructed, and I was able to draw in one slow lungful after another of the stale, musty air.

Die elfjährige Flavia, die Ich-Erzählerin, hat bei dem Streit den kürzeren gezogen und wurde im Schrank eingesperrt, doch ihre Rache wird nicht lange auf sich warten lassen.

Der Kanadier Alan Bradley (*1938) hat seine Romane um Flavia im England der fünfziger Jahre angesiedelt. Dort lebt sie mit ihren Schwestern Daphne (Daffy, 13) und Ophelia (Feely, 17) und ihrem Vater Colonel Haviland de Luce in dem großen alten Herrenhaus Buckshaw, das praktischerweise auch ein fantastisch ausgestattetes Chemielabor – eingerichtet von einem der Vorfahren – enthält, denn Flavia ist mit ganzem Herzen Chemikerin. Die Fehden zwischen ihr und den Schwestern enden schon mal damit, dass sie Ophelia ein bisschen Gift des Kletternden Giftsumachs in ihren Lippenstift schmuggelt und sie die allergischen Beschwerden fein säuberlich protokolliert.

Vervollständigt wird die Truppe von Arthur Dogger, einem mal mehr, mal weniger unter seinen Kriegstraumata, dem Zittern und den Gedächtnisaussetzern leidenden Butler, Gärtner, Chauffeur und Mädchen für alles. Im Krieg hat er Flavias Vater das Leben gerettet und ist der Familie der de Luces treu ergeben. Außerdem kommt täglich Mrs Mullet aus dem Dorf, Haushälterin und Klatschbase in einem, deren Kochkünste wohl als unterirdisch zu bezeichnen sind.

Harriet, die Mutter der Mädchen, starb, als Flavia ein Jahr alt war, und der Vater nimmt seine Töchter kaum wahr und kümmert sich stattdessen um seine große Leidenschaft, die Welt der Briefmarken, was wiederum der finanziellen Lage der de Luces nicht unbedingt zuträglich ist.

Im ersten Band der inzwischen auf zehn Bände angewachsenen Reihe gerät Flavias Vater unter Mordverdacht, als einer seiner ehemaligen Mitschüler, Horace Bonepenny, tot im Gurkenbeet der de Luces aufgefunden wird. Zunächst schweigt sich der Vater aus, da er befürchtet, dass Dogger für den Mord verantwortlich sein könnte, denn der hatte, zusammen mit Flavia, heimlich gelauscht, als Bonepenny versucht hatte, Flavias Vater zu erpressen.

So liegt es nun an Flavia, ihren Vater von diesem schrecklichen Verdacht reinzuwaschen und herauszufinden, was wirklich passiert ist.

Dass sie bei der Auflösung des Falles dem sympathischen Inspector Hewitt immer einen Schritt voraus ist und sich dabei auch noch in Lebensgefahr begibt, erfreut  Hewitt nur bedingt.

Das Buch wimmelt von gelehrten Anspielungen, bei denen man sogar das ein oder andere nachschlagen kann, sei es zu Naturwissenschaften oder Büchern. Das zeigt sich schon am englischen Originaltitel, einem Zitat von William King „Unless some sweetness at the bottom lie, who cares for all the crinkling of the pie“ (The Art of Cookery, 1708).

Manchmal wird die Geduld des Lesers schon strapaziert, denn wie glaubwürdig sind die folgenden Sätze aus dem Mund einer Elfjährigen?

As I expected, Father’s room war in near-darkness as I stepped inside. […] From inside, it possessed all the gloom of a museum after hours. The strong scent of Father’s colognes and shaving lotions suggested open sarcophagi and canopic jars that had once been packed with ancient spices. The finely curved legs of a Queen Anne washstand seemed almost indecent beside the gloomy Gothic bed in the corner, as if some sour old chamberlain were looking on dyspeptically as his mistress unfurled silk stockings over her long, youthful legs. (S. 146 – 147)

Zudem weist auch die Handlung selbst, gerade was die Motive des Bösewichts angeht, einige logische Löcher auf.

Allerdings schafft es Bradley, für seine jugendliche Ich-Erzählerin einen ganz eigenen Ton zu finden, frech, altklug und vorlaut, ihren Schwestern in inniger Hassliebe verbunden, aber letztlich mit dem Herz am richtigen Fleck.

Flavias Schwestern verbünden sich ständig gegen sie, bringen sie zum Weinen mit der Geschichte, dass sie adoptiert und so wenig liebenswert sei, dass sie quasi schuld am Tod der Mutter sei.

Dabei scheint immer wieder Flavias Verletzlichkeit, ihre Einsamkeit und den Wunsch nach familiärer Geborgenheit hinter der altklugen und ruppigen Fassade durch.

Here we were, Father and I, shut up in a plain little room, and for the first time in my life having something that might pass for a conversation. We were talking to one another almost like adults; almost like one human being to another; almost like father and daughter. And even though I couldn’t think of anything to say, I felt myself wanting it to go on and on until the last star blinked out. I wished I could hug him, but I couldn’t. For some time now I had been aware that there was something in the de Luce character which discouraged any outward show of affection towards one another; any  spoken statement of love. […] And so we sat, Father and I, primly, like two old women at a parish tea. It was not a perfect way to live one’s life, but it would have to do. (S. 191)

Ganz unverstellt erscheint uns Flavia, wenn sie Dogger in einem seiner schlimmen Momente antrifft. Sie tut und sagt und unternimmt sofort etwas, um ihm behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen dabei zu helfen, sich wieder in der Gegenwart verankern zu können.

Wie schrieb Laura Wilson im Guardian so nett:

The Sweetness at the Bottom of the Pie reads like a cross between Dodie Smith’s I Capture the Castle (posh family fallen on hard times, dead mother, disengaged father, crumbling pile) and the Addams family (Flavia has a well-appointed laboratory where she makes poisons to test on her spiteful elder sisters). A strong plot, involving philately, ornithology and prestidigitation, and a wonderful supporting cast make this Canadian novelist’s debut delightfully entertaining.

Fazit: Preisgekrönte Krimi-Unterhaltung, skurril, frech und spannend, ansprechend, wie gemacht für dunkle Novembertage.

Der zweite Band The Weed that Strings the Hangman’s Bag um den Tod eines Puppenspielers hat mir ebenfalls gefallen.

Die Bücher erscheinen auch auf Deutsch.

Mick Herron: Slow Horses (2010)

Da ich normalerweise einen Bogen um neuere Krimis mache, da mir ihre Schilderungen von Grausamkeiten meist zu brutal, zu voyeuristisch sind, wäre mir beinahe der fulminante Auftakt zu dieser Reihe entgangen.

Ehemalige Topleute des britischen Inlandsgeheimdienstes (auch bekannt als MI5) sind wegen diverser Verfehlungen  (Einsatz verpatzt, Alkoholprobleme, fehlender Kompatibilität mit Menschen, Geheimdienstunterlagen im Zug liegengelassen) ausgemustert und ins schäbige Slough House, das weit genug entfernt von der Zentrale am Regent’s Park liegt, abkommandiert worden.

Dort sollen sie unter der Leitung des schmierigen Unsympathen Jackson Lamb Akten schreddern, Telefonmitschnitte oder alte Unterlagen nach belanglosen Details durchwühlen. So hofft man, dass River Cartwright und seine LeidensgenossInnen freiwillig den Dienst quittieren. Das käme dem Geheimdienst gelegener als langwierige Streitereien vor Gericht, die bei einer Kündigung wohl zu erwarten wären.

Kollegiales Miteinander: Fehlanzeige. Jeder hasst seinen Arbeitsplatz im Slough House, da man nicht zum Müllsortieren und Aktenschreddern Agent geworden ist. Und jeder weiß, dass er von den Agenten im aktiven Dienst als Slow Horse beschimpft und verachtet wird. Man weiß noch nicht einmal, wo die Kollegen wohnen.

Diese bleierne, feindselige Atmosphäre wird zunächst auch durch die Nachricht nicht verändert, dass auf dem Blog der BBC ein Video veröffentlicht wurde, das einen entführten Jugendlichen zeigt, der in 48 Stunden vor laufender Kamera geköpft werden soll. Ein Fall, der die Kompetenzen der Slow Horses buchstäblich in mehr als einer Hinsicht überschreiten würde.

Doch warum beauftragt die stellvertretende Chefin des Geheimdienstes plötzlich eines der Slow Horses, nämlich Sidonie Baker, die Unterlagen eines dubiosen Journalisten zu stehlen? Und warum muss River Cartwright dessen Müll auf verdächtige Hinweise durchwühlen?

Und dann geht die Action richtig los. Selten so gespannt gewesen, wie die Geschichte weitergeht.

Dazu die Wechsel im Erzähltempus. Das erste Kapitel zunächst sehr aufregend. Wir erleben den Einsatz mit, dem River Cartwright seine Degradierung zu den Slow Horses verdankt. Dann kommt die Geschichte scheinbar zum Stillstand, da erst einmal Einblick in verschiedene Biografien einzelner Slow Horses gegeben wird. Manche Leser stört das, ich fand es gelungen, da so die Ermittler als eigenständige Charaktere mit je ganz eigenen wunden Punkten und Traumata erlebbar werden.

Und ob sie wollen oder nicht, irgendwann müssen auch Slow Horses miteinander kooperieren.

Später wird sich ohnehin kein Leser mehr über mangelndes Tempo beklagen können. Ständig schlägt die Handlung neue Haken, fügen sich neue Bausteine ins Mosaik des Ganzen ein. Und Cliffhanger gibt es hier gleich innerhalb mehrerer Erzählstränge.

Dazu wird das Ganze eingebettet in die aktuelle politische Großwetterlage. Außerdem wird das Opfer der Entführung ebenfalls als Charakter ernstgenommen und glaubwürdig, ja liebevoll porträtiert.

Doch was mich darüber hinaus an Herrons Buch begeistert hat, ist die Sprache (mal abgesehen von der ganzen Flucherei, die mir an einigen Stellen ziemlich auf die Nerven ging), die Dialoge voller Schlagfertigkeit, dieses knallfreche, manchmal auch witzige Formulieren auf den Punkt.

Lamb turned to study him through half-open eyes, causing River to remember about the hippo being among the world’s most dangerous beasts. It was barrel-shaped and clumsy, but if you wanted to piss one off, do it from a helicopter. Not while sharing a car. (S. 178).

Mit meiner Begeisterung bin ich wohl nicht allein:  Im August erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel Slow Horses: Ein Fall für Jackson Lamb im Diogenes Verlag, übersetzt von Stefanie Schäfer.

Im Englischen umfasst die Reihe bereits fünf Bände und zwei kürzere Erzählungen. Alle Bände schafften es auf eine oder mehrere Shortlists für diverse Krimi-Auszeichnungen.

Auf dem Blog von Ethan Jones gibt es ein kurzes Interview mit Mick Herron.

Und hier ist eine Besprechung von der Querleserin, die mich überhaupt erst aufmerksam auf diesen Agententhriller gemacht hat.

Alistair MacLeod: No Great Mischief (1999)

And the stars are seldom clearly seen above the pollution of prosperity. (S. 192)

Der einzige Roman des kanadischen Schriftstellers und Englischprofessors Alistair MacLeod (1936-2014) wurde bei seinem Erscheinen 1999 in Kanada als Meisterwerk gefeiert und selbst Alice Munro sagte, dass sich Szenen dieses Buches dem Leser für immer einbrennen würden. Der Autor wurde dafür 1999 mit dem Trillium Book Award und 2001 mit dem International Dublin Literary Award  ausgezeichnet.

Auf Deutsch erschien das Buch unter dem Titel Land der Bäume, was mit der historischen Anspielung des englischen Titels so gar nichts zu tun hat. Deutsche Kritiker waren in ihrer Meinung verhaltener; manch einer vermisste den Spannungsbogen, andere fanden es betulich oder bemängelten gar, dass die geschichtlichen Details der Besiedlung und Eroberung Kanadas die deutschen Leser doch eher kaltlasse. Doch worum geht es überhaupt?

Der Ich-Erzähler Alexander MacDonald ist um die 50, erfolgreicher Kieferorthopäde, glücklich verheirateter Familienvater. Doch diese äußeren Merkmale treten völlig hinter seiner Geschichte zurück. Viel entscheidender ist seine Herkunft als Nachkomme schottischer Einwanderer auf der Kap-Breton-Insel in der kanadischen Provinz Nova Scotia. Für seinen Clan ist die Geschichte immer gegenwärtig, selbst Aussprüche des 1779 nach Kanada ausgewanderten Patriarchen werden in der Familie immer noch geteilt und kommentiert.

Alte Traditionen sowie die gälische Sprache, ja selbst das Aussehen schweißen die Familie über Ländergrenzen und alle Generationen hinweg zusammen. Familienbande sind heilig, Hilfsbereitschaft untereinander und bedingungslose Solidarität selbstverständlich.

Dabei ist das Leben oft hart. Alexander und seine vier Geschwister verlieren, da ist Alexander gerade einmal drei Jahre alt, ihre Eltern und einen Bruder bei einem schrecklichen Unfall, als diese im trügerischen Märzeis einbrechen. Er und seine Zwillingsschwester kommen daraufhin zu ihren Großeltern väterlicherseits, zu Grandma und Grandpa. Die etwas älteren Brüder im Teenageralter brechen den Schulbesuch ab und hausen fortan als Selbstversorger auf einer Farm der Familie.

Vieles davon erfahren wir aus den Erinnerungen, die Alexander kommen, während er seinen älteren Bruder Calum, einen in einer Absteige hausenden Alkoholiker, in Toronto  besucht.

Und so mischen sich Erinnerungen an die Familiengeschichte mit der Gegenwart und den historischen Mythen, bis sich allmählich herauskristallisiert, warum die Wege der Brüder so unterschiedlich verlaufen sind.

Es ist kein „perfektes“ Buch, ganz im Gegenteil, der Ich-Erzähler ist oft in der Beobachterposition und seine Gefühle können bestenfalls aus seinen Handlungen erahnt werden, er erschien mir seltsam blaß, ja streckenweise außerordentlich langweilig.

Dafür fetzen die anderen Familienmitglieder um so mehr. Allein schon die Großelterngeneration ist hinreißend. Auf der einen Seite der scheue, spröde und der Wahrheit der Geschichte verpflichtete Großvater mütterlicherseits, früh verwitwet, keine sexuellen Anspielungen ertragend, aber ein begnadeter Sänger und feiner Mann.

Ihm gegenüber Grandpa, der gerne einen oder lieber gleich mehrere über den Durst trinkt und nur zu gern Anspielungen unter der Gürtellinie macht, zusammen mit seiner geliebten, ganz bodenständigen Frau.

Als Alexanders Schwester sich an ihre Grandma erinnert, hat man sofort ein Bild dieser Frau vor Augen:

When we had to do our work, cleaning our rooms or doing the dishes or scrubbing the floor, I used to say sometimes, ‚But I’m tired.‘ She used to say, ‚Everybody’s tired, dear. I’m tired. The world doesn’t stop because we’re tired. So hurry up and it will be done in a minute.‘ And sometimes if her own tiredness were showing she would say, ‚I bet if your brother Collin were alive he wouldn’t be whining about cleaning his room. You’ve already passed him  in age, and he will never grow older. Poor little soul. He was so happy the last time I saw him in his new coat. We should all be grateful that we’re alive and have each other, so hurry up and make your bed.‘ (S. 238)

Die ganze Familie liebt ihre Heimat Kap Breton und ist den Franzosen, die zunächst diese Insel erobert hatten, noch immer in heftiger Abneigung verbunden.

Dass zwei seiner Brüder nie mit Namen genannt werden und auch als Personen nicht greifbar werden, obwohl Alexander mit ihnen lange Zeit unter Tage im Bergbau verbringt, erschien mir ein bisschen gekünstelt, genauso wie seitenlange Aufzählungen zur Geschichte und zu politischen Ereignissen in Form von name dropping. Und manche Metaphern waren zu deutlich ausgeleuchtet.

Auch dass Alexander als Student der Zahnmedizin so gar keine Probleme hat, zusammen mit seinen Brüdern in den Bergminen zu arbeiten und dann doch noch als Kieferortopäde in einer Zahnartzpraxis für Wohlbetuchte landet, lässt für mich einige Fragen offen.

Und doch und doch: Die Geschichte ist eine unsentimentale Darstellung des Clan-Zusammenhalts; eine Liebeserklärung an die „neue“ Heimat, diese raue, schöne und unberechenbare, manchmal auch tödliche Natur. Das Ganze gepaart mit einer großen Selbstverständlichkeit, dass die MacDonalds die eigenen Wurzeln und Lieder nicht vergessen können und daraus einen Großteil ihrer Identität beziehen. Im Positiven wie im Negativen.

Und vor allem ist es eine spannende, manchmal witzige, oft melancholische und auch wuchtige und lebenspralle Geschichte, die ich so noch nicht gelesen habe. Alice Munro hat recht, es gibt Szenen, die haben sich bereits eingebrannt, und eigentlich müsste man das Buch sofort von vorn beginnen.

Wer noch eine fundierte Kritik lesen möchte, dem empfehle ich die Besprechung von Thomas Mellon in der New York Times. Auch wenn Mellon die Unebenheiten des Romans wahrnimmt, kommt er zu einem Ergebnis, das sich ein Autor nicht wertschätzender wünschen kann:

A month ago, the fiction of Alistair MacLeod was entirely unknown to me. The 64-year-old Canadian writer has published just three books, and “No Great Mischief,“ his only novel, is the first of them to be widely available in the United States. Having spent the last few weeks reading, in avid succession, volumes that his Canadian devotees have been given after long intervals of anticipation, I can report that MacLeod’s world of Cape Breton — with its Scottish fishermen and their displaced heirs, the miners and young professionals it has mournfully sent to the rest of the nation — has become a permanent part of my own inner library.

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Anthony Ray Hinton: The Sun Does Shine (2018)

Bevor sich alle fragen, ob Buchpost nun zu einem reinen Fotoblog mutiert, wird es Zeit, die Sommerpause für beendet zu erklären und für eine Besprechung, doch wie soll man dieser Autobiografie gerecht werden? Rasch und ungeplant in einer Flughafenbuchhandlung erstanden und dann nach dem Lesen Bestürzung und Bewunderung. Doch von vorne:

1985 wurden zwei Mitarbeiter von Fastfood-Restaurants bei Raubüberfällen in Alabama erschossen, ein drittes Opfer überlebte und identifizierte den Afroamerikaner Anthony Ray Hinton (*1956) anhand von Fotos als den Täter. Indizien oder Zeugen gab es nicht. Eine Zeugenaussage war gelogen, das Foto bei der Identifizierung durch das Opfer bereits als Täterfoto markiert.

Hinton bekommt einen schlecht bezahlten und unfähigen Pflichtverteidiger an die Seite gestellt, dem es gleichgültig ist, ob Hinton schuldig ist oder nicht. Der vom Verteidiger bestellte Gutachter, der beurteilen soll, ob es sich bei der alten Waffe von Hintons Mutter um die Tatwaffe handelt, ist auf einem Auge blind und kann das Mikroskop nicht richtig bedienen. Eine Katastrophe, die der Staatsanwalt im Prozess weidlich auskostet.

Trotz seines Alibis, er war zur fraglichen Zeit des dritten Überfalls an der Arbeit, bei der man ein- und auschecken musste, wird Hinton zur Todesstrafe verurteilt, da es sich bei der Waffe seiner Mutter definitiv um die Tatwaffe handele. Er verbringt die nächsten 29 Jahre in der Todeszelle im Gefängnis William C. Holman Correctional Facility.

Obwohl Anwälte der Equal Justice Initiative 2002 schließlich nachweisen können, dass Hinton unschuldig ist, FBI-Experten zweifelsfrei nachweisen, dass die Schüsse aus einer anderen Waffe abgefeuert wurden und sein erster Prozess eine einzige Abfolge von Fehlern der Verteidigung war, weigert sich der Staat Alabama, den neuen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen, da dies den Steuerzahler nur unnötig Geld kosten würde.

Noch in einem 2009 veröffentlichten Buch faselt der inzwischen verstorbene Staatsanwalt McGregor davon, wie sehr Hinton „just radiated guilt and pure evil“.

Erst 2015, nachdem Bryan Stevenson und sein Team von der EJI 16 Jahre dafür gearbeitet haben, Hintons Unschuld zu beweisen, gelangt der Fall vor den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Hinton kann nach fast 30 Jahren das Gefängnis als freier Mann verlassen.

Dabei verschweigt er nicht, dass das Leben im Knast ihn gezeichnet hat. Noch lange nach seiner Entlassung wacht er morgens um drei Uhr auf, weil man dann im Gefängnis Frühstück bekam. Er fühlt sich anfangs in Räumen, die größer als seine Zelle sind, unwohl. Und jeden Tag ruft er mehrmals Freunde an, sammelt Quittungen, verschafft sich sozusagen Alibis, denn die Furcht, grundlos von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben gerissen zu werden, hat sich tief in ihn eingegraben. Diejenigen, die ihn 1985 sterben lassen wollten, sind natürlich über seine Freilassung unglücklich und halten sie für grundfalsch. Von den an dem Fehlurteil Beteiligten hat sich niemand je bei ihm entschuldigt. Eine finanzielle Entschädigung hat er bis jetzt nicht bekommen.

In diesem Buch, das er zusammen mit Lara Love Hardin geschrieben hat, erzählt er auf hinreißende Weise von seiner Jugend, der engen Beziehung zu seiner Mutter und deren christlichem Glauben und von seinem besten Kumpel Lester, der ihn schließlich fast dreißig Jahre lang jeden Monat im Gefängnis besuchen wird und der sich um Hintons Mutter kümmern wird, als wäre es seine eigene.

Wir lesen, wie eklatante Unfähigkeit und Rassismus sich auch strukturell in der Rechtsprechung austoben dürfen, wie ihm Anklagevertreter ganz unverhohlen sagen, dass es ihnen egal sei, ob er schuldig ist oder nicht, Hauptsache, es gäbe wieder einen N… weniger auf Alabamas Straßen. Einer droht ihm, ihn im Falle einer Freilassung persönlich am Gefängniseingang abzuknallen.

Und Hinton erzählt vom Leben im Gefängnis, von den Demütigungen und Schikanen einzelner Wächter, den seltsamen Freundschaften, die sich bilden, z. B. mit dem ehemaligen KKK-Mitglied Henry Hays, den im Sommer unerträglich heißen Zellen, von seiner Idee eines Buchklubs und dem Geruch von Menschenfleisch, wenn alle riechen können, dass wieder einer auf dem elektrischen Stuhl gestorben ist. Und auf welche Art und Weise die Männer einander das Beileid aussprechen, wenn einer von ihnen einen Angehörigen verloren hat. Und von der Sehnsucht nach seiner Mutter.

Dabei verhehlt er nicht, dass viele der Männer grauenhafte Verbrechen begangen haben, manche sind Psychopathen und andere wiederum geistig behindert.

Natürlich schildert das Buch auch den juristischen Kampf um seine Unschuld, ohne die Organisation von Bryan Stevenson hätte er Holman niemals lebend verlassen, wobei für den juristischen Laien vielleicht ein paar Hintergrundinformationen hilfreich gewesen wären.

Doch vor allem erzählt Hinton von seinem täglichen Kampf darum, im Gefängnis nicht innerlich zu sterben und der Verlockung des Selbstmords nicht zu erliegen. Mehrere Jahre dauert es, bis er zu der Einsicht kommt, dass er selbst in seiner engen und widerlichen Zelle Wahlmöglichkeiten hat.

I was on death row not by my own choice, but I had made the choice to spend the last three years thinking about killing McGregor and thinking about killing myself. Despair was a choice. Hatred was a choice. Anger was a choice. I still had choices, and that knowledge rocked me. I may not have had as many as Lester had, but I still had some choices. I could choose to give up or to hang on. Hope was a choice. Faith was a choice. And more than anything, love was a choice. Compassion was a choice. (S. 115)

Das ist die Nacht, in der er anfängt, Anteil am Leben der anderen Insassen und Wärter zu nehmen, Empathie, Humor und Mitgefühl zu zeigen. Er kann wieder – manchmal auch unter Tränen – Witze machen und darf schließlich sogar den Wärtern öfter was Leckeres kochen.

Und so verrückt das klingt, es ist ein verstörendes Buch, aber von großer Wärme, Stärke und manchmal auch Witz durchzogen. Eine Liebeserklärung an seine Mutter, die Frau mit den klaren Ansagen, die ihm gezeigt hat, was es bedeutet, bedingungslos geliebt zu werden, und an seinen besten Freund Lester, seinen Verteidiger und späteren Freund Bryan Stevenson und – falls man das überhaupt noch erwähnen muss – natürlich ein Plädoyer gegen die Todesstrafe und eine Geschichte, die uns viel über den Rassismus in Amerika erzählt.

Hinton ist laut Wikipedia der 152. Mensch, der seit 1973 in Amerika nachweislich unschuldig zum Tode verurteilt worden ist.

Er hat sich entschlossen, denjenigen, die ihm 30 Jahre seines Lebens gestohlen haben, zu vergeben.

Hier gibt es noch einen Bericht im Guardian.

 

Fundstück von J. Jefferson Farjeon

Der Krimi Seven Dead von Joseph Jefferson Farjeon, erschienen 1939 und 2017 in der Reihe der British Library Crime Classics neu aufgelegt, macht einfach Spaß.  Schon mit den ersten Sätzen hatte mich der Autor am Haken:

This is not Ted Lyte’s story. He merely had the excessive misfortune to come into it, and to remain in it longer than he wanted. Had he adopted Cardinal Wolsey’s advice and flung away ambition, continuing his illegal acts to the petty pilfering and pickpocketing at which he was fairly expert, he would have spared himself on this historic Saturday morning the most horrible moment of his life. The moment was so horrible that it deprived him temporarily of his senses. But he was not a prophet; all he could predict of the future was the next instant, and that often wrongly; and the open gate, with the glimpse beyond of the shuttered window tempted him.

Leider hat die Logik des Plots fußballfeldgroße Löcher, doch da der Autor schreiben konnte, die Dialoge vergnüglich und die Charaktere nett ausgearbeitet sind, bleibt man als Leser dabei, ohne sich allzu sehr zu grämen, wie abgrundtief hanebüchen die Auflösung ist.

 

Neil Ansell: Deep Country (2011)

Neil Ansell, inzwischen BBC-Journalist und Schriftsteller, bekommt, als er 30 Jahre alt ist, von Freunden das Angebot, spottgünstig deren Cottage zu mieten, das in den abgelegenen Hügeln von Wales liegt. Reiseerfahren und naturverbunden verliebt er sich in die traumhaft schön gelegene Luxusimmobilie mit weiter Aussicht, dafür ohne Strom, Gas und ohne Wasseranschluss. Der Weg zum Briefkasten an der nächsten Straße ist jedesmal ein ausgewachsener Spaziergang.

Das Wasser muss also herbeigetragen, der Herd mit dem selbst geschlagenen Holz befeuert werden und scheinbar simple Tätigkeiten wie eine Tasse Tee kochen dauern auf einmal um ein Vielfaches länger als in der Zivilisation.

Er legt sich ein Gärtchen an, übernimmt hin und wieder Jobs für die Naturschutzbehörde, hilft beim Bauern aus, marschiert auch regelmäßig in das mehrere Stunden entfernt liegende Dorf, um seine Vorräte aufzufüllen, und bekommt ab und an Besuch von Freunden. Doch im Wesentlichen widmet er sich der Selbstversorgung, wandert stundenlang und manchmal auch tagelang durch die Gegend und beobachtet Tiere und Pflanzen. Besonders angetan haben es ihm die Vögel.

Aus den Notizen dieser fünf Jahre entsteht später sein Buch, das von Ulrike Kretschmer übersetzt wurde und im Deutschen unter dem Titel Tief im Land: Meine Jahre in den Wäldern von Wales erschienen ist.

Wer nun glaubt, dass der Autor diese Zeit als eine intensive Zeit der Reflexion schildert und uns an seinen Erkenntnissen teilhaben lässt, der wird enttäuscht. Es ist ein selten uneitles Buch und Ansell sagt selbst, dass ihn diese Jahre eher von allem Kreiseln um die eigene Person weggeführt haben:

This was the pattern of my days, a simple life led by natural rhythms rather than the requirements and expectations of others. Imagine being given the opportunity to take time out of your life, for five whole years. Free of social obligations, free of work commitments. Think how well you would get to know yourself, all that time to consider your past and the choices you had made, to focus on your personal development, to know yourself through and through, to work out your goals in life your true ambitions.

None of this happened, not to me. Perhaps for someone else it would have been different. Any insight I have gained has been the result of later reflection. Solitude did not breed introspection, quite the reverse. My days were spent outside, immersed in nature, watching. […] My attention was constantly focused away from myself and on the natural world around me. And my nights were spent sitting in front of the log fire, aimlessly turning a log from time to time and staring at the flickering flames. I would not be thinking of the day just gone; the day was done. And I would not be planning tomorrow; tomorrow would take care of itself. The silence without was reflected by a growing silence within. Any interior monologue quietened to a whisper, then faded away entirely. (S. 44)

Und so folgen wir ihm auf seinen Spaziergängen und Wanderungen und erfahren, warum er sich – wenn auch sehr, sehr widerwillig – kurz vor Ende seines Aufenthalts doch noch ans Telefonnetz anschließen lässt.

Mir persönlich waren es irgendwann der Vögelbeobachtungen gar zu viele und ich hätte lieber mehr über ihn, seine Vorgeschichte und auch die Begegnungen erfahren, die er in diesen fünf Jahren hatte – schließlich hat er dort keineswegs als Eremit gelebt. Doch es gibt auch immer wieder Passagen, in denen sein Glück und sein Staunen angesichts der ihn umgebenden Natur spürbar und erlebbar werden.

Ich kann zumindest nachvollziehen, warum das Buch sowohl die britischen Kritiker als auch viele Leser fasziniert und begeistert hat. Zum einen  entschleunigt es tatsächlich ungemein und zum anderen führt es vor Augen, wie weit entfernt von der Natur wir eigentlich leben.

Chanterelles are beautiful mushrooms, glowing apricot in colour, and many of mine were a variety tinged with a dusting of amethyst. It was like finding precious jewels shining in the leaf litter, in the darkness under the thick trees. And they are a great mushroom to pick, both for flavour and for the fact that they are completely untroubled by the mushroom flies, whose worms ruin many species of mushroom before they are big enough to eat. (S. 40)

Und obwohl ich schließlich die ornithologischen Feinheiten nur noch quergelesen habe, gab es doch einige Stellen, die ich mir markiert habe. Ich mochte Ansells Stil und seinen feindosierten Humor. Hier eine Auswahl:

One late-autumn day I opened the back door to fetch some water, and there was a young hare sat on my back step. Save for the twitching of its nose, it froze in position as if I had surprised it as it was about to knock. […] I stood there and waited for it to flush. After a while I began to doubt that it would, and squatted down to its level for a closer look, eye to eye. It stared back at me apparently unconcerned, chewing silently, with bulging eyes that were such a rich golden colour they were almost orange, with black depths like the keyhole of a door to another world. […] It seemed like a risky survival strategy, to trust in your camouflage when you are sitting on a doorstep… (S. 182)

The farmer […] had also spent every night of his life on this hillside. He had never been to England, not thirty miles away as the crow flies. He went to Cardiff once, to get his teeth fixed. Didn’t like it. (S. 54)

Nachdem der Nachwuchs eines Vogelpaares das Nest verlassen hat, nimmt Ansell das Nest mit nach Hause und nimmt es auseinander, um herauszufinden, welche Federsorten beim Nestbau verwendet wurden:

This nest was lined with around twelve hundred feathers. […] It took me all afternoon to pick through and sort them, and then I laughed at myself and wondered if I had too much time on my hands. (S. 98)

Als Haupteindruck bleibt, wie reich, schön und bunt und vielfältig die Natur ist, wenn wir denn stille wären, anhielten und uns die Zeit nähmen hinzuschauen.

It is hard to do justice to the beauty of the night sky in these hills. […] If I focused on the space between any two stars, more stars would appear to fill that space, and then still more to fill the spaces between them. The night sky became not a sprinkling of stars against a black backdrop, but a wash of unbroken light. […] I would step outside on a clear night and it would make me gasp. I could never get used to it. And deep in summer, when the Perseids came, there would be shooting stars every few seconds all night long. Drifting through space since time immemorial, then suddenly burning up in a blaze of glory, witnessed by no one save for me, by sheer chance looking at the right spot in the sky at the perfect moment. (S. 127)

Wer zumindest ansatzweise mal sehen möchte, wie das Cottage aussieht, in dem Ansell fünf Jahre gelebt hat, schaue sich dieses Video an.

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Robert Cedric Sherriff: The Fortnight in September (1931)

Ein Buch, das sich auf leisen Sohlen ins LeserInnenherz schleicht, eines dieser auf den ersten Blick unspektaktulären, ja fast biederen Bücher, die dann ihren Platz im Regal der Lieblingsromane finden. Doch von vorn:

On rainy days, when the clouds drove across on a westerly wind, the signs of fine weather came from over the Railway Embankment at the bottom of the garden. Many a time, when Mrs. Stevens specially wanted it to clear up, she would look round the corner of the side door and search along the horizon of Railway Embankment for a streak of lighter sky.

Mr. Stevens, der aus einfachen Verhältnissen kommt und sich vom Laufburschen zum Angestellten hochgearbeitet hat, verbringt schon seit 20 Jahren seinen Jahresurlaub an der Küste. Immer im September fahren er, seine Frau und die drei Kinder für 14 Tage in die gleiche Pension ins britische Seebad Bognor.  Also tägliche Spaziergänge auf der Strandpromenade, Musikpavillions, Jahrmarktsrummel, vormittägliches Baden, gutes Essen, das ganze Programm.

Und bei einem dieser Familienurlaube und bei den dazu notwendigen Vorbereitungen – schließlich muss der Kanarienvogel bei der Nachbarin untergebracht, die Versorgung der Katze sichergestellt und der Gepäcktransport zum Bahnhof organisiert werden – begleitet der Leser die Stevens.

Mrs. Stevens wirkt die ganze Zeit ängstlich und in sich gekehrt, schon eine belebte U-Bahn-Station ist ihr ein Graus. Sie gewinnt im Laufe des Buches am wenigsten Kontur. Noch nicht einmal ihre Familie weiß, dass ihr die abendliche Stunde im Urlaub die liebste ist, die sie nach dem Abendessen allein mit ihrem – natürlich rein medizinischen – Glas Portwein und einer Handarbeit verbringt.

Und während der zehnjährige Ernie nach einem langen Strandtag schon tief und fest schläft, bummeln die beiden wesentlich älteren Geschwister Dick und Mary noch ein wenig durch den Küstenort und ihr Mann trinkt ein gepflegtes Bierchen in seinem Lieblingspub.

Mr. Stevens ist ein liebevoller Familienvater, zwar ein wenig pedantisch und alles akribisch planend, dabei aber immer daran interessiert, dass jedes Familienmitglied im Urlaub seinen Interessen nachgehen kann, und so verfügt er, dass alle zwei Tage jeder seinem eigenen Tagesprogramm folgt, damit man sich nicht gegenseitig auf die Nerven fällt und, wenn die Familie wieder zusammenkommt, auch etwas zu erzählen hat.

Aber weder er noch seine Frau wissen, was Dick und Mary umtreibt. Die beiden sind seit kurzem berufstätig, wohnen aber noch zu Hause, doch alle ahnen, dass die Zeit der gemeinsamen Familienurlaube in absehbarer Zeit zu Ende gehen wird. Dick ist todunglücklich in seiner Stellung, die er noch nicht lange innehat, doch wagt er nicht, dies seinen Eltern zu gestehen, da sein Vater so stolz ist, ihm diese Stelle verschafft zu haben. Also nutzt Dick den Urlaub auch zum Nachdenken über seine Zukunft.

Klingt das unspektakulär? Fast ein wenig hausbacken? Ja, sicherlich, und doch hat das Buch – erschienen in der elegant-grauen Reihe der Persephone Books – einen ganz eigenen Reiz.

Der Erzähler lässt seinen Figuren ihre Durchschnittlichkeit, ihre Begrenzung und manchmal ist es auch des Auktorialen ein wenig zu viel. Dennoch mochte ich sehr, wie die unbändige, fast naive Freude an 14 Tagen Urlaubsfreiheit spürbar und nachvollziehbar wurde. Wie sehr die fünf diese Zeit als Familie genossen und alle kleinen und großen Aufregungen gemeinsam gemeistert und besprochen haben.

Der Horizont der „kleinen Leute“ mag eng sein, so wie metaphorisch schon der Eisenbahndamm am Ende des Gartens die Sicht versperrt, und die Stevens mögen sich durchaus durch Reichtum und selbstsicheres Auftreten anderer beeindrucken und auch einschüchtern lassen; dennoch zeigt der Erzähler ohne falsche Sentimentaliät, dass diese Menschen Arroganz und moralische Leere durchschauen und stolz auf ihre Familie sind.

Mr. Stevens hat z. B. das Ritual, einen Tag im Urlaub ganz allein eine lange Wanderung zu unternehmen, in der er seine Vergangenheit, seine Ehe und im Besonderen das vergangene Jahr Revue passieren lässt. Das richtet ihn wieder aus und versöhnt ihn mit Enttäuschungen und geplatzten Hoffnungen – und macht ihn den LeserInnen sehr sympathisch.

Der Haupteindruck, der von der Lektüre zurückbleibt, ist der, dass Sherriff ein freundliches Buch geschrieben hat. Nicht platt, keine heile Welt, vielleicht auch keine Weltliteratur, aber ein freundliches, ein menschenfreundliches Buch.

Und letztendlich gilt es doch für uns alle, was Mr. Stevens am letzten Abend  durch den Kopf geht:

The first evening came back to him very clearly as he sat in the armchair to finish his pipe before going up to bed. He had known on that first night how quickly the holiday would slip away, and had pictured himself as he would be sitting on the last evening, looking back with mingled pleasure and sadness. (S. 319)

Das Buch war damals ein unglaublicher Überraschungserfolg, wurde auch von der Kritik begeistert aufgenommen, in mehrere Sprachen übersetzt und erschien 1933 in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel Badereise im September.

Walter Benjamin hat damals den Roman besprochen und sah in ihm besonders die Fähigkeit der „kleinen Leute“ verkörpert, sich ihren Alltag durch kleine Fluchten und Tagträumereien erträglich zu machen.

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Jim Powell: Things we nearly knew (2018)

Arlene came from Pittsburgh. At least, that’s my provisional opinion. It’s one of the many things about Arlene that remain uncertain. I asked her a few times, like we all did, and never got an answer. Not a direct answer. ‚I come from somewhere out there;‘ she said on one occasion. Don’t we all?

So beginnt ein ganz berückender Roman, der mir vor allem auf Grund der Stimme des Ich-Erzählers noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Der Erzähler, um die 50, hat aus Gründen, die er uns später erzählen wird, irgendwann seinen Job als Lehrer aufgegeben und betreibt nun schon seit 15 Jahren zusammen mit seiner Frau Marcie eine Bar in ihrer kleinen amerikanischen Heimatstadt. Da die beiden im hinteren Teil des Gebäudes ihre Wohnung haben, kreist quasi ihr ganzes Leben um die Bar und ihre Gäste, obwohl sie in der Stadt durchaus noch alte Freunde haben.

I tend to put customers into boxes. There are the regulars, the ones that turn up several times a week, the ones that think this entitles them to a piece of us […]. There are the semi-regulars, the ones I see a few times each month, whose names I know, if I can remember them, whose stories I know, if I don’t confuse them with someone else’s. Then there are the strangers, the ones who turn up once or twice and are gone in the wind. These are the evening customers I’m talking about. […] The ones who belong in a box are Marcie and me. We’re the ones who live here, who work here, who spend our lives in the place. Others flow in and out, at times of their own choosing, with no respect for boxes and labels. The most loyal of them begin as strangers. You see them for the first time with no idea if you’ll see them again. Later, when you feel you’ve known them your entire life, you forget that you once met them for the first time, and you forget what impression they made on you, or whether you liked them. You like them now, that’s for sure, or at least you go out of your way to notice their good points. (S. 10)

Doch den Abend, an dem Arlene, eine attraktive Vierzigjährige, das erste Mal die Bar betritt, wird der namenlose Ich-Erzähler nicht so rasch vergessen. Arlene ist auf der Suche nach einem Jack, weitere Details zu ihrem Leben lassen sich ihr auch in den nächsten Monaten allerdings nur spärlich entlocken.

I can’t deny I was soft on her. It wasn’t just that she was good-looking, and sexy as hell. There was some other quality to Arlene that made me feel protective toward her. I don’t think I was alone in that. I think every guy felt the same way. Arlene was someone who invited protection, then declined it when it was offered. Not that it was on offer from me. There are lines and barriers, and it’s as well to respect them. Still, Marcie sensed my feelings that night. (S. 6)

Marcie kommentiert das Interesse ihres Mannes an der immer so heimatlos-verloren wirkenden Arlene freundlich-spöttisch, ohne sich dabei Sorgen um ihre Ehe zu machen.

We allow each other our fantasies, such as they are, and don’t feel threatened by them. Jealousy doesn’t come into it. Besides, Arlene was no more likely to want me than the young men with big muscles and tight sweatshirts were likely to want Marie. Our feet are on the ground. We know our market value. Neither of us has grabbed a bargain, but we’ve each got good value. (S. 7)

In den folgenden neun Monaten entfaltet sich, unter anderem durch die Rückkehr eines stadtbekannten Womanizers, um Arlene ein Gewirr an Fragen, Beziehungen, Gesprächen, Ereignissen und Mutmaßungen, die Marcie und ihr Mann abends noch einmal Revue passieren lassen. Überhaupt mochte ich, wie diese beiden gemeinsam durchs Leben gehen. Nicht unbedingt die große Hollywoodleidenschaft, aber unglaublich einander zugewandt, einander ergänzend, einander bedürfend.

Dabei wird es für die beiden zunehmend schwieriger, emotionalen Abstand zu wahren. Die Geschehnisse rücken auch ihnen näher. Und der Erzähler, der so abgeklärt freundlich auf seine Gäste und seine eigene Ehe schaut, wird am Ende Dinge wissen, die er nie hatte wissen sollen.

Und dazu diese lakonische Ausdrucksweise.

I’ve not said much about Davy till now. The first time he came into the bar, he was unconscious. I’ve known customers who arrived vertical and left horizontal. This was the only time it happened the other way around. (S. 35)

Ein feines Buch, in dem die durchaus dramatischen Ereignisse weniger wichtig sind, als dieser hinreißende, leicht melancholische Erzähler und Alltagsphilosoph, der so gerne mehr über Arlene erfahren hätte und der mir meinetwegen auch das Telefonbuch hätte erzählen können.

The way we behave as kids is most truly how we are. Everything that comes after is a disguise, or an effort. It’s a compromise between the person we are and the person the world needs us to be. When you’ve known someone as a child, you’ve known them from before the time they learned to dissemble. (S. 60)

Bei so einem Roman ist es umso verwunderlicher, dass der Autor das letzte Kapitel, überflüssig und melodramatisch bis zum dorthinaus, wie aus einer sehr, sehr schlechten Schreibschule, nicht einfach weggelassen hat. Aber beim Wiederlesen kann ich ja einfach rechtzeitig aufhören.

In the end, we are alone. It’s how we arrive and it’s how we depart. The journey between is little more than pulling tattered fabric about us as protection from the chill of the high lonesome. I have no complaints, but somewhere I’ve been missing the point. There are so many things that aren’t right in the world, and never have been right. I was going to say; ‚And never will be right,‘ but I’m not that big a pessimist. (S. 267)

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Elizabeth Daly: Unexpected Night (1940)

Es ist verhängnisvoll: Bei Reihen bin ich eine zwanghafte Immer-von-vorn-anfangen-Leserin – und so habe ich wieder einmal Band 1 einer älteren Krimireihe von Elizabeth Daly aus dem Regal gefischt. Das sind unterhaltsame und spannende Krimis mit verwickelten Plots, einer feindosierten Portion Humor und Charakteren, denen man in den Folgebänden gern wiederbegegnet.

Auch beim zweiten Lesen macht es Spaß, Henry Gamadge, einem Experten für Handschriften und alte Bücher, bei seinen unfreiwilligen Ausflügen in die kriminellen Irrungen und Kirrungen in und um  New York zu folgen. Die Geschichten spielen in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, vorzugsweise im familiären Umfeld, vor allem wenn bei Erbschaften viel Geld zu erwarten ist.

Der erste Band Unexpected Night (1940) beginnt mit den Sätzen:

Pine trunks in a double row started out of the mist as the headlights caught them, opened to receive the car, passed like an endless screen, and vanished. The girl on the back seat withdrew her head from the open window. „We’ll never get there at this rate,“ she said. „We’re crawling.“

The older woman sat far back in her corner, a figure of exhausted elegance. She said, keeping her voice low: „In this fog, I don’t think it would be safe to hurry.“

Gamadge besucht im Sommer 1939 eine befreundete Familie im Sommerurlaub in Maine, Colonel Barclay, dessen Ehefrau Lulu und ihren Sohn. Und während man sich den Abend mit Kartenspielen vertreibt und auf die Ankunft von Lulus Schwägerin und deren zwei Mündeln wartet, erzählen die Barclays, was es mit Schwägerin Eleanor und ihren zwei Schützlingen auf sich hat.

Alma und Amberley sind Geschwister und Amberley wird einen Tag später volljährig, das bedeutet, er wird ein Vermögen von einer Million Dollar erben. Doch Amberley ist todkrank und alle Anverwandten haben Angst, dass er seinen Geburtstag nicht mehr erlebt, dann würde nämlich das gesamte Vermögen irgendwelchen fremden Verwandten in Frankreich zufallen.

Am nächsten Morgen findet man Amberleys Leiche am Fuße der Klippen, ganz in der Nähe des Hotels, vermutlich eines natürlichen Todes gestorben, doch was wollte Amberley mitten in der Nacht an den Klippen?

Gamadge wird von dem zuständigen Kommisar Mitchell gebeten, ihn bei den Untersuchungen zu unterstützen. Und so kommt Gamadge eher unfreiwillig zu seinem ersten Fall. Er ist Anfang dreißig, finanziell unabhängig und äußerlich eher unauffällig und unscheinbar.

Mr. Henry Gamadge […] wore clothes of excellent material and cut; but he contrived, by sitting and walking in a careless and lopsided manner, to look presentable in nothing. He screwed his grey tweeds out of shape before he had worn them a week. […] People as a rule considered him a well-mannered, restful kind of young man; but if somebody happened to say something unusually outrageous or inane, he was wont to gaze upon the speaker in a wondering and somewhat disconcerting manner. (S. 6)

Gamadge hat ein Faible für Literatur, alte Handschriften und Bücher und ist – wie könnte es anders sein – ein intelligenter und aufmerksamer Zuhörer.

He did not object to his own society. (Deadly Nightshade, S. 2)

Die Schauplätze, eine Straße im Nebel, ein Hotel, ein Dorf, das eine Schauspielertruppe beherbergt, sind hier nicht bloße Staffage. Die Handlungsfäden fließen am Ende alle natürlich zusammen und es gibt kein weißes Kaninchen, das am Ende aus dem Hut gezaubert wird. Ich habe – erfolglos – fröhlich mitgerätselt. Und in einem der letzten Kapitel, als dem bis dahin ahnungslosen Familienanwalt erzählt wird, was sich zugetragen hat, läuft Daly sogar zu echtem Screwball Comedy-Format auf.

Mein momentaner Lieblingssatz aus Band 3 (insgesamt gibt es 16 Bände) fällt, als Henry zum zweiten Mal eine junge Frau trifft, in die er sich schon beim ersten Mal verliebt hat:

They exchanged a long, friendly gaze.

Ich finde es unerhört, dass es von dieser Krimireihe keine hübschen Schwarzweiß-Verfilmungen gibt.

Elizabeth Daly lebte übrigens von 1878 bis 1967. Es heißt, sie sei die Lieblings-Krimischriftstellerin Agatha Christies gewesen.

John Bude: The Cornish Coast Murder (1935)

The Reverend Dodd, Vicar of St. Michael’s-on-the-Cliff, stood at the window of his comfortable bachelor study looking out into the night. It was raining fitfully, and gusts of wind from off the Atlantic rattled the window-frames and soughed dismally among the the sprinkling of gaunt pines which surrounded the Vicarage. It was a threatening night. No moon. But a lowering bank of cloud rested far away on the horizon of the sea, dark against the departing daylight.

Noch einen alten Cozy Crime gelesen. Unter dem Pseudonym John Bude veröffentliche Ernest Carpenter Elmore 1935 seinen ersten Krimi The Cornish Coast Murder.

Und wir haben all die Ingredienzien, die zu einem guten Cozy Crime gehören. Eine stürmische Gewitternacht, in der unter dem Schutz des Donnergrollens ein unsympathischer Landbesitzer erschossen wird, einen Detektiv, der immer, wenn er meint, den Mörder zweifelsfrei identifiziert zu haben, von neuen Indizien gezwungen wird, seine Ermittlungen von vorn zu beginnen. Und den freundlichen, dem guten Essen zugeneigten Reverend Dodd, der letztlich dem überforderten Detektiv zur Seite springt.

Die Handlungsstränge sind nett, nicht zu überdreht und werden gemächlich entwirrt. Ein Pluspunkt war, darauf weist auch Martin Edwards in seinem Vorwort der Neuauflage in der Reihe der British Library Crime Classics hin, der sorgfältig ausgearbeitete Schauplatz an der Küste.

Mein einziger Kritikpunkt ist, dass Bude im Verlauf der Handlung leider über weite Strecken den sympathischen Reverend Dodd und seinen Freund Dr. Pendrill etwas aus den Augen verliert, die er uns doch im ersten Kapitel so reizend vorstellt. Sie haben nämlich ein festes Montagabendritual. Jede Woche bestellt einer der beiden einige Kriminalromane von einer Leihbücherei, die sie dann während der Woche lesen. Der Karton mit den Büchern wird nach einem guten Abendessen im Arbeitszimmer des Reverend feierlich geöffnet.

With a leisurely hand, as if wishing to prolong the pleasures of anticipation, the Vicar cut the string with which the crate was tied and prised up the lid. Nestling deep in a padding of brown paper were two neat piles of vividly coloured books. One by one the Vicar drew them out, inspected the titles, made a comment and placed the books on the table beside his chair.

‚A very catholic choice,‘ he concluded. ‚Let’s see now – an Edgar Wallace – quite right, Pendrill, I hadn’t read that one. What a memory, my dear chap! The new J. S. Fletcher. Excellent. A Farjeon, a Dorothy L. Sayers and a Freeman Wills-Croft. And my old friend, my very dear old friend, Mrs. Agatha Christie. New adventures of that illimitable chap Poirot, I hope. I must congratulate you, Pendrill. You’ve run the whole gamut of crime, mystery, thrills and detection in six volumes!‘ (S. 15)

Stattdessen folgen wir viele Kapitel lang einem eher uninteressanten Inspector. Erst am Ende hat Reverend Dodd dann seinen großen Auftritt.

Und im letzten Kapitel – eine Woche nach dem Mord – sehen wir Dodd und seinen Freund, Doktor Pendrill, wieder. Nach einem guten Essen fachsimpeln sie im Pfarrhaus über den Fall. Vor sich – wie seit vielen Jahren – die neue Kiste mit den nächsten Krimis.

Doch diesmal ist die Stimmung des Reverend eher verhalten.

‚Really, Pendrill. Somehow … dear me … I feel that I never want to read another crime story as long as I live. I seem to have lost my zest for a good mystery. It’s strange how contact with reality kills one’s appreciation of the imaginary. No, my dear fellow, I’ll never get back my enthusiasm for thrillers. I’ve decided to devote my energies for worthier problems.‘ (S. 285)

Alles in allem kann ich mich der Einschätzung von Martin Edwards nur anschließen:

Bude’s aims were not as lofty as Sayer’s; his focus was on producing light entertainment, and although his work does not rank with Sayers’s for literary style or with Agatha Christie’s for complexity of plot, it certainly does not deserve the neglect into which it has fallen. (S. 9)

George Gissing: Die überzähligen Frauen (OA 1893)

‚Miss Royston war durchaus intelligent, das gebe ich zu; aber mir war schon immer klar, daß sie niemals das werden würde, was du hofftest. Ihre gesamte Freizeit widmete sie der Lektüre von Romanen. Wenn man sämtliche Romanschriftsteller erdrosseln und ins Meer werfen könnte, bestünde vielleicht eine gewisse Aussicht, die Frauen reformieren zu können. Das Mädchen triefte vor Sentimentalität, wie beinahe jede Frau, die intelligent genug ist, sogenannte ‚gute‘ Literatur zu lesen, aber nicht intelligent genug, zu durchschauen, was daran schädlich ist. Liebe – Liebe – Liebe; immer das gleiche eintönige, gewöhnliche Zeug. Gibt es etwas Gewöhnlicheres als das Ideal der Romanciers? Sie stellen das Leben nicht so dar, wie es wirklich ist; das wäre für ihre Leser zu langweilig. Wieviele Männer und Frauen verlieben sich im wirklichen Leben? Nicht mal einer von zehntausend, davon bin ich überzeugt. Nicht ein einziges von zehntausend Ehepaaren hat jemals füreinander empfunden, was zwei oder drei Paare in jedem Roman füreinander empfinden. Es gibt sehr wohl die geschlechtliche Anziehung, aber das ist etwas völlig anderes; darüber wagen die Romanschriftsteller nicht zu reden. Diese jämmerlichen Tröpfe wagen es nicht, jene eine Wahrheit auszusprechen, die von Nutzen wäre. Die Folge ist, daß eine Frau sich dann edel und großartig dünkt, wenn sie sich dem Tier am ähnlichsten verhält. Ich möchte wetten, daß diese Miss Royston irgendeine idiotische Romanheldin im Kopf hatte, als sie in ihr Verderben rannte.

So schimpft Rhoda Nunn, eine der emanzipierten Frauen in George Gissings (1857 – 1903) wichtigem Werk Die überzähligen Frauen.

Die Handlung spielt hauptsächlich im Jahre 1888, also während einer Zeit, wo die Versorgung alleinstehender Frauen nicht mehr von der Großfamilie übernommen werden konnte, aber die Frauen trotzdem noch nicht genügend auf ihre berufliche Selbstständigkeit vorbereitet waren.

Es geht um die Schicksale von fünf Frauen aus der Mittelschicht, von denen sich vier bereits seit Kindheitstagen kennen und deren Wege sich in London kreuzen. Alle fünf gehören zu den „odd women“, d. h. den überzähligen, ja geradezu überflüssigen Frauen, nämlich zu denen, die ihren Unterhalt selbst bestreiten müssen, da sie aus den verschiedensten Gründen unverheiratet geblieben sind.

Da gibt es dann die einen, die wie Rhoda Nunn und ihre Freundin Miss Barfoot nicht länger gewillt sind, die Ehelosigkeit als einen Makel zu sehen. Stattdessen betreiben sie eine Schule, an der junge Mädchen eine Büro-Ausbildung absolvieren können, um so nicht länger ausbeuterische, ungesunde und unzureichend bezahlte Tätigkeiten im Einzelhandel oder in den Fabriken annehmen zu müssen.

Gleichzeitig soll sich so das Spektrum der für Frauen zugänglichen Ausbildungsberufe erweitern, denn schließlich ist nicht jede Frau als Gouvernante oder Krankenschwester geeignet.

Aber wußten Sie, daß es in diesem unserem glücklichen Land eine halbe Million mehr Frauen als Männer gibt? […] So ungefähr schätzt man jedenfalls. So viele überzählige Frauen, die niemals einen Partner finden werden. Pessimisten halten ihr Dasein für nutzlos, vertan und vergeudet. Ich natürlich – die ich selbst eine von diesen Frauen bin – sehe das anders. Ich halte sie für eine große ‚Reserveeinheit‘. […] Zugegeben, sie sind noch nicht alle ausgebildet – davon sind wir noch weit entfernt. Ich möchte mithelfen … die Reserve auszubilden. (S. 50/51)

Im Gegensatz zu Rhoda und Miss Barfoot stehen die drei verarmten Schwestern der Madden-Familie. Monica, die jüngste und hübscheste der Schwestern, eine Ladenangestellte, sucht ihr Glück in der Heirat mit einem wohlhabenden älteren Mann, doch es dauert nicht lange, bis sie versteht, dass die finanzielle Absicherung sie kein bisschen glücklicher gemacht hat.

Die älteste, Alice, versucht mehr schlecht als recht, sich als Gouvernante über Wasser zu halten, was ihrer Gesundheit wenig zuträglich ist. Virginia hingegen sucht ihre Zuflucht in billigen Romanen und – von ihren Schwestern lange unbemerkt – in heimlicher Trinkerei.

Eigentlich hätten das spannende 400 Seiten über einen grundlegenden gesellschaftlichen Umbruch werden können, aber ich wünschte, Gissing hätte für die Niederschrift mehr als sieben Wochen Zeit gehabt, damit er den Roman insgesamt noch einmal kräftig hätte überarbeiten können.

Zu sehr verkörpern die Frauen einzelne Ideen; besonders die selbstgerechte Rhoda Nunn neigt ganz schrecklich zu aufgeladenen kämpferischen Monologen, die sich besser als Flugblatt oder Zeitungsartikel geeignet hätten. Die Beschreibungen ihrer inneren Zerrissenheit, als sie sich unerwarteterweise verliebt, waren dann allerdings oft von großer psychologischer Feinheit.

Auch die Situation der gebildeten Männer, die oft genug keine geistig ebenbürtige Partnerin finden, wird thematisiert, wobei Rhoda Nunn nicht versäumt darauf hinzuweisen, dass es ja in der Macht der Männer läge, genau diesen bedauernswerten Umstand zu ändern.

Und bei der Schilderung von Monicas Schicksal rutscht Gissing dann – nach großartigen und glaubwürdigen Szenen – am Ende ganz ins Melodrama ab, was der Glaubwürdigkeit nicht gerade zuträglich ist.

Gissing schrieb am 4. Oktober 1892 in seinem Tagebuch:

Ich habe [den Roman] sehr schnell geschrieben, aber das Schreiben war ein schwerer Kampf, so wie immer. Nicht ein Tag ohne Zanken und Lärm unten in der Küche; nicht eine Stunde, in der ich wirklich meinen Seelenfrieden hatte. Ein bitterer Kampf. (aus dem Nachwort von Wulfhard Stahl der von Karina Of übersetzten Ausgabe des Insel Verlages 1997, S. 409)

Aber vielleicht wäre es jetzt interessant, mehr über Gissing und die autobiografischen Anleihen in seinem Roman zu erfahren. An einer Stelle bezeichnet eine der männlichen Hauptfiguren Mädchen aus der Arbeiterschicht als ungebildet und verachtenswert, als „nichts weiter als ein Klumpen menschlichen Fleisches“ (S. 130). Gissing selbst flog vom College, weil er aus Liebe zu der Prostituierten „Nell“, die er später auch heiraten sollte, Mitstudenten bestohlen hatte.

Und später verfällt Nell dem Alkohol, so wie Gissings Romanfigur Virginia Madden.

Mit dem Titel Die überzähligen Frauen bezieht sich Gissing vermutlich auf den Essay Why are Women redundant? von William Rathbone Greg.

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Molly Thynne: The Draycott Murder Mystery (1928)

The wind swept down the crooked main street of the little village of Keys with a shriek that made those fortunate inhabitants who had nothing to tempt them from their warm firesides draw their chairs closer and speculate as to the number of trees that would be found blown down on the morrow.

Nach den letzten eher schwergewichtigen Büchern war mir nach Cosy Crime zumute und der neu aufgelegte erste von insgesamt sechs Krimis der britischen Autorin Mary „Molly“ Thynne (1881 – 1950) war da ein richtig guter Griff.

Der junge John Leslie kommt abends im Sturm zu seinem Farmhaus zurück, nur um dort zu seinem Entsetzen eine schöne Unbekannte im Wohnzimmer zu finden, offensichtlich erschossen. Da die Polizei die in seinem Schlafzimmer gefundene Waffe für die Tatwaffe hält und er kein Alibi vorweisen kann, muss er damit rechnen, als Täter zum Tode verurteilt zu werden.

Doch seine Verlobte, die patente Cynthia, und alle Freunde des jungen Paares, wie der kürzlich aus Indien zurückgekehrte Fayre, der väterliche Freund Cynthias, sind von der Unschuld Johns überzeugt.  Fayre betätigt sich also notgedrungen als Hobby-Detektiv und stolpert dabei schon rasch über die ersten Ungereimtheiten. Alle sind froh, den eminenten Strafverteidiger Edward Kean und dessen schwerkranke Frau zu den Freunden zählen zu können, die nichts unversucht lassen werden, die Unschuld des jungen Mannes zu beweisen. Doch welches Urteil wird die Jury beim Prozess fällen?

Ein ganz reizendes Exemplar des Cosy Crime, und das, obwohl ich – zum ersten Mal – schon nach dem ersten Viertel den Täter zweifelsfrei identifiziert hatte. Doch die Handlung schlägt noch diverse Haken, es gibt dezenten Humor und die Charaktere sind durchaus als eigenständige Personen gezeichnet.

Eine Verfilmung wäre nett.

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Paulette Jiles: News of the World (2016)

Wichita Falls, Texas, Winter 1870

Captain Kidd laid out the Boston Morning Journal on the lectern and began to read from the article on the Fifteenth Amendment. He had been born in 1798 and the third war of his lifetime had ended five years ago and he hoped never to see another but now the news of the world aged him more than time itself. Still he stayed his rounds, even during the cold spring rains. He had  been at one time a printer but the war had taken his press and everything else, the economy of the Confederacy had fallen apart even before the surrender and so he now made his living in this drifting from one town to another in North Texas with his newspapers and journals in a waterproof portfolio and his coat collar turned up against the weather.

So lernen wir gleich mit den ersten Zeilen eine der zwei Hauptfiguren im neuesten Roman der bekannten kanadischen Autorin Paulette Jiles (*1943) kennen.

Captain Jefferson Kyle Kidd, rüstig, Anfang siebzig, verdient fünf Jahre nach Beendigung des Sezessionskrieges seinen Lebensunterhalt also damit, in kleinen Dörfern und abgelegenen Städtchen des nördlichen Texas den Menschen Nachrichten und Geschichten aus verschiedensten Zeitungen, die zum Teil sogar aus London kommen, vorzulesen.

Er hat bei seinen Lesungen auch den Wunsch, dass die Menschen wenigstens für einen Abend aus ihrem Alltag ausscheren und es genießen, aus der großen weiten Welt exotische, witzige oder wissenschaftliche Neuigkeiten auf sich wirken zu lassen.

He began to read to his audiences of far places and strange climates. Of the Esquimaux in their seal furs, the explorations of Sir John Franklin, shipwrecks on deserted isles, the long-limbed folk of the Australian Outback who were dark as mahagony and yet had blond hair and made strange music which the writer said was indescribable and which Captain Kidd longed to hear. (S. 201-202)

Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Schon der erste Satz des Romans zeigt, dass die Stimmung oft explosiv ist, denn im 15. Zusatzartikel zur Verfassung aus dem Frühjahr 1870, den Captain Kidd da vorliest, geht es um das Wahlrecht, das nun auch Farbigen und ehemaligen Sklaven nicht länger vorenthalten werden dürfe. Und so wollen manche die Lesungen in diesen unruhigen und unsicheren Zeiten nur als Anlass nehmen, den politischen Gegner an diesem Abend zu verprügeln.

Und geradezu bizarr wird es, wenn er einen Ort ganz auslassen muss, weil ihm gerade noch rechtzeitig zugetragen wird, dass die Brüder einer Familie, die nicht unbedingt zu den hellsten Kerzen auf der Torte gehören, ihm alles kurz und klein schlagen würden, wenn sie merken, dass sie selbst gar nicht in der Zeitung vorkommen.

Aus diesem etwas eintönigen und vielleicht auch einsamen Dahintreiben reißt ihn jedoch die Bitte seines Freundes, des Schwarzen Britt Johnson. Er hat es geschafft, ein weißes Mädchen, das vor vier Jahren von Kiowa-Indianern entführt worden war, aus dem Indianergebiet herauszuholen. Aber auch nur deshalb, weil die Indianer auf die Drohung reagiert haben, dass man ihnen die Kavallerie auf den Hals hetzen würde, wenn sie nicht endlich ihre weißen Gefangenen ausliefern.

Die Verwandten des Mädchens – die Familie selbst war damals bei dem Indianer-Überfall getötet worden – haben dafür bezahlt, dass jemand die kleine Johanna, inzwischen 10 Jahre alt, zu ihnen zurückbringt. Doch Britt würde nur Schererereien bekommen, würde er als Schwarzer ein weißes Mädchen bei sich haben, außerdem könnte er ohnehin nicht so lange sein Geschäft im Stich lassen, also bittet er Captain Kidd, das Mädchen zu ihren 400 Meilen entfernt lebenden Verwandten in der Nähe von San Antonio zu bringen.

She sat perfectly composed, wearing the feather and a necklace of glass beads as if they were costly adornments. Her eyes were blue and her skin that odd bright colour that occurs when fair skin has been burned and weathered by the sun. She had no more expression than an egg. (S. 4)

Captain Kidd, ein aufrechter Ehrenmann, lässt sich auf das Unterfangen ein, wobei ihm schnell klar wird, dass seine Schutzbefohlene nun zum zweiten Mal ihre Familie verloren hat. Johanna war nach ihrer Entführung von einem indianischen Paar adoptiert worden und hat in den vier Jahren nicht nur die englische Sprache verlernt, sondern auch die Denkweisen der Weißen. Besitz um des Besitzes willen ist lächerlich, Tiere sind zum Essen da und gehören, außer den Pferden, allen gemeinsam, man isst mit den Händen und zur Körperpflege geht man nackt in den Fluss.

The greatest pride of the Kiowa was to do without, to make use of anything at hand; they were almost vain of their ability to go without water, food, and shelter. Life was not safe and nothing could make it so, neither fashionable dresses nor bank accounts. The baseline of human life was courage. (S. 201)

Und so brauchen selbst die Huren in Wichita Falls, die nicht so zimperlich wie die anständigen Damen sind, zwei Stunden, um das Mädchen zu baden, die Läuse zu entfernen und es in neue Kleider zu zwingen.

Captain Kidd was a man old not only in years but in wars. He smiled at her at last and took out his pipe. More than ever knowing in his fragile bones that it was the duty of men who aspired to the condition of humanity to protect children and kill for them if necessary. It comes to a person most clearly when he has daughters. He had thought he was done raising daughters. As for protecting this feral child he was all for it in principle but wished he could find somebody else to do it. (S. 38)

Die Kommunikation ist also mehr als schwierig und die gegenseitige Annäherung erfolgt in kleinen Schritten und eher zwangsweise, weil man aufeinander angewiesen ist und sich sogar kaltblütiger Verbrecher erwehren muss.

Und immer mehr merkt Captain Kidd, dass es ihm schwer fallen wird, Johanna am Ende der Reise ihren Verwandten zu überlassen. Wie soll Johanna verstehen, wieso Captain Kidd, der jetzt ihre einzige Bezugsperson ist, sie im Stich lassen kann? Und werden Tante und Onkel begreifen, wie sehr die vier Jahre bei den Kiowa das Mädchen für immer verändert haben?

Captain Kidd weiß, dass viele der geraubten weißen Kinder, wenn man sie nach Jahren zurück in die weiße Gesellschaft holte, für immer heimatlos waren und einige von ihnen nur danach verlangten, zu ihren indianischen Familien zurückkehren zu dürfen. Sehr zum Unverständnis und Unwillen der Ursprungsfamilien, die immer ganz selbstverständlich von der Überlegenheit der weißen Zivilisation ausgingen und die nie begreifen konnten, weshalb Kinder, deren Eltern und Geschwister zum Teil auf fürchterlichste Art und Weise von den Indianern umgebracht worden waren, dennoch so enge Bindungen zu ihren Entführern aufbauen konnten, sodass der Weg zurück in die weiße Herkunftsfamilie kaum noch möglich war.

Die Geschichte ist mit Witz und Tempo, Wärme und Menschlichkeit geschrieben, auch wenn mir gegen Ende vielleicht ein Hauch zu viel Süßlichkeit aufgelegt wurde. Aber alles in allem ein sehr unterhaltsamer und zum Teil poetischer Abenteuerroman, der nicht nur die Orte, die Landschaft und das Wetter wunderbar miteinbezieht, sondern außerdem die Frage danach verhandelt, mit welchem Recht man eigentlich die eigene Kultur immer als die überlegene ansieht.

Maybe life is just carrying news. Surviving to carry the news. Maybe we have just one message, and it is delivered to us when we are born and we are never sure what it says; it may have nothing to do with us personally but it must be carried by hand through a life, all the way, and at the end handed over, sealed. (S. 121)

Dem Fazit von kann ich nur zustimmen:

So begins a remarkable journey, one that involves the elements of a Western – danger and adventure on the trail – with the finer points of a story crafted by an award-winning poet. It brims with pathos, humor and compassion translated into wonderful language and transcends into literary historic fiction with a soul.

Darüber hinaus weckt das Buch Interesse, dem Schicksal der geraubten Kinder noch weiter nachzugehen.

Da könnte man beispielsweise hier ansetzen:

  • Zu: Cynthia Ann Parker (deutschsprachige Wikipedia)
  • Zu: Hermann Lehmann (deutschsprachige Wikipedia)
  • Zu: Josephine Meeker (englischsprachige Wikipedia)
  • Blogbeitrag auf We’re all Relative: The Puzzling “White Indians” Who Loved Their Abductors.
  • Oliver Tree: How Cynthia Ann became The Found One: Extraordinary story of abducted Texan girl who became a devoted Comanche Indian… and gave birth to their last commander (2011)
  • Beitrag auf Indian Country Today : Native History: White Child Abducted by Delaware Embraced Native Life

Eine Besprechung des Buches, das 2016 auch auf der Shortlist des National Book Award stand, findet sich u. a. in The New York Times.

Und hier gibt es ein Interview mit der Autorin.

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Merlin Holland: Das Oscar-Wilde Album (OA 1997)

Vor vier Jahren (!) empfahl Petra auf Philea’s Blog Das Oscar-Wilde Album, das Fotos, Karikaturen und andere Bilder zu Wilde enthält. Zusammengestellt wurde es von Merlin Holland, dem einzigen Enkel des weltberühmten irischen Schriftstellers. Ich erstand das Büchlein damals günstig im Antiquariat und seitdem fristete es irgendwo ein Schattendasein in meinen eher unsortierten Bücherregalen. Aber im Urlaub las ich mal wieder Wildes große Gesellschaftskomödien.

Wie keck, wie frisch und frech die sich heute noch lesen! Und wie Wilde es schafft, innerhalb weniger Zeilen die Verlogenheit und die Heuchelei der oberen Gesellschaftsschichten auf den Punkt zu bringen. Und wenn man an seine letzten Lebensjahre denkt, behandelt er in seinen Stücken fast schon hellseherisch die Frage, was die Gesellschaft noch zu tolerieren bzw. zu verzeihen bereit ist oder was einen dauerhaft ins soziale Aus manövrieren wird.

Außerdem wird in den Komödien das Problem, dass man oft einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit unter Verschluss halten muss, um nicht durch das Raster der „Anständigen“ zu fallen, ironisch und wortgewandt verpackt. Aber vor dem Hintergrund von Wildes Homosexualität und den damals dramatischen Folgen (Prozess mit Verurteilung zu Zwangsarbeit, Einzelhaft, Verarmung und gesellschaftlicher Ächtung bis zum frühen Tod) läuft es einem trotz allem Wortwitz schon manchmal kalt den Rücken herunter.

Da passte das von Petra genannte Buch natürlich wie der Topf auf den Deckel. Und gerade bei Wilde (1854 – 1900), einem so an der Selbstdarstellung interessierten Menschen, ist das Visuelle ein ganz wesentlicher Bestandteil. Die Fotos, Karikaturen und Werbeplakate werden erläutert und hangeln sich an der kurz und knackig erzählten Biografie Wildes entlang.

Als Kinder durften Oscar und Willie beim Essen mit am Tisch sitzen und zuhören, ohne zur Unterhaltung beizutragen. Eine frühe Übung darin, den Mund zu halten, was ihm, wie Oscar erklärte, später half, ihn als Erwachsener so wirkungsvoll zu nutzen. (S. 20)

Wilde ließ sich von professionellen Starfotografen gleich in Serie portätieren, in verschiedensten Posen und teuren Kleidungsstücken – er hätte wahrscheinlich heute viel Freude an Facebook und Twitter.

Dabei weist Holland nicht zu Unrecht darauf hin, dass man heute allzu leicht vergesse,

was für ein hervorragender Akademiker er war. Sowohl bei seiner Zwischenprüfung im Jahre 1876 als auch bei seinem Abschlußexamen im Jahre 1878 schnitt er als Bester seines Jahrgangs ab, und bei der mündlichen Prüfung sollen die Prüfer mehr Zeit darauf verwendet haben, ihm zu seiner Leistung zu gratulieren, als ihn zu seinen schriftlichen Arbeiten zu befragen. (S. 35)

Schließlich hatte Wilde klassische Sprachen und Literatur, moderne Philosophie, Philologie und Geschichte zunächst in Dublin und später in Oxford studiert.

Aber es gibt auch anrührende Bilder in diesem Band: Als Oscar Wilde dreizehn Jahre alt ist, stirbt seine drei Jahre jüngere Schwester. Oscar bemalt einen Briefumschlag und bewahrte darin eine Locke ihres Haares bis zu seinem eigenen Tod. Oder die Porträts seiner großen und verhängnisvollen Liebe, des sechzehn Jahre jüngeren Lord Alfred „Bosie“ Douglas, den Wilde kennenlernt, als er 37 ist.

Das Album ist für alle geeignet, die etwas über Wilde erfahren möchten, sich aber nicht gleich den Ziegelstein von Ellmann mit knapp 900 Seiten antun möchten.

Ansonsten empfehle ich auch Petras Artikel zu Oscar Wilde selbst.

Agatha Christie: Absent in the Spring (1944)

Agatha Christie hat neben ihren Detektivromanen auch einige andere Bücher unter dem Pseudonym Mary Westmacott geschrieben, die so gar nichts mit cosy crime zu tun haben.

Und dieser Roman um die wohlsituierte Anwaltsgattin Joan Scudamore – im Deutschen unter dem Titel Ein Frühling ohne dich erschienen – hat mir richtig gut gefallen. Hier wird die Spannung nur dadurch erzeugt, dass wir einer ziemlich selbstgefälligen Protagonistin ein paar Tage Gesellschaft leisten, in der sie von äußeren Zerstreuungen vollständig abgeschnitten ist.

Joan Scudamore ist auf der Rückreise von einem Krankenbesuch bei ihrer in Bagdad lebenden Tochter, doch dummerweise ist die Eisenbahnstrecke durch heftige Regenfälle für ein paar Tage unpassierbar und sie strandet in einer einfachen Herberge in der Wüste nahe der türkischen Grenze.

Das Problem: Sie ist der einzige Gast; ihre restliche Reiselektüre ist schon am ersten Tag ausgelesen und da Besitzer und Angestellte der Herberge nur rudimentär Englisch sprechen, fallen sie als Gesprächspartner aus. So bleiben zum Zeitvertreib nur kurze Spaziergänge, ein paar Briefe und vor allem ihre Erinnerungen; ungebetene Gedankenfetzen und Assoziationen, die nach und nach offenbaren, was für eine Frau sie eigentlich ist.

Es wäre schade, hier mehr zum Inhalt zu verraten, denn wie es Christie gelingt, zu zeigen, dass es da – gelinde gesagt – eine gewisse Kluft zwischen der Selbstwahrnehmung Joans und dem Eindruck gibt, den sie tatsächlich auf Familie und Bekannte macht, ist großes Kino. Eines der harmloseren Beispiele dafür findet sich, als eines Tages Joan und ihr Mann Rodney zufällig auf ein bestimmtes Sonnett von Shakespeare zu sprechen kommen. Aus dem Stand ist sie in der Lage, das Gedicht fehlerlos zu rezitieren.

She finished, giving the last lines full emphasis und dramatic fervour. ‚Don’t you think I recite Shakespeare rather well? I was always supposed to at school. They said I read poetry with a lot of expression.‘

But Rodney had only answered absently, ‚It doesn’t really need expression. Just the words will do.‘ She had sighed and murmured, ‚Shakespeare is wonderful, isn’t he? And Rodney had answered, ‚What’s really so wonderful is that he was just a poor devil like the rest of us.‘

‚Rodney, what an extraordinary thing to say.‘ (S. 73)

Das Buch liest sich bis zum Ende mindestens so spannend wie ihre besten Kriminalromane. Ein empfehlenswerter kleiner Roman, in dem sich Christies Begabung für Dialoge und das, was zwischen den Zeilen steht, bestens ergänzen.

Und es ist auch ein bisschen unheimlich: Joan ist kein Monster, sondern ganz normal, ganz alltäglich, in ihrer Eitelkeit, Besserwisserei und Blindheit gegenüber den eigenen Motiven. Man schüttelt sich und fragt sich unwillkürlich, was wohl unsere Familienangehörigen, KollegInnen und FreundInnen wirklich über uns denken.

Nachdem ich das geschrieben hatte, stöberte ich in Agatha Christies Autobiografie und siehe da, Absent in the Spring ist das Buch, mit dem sie persönlich besonders zufrieden war.

… the book that I had always wanted to write, that had been clear in my mind. […]

It was going to be technically difficult to do, the way I wanted it; lightly, colloquially, but with a growing feeling of tension, of uneasiness, the sort of feeling one has – everyone has, sometime, I think – of who am I? What am I like really? What do all the people I love think of me? Do they think of me as I think they do?

I wrote that book in three days flat. […] I don’t know myself, of course, what it is really like. It may be stupid, badly written, no good at all. But it was written with integrity, with sincerity, it was written as I meant to write it, and that is the proudest joy an author can have.

Nathaniel Hawthorne: Das Haus mit den sieben Giebeln (OA 1851)

Es missfällt einem Autor sehr, der sich bemüht, die Natur in all ihren Erscheinungsformen und Umständen mit realistischem Strich und in den echten Farben darzustellen, dass die reinste Erhabenheit, die sich im Leben finden lässt, hoffnungslos mit so viel Gewöhnlichem und Lächerlichem vermischt ist. Wie können wir etwa einer solchen Szene tragische Würde verleihen! Wie bringen wir es fertig, unserer Geschichte von der Sühne für einstige Sünde Größe zu verleihen, wenn wir gezwungen sind, als eine der Hauptfiguren nicht etwa eine junge, hübsche Frau – ja nicht einmal eine einstige Schönheit, würdevoll gramgebeugt – zu präsentieren, sondern eine hagere Jungfer mit fahlem Taint und knarrenden Gelenken, im Seidenkleid mit hoher Taille und einem monströsen Turban auf dem Kopf. […] Und ist es wirklich die Tragik ihres Lebens, wenn sie nach sechzig Jahren Untätigkeit mit der Eröffnung eines Kramladens ein besseres Auskommen sucht? Doch wenn wir die Heldengeschichten der Menschheit anschauen, finden wir überall diese Vermischung des Gewöhnlichen und Banalen mit den edelsten Gefühlen der Freude oder des Leids. Das Leben besteht aus Marmor und aus Dreck. Und wäre unser Vertrauen in ein allumfassendes Erbarmen über uns nicht stärker, würden wir wohl mit gutem Grund ein beleidigend höhnisches Grinsen und eine grimmige Fratze im ehernen Antlitz des Schicksals vermuten. Die Gabe des Dichters besteht darin, in diesem Reich der sonderbar verworrenen Elemente Schönheit und Erhabenheit zu entdecken, die ein so schäbiges Kleid tragen müssen. (zitiert nach der Irma Wehrli übersetzten Ausgabe des Manesse Verlages, 2004/2014, S. 62 – 63)

So weit zu der bedauernswerten Hepzibah, der ärmlichen Bewohnerin des uralten Hauses, und einigen poetologischen Gedanken, mit denen Nathaniel Hawthorne in seinem amerikanischen Klassiker Das Haus mit den sieben Giebeln die Leser traktiert. Die Originalausgabe erschien 1851.

Auf Sätze & Schätze erschien unlängst eine informative und lesenswerte Besprechung zu diesem Werk, sodass ich mich hier zu meiner und eurer Freude kurz fassen kann.

Mir ging es ganz anders als Birgit: Dieses Buch und ich sind keine Freunde geworden. Statt mich gepflegt zu gruseln, die Geister des Hauses zu spüren oder wenigstens in irgendeiner Weise Anteil am Schicksal der Protagonisten zu nehmen, beschlich mich eine Düsternis ganz anderer Art: Ich habe mich entsetzlich gelangweilt, die Seiten blätterten sich immer langsamer um, bis ich mich völlig ermattet dabei ertappte, nur noch querzulesen.

Der Erzähler musste sich immer wieder in den Vordergrund drängen und mir viel zu viel erklären anstatt es anschaulich zu machen, und die Handlung schlurfte so unentschlossen zwischen Motiven der Gothic Literature, feineren Pinselstrichen und aufdringlichen Erzählerkommentaren dahin, dass ich schließlich nicht anders konnte, als das Buch zur Seite zu legen.

Fundstück von Ruby Ferguson

Leider war Ruby Ferguson (1899 – 1966) ihrer eigenen Romanidee in Lady Rose and Mrs Memmary (1937) nicht durchgehend gewachsen. Es gab einfach zu viel Süßlichkeit, besonders in der oberidyllischen Kindheit der adligen Lady Rose – was von wohlmeinenden Geistern gern als „Märchenhaftigkeit“ verbrämt wird -, eine eiskalte Mutter, ein Hauch von Effie Briest und die wirklich albernste und unglaubwürdigste Szene einer Liebe auf den ersten Blick, die mir je untergekommen ist.

Anscheinend konnte sich Ferguson nicht so recht entscheiden, was für eine Art von Geschichte sie denn nun eigentlich erzählen wollte. Schade eigentlich, denn das Buch hätte durchaus das Potential gehabt, ein netter Schmöker zu werden.

Da konnte auch die Verschränkung zweier Zeitebenen, die ich hier ganz gelungen fand, nicht mehr viel retten: Drei Touristen entdecken Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts auf einer Spazierfahrt durch Schottland das einsam gelegene Herrenhaus Keepsfield, das zu vermieten wäre, und lassen sich von der alten Mrs Memmary, die sich um das Haus kümmert, die Geschichte der einstigen Besitzer erzählen.

So hätte ich das Buch gar nicht weiter erwähnt, aber Stellen wie die folgende zeigen, dass die Autorin durchaus schreiben konnte und was für ein Buch es hätte werden können:

Rose indulged in the most romantic dreams about marriage. Of course they were all delightfully vague and abstract, and for all practical purposes they began and ended with white satin and pearls and sheaves of flowers at St. George’s, and red carpet in front of Aunt Violet’s house in Belgrave Square, and tears, and hundreds of presents. After that came a kind of ideal and undefined state in which you lived blissfully under a new name, and had your own carriage, and didn’t have to ask permission from Mamma when you wanted to go out. Floating airily through all this, of course, was a man. He was not like any man you had ever seen; they were just men. This man – your husband, queer, mysterious word – was hardly human at all. He was dreadfully handsome, and a little frightening, but of course you didn’t see very much of him. When you did see him there were love scenes. He always called you „my darling“ in a deep, tender voice; and he gave you jewels and flowers, and sometimes went down on his knees to kiss your hand. All this came out of the books you had read. Some day, almost any time after you were presented and began to go about with Mamma, you would suddenly meet this marvellous being. You would be in love. You would be married. And that was the end, except that, of course, you would live happily ever after. (S. 112)

 

Sam Selvon: The Lonely Londoners (1956)

Einundsechzig Jahre hat es gedauert, bis nun endlich The Lonely Londoners – der britische Klassiker um Immigranten in London, erschienen 1956 – ins Deutsche übersetzt wurde.  Das englische Original von nur 139 Seiten beginnt mit den Worten:

One grim winter evening, when it had a kind of unrealness about London, with a fog sleeping restlessly over the city and the lights showing in the blur as if is not London at all but some strange place on another planet, Moses Aloetta hop on a number 46 bus at the corner of Chepstow Road and Westbourne Grove to go to Waterloo to meet a fellar who was coming from Trinidad on the boat-train.

Selvon (1923 – 1994) verarbeitet darin eigene Erfahrungen, auch er wanderte in den 1950er Jahren aus Trinidad nach Großbritannien ein, als es für die Einwohner der ehemaligen Kolonien des Empire noch keine Einwanderungsbeschränkungen gab.

Zusammengehalten wird das Werk durch die Figur des Moses Aleotta, ebenfalls aus Trinidad, der schon seit zehn Jahren in London lebt und sich als widerwillig-hilfsbereiter Genosse zeigt, wenn es darum geht, den immer zahlreicher werdenden Neuankömmlingen mit Informationen zur Seite zu stehen. So begleitet er auch Henry, den er am Bahnhof abgeholt hat, zum Ministry of Labour.

It ain’t have no place in the world that exactly like a place where a lot of men get together to look for work and draw money from the Welfare State while they ain’t working. Is a kind of place where hate and disgust and avarice and malice and sympathy and sorrow and pity all mix up. Is a place where everyone is your enemy and your friend. (S. 27)

Jeden Sonntagmorgen treffen sich in Moses‘ kleinem schäbigen Zimmer – zu mehr hat er es in all den Jahren nicht gebracht – seine Freunde und Bekannten und tauschen Neuigkeiten über Arbeit, Zimmersuche, Frauen und die Heimat aus.

Moses ist auch derjenige, der sich keinen Illusionen mehr hingibt, er weiß um den Rassismus, der ihnen unvermutet überall entgegenspringen kann, auch wenn er sich höflicher tarnt als der in Amerika. Er weiß, welche Probleme es gibt, wenn ein Einwanderer ein weißes Mädchen heiraten will: Entweder wird er vom Vater des Mädchens aus dem Haus geworfen oder, wenn das Mädchen standhaft ist, werden die Kinder des Paares später als Darkies beschimpft.

Moses ist ein interessanter Charakter, der seine Situation in ihrer Widersprüchlichkeit reflektiert, z. B. wenn er versucht, sich darüber Rechenschaft zu geben, warum er nie zurückgegangen ist, obwohl sich die Träume auf Wohlstand und Anerkennung nicht erfüllt haben.

‚Sometimes I look back on all the years I spend in Brit’n,‘ Moses say, ‚and I surprise that so many years gone by. Looking at things in general life really hard for the boys in London. This is a lonely miserable city, if it was that we didn’t get together now and then to talk about things back home, we would suffer like hell. Here is not like home where you have friends all about. … (S. 126)

Er fungiert gleichsam als Klammer für viele andere Geschichten und Schicksale, von denen er hört, die er miterlebt und kommentiert. Dabei nimmt er geradezu stoisch zur Kenntnis, dass einzelne kiffende Faulpelze und Sozialleistungen-Schnorrer die Vorurteile gegenüber allen Farbigen befördern und dass harte Arbeit kein Garant fürs Vorwärtskommen ist.

Oft genug ist Moses die Stimme der Vernunft, doch er hat sich damit abgefunden, dass kaum jemand auf ihn hört. Und Henry Oliver, den er am Bahnhof abholen soll, wird von ihm nur „Galahad“ genannt, weil der sich weigert, die Dinge so nüchtern-abgeklärt wie Moses zu sehen.

Things does have a way of fixing themselves, whether you worry or not. If you hustle, it will happen, if you don’t hustle, it will still happen. Everybody living to dead, no matter what they doing while they living, in the end everybody dead. (S. 52)

Wir erfahren nicht nur von Lewis, der seine Frau so lange verprügelt, bis sie ihn verlässt, sondern auch von der hinreißenden Tanty, die zu stolz ist, zuzugeben, wie viel Angst ihr U-Bahn und Busfahren machen. Wir erfahren von Einwanderern, die so hungrig sind, dass sie eine Taube im Park fangen und dann als Monster beschimpft werden.

Und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit eröffnen Einwanderer die ersten Geschäfte, z. B. mit bestimmten Lebensmitteln, und tragen so zu einer bunteren britischen Gesellschaft bei. Das liest sich unglaublich spannend, so als säße jemand bei uns im Zimmer und würde uns erzählen, wie das damals war, auch wenn zwischenzeitlich mal der rote Faden ein bisschen verloren geht und man von einer Episode zur nächsten hüpft.

The Lonely Londoners handelt aber nicht nur von Tristesse, Armut und Problemen, es ist auch eine Liebeserklärung an London, eine Stadt, die auf viele Einwanderer wie ein Zauber, ein Versprechen wirkt, dem sie sich selbst nach Jahren nicht entziehen können. Irgendwann wird die Fremde quasi notgedrungen zur – wenn auch nicht unbedingt geliebten – Heimat.

The changing of the seasons, the cold slicing winds, the falling leaves, sunlight on green grass, snow on the land, London particular. Oh what it is and where it is and why it is, no one knows, but to have said: ‚I walked on Waterloo Bridge,‘ ‚I rendezvoused at Charing Cross,‘ ‚Piccadilly Circus is my playground,‘ to say these things, to have lived these things, to have lived in the great city of London, centre of the world. […] Why is it, that although they grumble about it all the time, curse the people, curse the government, say all kind of thing about this and that, why is it, that in the end, everyone cagey about saying outright that if the chance come they will go back to them green islands in the sun? (S. 133 – 134)

Und das Buch zeigt eine unbändige Lebensfreude, der kleinste Anlass wird genutzt, um zu feiern, zu trinken, zu tanzen, sich schöne Anzüge schneidern zu lassen, hübsche Frauen abzuschleppen, sich wie verrückt auf den Sommer zu freuen, wenn man wieder in die Parks geht und sich mit seiner Freundin verabredet, zu einer Party, einem Theater- oder Kinobesuch. Doch manchmal schimmert hinter all den Vergnügungen auch die Verzweiflung auf, nicht wirklich zur englischen Gesellschaft zu gehören.

Am Ende öffnet der Autor in den Überlegungen Moses das Buch sogar auf eine ganz andere Dimension hin:

Under the kiff-kaff laughter, behind the ballad and the episode, the what-happening, the summer-is-hearts, he could see a great aimlessness, a great restless, swaying movement that leaving you standing in the same spot. (S. 139)

Zur literaturgeschichtlichen Bedeutung und Sprache des Romans

Das Buch ist in zweierlei Hinsicht etwas Besonderes:

Its publication marked the first literary work focusing on poor, working-class blacks in the beat writer tradition following the enactment of the British Nationality Act 1948. (Wikipedia)

Zum anderen hat Selvon hier eine Sprache gefunden, die seinen Protagonisten entspricht: ein Dialekt, der den Redegewohnheiten der Einwanderer abgelauscht ist und damit authentisch und ganz lebendig klingt. Selvon hat dazu in einem Interview Folgendes gesagt:

When I wrote the novel that became The Lonely Londoners, I tried to recapture a certain quality in West Indian everyday life. I had in store a number of wonderful anecdotes and could put them into focus, but I had difficulty starting the novel in straight English. The people I wanted to describe were entertaining people indeed, but I could not really move. At that stage, I had written the narrative in English and most of the dialogues in dialect. Then I started both narrative and dialogue in dialect and the novel just shot along. (Michel Fabre, „Samuel Selvon: Interviews and Conversations“, in Susheila Nasta, ed., Critical Perspectives on Sam Selvon, Washington, Three Continents Press, 1988; p. 66, zitiert nach der englischen Wikipedia)

Für den deutschen Leser erschließen sich unbekannte Ausdrücke aber fast immer durch den Kontext. Allerdings gibt es auch eine Stelle, da geht ein Satz über mehrere (!) Seiten, und zwar ohne ein einziges Komma. Das ist beim Lesen schon reichlich mühsam, fängt aber möglicherweise das Gefühl des traumartigen, ungeordneten und manchmal haltlosen Lebens ganz gut ein.

Das Buch ist nun über 60 Jahre alt und doch zeitlos, denn für Einwanderer, Flüchtlinge und Asylsuchende gilt – egal wo – sicherlich noch immer:

When Moses did arrive fresh in London, he look around for a place where he wouldn’t have to spend much money, where he could get plenty food, and where he could meet the boys and coast a old talk to pass the time away – for this city powerfully lonely when you on your own. (S. 29)

Wer ein paar kurze Informationen zum geschichtlichen Hintergrund sucht, wird hier fündig und hier geht’s lang zu einer treffenden Rezension von Helon Habila aus dem Guardian vom 17. März 2007. Die Folgebände heißen Moses Ascending (1975) und Moses Migrating (1983).

Und hier noch ein Gespräch mit der Übersetzerin Miriam Mandelkow.

Ungelöst bleibt allerdings noch die Frage, wie und warum aus den „lonely Londoners“ des Originaltitels plötzlich die harmlosen oder nichtsnutzigen „Taugenichtse“ wurden …

Elizabeth Fair: A Winter Away (1957)

Heute gibt es einen schönen kleinen Schmöker, dessen Ton bereits auf der ersten Seite deutlich wird:

Maud had been in the house less than an hour, but she had already made out that Puppy and Wilbraham were alternative names for the same animal. He was Wilbraham to Cousin Alice and Puppy to Miss Conway. She had not seen him yet but she gathered from their talk that he was their joint property and that they had had him for seven years. Puppyhood must be far behind him, but perhaps he was exceptionally skittish for his age; or perhaps Miss Conway disliked being reminded of the passage of time. (S. 1)

Maud Ansdell, die gerade zwanzig geworden ist, zieht also als Untermieterin bei Alice, der älteren Cousine ihres Vaters, und deren 43-jähriger Gesellschafterin Miss Conway ein. Denn Cousine Alice hat Maud ihre erste Arbeitsstelle als Sekretärin bei Nachbar Marius Feniston vermittelt.

Feniston, der hinter seinem Rücken von allen nur „old M.“ genannt wird, ist ein wohlhabender und sehr durchsetzungsfreudiger älterer Herr.

‚My last secretary was thirty-five,‘ old M. said gloomily, ‚and no more sense than a child of ten. Or else she wasn’t all there. You all there?‘ he asked suddenly, giving Maud a searching look. ‚No banging your head on the table? No throwing the china at me? Hey?‘ (S. 18)

Sein prächtiges Herrenhaus lässt er aus Geiz vergammeln, mit seinem gut aussehenden Neffen hat er seit Jahren kein Wort mehr gewechselt und sein Sohn Oliver scheint auf den ersten Blick ein eulenhafter Langweiler zu sein.

Nach und nach gewinnt Maud eine Freundin und lernt mit old M. auszukommen. Sie muss sich nicht nur im komplizierten Geflecht zwischen Cousine Alice und Miss Conway, sondern auch im Durcheinander der kleinen dörflich geprägten Gemeinde zurechtfinden.

Aber das Entscheidende an dem Buch ist ohnehin nicht der Inhalt, sondern die Art und Weise, wie uns hier ein kleines Stückchen Welt präsentiert wird.

Liebenswürdig und mit feinen Charakterschilderungen von Menschen, die wir mit ihren kleinen und größeren Schrullen sofort wiedererkennen. Dabei werden allerdings die Abgründe, die die Protagonisten bei sich selbst nicht wahrhaben wollen, nicht verschwiegen.

Fairs Humor, der nie ins Alberne abrutscht, kommt besonders in den Dialogen zum Tragen und sie hat die Fähigkeit, aus wirklich unbedeutenden Geschehnissen großes Kino zu machen.

Als Maud bei Nachbarn Zeuge eines völlig harmlosen Unfalls wird, entsteht in beinahe loriothafter Zwangsläufigkeit eine Kettenreaktion, die mit den Worten endet:

Explanations must wait till the morning, Cousin Alice had insisted. As it was they had been up half the night, calming Miss Conway, removing thorns from her person and sponging her scratches, and persuading her to accept a hot-water bottle, a glass of hot milk, and three biscuits.
‘I’m perfectly all right.’ Miss Conway had repeated frequently, though even to Maud’s eyes she looked all wrong.

Kurzgesagt: Kein großer gesellschaftskritischer Roman, keine Lektüre, nach der ich die Welt anders sehe. Und selbst in den fünfziger Jahren, in denen Elizabeth Fair ihre sechs kleinen Romane veröffentlichte, dürften ihre Bücher schon ein bisschen provinziell-idyllische Patina gehabt haben.

Also kein Fünf-Gänge-Menü, sondern eher so ein fluffig-luftiger Schokoladenpudding oder wie die Lieblingsstrickjacke. Aber manchmal muss es eben unbedingt ein Schokoladenpudding sein.

Und ich habe es bedauert, als dieser kleine, feine Roman von 221 Seiten, der mich abwechselnd an Jane Austen, Barbary Pym und Alexander McCall Smith erinnerte, schon zu Ende war.

BOOK SNOB ging es anscheinend ganz ähnlich:

…this is a hilarious, witty and wonderfully warm story about a number of misfits whose convergence in a corner of rural Dorset leads to just the sort of trifling yet utterly absorbing events that make up the often ridiculous course of everyday life. This is the perfect antidote to current affairs: it’s light and wonderfully funny, but also very well written and sensitively observed. I adored every moment, and felt quite bereft at leaving the world of the characters behind.

Ich vermute, dass die Autorin, die 1997 verstarb, nach 1960 keinen Roman mehr veröffentlicht hat, weil sich dann Verleger- und Publikumsgeschmack doch grundsätzlich wandelten. Umso schöner, dass ihre sechs Romane nun neu aufgelegt wurden.

Nachtrag

The Native Heath (1954) war mir zu glatt, zu harmlos.

Der letzte Roman der Autorin The Mingham Air (1960) hatte deutliche Schwächen. Nicht alle Figuren waren organisch in die Handlung integriert. Das Buch wirkte wie aus Einzelteilen zusammengeschustert.

Mit Seaview House (1955) und Landscape in Sunlight (1953) gab es aber wieder uneingeschränktes Lesevergnügen.

Julie Otsuka: The Buddha in the Attic (2011)

On the boat we were mostly virgins. We had long black hair and flat wide feet and we were not very tall. Some of us had eaten nothing but rice gruel as young girls and had slightly bowed legs, and some of us were only fourteen years old and were still young girls ourselves. Some of us came from the city, and wore stylish city clothes, but many more of us came from the country and on the boat we wore the same old kimonos we’d been wearing for years – faded hand-me-downs from our sisters that had been patched and redyed many times.

So beginnt ein höchst erstaunlicher Roman der amerikanischen Schriftstellerin mit japanischen Wurzeln. Katja Scholtz übersetzte Wovon wir träumten ins Deutsche.

Ganz und gar ungewöhnlich an diesem Buch ist die Erzählperspektive, und in einer Rezension im Observer stand, dass ein solches Vorhaben eigentlich nicht gelingen könne und uns die Autorin zeige, dass es eben doch funktioniere, doch dazu später mehr.

Zum Inhalt

In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts begeben sich viele junge Japanerinnen als sogenannte picture brides auf die beschwerliche Schiffsreise nach Kalifornien, um dort japanische Einwanderer zu heiraten, die sie nur von den Fotos der Heiratsvermittler kennen. Dort angekommen, müssen viele von ihnen feststellen, dass die Fotos zum Teil schon Jahrzehnte alt sind, dass nicht das große oder kleine Liebesglück mit Häuschen und Tulpen im Vorgarten auf sie wartet, sondern Knochenarbeit auf den Feldern, Armut und schweigsame oder trinkende Männer. Sie lernen die Sprache nur unzureichend. Und nur sehr sehr allmählich stabilisieren sich die Verhältnisse.

Manchmal können von den geringen Ersparnissen die ersten eigenen Lokale und Wäschereien eröffnet werden. Manch eine findet eine Anstellung in einem weißen Haushalt (samt der Nachstellungen des Hausherrn). Nachwuchs stellt sich ein, der bald eher amerikanisch als japanisch redet und sich oft genug seiner Herkunft schämt. Die Frauen bleiben – wenn auch als zuverlässige, billige und arbeitsame Arbeitskräfte geschätzt – immer geduldete Außenseiter. Das ändert sich im Zweiten Weltkrieg. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour beginnt eine hysterische Kampagne. Alle Japaner im weiteren Westküstenbereich werden der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt und interniert oder umgesiedelt. Die Nachbarn schauen zu und nehmen’s hin.

Fazit

Das Ungewöhnliche an diesem Buch ist die Perspektive. Konsequent wird aus der „Wir-Perspektive“ geschrieben und so verschmelzen unzählige Stimmen zu einem gewaltigen Chor, in dem das einzelne, individuelle Schicksal eingebettet wird in einen nicht abreißenden Strom, und zwar, ohne dass es dadurch unpersönlich oder langweilig würde. Die Traumata solcher Lebensgeschichten werden in den Träumen und dem Heimweh spürbar:

And when we’d saved up enough money to help our parents live a more comfortable life we would pack up our things and go back home to Japan. It would be autumn, and our fathers would be out threshing in the fields. We would walk through the mulberry groves, past the big loquat tree and the old lotus pond, where we used to catch tadpoles in spring. Our dogs would come running up to us. Our neighbours would wave. Our mothers would be sitting by the well with their sleeves tied up, washing the evening’s rice. And when they saw us they would just stand up and stare: „Little girl,“ they would say to us, „where in the world have you been?“ (S. 53)

Nachgetragen sei hier noch das Gedicht von Mizuta Masahide (1657 – 1723), das die Autorin ganz an den Anfang ihres Romans stellt:

Barn’s burnt down —
now
I can see the moon.

Hätte ich vorher gewusst, welche Erzählperspektive Otsuka gewählt hat, ich wäre skeptisch gewesen. Doch das Vorhaben ist ihr gelungen. Elizabeth Day schreibt im Observer am 8. April 2012:

Instead of a single, named protagonist, Otsuka writes in the first personal plural through a series of thematic chapters. Such a device shouldn’t work but does. Although there are no dominant characters, Otsuka’s brilliance is that she is able to make us care about the crowd precisely because we can glimpse individual stories through the delicate layering of collective experience.

Zu Recht ist sie für dieses Buch nicht nur unter die fünf Finalisten des National Book Award 2011 gekommen, sie hat auch den PEN/Faulkner Award for Fiction und den David J. Langum Sr. Prize verliehen bekommen, einen amerikanischen Literaturpreis für Werke, die sich mit geschichtlichen Themen befassen. Johan Dehoust schreibt am 13. August 2012 im Spiegel:

Julie Otsuka stützt sich auf echte Schicksale, im Nachwort des Romans listet sie akribisch die historischen Quellen auf, auf die sie zurückgegriffen hat. Und nach ihrer Recherche scheint sie entgegen aller Erzählprinzipien beschlossen zu haben, so viele Figuren auftauchen zu lassen wie möglich. Dass man ihr Buch deshalb nicht völlig verwirrt über die Bettkante wirft, liegt neben Otsukas einzigartiger Sprache vor allem an der Perspektive: Die jungen Frauen sprechen in der Wir-Form, wie ein mächtiger, orakelhafter Chor, der einen in seinen Bann schlägt und nicht mehr loslässt.

Auch ihr erster Roman When the Emperor was Divine (2002) befasst sich mit der Geschichte japanischer Einwanderer in Amerika, diesmal zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Sie verarbeitet darin Erfahrungen ihrer eigenen Familie: „… her grandfather was arrested by the FBI as a suspected spy for Japan the day after Pearl Harbor was bombed, and her mother, uncle and grandmother spent three years in an internment camp in Topaz, Utah“ (siehe die Homepage der Autorin).

Wer mehr  zum geschichtlichen Hintergrund wissen möchte, sei noch auf den Wikipedia-Artikel hingewiesen: Internierung japanischstämmiger Amerikaner.

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Margery Allingham: The Crime at Black Dudley (1929)

Margery Allingham (1904-1966) war eine der vier Queens of Crime des Golden Age of detective fiction – neben Agatha Christie, Ngaio Marsh und Dorothy L. Sayers.

Diese sich an bestimmen Konventionen und Spielregeln orientierenden Krimis mit britischem Lokalkolorit, Humor und vielen einsam gelegenen Landhäusern, die ihre Blütezeit vor allem in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hatten, haben weltweit ihre LeserInnen, und es gibt, wie uns der Wikipedia-Eintrag verrät, sogar japanische Autoren, die in diesen Spuren wandeln.

Wenn mir Zeit und Konzentration für längere oder anspruchsvollere  Bücher fehlen, dann sind solche Krimis wie die um den adligen Albert Campion genau das Richtige, obwohl sein Einstand in The Crime at Black Dudley zunächst etwas holprig verläuft. Man versäumt also nichts, wenn man bei dieser Reihe erst bei dem zweiten Band einsteigt, da Campion bei seinem Debut schrecklich viel albernes Zeug schwatzt und ganz offensichtlich zunächst als Nebenfigur angelegt ist. Auf den ersten Blick wirkt er wie eine arglose Nervensäge und nicht besonders intelligent, was für seine Nachforschungen wiederum natürlich oft von Vorteil ist.

‚His name is Albert Campion,‘ she said. ‚He came down in Anne Edgeware’s car, and the first thing he did when he was introduced to me was to show me a conjuring trick with a two-headed penny – he’s quite inoffensive, just a silly ass.‘ Abbershaw nodded and stared covertly at the fresh-faced young man with the tow-coloured hair and the foolish, pale-blue eyes behind tortoiseshell-rimmed spectacles, and wondered where he had seen him before. The slightly receding chin and mouth so unnecessarily full of teeth was distinctly familiar.

Doch die Verleger fanden rasch Gefallen an ihm und so geht Allingham in den nächsten Büchern auch ein bisschen gnädiger mit seinem Äußeren um.

Sein Butler und Leibwächter ist ein ehemaliger Krimineller und hört auf den hübschen Namen Magersfontein Lugg. Campion hat, wie könnte es anders sein, beste Kontakt zu Scotland Yard.

Die Plots bei Allingham sind oft durchdachter und schlagen mehr Haken als bei Agatha Christie. Alles in allem eine schöne, entspannende Entdeckung im Cosy Crime Bereich.

Und die Hauptrolle in der BBC-Serie (1989/1990) spielte Peter Davison. Ja, genau, der, der auch Tristan Farnon in All Creatures Great and Small gespielt hat. Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.

 Nachtrag

Im vierten Band Police at the Funeral (1931) gibt es eine miese Szene, in der eine der Hauptfiguren sich unverhohlen rassistisch äußert, doch Albert Campion scheint das überhaupt nicht problematisch zu finden, er nimmt es als gegeben hin und freut sich einfach an dem ihm entgegengebrachten Vertrauen.  An dieser Stelle ging es mir dann wie Heavenali, die in ihrer Besprechung des Buches schreibt:

There was a rather unsettling moment at the end – which I can’t say too much about for obvious reasons – but suddenly out of nowhere came a rather unpleasant piece of casual racism which really left a sour taste. There have been lots of occasions when I have come across slight racist references before in old vintage mysteries – I tend to know already to expect them if there is a character in the story from another country for instance- and steal myself accordingly but this one caught me off guard rather and slightly spoiled a book I had otherwise thoroughly enjoyed.

Dorothy Whipple: Greenbanks (1932)

Auch Greenbanks, der dritte Roman von Dorothy Whipple, der ursprünglich 1932 erschienen ist, wurde bei Persephone Books neu aufgelegt. Er beginnt mit den Worten:

The house was called Greenbanks, but there was no green to be seen today; all the garden was deep in snow. Snow lay on the banks that sloped from the front of the house; snow lay on the lawn to the left, presided over by an old stone eagle who looked as if it had escaped from a church and ought to have a Bible on his back; snow lay on the lawn to the right, where a discoloured Flora bent gracefully but unaccountably over a piece of lead piping that had once been her arm. Snow muffled the old house, low and built of stone, and of no particular style or period, and made it look like a house on a Christmas card, which was appropriate, because it was Christmas day.

Greenbanks, das ist also das gediegene Zuhause von Louisa Ashton. Hier hat sie mit ihrem notorisch untreuen Gatten sechs Kinder großgezogen, die inzwischen alle erwachsen und bis auf Laura auch verheiratet sind. Wir folgen nun fast zwei Jahrzehnte dem Alltag, den Ehequerelen und den beruflichen Entwicklungen der Familienmitglieder. Dabei geht es auch um die Frage, ob und wo eine Frau vor, während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg ihren Platz in der Gesellschaft finden kann, an dem sie glücklich ist und gleichzeitig von der Gesellschaft akzeptiert wird.

Im Zentrum steht Großmutter Louisa, in finanziellen Angelegenheiten immer von ihrem Ehemann und später ihrem Sohn abhängig, manchmal  naiv, mit wenig Durchsetzungsvermögen, und doch mit einem großen Herzen. Sie mag nicht besonders gebildet oder reflektiert sein, doch hat sie ein untrügliches Gespür für die Menschen um sich herum und kann kaltem Nützlichkeitsdenken wenig abgewinnen. Ihr Lieblingssohn Charles bekommt beruflich kein Bein auf die Erde, doch das Schlimme daran sind für sie nur die sarkastischen Kommentare seines geldgierigen Bruders und seines besserwisserischen Schwagers.

Hat Louisa allerdings erst einmal eine Entscheidung getroffen, wie z. B. die eine Bekannte als Gesellschafterin in ihr Haus aufzunehmen, die von der Gesellschaft wegen eines unehelichen Kindes ausgestoßen worden war, dann setzt sie das mit der Sturheit eines Maulesels durch, egal, was ihr fürchterlicher Schwiegersohn Ambrose davon hält.

Die zweite Person, die mir im Gedächtnis bleiben dürfte, ist Louisas Lieblingsenkelkind Rachel. Ihr kindlicher Blick ist wunderbar gezeichnet. Und ihr beim Erwachsenwerden zuzuschauen, macht große Freude. Sie ist die einzige Frauenfigur, die vermutlich halbwegs unbeschadet ihren Weg finden wird, auch deshalb, weil sie bei ihrer geliebten Großmutter immer einen Raum hatte, an dem sie ganz sie selbst sein durfte.

[Rachel] looked up from the page to her grandmother sitting in the window, her hands empty now that she had no one to knit for. ‚Darling,‘ thought Rachel. Some dim comprehension of the courage, the isolation of each human soul, the inevitable loneliness in spite of love, reached Rachel. The room was quiet, the ticking of the clock the only sound. Rachel was aware, for a moment, of the mystery of herself, her grandmother, eternity before and behind them both. Then she jumped up. Youth will glance at these things, but hates to look long. (S. 247)

Rachels Mutter Letty hingegen langweilt sich zunehmend in der Ehe mit ihrem pedantischen und befehlshaberischen Ehemann Ambrose, den sie als junges Mädchen noch so angehimmelt hatte.

He gave her, more and more frequently, the same flat exhausted feeling she had when she tried to carry a mattress downstairs unaided; that exasperating feeling of not being able to get hold of the thing properly and of wanting to give up at every step. But of course you couldn’t give up; you couldn’t sit down in the middle of the stairs with a great burden like that; you had to carry it the whole way, until you could put it down somewhere final. (S. 48)

Greenbanks ist für mich nicht der stärkste Roman der Autorin, aber im Nachhinein bin ich doch angetan davon, wie aufschlussreich der Roman als Zeitzeugnis ist. Welche gesellschaftlichen Veränderungen brachte der Erste Weltkrieg mit sich? Welchen Rollenzwängen sahen sich die Frauen damals ausgesetzt? Das alles mit einem Figurenensemble, das so durchschnittlich, so alltäglich ist, mit Dialogen und – fast noch wichtiger – mit Gedanken und Verhaltensweisen, die wir auch heute noch mühelos wiedererkennen. Trotz der Verankerung in einem bestimmten Milieu und einer vergangenen Zeit wirken die Figuren überraschend frisch und kein bisschen verstaubt.

Besonders die Männerfiguren sind in ihrer Heuchelei, Engstirnigkeit und Doppelmoral in Bezug auf Ehe, Treue oder Zölibat und Frauenbildung oft unerfreuliche und manchmal auch fast eindimensionale Gestalten, die aber von Whipple nicht verurteilt, sondern einfach geschildert werden. Auch sie haben ihre Gründe, so zu sein, wie sie sind.

Und wie bei jedem guten Schmöker will ich natürlich schon wissen, wie sich die ein oder andere Verwicklung auflösen wird.

Anmerkungen zur Rezeption des Romans

Der Spectator schrieb Ende September 1932:

Greenbanks is a pleasant, quiet, delightful domestic book, lifted head and shoulders above the ranks of pleasant, quiet, delightful domestic books by the uncanny accuracy of the portraiture and the lightness and delicacy of its touch.

Und Hugh Walpole war sich sicher:

I believe Greenbanks will be remembered for a long time to come because of the characters of two people in it, the grandmother Louisa and the granddaughter Rachel. In them Dorothy Whipple has performed splendidly the great job of the novelist, which is to increase for us infinitely the population of the living world.

Hier gibt es noch eine Besprechung auf Tales from the Reading Room.

 

 

 

Dorothy Whipple: High Wages (1930)

Schon für das folgende Zitat hat sich doch die Lektüre des zweiten Romans von Dorothy Whipple gelohnt, der 1930 erschien:

Jane’s days were now like a succession of crammed cupboards that would not shut on their contents. Things fell out in miscellaneous confusion and had to be picked up and put into the next cupboard, from which they fell out again and so on until they positively had to be attended to.

Der Titel High Wages bezieht sich dabei auf ein Zitat von Carlyle:

Experience doth take dreadfully high wages, but she teacheth like none other.

In High Wages geht es vor allem um Jane, eine Vollwaise, die sich seit ihrem 16. Lebensjahr ihren Lebensunterhalt als „shop girl“, als Verkäuferin in einem Textilgeschäft, verdienen muss. Die Handlung setzt 1912 ein und wir folgen ihr und den anderen Bewohnern der kleinen Stadt für die nächsten zehn Jahre.

Jane ist tough und hat das gewisse Händchen für ihren Beruf, nicht unbedingt zur Freude ihres geizigen und versnobten Chefs. Darüber hinaus ist sie voller Lebenslust und interessiert an Büchern. Wer würde sie nicht mögen, wenn es, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf einen richtigen Ball geht, heißt:

She drew on her first pair of silk stockings, and in a passion of delight kissed her own knees. (S. 98)

Fazit

Die Liebeswirren waren mir einen Hauch zu melodramatisch, aber das wurde wettgemacht durch die Einbettung der Geschichte in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und eine intelligente und lebenstüchtige Protagonistin, die sich nicht mit der beruflichen Rolle bescheiden will, die ihr die Männer einzuräumen bereit sind.

Die Leserin erfährt viel über Janes Arbeitsbedingungen in einer von Männern dominierten Welt, die langen Arbeitstage und das damals in den kleineren Städten noch übliche Modell des „living in“, d. h. dass die Angestellten bei ihrem Dienstherrn Kost und Logis bekamen, womit der finanziellen Ausbeutung der Frauen Tür und Tor geöffnet wurde.

Außerdem veranschaulicht Janes beruflicher Weg den gesellschaftlichen Umbruch, als selbst die Bessergestellten anfingen, Kleidung von der Stange zu kaufen und sie nicht mehr notwendigerweise von Schneiderinnen individuell anfertigen ließen.

Anmerkung

Hier empfiehlt Heavenali ihre Lieblingsbücher aus dem Persephone Verlag und außerdem stellt sie einen Band mit kürzeren Erzählungen von Whipple vor.

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Dorothy Whipple: The Priory (1939)

Die Romane der englischen Schriftstellerin Dorothy Whipple (1893 – 1966) waren in den dreißiger und vierziger Jahren große Publikumserfolge und zwei ihrer Bücher wurden sogar verfilmt. Doch ab den Fünfzigern wurden ihre Familiengeschichten von vielen als nicht mehr zeitgemäß und interessant genug wahrgenommen. Ihre Bücher wurden als (minderwertige) Frauenliteratur (genre fiction) abgetan.

As Dorothy Whipple’s publisher told her in 1953, ‘editors have got mad about action and passion’, and although both are to be found in Dorothy Whipple’s novels, they are qualities that are presented in such a subtle, such an understated way, that the obtuse miss it altogether and think she is anodyne, simplistic, old-fashioned. (Nicola Beauman)

Inzwischen sind aber dankenswerterweise mehrere ihrer Bücher bei Persephone Books neu aufgelegt worden, u. a. auch ihr fünfter Roman The Priory, der ursprünglich 1939 erschienen ist. Er beginnt mit den Worten:

It was almost dark. Cars, weaving like shuttles on the high road between two towns fifteen miles apart, had their lights on. Every few moments, the gates of Saunby Priory were illuminated. Every few moments, to left or to right, the winter dusk was pierced by needle points of light which, rushing swiftly into brilliance, summoned the old gateway like an apparition from the night and, passing, dispelled it.

The gates were from time to time illuminated, but the Priory, set more than an mile behind them, was still dark. To the stranger it would have appeared deserted. It stood in dark bulk, with a cold glitter of water beside it, a cold glitter of glass window when clouds moved in the sky. The west front of the Priory, built in the thirteenth century for the service of God and the poor, towered above the house that had been raised alongside from its ruins, from its very stones. And because no light showed from any window here, the stranger visiting Saunby at this hour, would have concluded that the house was empty.

Man ahnt, das große Herrenhaus ist alles andere als unbewohnt. Saunby ist der Wohnsitz des verwitweten ca. fünfzigjährigen Major Marwood, seiner egozentrischen Schwester Victoria und seiner zwei Töchter Christine und Penelope. Die Zeiten sind hart, auch deshalb, weil Marwood ein miserabler Gutsherr ist, der sich nicht darum schert, dass sein Schuldenberg bald kaum noch abzutragen sein dürfte.

In the summer, while there was cricket, the Major was happy enough. But in the winter he had too much time to think and thinking depressed him. He was depressed today. (S. 17)

Das Einzige, was Marwood wirklich interessiert und wofür er das Geld ausgibt, das er strenggenommen gar nicht hat, ist Cricket.

Aus diesem Grund muss sich auch Thompson, ein guter Cricketspieler und der Schwarm aller Dienstmädchen, trotz der finanziell prekären Lage zunächst keine allzu großen Sorgen um seinen Arbeitsplatz bei Major Marwood machen.

Doch als der Haushalt unter der gleichgültig-exzentrischen Victoria immer mehr zu verwahrlosen droht, beschließt Marwood noch einmal zu heiraten. Anthea, 14 Jahre jünger als der Major, kann ihr Glück zunächst kaum fassen. Doch ihre Illusionen sind nicht von langer Dauer und als Anthea – zum Entsetzen des Majors – schwanger wird, ändert sich ihre mausgraue Unterwürfigkeit. Für ihre Zwillinge fängt sie an zu kämpfen, was das ganze Gefüge auf Saunby ins Wanken bringt.

Die Schwestern Penelope und Christine, beide im heiratsfähigen Alter, haben so eine miserable Schulbildung genossen, dass jeder Versuch, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, zum Scheitern verurteilt wäre. So bleibt ihnen nur, entweder zu heiraten oder für immer in Saunby als ungeliebte Stieftöchter zu versauern.

Da kommt zu einem der von Major Marwood organisierten Cricket-Wettkämpfe der hübsche Spieler Nicholas Ashton, Sohn wohlhabender Eltern, und verliebt sich in Christine. Doch wer meint, hier käme nun ein kitschiges Happy-End, der irrt gewaltig. Die Handlung nimmt jetzt noch einmal richtig Fahrt auf.

Besonders gefiel mir, dass der Blick der Erzählerin nicht nur auf den gesellschaftlich Bessergestellten ruht, sondern genauso auf den Bediensteten, wie zum Beispiel der reizenden, aber unglücklich verliebten Bessy, und deren Arbeitsbedingungen.

For half an hour she [Bessy] despised Thompson with fierce joy. She was angry with him and anger is a grand cure for love if you can only keep it up. Bessy kept it up for half an hour, during which she cleaned windows with great vigour. But when they were done, she wept. It didn’t matter whether he was worth bothering about or not. It didn’t matter what he was. She loved him. (S. 130)

Ich habe The Priory unglaublich gerne gelesen. Die Personen kommen so frisch und lebendig daher, die einen mag man, die anderen mag man weniger, dann verschiebt sich das Bild, neue Facetten werden sichtbar. Und ich verstand danach besser, was all die Kritiker meinen, wenn sie sagen, dass Whipple über alltägliche, über durchschnittliche Menschen schreibe. Es gibt keine Helden und Prinzessinen mehr. Fast befürchtete ich, mich für keine der Romanfiguren wirklich erwärmen zu können, was sich im Laufe der Lektüre allerdings änderte. Die Charaktere werden dreidimensional und ihre Entscheidungen, die zum Teil katastrophale Folgen haben, werden nicht einfach durch ein Happy-End glattgebügelt.

Außerdem sind Bücher von Whipple wie eine kleine Zeitreise: Gesellschaftliche Umwälzungen sorgen dafür, dass traditionelle Rollenzuschreibungen brüchig werden, ohne dass neue Modelle sofort an ihre Stelle treten könnten. Und immer geht es auch – ganz ohne erhobenen Zeigefinger – um die zeitlosen Fragen: Was sind die Werte, die einem wichtig sind? Wie will oder sollte man mit seinen Mitmenschen umgehen?

Darüber hinaus war die Lektüre wie bei einem guten Krimi. Ich wollte wissen, wie es weitergeht, und habe abends viel zu lange gelesen. Kurz, anspruchsvoller als ein reiner Schmöker, doch auch keine Weltliteratur. Salley Vickers, die britische Schriftstellerin, hat deshalb diesem Roman die Wiederentdeckung als „a minor classic“ gewünscht.

Anmerkungen zur Rezeption der Autorin

Als in den siebziger und achtziger Jahren Neuauflagen mehr oder weniger vergessener Autorinnen auf ein größeres Interesse hoffen konnten,  stieß Whipple keineswegs überall auf verlegerische Begeisterung. Carmen Calill, die 1973 Virago Press gründete, äußerte sich in einem Artikel im Guardian 2008 sehr abfällig:

For some years I chose all the Classics, but as time went by first Alexandra Pringle and then Lynn Knight […] joined me, to form a trio that read everything. We had a limit known as the Whipple line, below which we would not sink. Dorothy Whipple was a popular novelist of the 1930s and 1940s whose prose and content absolutely defeated us. A considerable body of women novelists, who wrote like the very devil, bit the Virago dust when Alexandra, Lynn and I exchanged books and reports, on which I would scrawl a brief rejection: „Below the Whipple line.“

Doch inzwischen gehört Whipple zu den Bestsellern bei Persephone und Harriet Evans stellt in ihrem Vorwort zu Because of the Lockwoods, einem weiteren Roman Whipples, die Frage, warum Whipple nicht bekannter sei.

Why has she been so neglected, when every time someone picks her up for the first time they almost always become a fan? […] Why is she not acclaimed more widely, when so many of her contemporaries are still in print? […] the case does need to be made for Dorothy Whipple’s entry into the pantheon of great British novelists of the twentieth century. (S. vi)

Schließlich war Whipple in der ersten Hälfe des letzten Jahrhunderts eine auch von der Kritik anerkannte Schriftstellerin, doch soweit mir bekannt ist, gibt es bis heute keine Übersetzungen ins Deutsche, und das, obwohl J. B. Priestley in ihr gar die Jane Austen des zwanzigsten Jahrhunderts sah, womit er recht und unrecht zugleich hat.

Whipples Sprache hat nicht das Leuchtende, das Brillante. Sie wirkt behäbiger, ein klein wenig umständlicher, manchmal erklärt der allwissende Erzähler zu viel, anstatt darauf zu vertrauen, dass die Leserin/der Leser auch allein die richtigen Schlüsse aus dem Gesagten ziehen kann.

Gleichzeitig traut sich Whipple viel näher an die egozentrischen, boshaften, ja kriminellen oder sogar gewalttätigen Menschen heran, als dies Austen in ihren Romanen je getan hat. Und das Ende ihrer Geschichten ist viel verhaltener als bei Austen, nicht immer kommen die Liebenden zusammen, manchmal heiraten die Falschen und vor allem: Ihre Hauptpersonen gehören nicht automatisch zu den oberen Zehntausend.

Evans macht nun mehrere Gründe für Whipples Dahindümpeln in der zweiten oder gar dritten Reihe aus: Nicht nur die Titel ihrer Bücher seien heutzutage zu wenig marktschreierisch, auch ihre Sujets, die Geschichten ganz normaler, gewöhnlicher Familien, würden zu rasch als banal, überholt und nicht interessant genug verunglimpft.

Und vermutlich sei es Whipple zum Verhängnis geworden, dass sie so lesbar schreibe, regelrechte Schmökerqualitäten habe:

Then there is the readability factor: perhaps that is what mostly damages her reputation, the fact that she is so damned unputdownable. The thinking is the same as it has been for years: shouldn’t real literature be hard to read? (S. xi)

Dabei werde übersehen, welche Vorzüge gerade diese Autorin auszeichneten, die Romane geschrieben habe, die mit ihrer klaren, eleganten Prosa und dem Blick fürs Detail etwas ganz Eigenständiges und Unverwechselbares seien. Aber vor allem seien ihre Bücher wie ein Spiegel:

showing good and bad, light and dark and, crucially, the lives of normal people, where she makes the ordinary extraordinary. (S. vii)

Selbst Christopher Fowler nahm Dorothy Whipple im Independent in seine Reihe der Forgotten Authors auf, begrüßte die – im Übrigen sehr geschmackvoll gestalteten – Neuausgaben bei Persephone Books und kam zu dem Fazit:

Is it possible to read books like these now and still find pleasure in them? Absolutely, because our emotional centres remain unchanged, so Whipple’s novels and short stories are as valid as they ever were.

Hisham Matar: The Return (2016)

Early morning, March 2012. My mother, my wife Diana and I were sitting in a row of seats that were bolted to the tiled floor of a lounge in Cairo International airport. Flight 835 for Benghazi, a voice announced, was due to depart on time. Every now and then, my mother glanced anxiously at me. Diana too seemed concerned. She placed a hand on my arm and smiled. I should get up and walk around, I told myself. But my body remained rigid. I had never felt more capable of stillness.

So beginnt das dritte Buch des libyschen Autors, das mich in einer Weise beschäftigt, wie das nur sehr wenigen Büchern gelingt.

Fathers, sons and the land in between, so lautet der Untertitel und Ende Februar 2017 erschien das Buch auch in Deutsch im Luchterhand Verlag unter dem Titel Die Rückkehr.

Vielleicht zunächst etwas zum Hintergrund: Hisham Matar wurde 1970 in New York geboren, dann ging die Familie zurück nach Libyen, doch als sein Vater – im aktiven Widerstand gegen das Gaddafi-Regime – immer mehr um seine Sicherheit und um die seiner Familie fürchten musste, emigrierte die Familie zunächst nach Kenia, dann nach Ägypten. Da war Hisham gerade einmal sieben Jahre alt. Hisham und sein Bruder Ziad absolvierten ihre schulische Ausbildung in Großbritannien und Hisham studierte anschließend in London. 1990 wurde der Vater durch den Verrat des ägyptischen Geheimdienstes an Libyen ausgeliefert. Ein paar Jahre später verliert sich in dem berüchtigten Folterknast Abu Salim seine Spur endgültig. Weitere Verwandte des Autors, Onkel und Cousins, saßen ebenfalls zum Teil über 20 Jahre in diesem  Gefängnis.

Schon sein zweiter Roman Anatomy of a Disappearance (2011), in Deutsch unter dem Titel Geschichte eines Verschwindens erschienen, beinhaltete die Entführung des Vaters des Ich-Erzählers aus der Schweiz. Doch dort bleibt dieses familiäre Trauma, das Matar in eine durchaus spannende Geschichte mit diversen familiären Wirrungen einbettet, noch seltsam blass.

Ganz anders in seinem dritten Werk The Return; hier gelingt Matar ein autobiografisches Meisterwerk, das ihm 2017 sogar den Pulitzer-Preis für Biografie oder Autobiografie eingebracht hat.

Die erstmalige Rückkehr Hisham Matars in sein Heimatland nach 33 Jahren im Exil im Jahr 2012 bildet die Rahmenhandlung oder eher die Handlung des Romans, mit der unzählige andere Geschichten, Rückblenden, Betrachtungen und Exkurse verwoben sind.

Hier schreibt einer, der geradezu traumwandlerisch weiß, was er tut. Herausgekommen ist so viel mehr als eine biografische Nabelschau. Es geht um die richtig großen Themen: Heimat, Entwurzelung, um den Mut, in einer Diktatur Widerstand zu leisten, das Wüten der italienischen Kolonialmacht in Libyen nach dem Ersten Weltkrieg, um die Liebe eines Sohnes und seine Erinnerungen an seinen Vater, die Liebe einer Familie zueinander, um Trauer und um das Gesicht des abgrundtief Bösen, das immer auch so unglaublich zynisch ist. Wie ähnlich sich doch die Diktatoren sind. Und wie rasch westliche Demokratien den Diktatoren die Hand reichen. Und es geht um den Kampf Matars, durch Öffentlichkeitsarbeit Informationen zum Verbleib seines Vaters zu bekommen. Selbst ein Treffen mit einem der Söhne Gaddafis mutet er sich und seinem Bruder Ziad zu.

Und es geht um Kunst, um Bilder, um Literatur, die einem dabei helfen kann, nicht den Verstand zu verlieren.

Ein Beispiel, wie Matar arbeitet: Er schildert eine Tizian-Ausstellung in Rom und vor allem das Gemälde Martyrium des heiligen Laurentius zieht ihn völlig in seinen Bann. Als jemand, dessen Verwandte gefoltert und dessen Vater im Nichts einer Diktatur verschwunden ist, hat Matar einen ganz anderen Zugang zu diesem Bild als irgendein beliebiger Kunstflaneur. Doch von dem Gedanken ausgehend, dass sich die Folterknechte, die man im Gemälde sehen kann, richtig Mühe geben, ihre Arbeit „gut“ zu machen, geht Matar über zu der Frage, wie das Foltergefängnis Abu Salim architektonisch geplant worden ist.

Ich habe selbst schon auf diesem Blog die Wendung benutzt, dass ein Autor, eine Autorin für mich Fenster in andere Bereiche aufgestoßen habe. Doch Matar macht etwas anderes: Er macht mir klar, dass das, was er erzählt, in der Welt passiert, in der ich, in der wir gemeinsam leben. Libyen ist gar nicht mehr weit weg.

Was ebenfalls frappiert: Kein Hass, keine Bitterkeit, stattdessen eine große Weite, eine große Klarheit und Anschaulichkeit, die keiner pathetischen Worte bedarf.

Natürlich habe ich auch in diesem Buch Stellen angestrichen, die ich normalerweise hier zitiere. Doch diesmal sind es zu viele, die ich nicht aus ihrem Zusammenhang herauslösen möchte, zu dicht verschränkt sind die Ebenen, die Themenbereiche. Die Struktur des Buches ähnelt dem Haus seines Großvaters:

For a young boy it was as mysterious and magical as a maze. And I cannot separate its various surprising turns, its seeming endlessness, its modest and somewhat austere aesthetic, from my grandfather’s life and character. I often lost my way in its endless rooms, corridors and courtyards. Some windows looked out on the street, some on to one of the courtyards, yet others, strangely, looked into other rooms. It was never clear whether you were indoors or outdoors. Some of its halls and corridors were roofless or had an opening through which a shaft of light leant in and turned with the hours. Some of its staircases took you outside, under the open sky, before winding back in. (S. 147)

Kurz: Ganz große Literatur.

Hier geht’s lang zu Besprechungen auf letteratura und LiteraturReich.

Das sagt die Neue Zürcher Zeitung.

Emily Brontë: Wuthering Heights (1847)

Mit einem Grinsen im Gesicht und großer Genugtuung lese ich, was Mithu Sanyal in ihrem Buch Über Emily Brontë schreibt:

Wuthering Heights war der erste echte Roman, den ich gelesen habe, […] Und das war ein Glücksgefühl, ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis. Und ein Problem. Hängte er doch die Latte für weitere Romane extrem hoch, sodass ich später oft dachte: Das ist ja alles schön und gut, aber wann kommt endlich das Moor? (S. 14)

Vor einigen Jahren rief Birgit Böllinger auf ihrem ehemaligen Blog Sätze & Schätze dazu auf, unsere ganz persönlichen Klassiker zu entstauben und vorzustellen:

Im Gegensatz zum Feuilleton sind Literaturblogger nicht dem ständigen Aktualitätszwang verpflichtet – darin liegt auch eine Chance, immer einmal wieder einen Klassiker aus dem Regal hervorzuholen, sie den Lesern – so sie ihn noch nicht kennen – näherzubringen. Ich habe daher einige lesende und schreibende Menschen (Blogger, Schriftsteller, Verleger, Literaturschaffende und Literaturliebhaber) gebeten, mir von ihrem persönlichen Favoriten zu erzählen und über Bücher zu schreiben, die sie seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten begleiten, denen sie eine besondere Bedeutung zuschreiben, die sie als Klassiker bezeichnen würden.

Ich musste nicht lange überlegen. Mein Klassiker ist Wuthering Heights von Emily Brontë, einigen vielleicht eher unter dem deutschen Titel Sturmhöhe bekannt.

Die wilde Geschichte von den zwei unterschiedlichen Familien, die irgendwo im einsamen und rauhen Yorkshire wie Naturgewalten aufeinandertreffen, wurde erstmals 1847 veröffentlicht. Da wären zum einen die Earnshaws, deren Vater eines Tages aus Liverpool, dem damaligen Zentrum des Sklavenhandels, das so auffällig dunkle Findelkind Heathcliff mitbringt. Insgesamt sind die Earnshaws mit Tochter Catherine und Sohn Hindley eine Familie, die mit dysfunktional noch sehr freundlich umschrieben wäre. Auf der anderen Seite gibt es die gesitteten Lintons. Es kommt zu unglückseligen Eheschließungen, Geburten, Liebesleid, einem jahrzehntelangen Rachefeldzug, Tod und schließlich zu einer milden, aber geisterhaften Ruhe nach all dem stürmischen Gebaren.

Hab’s schon als Teenager gelesen, ohne die geringste Ahnung, dass das ein echter Klassiker ist. Später die Schwarzweiß-Verfilmung gesehen. Weitere Verfilmungen gingen spurlos an mir vorbei. Das Buch reicht mir völlig.

Im Studium habe ich mich monatelang mit dem Buch beschäftigt und es aus allen möglichen und unmöglichen feministischen, marxistischen oder psychoanalytischen Richtungen analysiert, interpretiert und dabei fast auswendig gelernt. Doch das Werk hat all dem standgehalten und begeistert mich heute noch genauso wie beim allerersten Mal.

Es bleibt bewunderndes Staunen oder staunende Bewunderung, denn bei jedem Lesen entdecke ich etwas Neues; man wird mit diesem Buch einfach nicht fertig. Da gibt es z. B. eine große psychologische Feinheit, mit der die Autorin zeigt, welche Verheerungen eine miese und brutale Erziehung anrichten kann.

Dann die Modernität der Perspektivengestaltung: Wie in einem Spiegellabyrinth muss man überlegen, wem man glauben kann. Die Erzählerfiguren, der Städter Lockwood und die Haushälterin Nelly Dean, die oft genug selbst ihre Finger im Spiel hatte, wollen uns von Anfang an ihre Sicht der Dinge unterjubeln.

Und erst die Hauptfiguren: Catherine, ihr ekelhafter Bruder Hindley, Heathcliff und dann Edgar und Isabelle Linton. In den zwei Häusern tobt ein archaischer Sturm, scheinbar meilenweit vom nächsten Ort entfernt, die Rache- und Liebeshandlung drängt vorwärts; am Ende sind fast alle tot und die Leser*innen völlig fertig. Und dann die großen Fragen nach Schuld, nach Liebe. Schließlich tragen hier alle ihren Teil, gewollt oder ungewollt, zu Chaos und Herzeleid bei.

Und überhaupt, was ist eigentlich Liebe? Ist es Liebe oder eine schier unfassbare Selbsttäuschung, wenn Catherine beteuert:

If all else perished, and he [Heathcliff] remained, I should still continue to be; and if all else remained, and he were annihilated, the Universe would turn to a mighty stranger. I should not seem a part of it. (…) my love for Heathcliff resembles the eternal rocks beneath – a source of little visible delight, but necessary. Nelly, I am Heathcliff – he’s always, always in my mind – not as a pleasure, any more than I am always a pleasure to myself – but, as my own being….

Und im Anschluss lese man das coole und ausgesprochen informative Buch Über Emily Brontë (2022) von Mithu Sanyal, die auch noch weiteren im Buch angelegten Spuren nachgeht, denen man erst seit wenigen Jahrzehnten überhaupt Aufmerksamkeit widmet, wie beispielsweise der Kritik an den unüberwindlichen Klassenschranken, der Hautfarbe Heathcliffs und den Spuren des Sklavenhandels.

Abschließend kann man dann noch die ARTE-Dokumentation anschauen, in der die Literaturwissenschaftlerin Lucasta Miller eine weitere Interpretationsmöglichkeit ins Spiel bringt: Der Roman könne als eine Warnung an die viktorianische koloniale Gesellschaft verstanden werden: „Die Ausgestoßenen werden sich letztendlich erheben.“

Elena Ferrante beschreibt in einem Interview, was ein gutes Buch ihrer Meinung nach leistet. Nicht nur nach dieser Definition ist Wuthering Heights ein phänomenal gutes Buch.

Good books are stunning charges of vital energy. They have no need of fathers, mothers, godfathers and godmothers. They are a happy event within the tradition and the community that guards the tradition. They express a force capable of expanding autonomously in space and time.

(aus: Elena Ferrante in einem Interview mit Sheila Heti, zitiert nach: ‘Be Silent, Recover My Strength, Start Again’: In Conversation with Elena Ferrante)

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Jane Austen: Pride and Prejudice (1813)

It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune must be in want of a wife. However little known the feelings or views of such a man may be on his first entering a neighbourhood, this truth is so well fixed in the minds of the surrounding families, that he is considered as the rightful property of some one or other of their daughters.

Mit diesem weithin bekannten Einstieg beginnt der englische Klassiker Pride and Prejudice (1813) von Jane Austen, der auf Deutsch unter dem Titel Stolz und Vorurteil erschienen ist.

Wie schon den ersten Sätzen zu entnehmen ist, muss die Ankunft des wohlhabenden Mr Bingley, des neuen Mieters des nachbarschaftlichen Herrenhauses, die Aufmerksamkeit der Familie Bennet erregen, schließlich haben Bennets haben gleich fünf Töchter, die ja irgendwann unter die Haube sollen. Das ist schon deshalb wichtig, weil aufgrund der damaligen Erbregelung das Anwesen nach dem Tode Mr Bennets nur einem männlichen Verwandten zufallen darf. Das wäre in diesem Fall Mr Collins, ein entfernter Cousin der Mädchen und ein schier unerträglicher Esel. Ohne Ehemann würden die Töchter nach dem Tod des Vaters im Grunde mittellos sein.

Hier wird nun von Austen ein etwas größerer Ausschnitt der Gesellschaft ins Auge gefasst, als das in den früheren Romanen der Fall war. Allerdings ändert diese Ausweitung nichts an den grundlegenden Themen, die auch diesen Roman durchziehen: die Rolle des Geldes, die Bedeutung von Erziehung, die Frage nach dem, was den richtigen Ehepartner ausmacht, die Überwindung von Vorurteilen. Und welche charakterlichen Reifungsprozesse müssen vollzogen werden, bevor man glücklich in den Hafen der Ehe einlaufen kann?

Die verschiedenen Möglichkeiten werden nun anhand der Familie Bennet durchgespielt. Da wären zum einen die Eltern: Mr Bennet ist eine interessante, weil durchaus zwiespältige Figur. Er ist intelligent und integer und sich im Klaren darüber, dass er er bei der Wahl seiner Ehegefährtin kräftig danebengegriffen hat, dennoch ist er nicht bereit, dem moralischen Verfall seiner Familie Einhalt zu gebieten. Stattdessen flüchtet er sich in Spott und in seine Bibliothek, in der ihn niemand stören darf.

Her mind was less difficult to develope. She was a woman of mean understanding, little information, and uncertain temper. When she was discontented, she fancied herself nervous. The business of her life was to get her daughters married; its solace was visiting and news. (S. 3 der in gebundenen Ausgabe der Everyman’s Library)

Jane, die älteste und tugendsame Tochter, verliebt sich in Mr Bingley. Die Liebe wird erwidert. Doch da Jane nicht als „gute Partie“ gilt und ihre Mutter und ihre jüngeren Schwestern ungebildet, ja fast schon ordinär sind, nimmt der zaudernde Bingley wenn auch schweren Herzens zunächst Abstand von Jane.

Ihre attraktive und lebhafte Schwester Elizabeth, die Hauptfigur, betrachtet das Treiben um sich herum mit gemischten Gefühlen. Sie nimmt ihrer Freundin Charlotte übel, dass diese, um lebenslang abgesichert zu sein, den Heiratsantrag von Mr Collins angenommen hat. Für sich selbst lehnt sie eine Heirat, die nicht auf gegenseitiger Achtung und Liebe beruht, grundsätzlich ab.

Elizabeth erkennt, wie berechnend und dümmlich sich ihre Mutter verhält. Sie ist empört, weil Bingley mit den Gefühlen ihrer Schwester zu spielen scheint, und kultiviert eine innige Abneigung gegen Bingleys Freund, den reichen, gut aussehenden, aber versnobten und stolzen Mr Darcy.

Der wiederum ist das Objekt der Begierde von Bingleys Schwester. Schonungslos legt der Erzähler deren Absichten offen, doch wer hätte nicht auch ein wenig Mitleid mit Miss Bingley?

Miss Bingley’s attention was quite as much engaged in watching Mr Darcy’s progress through his book, as in reading her own; and she was perpetually either making some inquiry, or looking at his page. She could not win him, however, to any conversation; he merely answered her question, and read on. At length, quite exhausted by the attempt to be amused with her own book, which she had only chosen because it was the second volume of his, she gave a great yawn and said: „How pleasant it is to spend an evening in this way! I declare after all there is no enjoyment like reading! How much sooner one tires of anything than of a book! – When I have a house of my own, I shall be miserable if I have not an excellent library.“ (S. 50/51)

Die mittlere Tochter der Bennets, Mary, ein unattraktives Mädchen, das von niemandem so richtig wahrgenommen wird, fällt allen anderen mit ihren Büchern, Klavierspielen und moralischen Sentenzen auf die Nerven.

Blieben noch die beiden jüngsten, Lydia und Kitty. An der fünfzehnjährigen Lydia, die wenig im Kopf hat außer ihrem Interesse für schöne Kleider und die im Ort stationierten Soldaten, sehen wir, wie gefährlich es ist, wenn eine dumme Mutter ihre Kinder verwöhnt und ihnen weder Werte noch Fähigkeiten vermittelt. Lydia brennt schließlich mit einem Tunichtgut durch.

Fazit

Anna Marie Quindlen, die einflussreiche amerikanische Autorin, Journalistin und Kritikerin, schrieb in ihrer Einleitung der Ausgabe der Modern Library voller Begeisterung:

Pride and Prejudice is also about that thing that all great novels consider, the search for self. And it is the first great novel to teach us that that search is as surely undertaken in the drawing room making small talk as in the pursuit of a great white whale or the public punishment of adultery.

Dennoch hat mich dieser Roman längst nicht so angesprochen wie Emma. Zwar führt Austen ihre Erzählfäden auch hier souverän zusammen und ihr Englisch ist wie immer ein Genuss. Austen ermöglicht dem Leser, der Leserin, nahezu mühelos die Distanz von 200 Jahren zu überbrücken. Wie in ihren anderen Werken betont sie auch hier, wie wichtig eine vernünftige Erziehung und die intellektuelle Ebenbürtigkeit in einer Ehe sind. Das sah damals bestimmt nicht jeder so.

Doch diesmal war mir die Handlung über weite Strecken zu sehr „Versuchsanordnung“, was zur Folge hatte, dass manche der Protagonisten wie Schachfiguren hin und hergeschoben wurden, ohne wirklich zu leben. Oft erschienen mir die Personen eher als Verkörperung bestimmter Tugenden bzw. Untugenden. Jane, die Arglose, ist so dermaßen fehlerlos, gut und immer darauf erpicht, nur das Beste von allen Menschen zu denken, dass sie mich extrem ermüdet hat. Auch ihre große Liebe Bingley war so fad und farblos.

Ihre Schwester Elizabeth kommt längst nicht an den Charme einer Emma Woodhouse heran und Lydia, ein dummes, verzogenes Ding, das in seiner Ehe garantiert nicht lange glücklich sein wird, erschien mir lebendiger als viele der anderen Romanfiguren.

Und doch lohnt sich die Lektüre allemal, nicht nur, um einen Klassiker der englischen Literaturgeschichte kennenzulernen, sondern auch um das Werk von Jo Baker zu verstehen, die in ihrem Roman Longbourn die gleiche Geschichte erzählt, und doch ganz anders, nämlich aus der Sicht der Hausangestellten. Unbedingt lesenswert.

Anmerkungen

Zum Abschluss hier die berühmten Worte aus Sir Walter Scotts Tagebuch vom 14. März 1826:

Also read again, and for the third time at least, Miss Austen’s very finely written novel of Pride and Prejudice. That young lady had a talent for describing the involvements and feelings and characters of ordinary life, which is to me the most wonderful I ever met with. The Big Bow-wow strain I can do myself like any now going; but the eyquisite touch, which renders ordinary commonplace things and characters interesting from the truth of the description and the sentiment, is denied to me. What a pity such a gifted creature died so early!

Janeites

Als Janeites  werden übrigens Austens Verehrer und Fans bezeichnet. Mit diesem Begriff wollten sich die ursprünglich eher akademisch geprägten Austen-Fans vom trivialen Literaturgeschmack der Massen abheben. Geprägt wurde der Begriff von George Saintsbury, einem britischen Literaturkritiker und Weinkenner: „He coined the term ‚Janeite‘ for a fan of Jane Austen in his introduction to a 1894 edition of Pride and Prejudice.

Der englischsprachigen Ausgabe der Wikipedia verdanke ich außerdem den verblüffenden  Hinweis, dass die Begeisterung für Jane Austen zunächst eine eher männlich-elitäre Angelegenheit war. Rudyard Kipling hat sogar eine Erzählung mit dem Titel The Janeites geschrieben, die im Ersten Weltkrieg spielt und die man hier nachlesen kann.

Doch als auch die „Massen“ begannen, Jane Austen und ihre Romane zu entdecken, und eine regelrechte Fan-Kultur entstand, deren Ende längst nicht abzusehen ist (inzwischen gibt es Jane Austen und Zombie-Kombinationen), entwickelte sich der Begriff Janeite fast hin zu einem Schimpfwort für jemanden, der die Romane Austens sozusagen aus den falschen Gründen liebe und die literarischen Feinheiten gar nicht zu würdigen wisse.

Wer möchte, kann sich hier den Roman in Englisch vorlesen lassen.

P. D. James (*1920) lässt ihren – nicht zu empfehlenden – Kriminalroman Death comes to Pemberley (2011) sechs Jahre nach der Hochzeit zwischen Elisabeth und Darcy einsetzen.

Jo Baker: Longbourn (2013)

There could be no wearing of clothes without their laundering, just as surely as there could be no going without clothes, not in Hertfordshire anyway, and not in September. Washday could not be avoided, but the weekly purification of the household’s linen was nontheless a dismal prospect for Sarah. The air was sharp at four thirty in the morning, when she started work. The iron pump-handle was cold, and even with her mitts on, her chilblains flared as she heaved the water up from the underground dark and into her waiting pail. A long day to be got through, and this just the very start of it.

Mit diesen Sätzen beginnt Jo Bakers lohnende Auseinandersetzung mit Pride and Prejudice, einem der bekanntesten Romane der englischen Literaturgeschichte.

Longbourn, das ist der Name des Dorfes und damit des Anwesens der Familie Bennet in Jane Austens bekanntestem Roman Pride and Prejudice (auf Deutsch Stolz und Vorurteil). Baker erzählt den Roman quasi noch einmal, und zwar aus Sicht der Bediensteten. Dabei sind die Bennets und deren Sorgen und Liebeständel zweitrangig, denn Baker legt den Schwerpunkt auf das Leben der Untergebenen, ihre Ängste, Hoffnungen und vor allem auf ihren Tagesablauf, der natürlich von harter Arbeit, so gut wie keiner Privatsphäre und wenig Wertschätzung geprägt war.

Die Leser*innen von Pride and Prejudice haben vielleicht noch die Szene vor Augen, wie Elizabeth sich auf dem nassen und schmutzigen Weg zu Bingleys Anwesen, wo sich ihre erkrankte Schwester aufhält, ihre Schuhe und Kleidung verdreckt. Bei Baker klingt das dann so:

If Elizabeth had the washing of her own petticoats, Sarah often thought, she’d most likely be a sight more careful with them. (S. 11)

Im Mittelpunkt steht Sarah, das Dienstmädchen, die genau wie die kleine Polly halbverhungert aus dem Armenhaus kommt und von Mrs Hill, der Haushälterin, ausgebildet, beaufsichtigt und angeleitet wird. Mrs Hill meint es gut mit den Mädchen, doch da sie sich – nicht ohne Grund, wie man im Laufe der Geschichte erfährt – alles Weiche und Herzliche nahezu abgewöhnt hat, kann sie dies nicht so zeigen, wie sie gern würde.

In die relative Ruhe und Gleichförmigkeit der Tage kommt Bewegung, als ein neuer footman, der attraktive James Smith, eingestellt wird, der von Sarah misstrauisch und gleichzeitig fasziniert beäugt wird. Die Ankunft des Militärs in Meryton und die Besuche der Offiziere in Longbourn scheinen James zu beunruhigen. Hatte er doch nach dramatischen Erlebnissen gehofft, hier ein ruhiges Plätzchen gefunden zu haben.

What was astonishing was the peace of this place. Like a pebble dropped into a stream, his arrival had made a ripple in the surface of things. He’d felt that; he’d seen it in the way they looked at him, Sarah and Mrs Hill and the little girl. But the ripples were getting fainter as they spread, and he himself was by now sunk deep and settled here; time would flow by and over him, and wedge him firmer, and he would take on the local colour of things. (S. 67)

Mrs Hill sieht mit Besorgnis, wie angetan Sarah von dem Mulatten Ptolomy Bingley ist, der von einer der Plantagen stammt, die den Bingleys gehören, und der nun in England als freier Mann sein Glück zu machen gewillt ist. Die erste Stufe dazu ist der Dienst als Diener im Bingleyschen Haushalt. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf.

Baker reiht sich damit nun keineswegs in die gerade im englischsprachigen Raum beliebte Fan-Fiction ein, die die Werke Austens als Vorlage und Anregung für meist locker-flockige und nicht allzu anspruchsvolle Liebesromane nimmt; inzwischen gibt es sogar Zombie- und Erotikversionen, siehe z. B. die Besprechung zu Pride and Prejudice and Zombies von Thomas Rau.

Doch Baker hat einen anderen Anspruch. Sie schafft so etwas wie einen Spiegel, den man bei der nächsten Austen-Lektüre immer mitdenken wird.

Das Buch gibt all den namenlosen „guten Geistern“ Würde und ein Gesicht. Natürlich ist Baker keine Jane Austen, manches gerät notgedrungen ein bisschen langatmig, z. B. wenn sie – exzellent recherchiert – den Tagesablauf und die Tätigkeiten der Hausangestellten ganz genau schildert, aber nur so kann die Leserin ja einen Eindruck gewinnen vom Leben derjenigen, die zur Zeit Austens eher unsichtbar sein sollten.  Wir bekommen plötzlich eine Ahnung, wie sich das vielleicht angefühlt haben mag, wenn man Seife aus Fett des gerade geschlachteten Schweins hergestellt hat, den Nachttopf der Herrschaften leeren und die Wäsche mit dem Menstruationsblut waschen musste. Oder bis früh morgens aufbleiben musste, damit die heimkehrende Herrschaft nach der kalten Kutschfahrt noch einen Tee genießen konnte.

Baker arbeitet dabei unaufdringlich immer wieder mit interessanten Spiegelungen. Die Leser*innen erinnern sich vielleicht, welche Fürsorge Jane Bennet im Hause der Bingleys erfährt, als sie schwer erkältet ist. Bei Baker erkrankt Sarah, doch was für ein Unterschied. Kein Arzt, keine Medizin. Und Mrs Hill muss sich die Minuten absparen, in denen sie nach Sarah schauen kann, die in der kalten Dachkammer liegt.

On Friday, Sarah burnt to the touch; her head rolled on the pillow; she muttered. Mrs Hill came up, or sent Polly, when she could, with broth or tea, and they would prop her up and spoon a little between her chattering teeth. But the attics were a long way from the kitchen and it was not often that someone could get away, and there was certainly little time to stay and comfort her. (S. 95)

Baker öffnet quasi den Hintereingang zur Welt der feinen Leute, die deshalb einen bestimmten Lebensstil pflegen konnten, weil das Geld beispielsweise in den kolonialen Plantagen mit Sklavenarbeit verdient wurde. Eine Welt, in der es beim Militär und in den kriegerischen Auseinandersetzungen gegen Napoleon brutal zuging. Eine Welt, in der uneheliche Kinder eine Katastrophe waren und in der die Dienstboten für einen geringen Lohn harte und schmutzige Arbeit verrichtet haben und in ihnen ein Aufstieg kaum möglich war. Die Alternative dürfte oft genug nur das Armenhaus gewesen sein.

Das schriftstellerische Verdienst Bakers liegt nun darin, dass sie keinen schaurigen Sensationsroman geschrieben hat, sondern uns einfühlsam einen Blick in eine fremde Welt ermöglicht, der eine beeindruckende Ergänzung zum Werk Jane Austens ist, passend zum 200. Geburtstag von Pride and Prejudice. Über kleine Holprigkeiten in der Handlung kann man da gern hinweggesehen.

Anmerkungen

Voll des Lobes war auch Clare Clark in ihrer Rezension, die am 14. August 2013 im Guardian erschien:

Like Austen, Baker has written an intoxicating love story but, also like Austen, the pleasure of her novel lies in its wit and fierce intelligence. Longbourn is a profound exploration of injustice, of poverty and dependence, of loyalty and the price of principle; running through the quiet beauty of much of Baker’s writing is the unmistakable glint of anger. […] The result is a triumph: a splendid tribute to Austen’s original but, more importantly, a joy in its own right, a novel that contrives both to provoke the intellect and, ultimately, to stop the heart.

Literarische Nachbarn

Laurie R. King: The Beekeeper’s Apprentice (1994)

I was fifteen when I first met Sherlock Holmes, fifteen years old with my nose in a book as I walked down the Sussex Downs, and nearly stepped on him. In my defence I must say it was an engrossing book, and it was very rare to come across another person in that particular part of the world in that war year of 1915. In my seven weeks of peripatetic reading amongst the sheep (which tended to move out of my way) and the gorse bushes (to which I had painfully developed an instinctive awareness) I had never before stepped on a person.

Auf Deutsch erschien der erste Band Amerikanerin Laurie R. King um die junge Mary Russell und den fast 40 Jahre älteren Sherlock Holmes unter dem Titel Die Gehilfin des Bienenzüchters.

Zum Inhalt

Sherlock Holmes, der sich inzwischen in die ländliche Idylle von Sussex zurückgezogen hat, um sich dort der Bienenzucht und seinen chemischen Experimenten zu widmen, lernt also 1915 die Vollwaise Mary Russell kennen. Es dauert nur wenige Minuten und die beiden stellen zu ihrer großen Verblüffung fest, dass sie anscheinend sehr ähnlich ticken. Folglich nimmt Holmes das junge Mädchen, das bei einer unfreundlichen Tante lebt, unter seine geistigen Fittiche und zieht sich so eine kluge Auszubildende heran.

Natürlich lassen die ersten zu lösenden Fälle nicht lange auf sich warten.  So müssen sie zum Beispiel die entführte kleine Tochter eines amerikanischen Senators in Wales aufspüren. Mary, die später in Oxford studieren wird, entwickelt sich dabei allmählich zu einer ebenbürtigen Partnerin des berühmten Detektivs.

Im (chronologisch) zweiten Band O Jerusalem (der allerdings später veröffentlicht wurde), müssen sie sogar ein Attentat in Palästina verhindern, das den fragilen Frieden nach dem Ersten Weltkrieg zunichte machen könnte. Recherchiert bis ins Kleinste und so anschaulich, dass man schließlich das Gefühl hat, mit ihnen durch die Gassen Jerusalems zu eilen.

Der dritte Band A Monstrous Regiment of Women spielt vor dem Hintergrund der erstarkenden Frauenbewegung in Großbritannien. Im Umfeld einer charismatischen Frauenrechtlerin kommt es zu mehreren Todesfällen. Dabei haben reale  Persönlichkeiten wie Marie Stopes ihre Gastauftritte und die Debatten um eine feministische Lesart der Bibel sind mehr als nur Fassade. Die den jeweiligen Kapiteln vorangestellten Zitate bekannter Autoren erinnern daran, dass im Westen Frauen Jahrhunderte lang als minderwertig bzw. dem Mann eindeutig nachgeordnet angesehen wurden.

Im vierten Band A Letter of Mary findet sich ein köstlicher kurzer Auftritt von Lord Peter Wimsey, der während einer Art Hausparty spontan von Mary gebeten wird, ihr zwei Frauen vom Leib zu halten, die ihre Tarnung auffliegen lassten könnten.

I paused, struck by a thought. ‚I might, actually, ask a small favour.‘

‚But of course – gallant is one of my overabundant middle names. What dragon does milady wish slain, what chasm spanned? A star pluck’t from the heavens, a cherry that hath no stone? Some shag for your pipe, perhaps?‘

‚Nothing so simple as dragons or bridges, I fear. I need two young ladies removed so that I might get at the groaning board where they stand waiting to recognise me for whom I am not […]‘

‚You wish me to murder two women so that you can eat lunch?‘ he asked with one politely raised eyebrow. ‚It seems just a bit excessive when there are servants willin‘ and able to bring you a tray […]‘

‚No, you idiot,‘ I said over the giggles he always managed to draw from me. ‚Just remove them for twenty minutes. Take them to view the peacocks, or see the etchings, or […]‘ (S. 215/215)

Fazit

Diese Pastiche-Krimis machen Spaß. Sie leben von dem freundlich-bissigen Austausch der beiden Protagonisten, abwechslungsreichen und sorgfältig in die Zeitgeschichte eingebetteten Fällen und genügend Charakterschilderung, sodass man den beiden eigenwilligen Figuren gerne auf ihren Streifzügen gegen das Verbrechen folgt. Garniert ist das Ganze mit Ironie und Augenzwinkern.

I was due to enter my college at Oxford in the autumn of 1917. I had been with Holmes for two years, and by the spring of 1917 could follow a footprint ten miles across country, tell a London accountant from a Bath schoolmaster by their clothing, give the physical description of an individual based on his shoe, disguise myself well enough to deceive Mrs Hudson, and recognise the ashes from the 112 most common brands of cigarettes and cigars. In addition, I could recite whole passages of the Greek and Latin classics, the Bible, and Shakespeare, describe the major archeological sites in the Middle East, and, thanks to Mrs Hudson, tell a phlox from a petunia. (S. 63)

Doch dann wechselt der Ton wieder zu  ganz glaubhaften ruhigen Passagen, in denen es u. a. um die Ursache von Marys Alpträumen oder die Entwicklung der Beziehung zwischen Mary und Holmes geht. Und ein paar Seiten später befindet man sich plötzlich in einer Dan-Brown-artigen Verfolgungsjagd.

Wer ein bisschen Hintergrundwissen zu Holmes und seinen Fällen mitbringt, freut sich an der ein oder anderen Anspielung. So tarnt sich Holmes einmal beispielsweise als Lieutenant-Colonel William Gillette.

The original William Gillette was an American actor who had cobbled together one of the first stage plays about Holmes, using bits of the Conan Doyle stories [dem Herausgeber der von Watson verfassten Geschichten] and adding a romantic interest. Holmes‘ opinion of the production was what one might expect. (O Jerusalem, S. 333)

Und an kleinen Seitenhieben auf den zunehmend spiritistisch angehauchten Conan Doyle, der hier als Herausgeber für die Werke Watsons fungiert, fehlt es ebenfalls nicht.

Selbstverständlich sind auch Mycroft und Mrs Hudson mit von der Partie. Und  man kann sich von Holmes so schöne Sätze anstreichen wie diesen, als Mary ihn fragt, ob er sie eigentlich sehr ungern an ihrem zweiten gemeinsamen Fall habe mitarbeiten lassen.

I was indeed filled with a singular lack of enthusiasm at the prospect. (S. 196)

Oder den hier:

‚Good evening, Mycroft,‘ said Holmes. ‚I apologise for intruding on your quiet reading with my little problem, but unfortunately it appears that someone is attempting to exterminate Miss Russell and myself. I thought you might be willing to be of assistance.‘ (S. 234)

 

Charles Chaplin: My Autobiography (1964)

I was  born on 16 April 1889, at eight o’clock at night, in East Lane, Walworth. Soon after, we moved to West Square, St George’s Road, Lambeth. According to Mother my world was a happy one. Our circumstances were moderately comfortable; we lived in three tastefully furnished rooms. One of my early recollections was that each night before Mother went to the theatre Sydney and I were lovingly tucked up in a comfortable bed and left in the care of the housemaid. In my world of three and a half years, all things were possible; if Sydney, who was four years older than I, could perform legerdemain and swallow a coin and make it come out through the back of his head, I could do the same; so I swallowed a halfpenny and Mother was obliged to send for a doctor.

So beginnt der britische Ausnahmekünstler Charles Chaplin seine Autobiografie, die auf Deutsch unter dem Titel Die Geschichte meines Lebens erschien.

Nach zunächst bescheidenem Wohlstand rutscht die kleine Familie – Chaplins Vater hatte sich da schon längst aus dem Staub gemacht, trank und dachte nicht daran, seine Frau und die zwei Söhne finanziell zu unterstützen – immer tiefer in Armut ab.

Die Mutter Chaplins versucht alles, um ihre zwei Kinder mit ihren Auftritten in Music Halls und Näharbeiten über Wasser zu halten. Als Charles fünf ist, verliert seine Mutter ihre Stimme. Ein Jahr später muss die Familie zum ersten Mal ins Armenhaus. Zwar erhalten die Jungen dort eine rudimentäre Schulbildung und müssen nicht hungern, doch die Bestrafungen sind so brutal, dass die Zöglinge danach ärztlich versorgt werden müssen, und die Atmosphäre bedrückend.

Schließlich geht es der Mutter so schlecht, dass die Ärzte vermuten, dass chronische Unterernährung schuld an ihren Wahnvorstellungen ist, die sie schließlich für lange Zeit ins Irrenhaus bringen. Deshalb entscheiden die Behörden, dass sich nun der Vater um die beiden Jungen zu kümmern habe. Dessen Lebensgefährtin ist wenig erfreut darüber und sperrt die Kinder über Nacht auch schon mal aus, sodass sie dann von der Polizei aufgegriffen werden. Mit 37 Jahren stirbt der Vater an den Folgen seiner Alkoholsucht.

It was difficult for vaudevillians not to drink in those days, for alcohol was sold in all theatres, and after a performer’s act he was expected to go to the theatre bar and drink with the customers. Some theatres made more profit from the bar than from the box office, and a number of stars were paid large salaries not alone for their talent but because they spent most of their money at the theatre bar. Thus many an artist was ruined by drink – my father was one of them. (S. 15/16)

Aber die rabiate Kindheit legt auch den Keim zu Chaplins Talent, denn durch seine Mutter kommt er schon als Fünfjähriger in Kontakt mit der Bühne und lernt schließlich Unterhaltungsensembles kennen, mit denen er auf Tournee geht, als knapp Dreizehnjähriger z. B. mit Sherlock Holmes-Stücken. Und während seiner zweiten Amerika-Tournee beschließt er, in den USA zu bleiben.

The further west we went the better I liked it. Looking out of the train at the vast stretches of wild land, though it was drear and sombre, filled me with promise. Space is good for the soul. It is broadening. My outlook was larger. (S. 127)

Sein Aufstieg in den USA ist unaufhaltsam, er wird einer der wichtigsten und erfolgreichsten Männer der „Traumfabrik“ Hollywood.

Seine Figur, der Tramp, wird zu einer Ikone.

You know this fellow is many-sided, a tramp, a gentleman, a poet, a dreamer, a lonely fellow, always hopeful of romance and adventure. He would have you  believe he is a scientist, a musician, a duke, a polo-player. However, he is not above picking up cigarette-butts or robbing a baby of its candy. And, of course, if the occasion warrants it, he will kick a lady in the rear – but only in extreme anger! (S. 146)

Seine Filme stellen immer neue Einspielrekorde auf und während seiner Reisen in Amerika und Europa wird er schon früh  wie ein Popstar von Tausenden begeisterter Fans bejubelt.

The large railroad station in Kansas City was packed solidly with people. The police were having difficulty controlling further crowds accumulating outside. A ladder was placed against the train to enable me to mount it and show myself on the roof. […] More telegrams awaited me: would I visit schools and institutions? I stuffed them in my suitcase, to be answered in New York. From Kansas City to Chicago people were again standing at railroad junctions and in fields, waving as the train swept by. I wanted to enjoy it all without reservation, but I kept thinking the world had gone crazy! (S. 177)

Fazit

Es lohnt, diese Autobiografie zu lesen, auch wenn sie später an einigen Stellen auseinanderbricht, nämlich da wo sie nur Anekdoten und Begegnungen aneinanderreiht.

Chaplins Kindheitserinnerungen nehmen einen großen Raum ein; kein Wunder, Chaplin hat nie vergessen, aus welch erdrückender Armut er kam. Sein Leben lang war er dankbar für den späteren Reichtum und die persönlichen Freiheiten, die für ihn daraus resultierten.

Berührend beispielsweise die Stelle, wo er als ganz junger Mann nach Monaten harter Arbeit mehr oder weniger aus Verzweiflung beschließt, das gesparte Geld auf den Kopf zu hauen, und ein paar Tage so zu leben, wie die Reichen leben. Also kauft er sich einen unglaublich teuren Koffer und quartiert sich im Astor in New York ein. Dabei weiß er gar nicht, wie das so funktioniert, reich zu sein. Im Hotelrestaurant ist er viel zu nervös, als dass er das Essen wirklich genießen könnte.

The splendour of the lobby and the confidence of the people strutting about it made me tremble slightly as I registered at the desk. (S. 135)

Und später wehrt er sich gegen jegliche Verklärung seiner bitterarmen Kindheit, wie sie ihm beispielsweise Somerset Maugham unterstellen möchte:

I found poverty neither attractive nor edifying. It taught me nothing but a distortion of values, an over-rating of the virtues and graces of the rich and the so-called better classes. Wealth and celebrity, on the contrary, taught me to view the world in proper perspective, to discover that men of eminence, when I came close to them, were as deficient in their way as the rest of us. […] to know that intelligence is not necessarily a result of education or a knowledge of the classics. (S. 267)

Seine Vorliebe für sehr junge hübsche Frauen endet immer wieder desaströs. Und überhaupt:

I suppose a dissertation on one’s libido is expected in an autobiography, although I do not know why. To me it contributes little to the understanding or revealing of character. Unlike Freud, I do not believe sex is the most important element in the complexity of behaviour. Cold, hunger and the shame of poverty are more likely to affect one’s psychology. (S. 206)

Erst mit seiner vierten Ehefrau Oona, mit der er acht Kinder hat und die 36 Jahre jünger ist als er, wird er dauerhaft glücklich.

Man erfährt nicht nur ganz viel über das Kino in seinen Anfängen, über seine (Stumm-)Filme und Chaplins anfängliche Skepsis dem Tonfilm gegenüber.

Chaplin ist monatelang gereist – in Japan stand er im Fokus einer Verschwörung und sollte umgebracht werden – und hat so viele interessante, berühmte und wichtige Menschen kennengelernt (viele Adlige, Politiker, den Prinzen von Wales, Churchill,  Horowitz, Igor Stravinsky, Aldous Huxley, den Tänzer Nijinsky, Einstein, Schauspieler natürlich, Somerset Maugham, H. G. Wells, Brecht, Feuchtwanger, Truman Capote, Ghandi, Sartre, Picasso und und und), dass das allein schon das Lesen lohne würde.

Doch vor allem ist sein Leben auch ein Spiegel des 20. Jahrhunderts in Amerika, er verkörpert wie nur wenige den Traum „from rags to riches“ und den Aufstieg der Traumfabrik Hollywood. Er sieht, wie einige seiner Kollegen ihren Reichtum doch auf sehr merkwürdig anmutende Art zur Schau stellen. Das gilt auch für den Medienmogul Hearst.

Und die Macht der Zeitungen bekommt Chaplin, als es um eine Vaterschaftsklage geht, selbst hautnah zu spüren.

Der Schauspieler rennt nie den Massen und dem gerade angesagten Zeitgeist hinterher. Öffentlich plädiert Chaplin für den Kriegseintritt der USA während des Zweiten Weltkrieges und wird dafür als Kommunist beschimpft und verdächtigt. Die hysterische Stimmungsmache der Medien, die Kommunistenhetze und die Feindschaft J. Edgar Hoovers, des jahrzehntelangen FBI-Chefs, sorgen dafür, dass er sich schließlich, nach vier Jahrzehnten des Erfolgs, vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe rechtfertigen muss.

Man wirft ihm nun auf einmal vor, dass er sich nie um die amerikanische Staatsbürgerschaft bemüht habe. Und teilt ihm mit, dass er nach einem Europa-Urlaub damit rechnen müsse, wegen seiner politischen Umtriebe und Unzuverlässigkeiten strengstens befragt zu werden. So verbringt er seine letzten Jahrzehnte zusammen mit seiner Familie ganz luxuriös auf seinem Schweizer Anwesen.

Was aber bleibt von diesem Ausnahmekünstler?

In other words, through humour we see in what seems rational, the irrational; in what seems important, the unimportant. It also heigthens our sense of survival and preserves our sanity. Because of humour we are less overwhelmed by the vicissitudes of life. It activates our sense of proportion and reveals to us that in an over-statement of seriousness lurks the absurd. (S. 210)

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Jeanette Winterson: Why be happy when you could be normal (2011)

When my mother was angry with me, which was often, she said, ‘The Devil led us to the wrong crib.’ The image of Satan taking time off from the Cold War and McCarthyism to visit Manchester in 1960 – purpose of visit: to deceive Mrs Winterson – has a flamboyant theatricality to it. She was a flamboyant depressive; a woman who kept a revolver in the duster drawer, and the bullets in a tin of Pledge. A woman who stayed up all night baking cakes to avoid sleeping in the same bed as my father.

So beginnt Why be happy when you could be normal, die autobiografische Lebensrückschau der bekannten britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson.

Monika Schmalz übersetzte Warum glücklich statt einfach nur normal? ins Deutsche. Winterson hatte schon in ihrem preisgekröntem Erstlingswerk Oranges are not the only Fruit (1985) ihre bizarre Kindheit und Jugend zum Thema gemacht: Sie war 1960 von einem armen Freikirchler-Ehepaar im Norden Englands adoptiert worden, doch waren die Wintersons denkbar ungeeignet, einem Kind Geborgenheit zu geben. Doch jetzt, ca. zehn Romane, einige Jugendbücher und Jahrzehnte später, bezeichnet Winterson ihren ersten Roman nur  noch als ‚cover version‘:

And I suppose that the saddest thing for me, thinking about the cover version that is Oranges, is that I wrote a story I could live with. The other one was too painful. I could not survive it. (S. 6)

Why be happy when you could be normal? ist nun der Versuch, sich noch einmal mit ihrer schmerzhaften Vergangenheit und den daraus resultierenden Narben auseinanderzusetzen. Diesmal soll es keine ‚cover version‘ werden. Winterson selbst bezeichnet das Buch als „experiment with experience“ und die Frage, wie viel in einem Werk streng autobiografisch sei, findet sie irrelevant. Entscheidend sei die Echtheit, die „authenticity“.  Und authentisch ist ihr neues Werk ohne Frage.

Immer stärker hat sie das Gefühl, dem Alptraum ihrer Kindheit trotz ihres berufliches Erfolges hilflos ausgeliefert zu sein: Ihre Liebesbeziehungen sind allesamt gescheitert – Winterson ist lesbisch, was dazu führte, dass sie mit 16 von ihrer Adoptivmutter rausgeworfen wurde und sie plötzlich auf der Straße stand -, sie ist nicht in der Lage, mit einem anderen Menschen unter einem Dach zu leben, sie fühlt sich zutiefst unliebenswert, wird depressiv und unternimmt im Februar 2008 einen Selbstmordversuch.

Das Buch ist nun auf mehreren Ebenen zu lesen. Wir kehren noch einmal nach Accrington zurück, wo Jeanette ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, und erfahren noch einmal im Detail, was Mrs Winterson unter einer christlichen Erziehung verstand. Ihr Ehemann ist nur ein stiller Schatten, der ihr an keiner Stelle Paroli bietet. Dabei gelingt es Winterson – menschlich und künstlerisch beeindruckend – wie schon in Oranges are not the only Fruit, dass wir auch Mitleid mit dieser fürchterlichen und sicherlich schwer kranken Frau haben, die sich und allen anderen in ihrem Umfeld, alles, was auch nur im Entferntesten nach Leben, Körperlichkeit oder Lachen oder Glück roch, mit äußerster Brutalität versagte. Man fragt sich mehr als einmal, was Mrs Winterson selbst erlebt haben muss und warum um alles in der Welt sie überhaupt auf die Idee gekommen ist, mit 37 ein Kind zu adoptieren. Die merkwürdige Frage, die der Titel stellt, ist im Grunde das Lebensmotto der Mrs. Winterson.

Die kleine Jeanette, in der Schule ein Außenseiter und ein schwieriges, aggressives Kind, wird als Strafe oft über Nacht einfach ausgesperrt und muss dann die Nacht auf der kalten Treppenstufe verbringen.

… and I’m locked out and sitting on the doorstep again. It’s really cold and I’ve got a newspaper under my bum and I’m huddled in my duffel coat. A woman comes by and I know her. She gives me a bag of chips. She knows what my mother is like. Inside our house the light is on. Dad’s on the night shift, so she can go to bed, but she won’t sleep. She’ll read the Bible all night, and when Dad comes home, he’ll let me in, and he’ll say nothing, and she’ll say nothing, and we’ll act like it’s normal to leave your kid outside all night, and normal never to sleep with your husband. (S. 4)

Auf einer zweiten Ebene ist es eine verdichtete Reflexion über die Auswirkungen solcher Erlebnisse, über die Folgen von Adoption und Lieblosigkeit, über die Narben und lebenslangen Auswirkungen einer solchen Jugend. Als Erwachsene musste sie erst mühsam lernen, was es heißt, einen anderen Menschen zu lieben. Auch die Bestrafung beispielsweise, nachts auf den Treppenstufen sitzen zu müssen, hat sich tief in ihr Leben eingeprägt:

My friends joke that I won’t shut the door unless it is officially bedtime or actually snowing into the kitchen. The first thing I do when I get up in the morning is to open the back door. […] All those hours spent sitting on my bum on the doorstep have given me a feeling for liminal space. I love the way cats  like to be half in half out, the wild and the tame. […] I am domestic, but only if the door is open. And I guess that is the key – no one is ever going to lock me in or out again. My door is open and I am the one who opens it. (S. 60)

Aber vor allem ist es eine Reflexion über die Möglichkeiten, solche Erfahrungen zu überleben und produktiv damit umzugehen. Einer ihrer Lieblingsgedanken dazu lautet, dass die Vergangenheit nicht feststehe, man verstehe und interpretiere sie in späteren Lebensabschnitten ganz unterschiedlich, man könne sie sich verwandeln, neu betrachten und sich damit aus der Opferrolle befreien. Außerdem sei schließlich entscheidend, wie man die Karten spiele, die einem das Leben ausgeteilt habe.

I used to have an anger so big it would fill up any house. I used to feel so hopeless that I was like Tom Thumb who has to hide under a chair so as not to be trodden on. Do you remember how Sinbad tricks the genie? Sinbad opens the bottle and out comes a three-hundred-foot-tall genie who will kill poor Sinbad stone dead. So Sinbad appeals to his vanity and bets he can’t get back into the bottle. As soon as the genie does so, Sinbad stoppers the neck until the genie learns better manners. […] Sometimes, often, a part of us is both volatile and powerful – the towering anger that can kill you and others, and that threatens to overwhelm everything. We can’t negotiate with the powerful but enraged part of us until we teach it better manners – which means getting it back in the bottle to show who is really in charge. This isn’t about repression, but it is about finding a container. (S. 34 – 35)

Und so ist das Buch auf einer weiteren Ebene eine Liebeserklärung an eigene und fremde Geschichten, an Büchereien, an Literatur, die für sie nichts mit intellektueller Selbstbeweihräucherung oder elitärer Freizeitbeschäftigung zu tun hat, sondern schlicht eine Lebensnotwendigkeit ist. Literatur hat eine wesentliche Rolle bei ihrem Überleben gespielt.

When I was locked outside, or the other favourite, locked in the coal-hole, I made up stories and forgot about the cold and the dark. I know these are ways of surviving, but maybe a refusal, any refusal to be broken lets in enough light and air to keep believing in the world – the dream of escape. (S. 21)

It’s why I am a writer – I don’t say ‘decided’ to be, or ‘became’. It was not an act of will or even a conscious choice. To avoid the narrow mesh of Mrs Winterson’s story I had to be able to tell my own. Part fact part fiction is what life is. And it is always a cover story. I wrote my way out. (S. 5 – 6)

I believe in fiction and the power of stories because that way we speak in tongues. We are not silenced. All of us, when in deep trauma, find we hesitate, we stammer; there are long pauses in our speech. The thing is stuck. We get our language back through the language of others. We can turn to the poem. We can open the book. Somebody has been there for us and deep-dived the words. I needed words because unhappy families are conspiracies of silence. The one who breaks the silence is never forgiven. He or she has to learn to forgive him or herself. (S. 9)

I had no one to help me, but the T. S. Eliot helped me.
So when people say that poetry is a luxury, or an option, or for the educated middle classes, or that it shouldn’t be read at school because it is irrelevant, or any of the strange and stupid things that are said about poetry and its place in our lives, I suspect that the people saying that had things pretty easy.
A tough life needs a tough language – and that is what poetry is. That is what literature offers – a language powerful enough to say how it is. (S. 40)

Und noch auf einer weiteren Ebene spielt das Buch. Winterson erklärt, wieso es auf einmal lebenswichtig für sie wurde, mehr über ihre leibliche Mutter zu erfahren. Diese Spurensuche ist spannend und man kann kaum glauben, wie Bürokratie und dieser ganze sogenannte Dienstweg, auch hier das Leben und schlichte Mitmenschlichkeit fast bis zur Unkenntlichkeit entstellen.

Die Sprache Wintersons ist kraftvoll, schnörkellos, und auch alle Bilder und Vergleiche wirken kompromisslos, so als ob sie nur genau so hätten verwendet werden können. Sicherlich kein Zufall, da ihr als Kind Sprache vor allem in der Bibel begegnet ist. Diese Schule merkt man ihr an. Allerdings bemerkt man so manchmal erst auf den zweiten Blick, dass man wahrscheinlich nicht allen sehr apodiktisch getroffenen Aussagen zustimmen will.

An keiner Stelle habe ich überlegt, ob ich das Buch zur Seite legen möchte. Und dennoch hat mir Oranges are not the only Fruit besser gefallen. Die diversen Ebenen in Why happy when you could be normal? ließen das Buch für mich auseinanderbrechen. Es ist die Aufarbeitung der schwierigen Lebensgeschichte von einer mutigen, klugen, sprachmächtigen und reflektierten Frau. Nicht mehr und nicht weniger.

Und das sagt Sabine von Binge Reading zu dem Buch.

Die Rezensenten sind geteilter Meinung: June Thomas schreibt beispielsweise im Slate Book Review am 3. März 2012:

Three-quarters of the way through the book, the action suddenly jumps ahead 25 years to 2007 and to the breakup of a relationship, the death of her adoptive father’s second wife, to Jeanette finding her adoption papers, and eventually descending into madness. Within a few pages, she is hearing voices and attempting suicide. These passages are alarming and shockingly revealing—a woman who has looked after herself so effectively since she was 16 can barely manage the basic tasks of survival—but it’s so raw and undigested, it’s hard to take in and difficult to understand. In her 1997 Paris Review interview, Winterson said, “If you want something to be clear straightaway then it’s probably better not to read my books.” That’s fair enough in a novel, but in a memoir, the saga of seeking out a birth mother—a cold, bureaucratic process that took such a toll on Winterson’s psyche—clarity feels like a reasonable request.

Julie Myerson hat sich im Observer vom 6. November 2011 allerdings begeistert zu dem Buch geäußert. Ihre Besprechung beginnt mit den Worten:

Jeanette Winterson once asked her adoptive mother […] why they couldn’t have books in the house. ‚The trouble with a book is that you never know what’s in it until it’s too late,‘ answered the peerless Mrs Winterson. As advertisements for reading go, it’s pretty seductive. But it also happens to be wonderfully true of this vivid, unpredictable and sometimes mind-rattling memoir. You start it expecting one thing – a wry retake of her working-class gothic upbringing – and come out having been subjected to one of the more harrowing and candid investigations of mid-life breakdown I’ve ever read. This book is definitely of the sort that Mrs Winterson feared most: truths that most of us find hard to face, explored in a way that disturb, challenge, upset and inspire. And so yes, by the time I realised what it was really about and what it was going to do to me, it was definitely far ‚too late‘.

Wer mehr über Winterson und ihr Schreiben erfahren möchte, sehe sich das Amazon-Interview mit ihr an. Buzzaldrins Blog verdanke ich den Hinweis auf Wintersons sehenswerten Auftritt 2012 im Sydney Opera House, in dem sie über die Bedeutung von Literatur und ihren Roman spricht.

Books, for me, are a home. Books don’t make a home – they are one, in the sense that just as you do with a door, you open a book, and you go inside. Inside there is a different kind of time and a different kind of space. There is warmth there too – a hearth. I sit down with a book and I am warm. I know that from the chilly nights on the doorstep. (S. 61)

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Rabih Alameddine: An Unnecessary Woman (2013)

You could say I was thinking of other things when I shampooed my hair blue, and two glasses of red wine didn’t help my concentration. Let me explain. First, you should know this about me: I have but one mirror in my home, a smudged one at that. I’m a conscientious cleaner, you might even say compulsive – the sink is immaculately white, its bronze faucets sparkle – but I rarely remember to wipe the mirror clean. I don’t think we need to consult Freud or one of his many minions to know that there’s an issue here.

So beginnt der aufregend gute Roman An Unnecessary Women (2013) des libanesisch-amerikanischen Autors Rabih Alameddine. Die deutsche Übersetzung von Marion Hertle erschien im Louisoder Verlag unter dem Titel Eine Überflüssige Frau.

Zum Inhalt

Die 72-jährige Aaliya Saleh, kinderlos und seit 52 Jahren ledig, lebt allein in ihrer Wohnung in Beirut. Bis vor wenigen Jahren hat sie in einem Buchladen gearbeitet. Die meiste Zeit hat sie dort vermutlich gelesen, denn es gab nur wenige Kunden, die das anspruchsvolle Programm des Ladens zu würdigen wussten. Mal ganz abgesehen davon, dass sie oft neben den Büchern für das Geschäft oft noch ein Zweitexemplar für daheim geordert hat. Sie hat das immer in Ordnung gefunden, da ihr Lohn ohnehin zu gering gewesen war.

I long ago abandoned myself to a blind lust for the written word. Literature is my sandbox. In it I play, build my forts and castles, spend glorious time. It is the world outside that box that gives me trouble. […] Transmuting that metaphor, if literature is my sandbox, then the real world is my hourglass – an hourglass that drains grain by grain. Literature gives me life, and life kills me. Well, life kills everyone. (S. 5)

Nun aber macht sich allmählich das Alter bemerkbar und unliebsame Gedanken und Erinnerungen kommen zu Besuch, gerade jetzt, gegen Jahresende. An ihre Kindheit, ihre Mutter – die noch lebt -, ihre ausgesprochen freudlose Ehe, die zu ihrer Erleichterung nur vier Jahre dauerte, ihre einzige Freundin und vor allem an die Bücher, die sie in ihrer Freizeit übersetzt hat.

Da sie neben Arabisch nur Englisch und Französisch beherrscht, hat sie das System entwickelt, nur Bücher ins Arabische zu übersetzen, die vorher ins Englische und Französische übersetzt worden waren. Anhand dieser zwei Übersetzungen hat sie dann sozusagen eine Übersetzung der Übersetzung angefertigt. Das hat ihr immer wieder Momente des Glücks gegeben und ihre Tage strukturiert. Außer ihr hat niemand diese Übersetzungen je zu Gesicht bekommen. Doch diesmal fällt ihr die Entscheidung schwerer als sonst, welches Buch soll sie im neuen Jahr übersetzen?

Diese belesene, ein bisschen schrullige und misanthropische Frau, die ihr ganzes Leben in Beirut verbracht hat, will in Ruhe gelassen werden, auch den Kontakt mit den Mitbewohnerinnen ihres Mietblocks möchte sie weiterhin auf ein Minimum beschränken, doch das erweist sich zunehmend als schwierig.

Fazit

Hier spricht eine Ich-Erzählerin mit einer so dichten, bissigen, auch selbst-ironischen Stimme, die dann wieder so anrührend einsam daherkommt, dass ich mir immer klarmachen musste, dass hier eine fiktive Figur spricht. Und überhaupt der Schauplatz: Beirut, auch so eine Stadt in einem geschundenen Land. Aaliya hat das Grauen und den Schrecken des Bürgerkrieges miterlebt.

Ein Buch, in dem Autoren (von Pessoa über Bruno Schulz bis Sebald) und Titel und kluge Gedanken sich die Klinke in die Hand geben, ohne dass das ein versnobtes oder fassadenhaftes Namedropping wäre; jedes Zitat sitzt, wird von der Erzählerin organisch in ihren Gedankenfluss integriert. Hier sitzen die Schriftsteller sozusagen mit am Tisch, auch dann, als sich Aaliya überlegt, was wohl mal auf ihrem Grabstein stehen wird. Dabei erinnert sie sich beispielsweise an die Grabinschrift von Malcolm Lowry oder an eine römische Grabinschrift:

Non fui, fui, non sum, non curo.

I was not, I was, I am not, I don’t care. (S. 172)

Vielleicht wird deshalb in vielen Rezensionen das Buch als ein Lobgesang auf die Literatur beschrieben. Das greift zu kurz bzw. ist viel zu süßlich. Der Roman ist das Intelligenteste, was ich bisher über das Lesen in Romanform gelesen habe. Und zwar nicht nur über die Frage, wozu wir überhaupt lesen und was Literatur vermag, sondern auch über die Gefahren, die Weltflucht und die Illusionen, die wir uns übers Bücherlesen machen.

Und gleichzeitig ein wunderbares Porträt einer nur von außen unscheinbaren alten Frau.

Und wenn wir dann denken, dass nun die Handlung gemählich und leise dem Ende entgegenplätschert, macht uns der Autor eine lange Nase und ich halte vor lauter Spannung für einen Moment die Luft an.

Anmerkungen

2014 war das Buch auf der Shortlist für den National Book Award.

Aminatta Forna schreibt im Independent:

An Unnecessary Woman is a story of innumerable things. It is a tale of blue hair and  the war of attrition that comes with age, of loneliness and grief, most of all of resilience, of the courage it takes to survive, stay sane and continue to see beauty. Read it once, read it twice, read other books for a decade or so, and then pick it up and read it anew. This one’s a keeper.

Sharon Dodua Otoo: the things i am thinking while smiling politely … (2012)

… accompanied by the sound of rhythmic protest buzzes. In the hallway, my finger finds the „speak“ button on the intercom. The soles to my feet suffer on the cold wooden floor. Ama announces herself. I visualise her standing at the main door below, clutching at her handbag. In the background, I can hear two cars driving by. Her voice sounds faint and distant, but her emotion reaches me with crystal clarity. Yup. She is angry.

So beginnt der erste längere literarische Text der Bachmann-Preisträgerin 2016, der 1972 geborenen Autorin Sharon Dodua Otoo, deren Eltern aus Ghana stammen.

Die Autorin lebt mit ihren Söhnen seit 2006 in Berlin, wo auch the things i am thinking while smiling politely … spielt.

Mirjam Nuenning übersetzte die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle … ins Deutsche.

Erschienen ist das Buch bei Edition Assemblage.

Zum Inhalt

Die schwarze Ich-Erzählerin, Mutter zweier Kinder, erzählt von der schwierigen und schmerzhaften Trennung von ihrem weißen Mann, der  – das ist eines der Probleme dabei – für sie nach wie vor der attraktivste Mann überhaupt ist.

Wir erfahren, wie die Kinder darunter leiden, wie die Freunde damit umgehen. Wie sie selbst darauf reagiert. Wie sie sich an ihren eigenen Vater erinnert.

Sie erzählt, was von ihren ghanaischen Wurzeln sie noch an ihre Kinder weitergeben kann bzw. will. Das tut sie nicht chronologisch, sondern eher assoziativ, sprunghaft und eruptiv.

Werden die Erinnerungen zu schmerzhaft, wird erst einmal zu etwas anderem, einem anderen Tag gewechselt, um sich erst später wieder dem ursprünglichen Thema zuzuwenden. Das hat mich zwar in der zeitlichen Abfolge der Geschehnisse manchmal verwirrt, aber bei einem Umfang von 98 Seiten kann man ja notfalls noch mal zurück- oder vorblättern.

Klingt diese Mini-Zusammenfassung öde, bleischwer? Nichts könnte ferner liegen. Hier spricht eine kraftvolle Stimme, ehrlich, sich selbst nicht schonend, frech, mit Humor, mit wachem Blick, mitten aus der Phase, wenn einem die eigene Ehe um die Ohren fliegt und man trotzdem weiter funktionieren muss. Schon wegen der Kinder und so. Dabei hat sie zur Zeit noch nicht einmal einen guten Draht zu ihrer Tochter Beth und findet sie eher nervtötend.

Since Beth and I agreed on almost nothing, I mostly just observed her various developments from an emotional distance. It seemed to me she preferred to raise herself and was certainly prepared to forego the benefit of my wisdom. (S. 33)

Und dass man selbst seine guten Freundinnen gar nicht immer so richtig mag, wird hier knochentrocken konstatiert. Bis S. 29 war ich der Meinung, „the Australian“ sei eben eine australische Freundin.

I privately gave Gabi the nickname „The Australian“ because I used to think she was in a completely different time zone… (S. 29)

Gelungen auch die Idee, Sätze, die den Partner verwunden sollen, als nummerierte „Shrapnel“ (Granatsplitter) unabhängig vom übrigen Text grafisch einzustreuen. Davon dürften uns viele aus eigenen Auseinandersetzungen bekannt sein.

shrapnel (179) … I should have left you years ago.

Ein feines Werk. Gern gelesen.

Margaret Millar: Ask for me tomorrow (1976)

It was late afternoon. As Marco dozed in his wheelchair the long lazy rays of the sun touched the top of his head and stroked the sparse grey hairs of his good arm and fell among the folds of his lap robe. Gilly stood in the doorway and watched her husband, waiting for some sign that he was aware of her presence.

So beginnt der erste von drei Kriminalromanen um den spanischstämmigen Anwalt Tom Aragon von

Margaret Millar: Ask for me tomorrow (1976)

Im Deutschen erschien das Buch unter dem Titel Fragt morgen nach mir.

Gilda Decker, in zweiter Ehe verheiratet mit dem todkranken Invaliden Marco, heuert den jungen Anwalt Tom Aragon an. Er soll ihren ersten Ehemann B. J. Lockwood finden. Der war klein, dick, freundlich, harmlos, reich – und ihre große Liebe. Doch nachdem er dummerweise vor acht Jahren ein 15-jähriges mexikanisches Hausmädchen geschwängert hatte, ist er mit diesem nach Mexiko gezogen.

Das letzte Lebenszeichen von B. J. ist ein Brief, in dem er Gilda um eine größere Summe Geld bat, um damit in Mexiko in Immobilien zu investieren. Darauf hat Gilda aber nie reagiert.

Nun gestaltet sich die Suche nach B. J. Lockwood allerdings schwieriger als gedacht und es kommt zu merkwürdigen Todesfällen, je näher Aragon der Erfüllung seines Auftrages zu kommen scheint.

Fazit

Was für ein feiner kleiner Kriminalroman von einer Schriftstellerin, die mir bisher völlig entgangen war.

Hier verbinden sich glaubhafte Charaktere (und zwar bis in die Nebenfiguren hinein), hinreißend bissige Dialoge mit Spannung und der Fähigkeit, so anschaulich zu schreiben, dass man sich direkt in einen Schwarzweißfilm mit Humphrey Bogart versetzt sieht. Selbst dass mich die Auflösung nicht  mehr wirklich überrascht hat, konnte da noch stören.

Ich werde mich unverzüglich auf die Suche nach weiteren Büchern von Millar (1915 – 1994) begeben, die 1956 den Edgar Allan Poe Award und 1983 von der Mystery Writers of America den Grand Master Award für ihr Lebenswerk erhielt.

 

John Meade Falkner: Moonfleet (1898)

Das Dorf Moonfleet liegt eine halbe Meile von der See am rechten oder westlichen Ufer des Bächleins Fleet. Dieses Rinnsal fließt so schmal an den Häusern vorbei, dass ich von guten Weitspringern gehört habe, die es ohne die Hilfe eines Stabes überwunden haben, verbreitert sich unterhalb des Dorfes in die Salzmarschen hinein und verliert sich schließlich in einem Brackwasserteich. […] Von der offenen See ist er durch einen riesigen, breiten Kieselstrand oder Damm getrennt, auf den ich später noch zurückkommen werde. Als ich noch ein Kind war, glaubte ich, dieser Ort werde Moonfleet genannt, weil in ruhigen Nächten, gleich ob im Sommer oder in der Winterkälte, der Mond so hell auf die Lagune schien. Später erfuhr ich dann, dass der Name nur eine Abkürzung für Mohunefleet war, von den Mohunes her, einer bedeutenden Familie, die früher einmal über die ganze Gegend herrschte.

So beginnt der Abenteuerroman des englischen Geschäftsmannes und Autors

John Meade Falkner: Moonfleet (1898)

Das Buch wurde von Michael Kleeberg ins Deutsche übersetzt und erschien 2016 im liebeskind Verlag.

Zum Inhalt

Die Geschichte  nimmt 1757 ihren Ausgang im beschaulichen Moonfleet an der südenglischen Küste von Dorset, das auch schon mal bessere Zeiten gesehen hat.

Heute lebten keine zweihundert Seelen mehr in Moonfleet, aber dennoch zerstreuten sich die Häuser, in denen sie wohnten, trist über eine halbe Meile hin, in großen Abständen zu beiden Seiten der Straße. Nichts im Dorfe wurde jemals erneuert, benötigte eines der Häuser dringend Reparaturen, riss man es gleich ab, und so gab es entlang der Straße viele Zahnlücken und überwucherte Gärten mit verfallenen Mauern, und viele der Häuser, die noch standen, wirkten so, als würden sie nicht mehr allzu lange bestehen. (S. 7)

Die Menschen leben vom Fischfang und vom Schmuggel mit Frankreich. Sie erzählen einander wilde Räuberpistolen und schaurige Legenden. Und besonders John Trenchard, ein 15-jähriger Waisenjunge, träumt davon, den sagenumwobenen und mit einem Fluch belegten Diamanten des Colonel Mahone zu finden, der vor 100 Jahren verstorben und in der Gruft unterhalb der Kirche bestattet ist.

Eines Tages überwirft sich John mit seiner lieblosen Tante und zieht zu seinem väterlichen Freund Elzevir Block, der in Moonfleet die Kneipe betreibt.

Doch spätestens, als Maskew, der von allen gehasste Friedensrichter mit der wunderhübschen Tochter Grace, den Schmugglern im Ort den Krieg erklärt und bei einer Razzia ohne Not Elzevirs Sohn David erschießt, ist es mit der Idylle vorbei.

Und ist ein Schiff einmal auf Grund gelaufen, dann kennt die See kein Erbarmen, denn der Grund fällt steil ab und die Wellen brechen sich auf den Kieseln mit einem Gewicht, dem kein Balken standhält. Versuchen die armen Teufel aber, sich zu retten, dann geraten sie in eine tödliche Unterströmung des Wassers, ein Zurückfluten der Wellen, das sie von den Beinen holt und wieder unter die donnernden Brecher zieht. Es ist dieses Schlürfen der Kiesel in der Rückströmung, das man noch meilenweit im Hinterland hören kann, bis Dorchester, in stillen Nächten und lange nachdem die Winde, die es hervorriefen, sich gelegt haben, und dann drehen sich die Leute in ihren Betten auf die andere Seite und danken dem lieben Gott, dass sie nicht am Strande von Moonfleet gegen die Wellen ankämpfen müssen. (S. 26/27)

Fazit

Und so erzählt uns John, der seinen Freund Elzevir mehr als einmal in lebensgefährliche Situationen bringt, nun eine Abenteuer- und Schatzsuchergeschichte mit viel Lokalkolorit, mit spannenden und manchmal arg konstruierten Wendungen, brutaler Zwangsarbeit, hohem Wellengang und einer geradezu übermenschlichen Freundschaft. Dass der Held dabei vom Jungen zum Mann heranreift und auch eine märchenhafte Liebe, die aller Unbill trotzt, nicht fehlen darf, versteht sich von selbst.

Mein Junge, die Männer, die ich gekannt habe, haben ihr Leben für alles Mögliche aufs Spiel gesetzt: für Gold, für die Liebe, aus Hass, aber keiner von ihnen hätte den Tod am Bart gezaust, um einen Baum, einen Wasserlauf oder einen Stein wiederzusehen. Und wenn ein Mann sagt, er liebe ein Haus oder eine Stadt, dann kannst du sicher sein, dass es nicht der Ort ist, den er liebt, sondern jemand, der dort lebt. Oder aber er hat dort früher einmal jemanden geliebt und möchte jetzt den Ort wiedersehen, um schöne Erinnerungen wachzurufen. Wenn du also von Moonfleet sprichst, denke ich mir, dass du dort jemanden wiedersehen möchtest, oder hoffst, dass es geschehe. (S. 217)

Eine kurzweilige und leicht bekömmliche Mischung aus Herr-der-Ringe, Tom Saywer, Robinson Crusoe und der Schatzinsel, die mir vor ca. 40 Jahren vermutlich noch besser gefallen hätte.

Das Buch wurde übrigens nicht nur verfilmt, sondern diente auch Chris de Burgh als Inspiration für sein Album Moonfleet & other stories (2010) …

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Barbara Pym: Excellent Women (1952)

Excellent Women, der zweite Roman der britischen Schriftstellerin Barbara Pym (1913 – 1980), war von Anfang an ein großer Erfolg, und zwar bei LeserInnen und KritikerInnen gleichermaßen. Pym wurde in eine Traditionslinie mit Jane Austen gestellt und die Journalistin F. Tennyson Jesse traf den Nagel auf den Kopf, als sie in einem Brief an Pyms Verleger schrieb:

It is very brilliant indeed to write about what most people would think were dull people and make them all absorbingly interesting. That is what she has achieved… It is beautifully done. (Zitiert nach: Paula Byrne: The Adventures of Barbara Pym, 2021, S. 423)

Und noch im Dezember 2015 wurde der Roman von 82 internationalen Literaturkritikern, Herausgebern und Literaturwissenschaftlern auf Platz 80 der 100 wichtigsten britischen Romane gewählt. Und das, obwohl zwischen 1961 und 1977 kein Verleger die Romane von Pym hatte veröffentlichen wollen. Die deutsche Ausgabe erscheint übrigens unter dem Titel Vortreffliche Frauen.

‚Ah, you ladies! Always on the spot when there’s something happening!‘ The voice belonged to Mr. Mallett, one of our churchwardens, and its roguish tones made me start guiltily, almost as if I had no right to be discovered outside my own front door.

Schon in den ersten Sätzen zeigt sich Pyms Kunst. Wir haben sofort eine Vorstellung von diesem jovialen Mr Mallett und freuen uns an den treffenden Formulierungen dieser unvergesslichen Ich-Erzählerin Mildred Lathbury, intelligent, witzig und mit einem illusionslosen Blick auf sich selbst und die Schwächen ihrer Mitmenschen. Die nehmen die ledige und deswegen ja von vornherein bemitleidenswerte Mildred als gegeben hin, interessieren sich keinen Deut für sie und bemerken deswegen auch nicht, was ihnen da entgeht.

I suppose an unmarried woman just over thirty, who lives alone and has no apparent ties, must expect to find herself involved or interested in other people’s business, and if she is also a clergyman’s daughter then one might really say that there is no hope for her. (S. 5)

Mildred lebt von einem kleinen elterlichen Erbe und kümmert sich morgens ehrenamtlich um verarmte „gentle women“. Nachmittags erledigt sie ihren kleinen Haushalt oder trifft ihre wenigen Freunde, z. B. Dora Caldicote, ihre alte Schulfreundin, die immer noch die Hoffnung hegt, dass Mildred eines Tages ihren Bruder William heiratet.

Und dann sind da noch die diversen Veranstaltungen der Kirchengemeinde, die Gottesdienste, Andachten und Wohltätigkeitsbasare, die vorbereitet werden müssen und eine ganze Schar von ehrenamtlich tätigen „vortrefflichen Frauen“ auf Trab halten, sei es, dass der Blumenschmuck in der Kirche oder der Tee-Ausschank organisiert werden muss. Ansonsten gehören noch Pfarrer Julian Malory, dessen Schwester Winifred ihm den Haushalt führt, und einige Mitglieder der Gemeinde zum engeren Umfeld Mildreds.

Mildreds geregeltes (Innen-)Leben gerät in Aufruhr, als sie die Napiers als  neue Nachbarn bekommt, die die Wohnung unter ihr beziehen und mit denen sie sich das Bad im Treppenhaus teilen muss. Helena Napier ist inzwischen eher an einem ihrer Kollegen als an ihrem Mann Rockingham interessiert.

Und so wird Mildred zum Zeugen der Ehekrise der Napiers und zum Vertrauten der beiden. Sie ist viel zu feinfühlig, um die gedankenlose Herablassung Helenas nicht wahrzunehmen. Dennoch fällt sie nach außen nie aus der von  ihr erwarteten Rolle der „excellent woman“.

‚Of course you’ve never been married,‘ she [Helena] said, putting me in my place among the rows of excellent women. […] ‚Thank you for the coffee, anyway, and a sympathetic hearing. I really ought to apologize for talking to you like this, but confession is supposed to be good for the soul.‘ I murmured something, but I did not think I had been particularly sympathetic and I certainly had not felt it …

Dass Rockingham so unglaublich charmant und gutaussehend ist und mehr als eine Tasse Tee bei ihr trinkt, macht die Sache für Mildred nicht einfacher.

Love was rather a terrible thing, I decided next morning, remembering the undercurrents of the evening before. Not perhaps my cup of tea. (S. 100)

Das Besondere an diesem Buch ist diese ganz eigene Erzählstimme mit ihrem rasiermesserscharfen Gespür für die Zwischentöne im menschlichen Miteinander, gepaart mit einer wunderbar spröden Selbstironie.

‚Now, Julian, we don’t want a sermon, ‚ said Winifred. ‚You know Mildred would never do anything wrong or foolish.‘ I reflected a little sadly that this was only too true and hoped I did not appear too much of that kind of person to others. Virtue is an excellent thing and we should all strive after it, but it can sometimes be a little depressing. (S. 44)

Zugegebenermaßen dürfte das Setting vielen von uns eher fern und fremd sein, doch die unsentimentale Art und Weise, mit der sich Mildred mit ihrem Ledigsein auseinandersetzt, ist zeitlos. Ihr Gedankenstrom, der oft parallel zu der äußeren Handlung abläuft, zeugt von einem unbestechlichen Blick auf die menschliche Natur und ist manchmal haarsträubend komisch.

When the first course came, it turned out to be spaghetti of a particularly long and rubbery kind. Rocky showed me how to twist it round my fork but I found it very difficult to manage and it made conversation quite impossible. Perhaps long spaghetti is the kind of thing that ought to be eaten quite alone with nobody to watch one’s struggles. Surely many a romance must have been nipped in the bud by sitting opposite somebody eating spaghetti? (S. 96)

Anmerkungen

Auch in diesem Roman gibt es eine Reihe autobiografischer Bezüge. 1942 hatte Barbara Pym Gordon Glover kennengelernt und sich in den attraktiven Mann ihrer Freundin verliebt, doch dank Barbaras unglücklichem Händchen, sich immer in gediegene Womanizer zu verlieben, endete auch diese Liebe nach nur zwei Monaten mit Glovers Schlussstrich. Pym litt sehr darunter und brauchte über neun Monate, um neue Lebensfreude zu finden.

I have got to realize that it is no longer anything to do with me what Gordon does. Although it is a month since I saw him, there are an endless number of months to be got through – a long dreary stretch until it doesn’t matter any more. And heaven knows how many that will be. (Barbara Pym: A Very Private Eye: An Autobiography in Letters and Diaries, 1984, S. 159)

Hier geht’s lang zu der Besprechung Very Barbara Pym von Alexander McCall Smith im Guardian. Er fand die richtigen Worte, als er schrieb:

And ‚Excellent Women‘ transcends its particular historical setting, as do all of the Pym novels, because it says something about human aspirations that is as true today as it was when it was written: we all have our hopes; we are all, to an extent, and unless we are very lucky, unfulfilled in some parts of our life; we would all like things to be just a little bit better for us.

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Benjamin Mee: We bought a Zoo (2008)

Wie wähle ich bloß immer meine Bücher aus? Das Cover ließ auf seichte Unterhaltung schließen, doch die Geschichte klang skurril und ich gehe so gern in Tierparks, also kam We bought a Zoo: The amazing true story of a broken-down zoo, and the 200 animals that changed a family forever, das dann als Vorlage für den Film mit Matt  Damon dienen sollte, vor einigen Jahren mit nach Hause. Die deutsche Übersetzung von Theda Krohm-Linke erschien unter dem Titel Wir kaufen einen Zoo: eine ganz gewöhnliche Familie und ein verrückter Traum.

Der britische Journalist Benjamin Mee erzählt also seine Geschichte ab dem Jahr 2004; damals war er gerade mit Frau und Kindern nach Frankreich ausgewandert und sah einem entspannten Journalisten- und Familienleben in südeuropäischen Gefilden entgegen.

L’Ancienne Bergerie, June 2004, and life was good. My wife Katherine and I had just made the final commitment to our new life by selling our London flat and buying two gorgeous golden-stone barns in the south of France, where we were living on baguettes, cheese and wine. […] I was writing  a column for the Guardian on DIY, and two others in Grand Design magazine, and I was also writing a book on humour in animals, a long-cherished project which, I found, required a lot of time in a conducive environment. And this was it. (S. 5)

Doch ab da verschränken sich zwei Entwicklungen: Seine Frau Katherine erkrankt an Krebs und er, seine Mutter und seine Geschwister stehen plötzlich vor der ziemlich durchgeknallten Frage, ob sie einen völlig heruntergewirtschafteten Zoo in Dartmoor, England, kaufen wollen. Benjamin Mee ist sich im Klaren darüber, dass diese Idee „hare-brained“ ist, was aber nichts an ihrer Antwort ändert: Sie wollen.

Und so entfaltet sich eine Geschichte, die auf der einen Seite traurig ist und uns an unsere Endlichkeit erinnert. Dabei ist das Buch kein bisschen weinerlich oder selbstmitleidig, dafür aber ehrlich, diskret und anrührend.

So beschreibt er seinen ersten Besuch im Krankenhaus, nachdem er erfahren hat, dass Katherine keineswegs nur ein neues Mittel gegen ihre Migräne braucht, sondern einen Hirntumor hat:

I found Katherine sitting up on a trolley bed, dressed in a yellow hospital gown, looking bewildered and confused. She looked so vulnerable, but noble, stoically cooperating with whatever was asked of her. Eventually we were told that an operation was scheduled for a few days‘ time, during which high doses of steroids would reduce the inflammation around the tumour so that it could be taken out more easily. Watching her being wheeled around the corridors, sitting up in her backless gown, looking around with quiet confused dignity, was probably the worst time. The logistics were over, we were in the right place, the children were being taken care of, and now we had to wait for three days and adjust to this new reality. I spent most of that time at the hospital with Katherine, or on the phone in the lobby dropping the bombshell on friends and family. The phone calls all took a similar shape; breezy disbelief, followed by shock and often tears. After three days I was an old hand, and guided people through their stages as I broke the news.  (S. 11)

Und auf der anderen Seite ist sein Buch oft witzig, vielleicht weil Mee einfach so schreibt, wie die Dinge eben sind. Er beobachtet genau und ist nicht auf billige Knalleffekte bedacht. Er schildert präzise, z. B. eine abendliche Joggingrunde – noch während der Zeit in Frankreich – zusammen mit seinem großen Hirtenhund Leon:

Unusually I was out for a run, a bit ahead of Leon, so I was surprised to see him up  ahead about 25 metres into the vines. As I got closer I was also surprised that he seemed jet black in the moonlight, whereas when I’d last seen him he was his usual tawny self. Also, although Leon is a hefty 8 stone of shaggy mountain dog, this animal seemed heavier, more barrel-shaped. And it was grunting, like a great big pig. I began to conclude that this was not Leon, but a sanglier, or wild boar, known to roam the vineyards at night and able to make a boar-shaped hole in a chain-link fence without slowing down. I was armed with a dog lead, a propelling pencil (in case of inspiration) and a head torch, turned off. … As the light snapped on, the grunting monster slowly wheeled round and trotted into the vines, more in irritation than fear. And then Leon arrived, late and inadequate cavalry, and shot into the vineyards after it. Normally Leon will chase imaginary rabbits relentlessly for many minutes at a time at the merest hint of a rustle in the undergrowth, but on this occasion he shot back immediately professing total ignorance of anything amiss, and stayed very close by my side on the way back. Very wise. (S. 21)

Außerdem habe ich richtig mitgefiebert, ob sie all die bürokratischen, finanziellen und handwerklichen Hindernisse überwinden, die ihrer Erlaubnis, den Zoo wieder eröffnen zu dürfen, im Wege stehen.

Nach dem Lesen sieht man Zoos und ihre vielfältigen Aufgaben garantiert differenzierter und mit mehr Wertschätzung und zum anderen nimmt man es nicht mehr als einfach gegeben hin, dass die gefährlichen Tiere auch brav hinter den Gittern und in ihren Gehegen bleiben.

Anmerkungen

Hier der Webauftritt von Mees Dartmoor Zoological Park.

Hier Fotos von Friedrich Seidensticker, die ich immer wieder anschauen kann.

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Barbara Pym: Some Tame Gazelle (1950)

The new curate seemed quite a nice young man, but what a pity it was that his combinations showed, tucked carelessly into his socks, when he sat down. Belinda hat noticed it when they had met him for the first time at the vicarage last week and had felt quite embarrassed. Perhaps Harriet could say something to him about it. Her blunt jolly manner could carry off these little awkwardnesses much better than Belinda’s timidity. Of course he might think it none of their business, as indeed it was not, but Belinda rather doubted whether he thought at all, if one were to judge by the quality of his first sermon.

Schon die ersten Sätze des Buches zeigen diesen wunderbaren für Barbara Mary Crampton Pym (1913 – 1980) so typischen Sound, diese Erzählstimme, die nur auf den ersten Blick naiv, altjungfernhaft und dann doch ironisch intelligent und eigenwillig daherkommt. Doch worum geht es in Pyms Debütroman, den sie bereits als 21-Jährige Studentin begonnen hatte?

Die nicht besonders durchsetzungsfreudige und der englischen Lyrik zugetane Belinda lebt zusammen mit ihrer Schwester Harriet und hat sich längst damit abgefunden, dass ihre große Liebe, der Erzdiakon Henry Hoccleve, ihr vor dreißig Jahren den Laufpass gegeben hat und nun schon lange mit Agatha verheiratet ist. Doch ihre Zuneigung und Loyalität Henry gegenüber sind unerschütterlich – und auch ein bisschen betriebsblind, denn der ist mit seiner eitlen und selbstbezogenen Art alles andere als ein Sympathieträger.

Belinda, having loved the Archdeacon when she was twenty and not having found anyone to replace him since, had naturally got into the habit of loving him, though with the years her passion had mellowed into a comfortable feeling, more like the cosiness of a winter evening by the fire than the uncertain rapture of a spring morning. (S. 17)

Ihre Schwester Harriet hingegen mag gutes Essen, die Komplimente eines alten Verehrers, Klatsch und Tratsch – da werden die Nachbarn auch schon mal mit dem Fernglas bespitzelt – und vor allem die Hilfspriester, die den nicht eben arbeitssamen Erzdiakon unterstützen. Diese jungen Männer werden von ihr bekocht, mit selbstgestrickten Socken versorgt, bemuttert und ein bisschen als ihr persönliches Eigentum betrachtet.

Unruhe in das eigentlich so geruhsame Leben der beiden Schwestern bringen der Besuch gemeinsamer Freunde aus Studientagen und die Ankunft eines Afrika-Missionars, der – das nur nebenbei – bei seinem Lichtbildvortrag über Mbawawa davon ausgeht, dass ausschließlich westliche Lebensweise und Kleidung als christlich gelten können:

‚We have since introduced a form of European dress which is far more in keeping with Christian ideas of morality,‘ he said. (S. 177)

Schließlich kommt es sogar zu diversen Heiratsanträgen. Die beiden Schwestern haben also allen Grund, sich Gedanken über das angemessene Essen für ihre jeweiligen Gäste und die passende Kleidung zu machen und dabei zu beklönen, wie die jeweiligen Entwicklungen im Beziehungsgefüge zu bewerten sind.

Manchmal las sich das Buch ein bisschen wie Jane Austen in Zeitlupe. Irgendwann hat man einfach begriffen, welche Personen eher als Karikaturen ihrer selbst angelegt sind und wie die beiden Protagonistinnen ticken. Für Belinda und Harriet ist schon die Frage, ob man dem jungen Hilfspfarrer nun die leckere Ente vorsetzt oder nicht, durchaus entscheidend.

Und wenn der Alltag nicht durch Arbeit oder Familie ausgefüllt ist, muss man eben sehen, wie man sich die Zeit vertreibt, die nach Staubwischen, Kochen, Backen und Gärtnern noch übrigbleibt. So ist es den Schwestern ein großes Vergnügen, als sie beispielsweise Agatha Hoccleve durchs Fernglas beobachten können, als diese zu einer Kur nach Karlsbad aufbricht.

To watch anyone coming or going in the village was a real delight to them, so that they had looked forward to this morning with an almost childish excitement. And yet it was understandable, for there were so many interesting things about a departure, if one could watch it without any feeling of sorrow or regret. What would Agatha wear? Would she have a great deal of luggage or just a suitcase and a hat-box? Would the Archdeacon go with her to the station in the taxi, or would he be too busy to spare the time? If he did not go to the station would he kiss Agatha goodbye before she got into the taxi, or would he already have done that in the house? (S. 71)

Aber aller scheinbaren Trutschigkeit und der Ironie, die hier hin und wieder noch etwas ungelenk daherkommt, ist es beeindruckend, wie es einer 21/22-jährigen Autorin (ungeachtet der später noch vorgenommenen beträchtlichen Umarbeitungen) gelingt, anhand der beiden Schwestern enttäuschte Lebenshoffnungen und den schier ununterdrückbaren Wunsch, jemanden liebzuhaben, darzustellen.

And perhaps we are all silly over something or somebody without knowing it. (S. 83)

Dementsprechend gibt der Titel schon den Hinweis auf das eigentliche Thema. Er stammt aus einem Gedicht von Thomas Haynes Bayly (1797 -1839), aus einer 1930 veröffentlichten Gedichtsammlung mit dem hübschen Titel The Stuffed Owl: An Anthology of Bad Verse.

Some tame gazelle, or some gentle dove:
Something to love, oh, something to love!

Und auch wenn sich die beiden Schwestern eher ungern mit ihren eigenen blinden Flecken auseinandersetzen, achten sie doch aufeinander und passen auf, dass keine von ihnen gänzlich den Bezug zur Realität verliert. So gut sie können, meistern sie zusammen die Aufgabe, mit ihrem Ledigsein und Älterwerden zurechtzukommen.

If only one could clear out one’s mind and heart as ruthlessly as one did one’s wardrobe… (S. 220)

Zum Buch

Das Besondere an diesem Debüt ist, dass Pym den Roman 1934 begonnen hat, als sie gerade einmal 21 Jahre alt war.  Dabei katapultiert Barbara sich und ihre Schwester Hilary über 30 Jahre in die Zukunft und schildert den Alltag zweier Schwestern, Belinda und Harriet, Mitte fünfzig, als „respectable spinsters“ in einem kleinen englischen Dorf. Auch Studienfreunde und Barbaras große Liebe ihrer Studentenzeit in Oxford, Henry Stanley Harvey, werden im Buch verewigt.

Das fiktive Pfarrhaus der Hoccleves bildet dabei das Zentrum und Rückgrat der gesellschaftlichen Aktivitäten, so wie es auch Pym und ihre Schwester in ihrer Kindheit auf dem Dorf erlebt hatten. Hilary Pym schrieb später über ihre Kindheit:

Church was a natural part of our lives because our mother was assistant organist at the parish church of St.Oswald, and her family had always been on social terms with the vicar, curates and organists. Having curates to supper was a long-established tradition; and for Barbara and me there were children’s parties at the vicarage. Our father, too, sang bass in the church choir. (Barbara Pym: A Very Private Eye: An Autobiography in Letters and Diaries, edited by Hazel Holt and Hilary Pym, 1984, S. 4)

Doch es sollte noch fünfzehn Jahre dauern, bis Pym einen Verleger für ihren ersten Roman fand. Das war möglicherweise sogar von Vorteil, denn die ursprüngliche Fassung enthielt gelinde gesagt sehr fragwürdige Anspielungen auf Pyms Liebe zu Deutschland und ihre anfängliche Blindheit gegenüber dem Nationalsozialismus.

Zum autobiografischen Hintergrund des Romans

Barbara Pyms Romanidee, sich und Hilary als gemeinsam lebende, ledige Frauen vorzustellen, sollte später Realität werden. Die beiden Schwestern lebten über 30 Jahre zusammen. Hierzu noch einmal Hilary:

In 1946, when I left my husband Sandy Walton, we started sharing a flat in London, then in 1961 we bought a house, and eventually, in 1972, a country cottage in Oxfordshire. We didn’t necessarily do everything together – our different jobs after the war (Barbara worked at the International African Institute and I was already in the BBC) gave us a variety of interests and friends and holidays – but the bond between us was strong enough to keep us always on good terms. (Barbara Pym: A Very Private Eye, S. 6)

Liest man das von Hazel Holt und Hilary Pym herausgegebene Buch A Very Private Eye: An Autobiography in Letters and Diaries, erkennt man, wie sehr ihr Erstlingswerk Some Tame Gazelle auch eine Auseinandersetzung mit ihrer  Liebe zu dem etwas älteren Mitstudenten Henry Stanley Harvey war, der im Buch wenig schmeichelhaft als Archdeacon Hoccleve porträtiert wird.

Von Januar 1933 bis 1938  zieht sich Lorenzo, wie sie Henry zunächst nennt, als schmerzhaftes Leitmotiv durch ihr Tagebuch. Sie rennt ihm buchstäblich hinterher, lauert ihm auf, spielt die Überdreht-Kokette und lässt sich von ihm in kompromittierende Situationen bringen, doch Henrys Liebe lässt sich nicht erzwingen. Im März 1934 lesen wir in ihrem Tagebuch:

I am beginning to feel the weest bit hostile towards Henry, and to think that the glamour of being his doormat is wearing off. (S. 52)

Aber diese Ernüchterung ist nicht von langer Dauer. Im März 1935, als Henry längst eine Stelle in Finnland angetreten hat, besucht sie ‚Jock‘ Robert Liddell, der sich mit Henry eine Wohnung in Oxford geteilt hatte, und schreibt:

I went to see Jockie at the flat and yearned for Henry, as that atmosphere always makes me. Henry had left behind his grey overcoat and I sat in it sentimentally the whole evening. (S. 66)

Und immer, wenn Henry zurück in Oxford ist, geht das Drama von vorne los.

He will never talk about him and me and always gives evasive answers that are unsatisfying to me, as I want so much to know how things really are between us. Is it any use hoping even for his friendship – and is this enough? Is it not rather worse than nothing? At present I can’t decide. Barnicot thinks I have no hope at all and that his friendship would be of no use to me. But I think somehow that I’d like it. I don’t mind being part of the furniture of his background or even hanging over him like a gloomy cloud, as he said at tea one day. (S. 68)

Im Mai 1935 heißt es dann:

Barnicot thinks I have absolutely no hope at all, and it’s a waste of time me hanging around. Naturally this wasn’t really news to me, but I couldn’t help being a little cast down when he told me that Henry found me boring because I always agreed with him. […] Henry was rude about my teeth, which always makes me unhappy. (S. 72)

Der Biografie von Paula Byrne lässt sich genauer entnehmen, wie widerlich Henry sich ihr gegenüber verhalten hat. Doch lässt sie sich fast alles gefallen.

Noch am 24. Juli 1936 schreibt sie:

Naturally I’ve ceased to miss Henry so agonizingly, but I still hope – though faintly – to hear from him. When I think of him apologizing for being irritable with me, and standing in the room in the early hours of the morning, looking like an unshaven Russian prince with a turquoise coloured scarf round his waist – of course I love him. (S. 84)

Die Nachricht, dass Henry im Dezember 1937 Elsie Godenhjelm in Helsingfors (Finnland) geheiratet hat, kommentiert sie im Tagebuch mit:

So endete eine grosse Liebe. (S. 87)

In den zunächst recht überdrehten Briefen, die sie dem Ehepaar oder auch nur Elsie schreibt, nennt sie sich mit Vorliebe „the old spinster“ und es finden sich – selbst zehn Jahre später – immer mal wieder Anspielungen auf ihre (ehemaligen) Gefühle für Henry.

Als sie im Frühjahr 1943 sehr unter der endgültigen Trennung von ihrem Geliebten Gordon Glover leidet, schreibt sie an Henry:

Of course I should have written to you yesterday as May 10th is the anniversary of the first time I ever spent an evening with you! What’s more it is the tenth anniversary, a solemn thought! Yes, it was in 1933 and we went to the Trout and played pingpong and ate mixed grill and the wisteria was out. (S. 181)

Did I tell you that I was in love and that it was hopeless? […] Dear Henry, I don’t know why I’m telling you all this – but I have a feeling that as we have known each other so long and your were once to much to me that it doesn’t matter. Like some comfortable chair and everything turned to mild, kindly looks and spectacles. (S. 182/183)

Barbara Pym hat sich noch mehrmals in ihrem Leben verliebt, doch von Dauer war keine der Beziehungen.

Harper Lee: To Kill a Mockingbird (1960)

When he was nearly thirteen my brother Jem got his arm badly broken at the elbow. When it healed, and Jem’s fears of never being able to play football were assuaged, he was seldom self-conscious about his injury. His left arm was somewhat shorter than his right; when he stood or walked, the back of his hand was at right-angles to his body, his thumb parallel to his thigh. He couldn’t have cared less, so long as he could pass and punt.

When enough years had gone by to enable us to look back on them, we sometimes discussed the events leading to his accident. I maintain that the Ewells started it all, but Jem, who was four years my senior, said it started long before that. He said it began the summer Dill came to us, when Dill first gave us the idea of making Boo Radley come out.

Mit diesen Zeilen beginnt eines der bekanntesten amerikanischen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts:

Nelle Harper Lee: To Kill a Mockingbird (1960); auf Deutsch: Wer die Nachtigall stört

Ein Erfolg sondergleichen

Von Anfang an war das Buch ein phänomenaler Erfolg. Sowohl Reader’s Digest als auch der 1927 gegründete Buchclub „Literary Guild“ nahmen Lee’s Buch in ihre Programme auf und 1961 gewann sie den renommierten Pulitzer Prize for Fiction. Doch der Erfolg fühlte sich für Harper Lee zunächst überhaupt nicht gut an, wie eines der letzten Interviews zeigt, die sie gegeben hat, bevor sie sich aus der Öffentlichkeit zurückzog:

It was like being hit over the head and knocked cold. You see, I never expected any sort of success with Mockingbird. I didn’t expect the book to sell in the first place. I was hoping for a quick and merciful death at the hands of reviewers, but at the same time I sort of hoped that maybe someone would like it enough to give me encouragement. Public encouragement. I hoped for a little, as I said, but I got rather a whole lot, and in some ways this was just about as frightening as the quick, merciful death I’d expected. (hier das Interview zum Nachhören)

Und noch 2006 wählten britische Bibliothekare das Buch auf Platz eins, als es um die Frage ging, welches Buch jeder Erwachsene in seinem Leben gelesen haben sollte.

Zum Inhalt

Der Roman, der vielen – zumindest durch die Verfilmung mit Gregory Peck in der Hauptrolle (1962) – bekannt sein dürfte, spielt in den dreißiger Jahren zur Zeit der Weltwirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts in der fiktiven Kleinstadt Maycomb in Alabama. Jean Louise, die Tochter des Anwalts Atticus Finch, die von allen nur Scout genannt wird, erzählt uns im Rückblick ihre Kindheit und im weitesten Sinne, wie es zu dem gebrochenen Arm ihres Bruders kam. Zu Beginn der Handlung ist sie knapp sechs Jahre alt und lebt mit ihrem Bruder Jem, ihrem Vater und der schwarzen Hausangestellten Calpurnia in einer scheinbar unbeschwerten Kindheitsidylle.

Sie genießt viele Freiheiten, tobt (und prügelt sich) wie ein Junge durch Schule und Nachbarschaft, wird von ihrem Bruder beschützt und muss sich mit einer verständnislosen Lehrerin herumärgern, die nicht akzeptieren will, dass Scout schon bei ihrer Einschulung lesen kann. Daraufhin verkündet sie ihrem Vater, dass sie gedenkt, den Schulbesuch sofort wieder einzustellen.

Die Sommerferien sind der Höhepunkt des Jahres, denn dann reist Dill, der Neffe der Nachbarin, zu Besuch an und zu dritt machen die Kinder die Gegend unsicher oder versuchen, den geheimnisumwitterten, nie gesehenen Nachbarn Arthur Radley aus dem Haus zu locken. Doch irgendwann bekommt Scouts Vater den Auftrag, den Schwarzen Tom Robinson vor Gericht zu verteidigen, der angeklagt ist, eine Weiße vergewaltigt zu haben. Atticus wird daraufhin von vielen als „nigger lover“ beschimpft und er befürchtet zu Recht, dass auch seine Kinder die Vorurteile zu spüren bekommen:

I hope and pray I can get Jem and Scout through it without bitterness, and most of all, without catching Maycomb’s usual disease. Why reasonable people go stark raving mad when anything involving a Negro comes up, is something I don’t pretend to understand. (S. 98 der hässlichen Ausgabe der Mandarin Paperbacks)

Fazit

Das Buch entwickelt eine ganz außergewöhnliche Wucht.

Es ist nicht nur eine bissige Anklage gegen die christlich verbrämte Heuchelei in einem rassistischen System: Bei den Damenkränzchen werden irgendwelche Missionare in Afrika verehrt und gleichzeitig drohen sie ihren schwarzen Hausangestellten mit Rauswurf, als diese nach dem Prozess nur bedrückt und mürrisch ihre Arbeiten verrichten.

‚Gertrude, I tell you, there’s nothing more distracting than a sulky darky. Their mouths go down to here. Just ruins your day to have one of ‚em in the kitchen. You know what I said to my Sophy, Gertrude? I said, ‚Sophy,‘ I said, ‚you simply are not being Christian today. Jesus Christ never went around grumbling and complaining.‘ And you know it did her good […] I tell you, Gertrude, you never ought to let an opportunity go by to witness for the Lord.‘ (S. 256)

Auch der Spannungsaufbau ist gelungen, und zwar nicht nur, weil man wissen will, wie der Prozess ausgeht. Darüber hinaus hat Lee auch eine so überzeugende Erzählerstimme für Scout gefunden, dass die Distanz zwischen Leser und Erzählerin fast verschwindet.

Atticus was feeble: he was nearly fifty. When Jem and I asked him why he was so old, he said he got started late, which we felt reflected upon his abilities and manliness. […] Our father didn’t do anything. He worked in an office, not in a drug-store. Atticus did not drive a dump-truck for the county, he was not the sheriff, he did not farm, work in a garage, or do anything that could possibly arouse the admiration of anyone. (S. 99)

Selbst wenn Kritiker gern darauf hinweisen, dass bei den ironischen Brechungen und dem Wortschatz immer wieder mal in die Perspektive der Erwachsenen gewechselt wird:

It might be that Lee floundered when she was trying to settle on a point of view. She rewrote the novel three times: the original draft was in the third person, then she changed to the first person and later rewrote the final draft, which blended the two narrators, Janus-like, looking forward and back at the same time. (Charles J. Shields, S. 128)

Zwar ist Lee die Vaterfigur unrealistisch ideal geraten, doch stört das kaum. Atticus erzieht seine Kinder zu Menschen, denen Äußerlichkeiten nicht sehr wichtig sind, die selber denken, die Verantwortung für ihr Tun und ihre Fehler übernehmen müssen und die die humanen Werte ihres Vaters wie Anstand und den Glauben an Gerechtigkeit vor dem Gesetz übernehmen. Sie werden letztendlich zu Hoffnungsträgern, dass Rassismus und nahezu grenzenlose Heuchelei nicht das letzte Wort haben werden.

Der Titel

Die Übersetzung des Titels ins Deutsche ist in seiner Süßlichkeit irreführend. Ein ‚mockingbird‘ ist eine amerikanische Spottdrossel. Als Atticus seinen Kindern Luftgewehre schenkt, stellt er ihnen nur eine einzige Bedingung:

‚Shoot all the bluejays you want, if you can hit ‚em, but remember it’s a sin to kill a mockingbird.‘ (S. 99).

Die Nachbarin Miss Maudie erklärt den Kindern, weshalb:

‚Mockingbirds don’t do one thing but make music for us to enjoy. They don’t eat up people’s gardens, don’t nest in corncribs, they don’t do one thing but sing their hearts out for us. That’s why it’s a sin to kill a mockingbird.‘

Die Humanität des Einzelnen und der Gesellschaft erweist sich auch im Umgang mit den menschlichen „Mockingbirds“, auf die im Buch noch mehrmals angespielt wird.

Die Biografie von Shields

Charles J. Shields hat in seiner überaus sorgfältig und bis ins kleinste Detail recherchierten Biografie Mockingbird: A Portrait of Harper Lee (2006), bei der er keinerlei Unterstützung von Harper Lee oder ihren Familienangehörigen bekam, viele der autobiografischen Bezüge und Anverwandlungen nachgewiesen. Im Buch heißt es beispielsweise: „Our mother died when I was two, so I never felt her absence“ (S. 6). Shields erklärt die Tatsache, dass Scout und Jem ohne Mutter aufwachsen müssen, damit, dass Lees Mutter psychisch krank war und emotional gar keine Beziehung zu ihren Kindern aufbauen konnte.

Die Figur des Nachbarjungen Dill geht auf das reale Vorbild von Truman Streckfus Persons zurück, der tatsächlich die Ferien im Nachbarhaus verbracht hat und der später unter dem Namen seines Stiefvaters Capote ebenfalls Weltruhm erlangen sollte. Auch den geheimnisvollen Nachbarn hat es gegeben und ihr Vater hat 1919 zwei Schwarze verteidigt. Als diese trotzdem zum Tode verurteilt wurden, hat er seine Arbeit als Anwalt aufgegeben.

Allerdings war Amasa Coleman Lee, ganz im Gegensatz zu Atticus,  zunächst alles andere als ein Gegner der Rassentrennung. Er war federführend bei der Entlassung des methodistischen Reverend Ray Whatley, der seiner Meinung nach zu viel über ’social justice‘ und zu wenig über das Evangelium sprach. Whatley wurde dann später enger Mitarbeiter von Martin Luther King. Doch spätestens ab den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich Lees Vater für die Rechte der Schwarzen und für ein gerechteres Wahlsystem ein. Zur Frage, welche Gerichtsprozesse als Vorlage und Inspiration für den Prozess gegen Tom Robinson dienten, siehe den als exzellent bewerteten Artikel in der englischen Wikipedia.

Kritik an Lees Buch

Aus heutiger Sicht wirkt der Verriss von Phoebe Lou Adams im Atlantic Magazine vom August 1960 eher komisch, man fragt sich, welches Buch Adams da wohl gelesen hat.

Lees Buch ist inzwischen eines der erfolgreichsten Werke der Literatur (über 30 Millionen verkaufte Exemplare weltweit) und erst 2010 erschien Scout, Atticus, and Boo: A Celebration of ‚To Kill a Mockingbird‘ von Mary McDonagh-Murphy, in dem Künstler, Weggefährten und namhafte Schriftsteller der Gegenwart ihre Begeisterung für To Kill a Mockingbird erklären.

Lees Anteil an der Überwindung der Rassentrennung wird allerdings als eher gering eingeschätzt. Spektakuläre Aktionen wie die der Freedom Riders hat sie abgelehnt, da diese nur die Gewalt beförderten.

Doch überholt war und ist ihr Roman keineswegs – trotz seiner Verankerung in der Vergangenheit. Anfang der Sechziger riskierten schwarze Studentinnen und Studenten wie z. B. James Meredith ihr Leben, wenn sie ihr seit 1954 verbrieftes Recht auf ungehinderten Zugang zu ehemals nur Weißen vorbehaltenen öffentlichen Bildungseinrichtungen wahrnehmen wollten (siehe den Prozess Brown versus Board of Education).

Und die Einstellung der Menschen ändert sich nur langsam – wenn überhaupt. Senator E. O. Eddins hat 1959 massiven Druck auf die Bibliothekarin Emily Wheelock Reed ausgeübt, als die sich weigerte, das Kinderbuch The Rabbits‘ Wedding von Garth Williams aus dem Verkehr zu ziehen. Im Buch heiraten ein schwarzes und ein weißes Kaninchen.

Jener Senator wollte auch eine Ehrung Harper Lees verhindern, hat dann seinen Protest aber zurückgezogen, um zu verhindern, dass man sie als Märtyrer verkläre. Und eine regionale Schulbehörde in Virginia wollte noch 1966 ihren Roman komplett aus den Schulbüchereien verbannen, weil das Buch so unmoralisch sei. Lee antwortete mit einem sehr hübschen Brief:

Recently I have received echoes down this way of the Hanover County School Board’s activities, and what I’ve heard makes me wonder if any of its members can read. Surely it is plain to the simplest intelligence that “To Kill a Mockingbird” spells out in words of seldom more than two syllables a code of honor and conduct, Christian in its ethic, that is the heritage of all Southerners. To hear that the novel is „immoral“ has made me count the years between now and 1984, for I have yet to come across a better example of doublethink. I feel, however, that the problem is one of illiteracy, not Marxism.

Deshalb schließt sie den Brief mit der Ankündigung einer Spende, die doch bitte dafür verwendet werden möge, „to enroll the Hanover County School Board in any first grade of its choice.“

In Cold Blood

Harper Lee hat übrigens noch an einem weiteren Klassiker der amerikanischen Literatur mitgewirkt. Auch wenn Truman Capote das nie öffentlich honoriert hat: Sie war nicht nur als sein „assistant researchist“ über Monate bei den Vorarbeiten und Interviews zu In Cold Blood wesentlich beteiligt – meist fertigte sie die Mitschriften an und bahnte Kontakte zu wichtigen Interviewpartnern an, die Truman Capote zunächst äußerst misstrauisch beäugten -, sondern war auch immer wieder zur Stelle, wenn Capote weitere Lokaltermine anberaumte oder sie bat, sein Manuskript zu begutachten.

Capote sagte selbst:

Without her deep probing of the people of that little town, I could never have done the job I did with it.“ (zitiert nach Shields, S. 253).

Doch als es darum ging, Lees Beitrag auch öffentlich anzuerkennen, spielte er ihre Rolle so weit herunter, dass ihre Jahrzehnte dauernde Freundschaft einen ernsthaften Riss bekam.

So when, in January 1966, she opened the first edition of In Cold Blood, she was shocked to find the book dedicated to her, a patronizing gesture in light of her contribution – „With Love and Gratitude,“ it said. And, out of the blue, she found she had to share Capote’s thanks with his longtime lover, Jack Dunphy. (Shields, S. 253)

Das lange Schweigen der Autorin

To Kill a Mockingbird ist geradezu durchtränkt von Anleihen aus der Kindheit Harper Lees und das ist möglicherweise einer der Gründe, weshalb Lee danach – außer vier Artikeln und einem Brief an Oprah Winfrey – nie wieder etwas veröffentlicht hat. Sie hat aus persönlichem Erleben ein Stück Weltliteratur geformt. Was sollte dem noch hinzugefügt werden? Dieser stark autobiografische Bezug erklärt vielleicht auch, dass sie – auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung – die Zeit um ca. 30 Jahre zurückdreht und Schwarze in ihrem Buch ausschließlich als arme Feldarbeiter oder als Angestellte in weißen Haushalten vorkommen. Die meisten Mitglieder der schwarzen Gemeinde im Buch sind Analphabeten.

Ein zweiter Grund, weshalb Lee danach nie wieder etwas veröffentlicht hat, könnte sein, dass die Arbeit an dem Roman nur sehr mühsam vonstatten ging. In dreieinhalb Jahren wurde das Manuskript dreimal grundlegend überarbeitet und umgestellt. Ohne die Geduld und die Hinweise ihrer Verlegerin Hohoff, die überhaupt erst dafür sorgte, dass das Ganze zu einem Roman mit einem klaren Handlungsaufbau statt zu einer unausgewogenen Anekdotensammlung wurde, wäre das Buch nie veröffentlicht worden.

Das ist auch der Grund, weshalb an mir die medial inszenierte Aufregung an dem 2015 veröffentlichen Go Set a Watchman komplett vorbeiging, das inzwischen ohnehin als erster Entwurf für To Kill a Mockingbird gilt (siehe hierzu den aufschlussreichen Artikel The Invisible Hand Behind Harper Lee’s ‘To Kill a Mockingbird’ von Jonathan Mahler aus der New York Times, Juli 2015)

Shields weist außerdem darauf hin, dass die Zeitschrift Esquire 1961 die Veröffentlichung eines Textes von Lee ablehnte. Sie hatte zugesagt, einen Sachtext über den Süden einzureichen, doch was sie stattdessen ablieferte, war To Kill a Mockingbird im Miniaturformat:

The fact that she had submitted a piece of fiction with To Kill a Mockingbird overtones again, when a nonfiction piece was requested suggests a certain lack of versatility. (Shields, S. 217)

In einem Gespräch mit Harper Lee hat ein enger Vertrauter, Dr. Butts, einmal folgende Theorie zu ihrem Jahrzehnte langen Schweigen aufgestellt:

I espoused two or three ideas. I said maybe you didn’t want to compete with yourself. She said, ‚Bullshit. Two reasons: one, I wouldn’t go through the pressure and publicity I went through with To Kill A Mockingbird for any amount of money. Second, I have said what I wanted to say and I will not say it again‘. (zitiert nach dem unaufgeregt-lesenswerten Artikel von Paul Toohey: Miss Nelle in Monroeville, im australischen Sunday Telegraph vom 31. Juli 2010)

Andrew Gumbel hat 2006 ebenfalls Shields Biografie gelesen auf der Suche nach der Antwort, weshalb Lee nach ihrem Welterfolg nie wieder etwas veröffentlicht hat.

Don Lee Keith, dem sie eines der letzten Interviews gewährte, das dann im Frühjahr 1966 in der Zeitschrift Delta Review unter dem Titel „An Afternoon with Harper Lee“ erschien, war übrigens derjenige, der sie als erster – wenn auch unabsichtlich – in Zusammenhang mit dem Etikett „recluse“ (Einsiedler) brachte:

Harper Lee is no recluse. She is no McCullers or Salinger whose veneer of notoriety cannot be punctured to reveal, after all, another individual. She is real and down-to-earth as is the woman next door who puts up fig preserves in the spring and covers her chrysanthemums in winter. (zitiert nach Shields, S. 248)

Wenn man bedenkt, welchen schier unglaublichen Presserummel die Autorin, die einfach nur ihre Ruhe haben wollte, über sich ergehen lassen musste und dass sie selbst bis ins hohe Alter nicht vor Journalisten sicher war, die oft genug rücksichtslos einfach an ihre Tür klopften und Einlass begehrten, ist ihr Schweigen vielleicht gar nicht so unverständlich.

In einer Zeit allerdings, in der so viele – egal, wie unbegabt, dämlich oder belanglos – ein „Star“ sein möchten und andere glauben, ein Recht auf Einblick in das Privatleben anderer zu haben, ist Lees Schweigen auch eine Provokation.

It takes a kind of courage that almost nobody has in this country, where celebrity has replaced religion for a lot of people, to turn away from the church of publicity and say, ‘I’m not going to pray there, I’m not going to appear there’ (Mark Childress, in Scout, Atticus, and Boo: A Celebration of ‚To Kill a Mockingbird‘ )

Und dabei es ist doch mehr als genug, wenn man über eine Autorin die schönen Worte sagen kann:

Sometimes novels are considered ‚important‘ in the way medicine is – they taste terrible and are difficult to get down your throat, but are good for you. The best novels are those that are important without being like medicine; they have something to say, are expansive and intelligent but never forget to be entertaining and to have character and emotion at their centre. Harper Lee’s triumph is one of those. (Chimamanda Ngozi Adichie, 10. Juli 2010 im Guardian)

Sabine von Binge Reading & More verdanke ich den Hinweis auf einen Artikel im The Economist, der leider mehr als deutlich macht, dass die beste Medizin nichts nützt, wenn man sie nicht wirken lässt.

Schließen möchte ich mit zwei Zitaten von Atticus:

You never really understand a person until you consider things from his point of view – until you climb into his skin and walk around in it.

… but before I can live with other folks I’ve got to live with myself. The one thing that doesn’t abide by majority rule is a person’s conscience.

b-nz 189

Winifred Watson: Miss Pettigrew lives for a day (1938)

Miss Pettigrew pushed open the door of the employment agency and went in as the clock struck a quarter past nine. She had, as usual, very little hope, but today the Principal greeted her with a more cheerful smile.

So beginnt der hinreißende Roman Miss Pettigrew lives for a day (1938) von Winifred Watson, den ich ursprünglich nur gelesen hatte, weil momentan Lesezeit und Konzentration für Anspruchsvolleres fehlt. Aber nun wird Miss Pettigrew dieses Jahr vermutlich das Buch sein, das meine Erwartungen weit übertroffen hat und das ich richtig gern gelesen habe. Die deutsche Übersetzung von Martina Tichy erschien übrigens unter dem Titel Miss Pettigrews großer Tag (2009).

2008 kam die Verfilmung in die Kinos. Zwar wurden schon 1939 die Filmrechte an Universal Pictures verkauft, doch der Zweite Weltkrieg brachte damals das Projekt zum Erliegen. Doch worum geht es eigentlich?

Die vierzigjährige mausgraue Guinevere Pettigrew sucht verzweifelt nach einer neuen Arbeitsstelle als Kindermädchen oder Gouvernante, doch es wird immer schwieriger, Arbeit zu finden, denn eigentlich hasst sie es, sich um ungezogene Kinder zu kümmern, denen sie ohnehin keinen Respekt einflößen kann.

Outside on the pavement Miss Pettigrew shivered slightly. It was a cold, grey, foggy November day with a drizzle of rain in the air. Her coat, of a nondescript, ugly brown, was not very thick. It was five years old. London traffic roared about her. Pedestrians hastened to reach their destinations and get out of the depressing atmosphere as quickly as possible. Miss Pettigrew joined the throng, a middle-aged, rather angular lady, of medium height, thin through lack of good food, with a timid, defeated expression and terror quite discernible in her eyes, if any one cared to look. But there was no personal friend or relation in the whole world who knew or cared whether Miss Pettigrew was alive or dead. (S. 2)

Sie weiß, das Stellenangebot als Kindermädchen bei Miss LaFosse ist nach Wochen der Arbeitslosigkeit ihre letzte Chance, dem Arbeitshaus zu entgehen. Doch bevor sie dazu kommt, mit ihrer potentiellen Arbeitgeberin Einzelheiten der Stelle zu besprechen, hilft sie zunächst einmal der reizenden, wenn auch etwas chaotischen Miss LaFosse deren Liebhaber Phil aus der Wohnung zu scheuchen. Das ist auch dringend notwendig, denn schon steht der Eigentümer der Wohnung, der brutal attraktive Nachtclubbesitzer Phil, auf der Matte, der seine Rückkehr erst für den nächsten Tag angekündigt hatte.

Und so nehmen äußerst turbulente 24 Stunden ihren Lauf, in denen die verarmt-verhärmte Pfarrerstochter Guinevere Pettigrew das Leben kennenlernt, das sie nur aus dem Kino kennt: das Leben der Reichen und Schönen. Mit wachsender Begeisterung hilft sie nicht nur der bildhübschen, aber ziemlich planlosen Nachtclubsängerin LaFosse, Ordnung in deren Leben mit drei Liebhabern zu bringen.

Gleichzeitig bestehen LaFosse und ihre Freundin Edythe, Besitzerin eines Schönheitssalons, darauf, dass Guinevere sich für die zwei für den Tag geplanten Partys schminken lässt und sich in den von LaFosse geliehenen traumschönen Kleidern kaum wiedererkennt.

Und so trinkt Miss Pettigrew zum ersten Mal ihr ganz unbekannte Spirituosen, lernt unerwartete Seiten an sich kennen, entwickelt einen starken Beschützerinstinkt gegenüber ihrer jungen neuen Freundin LaFosse und vor allem: Sie entwickelt einen ganz neuen Hunger auf Leben und nach den 24 Stunden ist für die beiden so unterschiedlichen Frauen nichts mehr so, wie es war.

Fazit

Klingt das zunächst trivial? Klingt das nach einer Aschenputtel-Version? Ja, ist es. Aber gleichzeitig ist das Buch viel mehr: Es ist warmherzig und witzig; in den Dialogen erinnert es an die Screwball-Comedies der fünfziger und sechziger Jahre.

Guineveres klarer Blick auf sich selbst, ihre Angst vor dem endgültigen gesellschaftlichen Absturz, ihr bisher so freudloses und einsames Dasein werden in wenigen Strichen ganz und gar glaubwürdig gezeichnet.

Ihre erwachende Lebenslust, ihre geradezu kindliche Bereitschaft, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, ihren strengen protestantischen Hintergrund hinter sich zu lassen, sind so positiv, so voller Lebensfreude und Abenteuerlust.

She gambolled after Miss LaFosse, natural colour deepening the artificial, eyes shining, breath excited. She was bound for adventure, the Spanish Main a night club. The very name filled her with a glorious sense of exhileration. What would her dear mother say if life came back to her body? To what depths of depravity her daughter was sinking? What did Miss Pettigrew care? Nothing. Freely, frankly, joyously, she acknowledged the fact. She was out for a wild night. She was out to paint the town red. She was out to taste another of Tony’s cocktails. She was a gentlewoman ranker out on the spree, and, oh shades of a monotonous past, would she spree! She was out to enjoy herself as she had never enjoyed herself before … (S. 167)

Kurzum, das Buch macht Spaß und am Ende sind – dank Miss Pettigrew – trotz Kokain, Nachtclubbesuchen und Liebeswirrungen Ordnung und Anstand wieder hergestellt.

Henrietta Twycross-Martin schreibt in ihrem Vorwort:

… what astonishes is the sheer fun, the light-heartedness and enchanting fantasy of an hour-by-hour plot that feels closer to a Fred Astaire film than anything else I can think of. Sophisticated and naive by turns, Miss Pettigrews lives for a Day is also charmingly daring…

Die Autorin Winifred Eileen Watson (1906-2002) hatte beim Schreiben – abgesehen von einer judenfeindlich-dämlichen Stelle – wohl einfach ein richtig gutes Händchen, denn sie gibt 2000 als über Neunzigjährige – als das Buch neu aufgelegt wurde – fröhlich zu:

„I didn’t know anyone like Miss Pettigrew. I just made it all up. I haven’t the faintest idea what governesses really do. I’ve never been to a nightclub and I certainly didn’t know anyone who took cocaine,” she says with a laugh. The dialogue, she insists, just came into her head as she was drying the dishes and she typed it out only after she had finished at the sink. (Anne Sebba)

Zum geschichtlichen Hintergrund

Miss Pettigrews Angst, ins Armenhaus zu müssen, ist ganz realistisch. Noch 1939 gab es ca. 100.000 Menschen, die in den inzwischen umbenannten Arbeitshäusern ihr Dasein fristeten. Die englischsprachige Wikipedia schreibt dazu:

The Local Government Act of 1929 gave local authorities the power to take over workhouse infirmaries as municipal hospitals, although outside London few did so.The workhouse system was abolished in the UK by the same Act on 1 April 1930, but many workhouses, renamed Public Assistance Institutions, continued under the control of local county councils. Even as late as the outbreak of the Second World War in 1939 there were still almost 100,000 people accommodated in the former workhouses, 5,629 of whom were children. It was not until the 1948 National Assistance Act that the last vestiges of the Poor Law disappeared, and with them the workhouses.

Sie gehörte zur Generation der sogenannten Superfluous Women, die aufgrund des zahlenmäßigen „Frauenüberschusses“ keinen Ehepartner fanden und deshalb ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten mussten, obwohl sie darauf meist nicht vorbereitet waren. Ein Problem, das noch dadurch verstärkt wurde, dass mehr als 700.000 britische Männer im Ersten Weltkrieg gefallen waren.

… the imbalance of population in Britain was not a new phenomenon arising with World War One. The 1851 census showed that 30 per cent of English women aged 20 to 40 were unmarried. By the late 19th century, around a third of British women between the ages of 25 to 35 were unmarried, and census records show that an imbalance of men and women continued in the Edwardian years. (‘Surplus Women’: a legacy of World War One?)

Anmerkungen

Hier ein Text von Anne Sebba aus der Times 2000.

 Auf der Seite des Persephone Verlages sieht man u. a. das gelungene Cover, das das Gemälde Blondes and Brunettes von Charles Mozley zeigt, welches – wie auch die Illustrationen von Mary Thomson – aus dem Jahr 1938 stammt.

Bill Bryson: Shakespeare (2007)

Before he came into a lot of money in 1839, Richard Plantagenet Temple Nugent Brydges Chandos Grenville, second Duke of Buckingham and Chandos, led a largely uneventful life. He sired an illegitimate child in Italy, spoke occasionally in the House of Commons against the repeal of the Corn Laws, and developed an early interest in plumbing (his house at Stowe […] had nine of the first flush toilets in England), but otherwise was distinguished by nothing more than his glorious prospects and many names. But after inheriting his titles and one of England’s great estates, he astonished his associates, and no doubt himself, by managing to lose every penny of his inheritance in just nine years through a series of spectacularly unsound investments.

Mit diesen Sätzen beginnt die fröhliche Suche des Erfolgsautors Bill Bryson nach dem, was wir nachweislich über Shakespeare wissen oder eben auch nicht. Die deutsche Übersetzung Shakespeare – wie ich ihn sehe stammt von Sigrid Ruschmeier.

Bekanntermaßen ist fürchterlich wenig Biografisches über Shakespeare bekannt, und Margret Fetzer  fragt in ihrer Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen denn auch etwas bissig, „warum ausgerechnet Bill Bryson, alles andere als ein Literaturexperte, sich jetzt in die Legendenschreiberei einreiht.“

Nun, die Antwort ist klar: Weil er’s kann und ihn das Thema interessiert. Oder in Brysons Worten:

To answer the obvious question, this book was written not so much because the world needs another book on Shakespeare as because this series does [gemeint ist die Serie Eminent Lives]. The idea is a simple one: to see how much of Shakespeare we can know, really know, from the record. (S. 21)

Unter anderem geht Bryson auf folgende Fragen ein:

  • Wissen wir wirklich, wie Shakespeare ausgesehen hat? Und was weiß man über seine Erziehung und seinen Bildungsgrad?
  • Welche gesicherten Informationen gibt es zu seiner Familie und seiner Ehe? Weshalb hat er in seinem Testament seiner Frau das zweitbeste Bett vermacht?
  • Mit was haben sich die Forscher schon alles in Bezug auf Shakespeare beschäftigt? (Zum Beispiel mit der Frage, wie viele Kommas und Fragezeichen seine Texte enthalten.)

Shakespeare, it seems, is not so much a historical figure as an academic obsession. A glance through the indexes of the many scholarly journals devoted to him and his age reveal  such dogged investigations as ‚Linguistic and Informational Entropy in Othello‘, ‚Ear Disease and Murder in Hamlet‘, ‚Poisson Distributions in Shakespeare’s Sonnets‘, ‚Shakespeare and the Quebec Nation‘, ‚Was Hamlet a Man or a Woman?‘ and others of similarly inventive cast. (S. 20)

  • Wie waren die gesellschaftlichen und religiösen Rahmenbedingungen unter Elizabeth I und später unter ihrem Nachfolger James I? (Man denke nur an den Sieg über die spanische Armada oder den Gunpowder-Plot.)

It was also an age that gave rise to the Puritans, a people so averse to sensual pleasure that they would rather live in a distant wilderness in the New World than embrace tolerance. Puritans detested the theatre and tended to blame every natural calamity, including a rare but startling earthquake in 1580, on the playhouses. (S. 71)

  • Wie sahen die Lebensbedingungen damals aus? Wie sah London aus?
  • Wie war die Gesellschaft strukturiert und wie war das Zusammenleben geregelt?
  • Wie sahen die Theater der damaligen Zeit aus?
  • Wie war die Aufführungspraxis in den Theatern?
  • Weshalb hatten die meisten Theatertruppen einen adligen Gönner?
  • Wem verdanken wir, dass wir heute überhaupt so viele von Shakespeares Stücken kennen?
  • Welchen Beitrag hat Shakespeare zur Entwicklung des Theaters und der englischen Sprache geleistet?
  • Worüber rätselt man bei den Sonetten bis heute?
  • Welche „Verbesserungen“ nahmen spätere Schriftsteller und Theaterdirektoren an seinen Werken vor?
  • Wie hat sich sein Ruhm im Laufe der Jahrhunderte entwickelt?
  • Was hat es mit der Folger Shakespeare Library in Washington, DC, auf sich?
  • Und warum können sich Touristen und Literaturfans glücklich schätzen, dass Shakespeares Geburtshaus heute nicht in Amerika steht?

Wenn man bedenkt, dass allein über die Frage, ob wirklich Shakespeare die Stücke geschrieben hat, die ihm zugeschrieben werden, mehr als 5000 Bücher geschrieben wurden und dass pro Jahr ca. 4000 neue Texte über Shakespeare veröffentlicht werden, dann ist offensichtlich, dass ein einzelner die komplette Forschungslage zu Shakespeare ohnehin nicht mehr überblicken kann.

Muss Bryson aber auch nicht, denn er ist ein kluger Kopf, kann lesen, recherchieren und seine Reputation (man lese nur mal in der englischsprachigen Wikipedia, welche universitären Ehren er bisher eingeheimst hat) erlaubt ihm, diverse Koryphäen zu interviewen und Einblick in Archive zu erhalten, die Normalsterblichen wohl auf immer verschlossen bleiben.

Dass dabei auf 195 Seiten nicht unendlich in die Tiefe gegangen werden kann, dürfte sich von selbst verstehen, und natürlich wird die Leserin an der ein oder anderen Stelle das Bedürfnis haben, etwas nachzuschlagen und zu vertiefen.

Das Buch ist eine Einführung – nicht mehr und nicht weniger – und in seinen persönlichen Wertungen völlig unakademisch. Mit Brysons Blick für die interessante und manchmal einfach skurrile Anekdote, seinem Humor und seiner Informationsfülle ist es aber genau deshalb wunderbar lesbar.

Mir persönlich hat das neunte Kapitel am besten gefallen. Dort geht Bryson kopfschüttelnd und bestimmt leise kichernd der Frage nach, wo die Theorien, dass auf keinem Fall Shakespeare seine Stücke geschrieben haben könne, herkommen und was von ihnen zu halten ist.

Even ‚Scientific American‘ entered the fray with an article proposing that the person portrayed in the famous Martin Droeshout engraving might actually be – I weep to say it – Elizabeth I. […]

Shakespeare ’never owned a book‘, a writer for the ‚New York Times‘ gravely informed readers in one doubting article in 2002. The statement cannot actually be refuted, for we know nothing about his incidental possessions. But the writer might just as well have suggested that Shakespeare never owned a pair of shoes or pants.  (S. 180)

Besonders interessant dabei die Rolle von Delia Bacon, die nachweisen wollte, dass u. a. Francis Bacon der wahre Urheber der Stücke sei. Eine Theorie, die auch heute noch ihre Anhänger hat.

Bacon’s research methods were singular to say the least. She spent ten months in St Albans, Francis Bacon’s home town, but claimed not to have spoken to anyone during the whole of that time. She sought no information from museums or archives, and politely declined Carlyle’s offers of introduction to the leading scholars. Instead she sought out locations where Bacon had spent time and silently ‚absorbed atmospheres‘, refining her theories by a kind of intellectual osmosis. (S. 183)

One obvious objection to any Baconian theory is that Bacon had a very full life already, without taking on responsibility for the Shakespearean canon as well, never mind the works of Montaigne, Spenser and the others. (S. 186)

A third – and for a brief time comparatively popular – candidate for Shakespearean authorship was Christopher Marlowe. He was the right age […] had the requisite talent and would certainly have had ample leisure after 1593, assuming he wasn’t too dead to work. (S. 189)

Rezensionen

Irritiert hat mich hingegen die Kritik in der FAZ: Fast enttäuscht konstatiert Fetzer: Der „Vorwurf mangelnder historischer Informiertheit [ist] einer der wenigen, den man Bryson nicht machen kann.“, dafür missfällt ihr etwas anderes: Sie bezieht sich auf den Untertitel der deutschen Ausgabe „Shakespeare – Wie ich ihn sehe“ und moniert dann

dass man hier vergeblich auf Anflüge von Selbsterkenntnis wartet. […]. Davon abgesehen lässt der Titel eine programmatische These erwarten, aber leider fällt Bryson so gar nichts Eigenes ein. Am Ende weiß man nicht nur immer noch nicht, wie er Shakespeare sieht, sondern auch nicht, warum er dieses Buch überhaupt geschrieben hat. Bryson ist bemüht, sich das Faszinosum Shakespeare zu erschließen – doch immer wieder ertappt man ihn dabei, wie er ungläubig und kopfschüttelnd davorsteht und nicht die leiseste Ahnung hat, warum sich alle Welt für den Sohn eines Handschuhmachers begeistert.

Ist es nicht verblüffend, dass Fetzer den Untertitel der deutschen Ausgabe Bryson zum Vorwurf macht?

Und dass Bryson nicht wüsste, warum sich alle Welt für Shakespeare begeistert, ist schlicht Unsinn. Zum einen geht es ihm in diesem Buch gar nicht um die einzelnen Werke. Zum anderen erklärt er, nachdem er beschrieben hat, wie groß vermutlich Shakespeares Wortschatz war und welche Wörter und Redewendungen die englische Sprache dem Barden aus Stratford-upon-Avon verdankt:

Anyway, and obiously, it wasn’t so much a matter of how many words he used, but what he did with them – and no one has ever done more. It is often said that what sets Shakespeare apart is his ability to illuminate the workings of the soul and so on, and he does that superbly, goodness knows, but what really characterizes his work […] is a positive and palpable appreciation of the transfixing power of language. (S. 109)

We thrill at these plays now. But what must it have been like when they were brand new, when all their references were timely and sharply apt, and all the words never before heard? Imagine what it must have been like to watch Macbeth without knowing the outcome, to be part of a hushed audience hearing Hamlet’s soliloquy for the first time, to witness Shakespeare speaking his own lines. There cannot have been, anywhere in history, many more favoured places than this [gemeint ist das Globe Theatre]. (S. 125)

Anmerkungen

Abgesehen von der Besprechung in der FAZ hüllt sich das deutsche Feuilleton in vornehmes Schweigen. Im englischsprachigen Raum liest man derlei Flott-Intelligentes einfach lieber.

If a trio of witches were cooking up this book in a cauldron, there’d be a pinch of P.G. Wodehouse, a soupçon of Sir Osbert Lancaster and a cup of Sir Arthur Conan Doyle. One can be firm of purpose and blithe at the same time, it turns out; one can write a seriously entertaining book. Shakespeare: The World as Stage is aimed at general readers, not Shakespeare scholars, though the latter do make appearances now and then, not always is a flattering light, but always entertainingly. […]

Mr. Bryson goes off at times on amusing tangents […] and is otherwise completely charming and conversational, like a good host. The pleasure of his company cannot, to borrow a phase from him, “be emphasized too strenuously.” (Nancy Dalva, The New York Observer)

Hier geht es lang zu einer Besprechung von Tom Payne im Telegraph.

Vergleich: Original und Übersetzung

Christiane von Irgendwas ist immer fragte in ihrem Kommentar zu meiner Besprechung von An Autobiography von Agatha Christie:

Ich bin nicht sicher, ob ich für die englische Fassung die Geduld aufbringe, kannst du was zu der deutschen Übersetzung sagen, außer dass der Titel albern ist?

So habe ich  meiner Mutter mal die Übertragung von Hans Erik Hausner aus dem Scherz Verlag von 1990 entwendet und ein bisschen gestöbert, die leider nach wie vor die einzige deutsche Übersetzung ist, auch wenn sie inzwischen nicht mehr unter dem albernen Titel Meine gute alte Zeit geführt wird, sondern schlicht Die Autobiografie heißt.

Zwar hat auch die deutsche Übersetzung 538 Seiten, doch wurde ein größeres Schriftbild gewählt und an manchen Stellen kräftig gekürzt. Dadurch wirkt die Übersetzung oft glatter – und langweiliger. Die Erzählstimme klingt weniger individuell. Der selbstironische Charme und der Plauderton gehen dabei mitunter  völlig verloren.

Drei Beispiele mögen zeigen, was ich damit meine.

1. Beispiel

Situation: Christie schreibt über ihren liebenswerten, aber nicht besonders arbeitswütigen Vater:

Übersetzung:

Die Leute wollen [heutzutage] eher wissen, ob ein Mann klug und fleißig ist, ob er zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt, ob er in der Ordnung der Dinge ‚zählt‘.

Original:

People tend to ask [nowadays] if a man is clever, industrious, if he contributes to the well-being of the community, if he ‚counts‘ in the scheme of things. But Charles Dickens puts the matter delightfully in David Copperfield:

‚Is your brother an angreeable man, Peggotty?‘ I enquired cautiously.

‚Oh what an agreeable man he is!‘ exclaimed Peggotty.

Ask yourself that question about most of your friends and acquaintances, and you will perhaps be surprised at how seldom your answer will be the same as Peggotty’s. (S. 15)

2. Beispiel

Situation: Agatha hatte ein langweiliges Französisch-Lehrwerk hinter einem ausgestopften Adler versteckt, um sich vor dem Unterricht zu drücken.

Übersetzung:

Mutter aber machte meine Pläne mühelos zunichte. Sie setzte einen Preis aus – eine ganz besonders leckere Schokolade -, der demjenigen zufallen sollte, der das Buch fand. Ich ging ihr in die Falle. Nachdem ich mich überall umgesehen hatte, kletterte ich schließlich auf einen Stuhl, guckte hinter den Adler und rief mit überraschter Stimme: ‚Ach, da ist es ja!‘ Die Strafe folgte auf dem Fuße. Ich wurde gescholten und für den Rest des Tages ins Bett gesteckt. (S. 50)

Original:

My mother, however, defeated my efforts with ease. She proclaimed a prize of a particularly delectable chocolate for whoever should find the book. My greed was my undoing. I fell into the trap, conducted an elaborate search around the room, finally climbed up on a chair, peered behind the eagle, and exclaimed in a surprised voice: ‚Why, there it is!‘ Retribution followed. I was reproved and sent to bed for the rest of the day. I accepted this as fair, since I had been found out, but I considered it unjust that I was not given the chocolate. That had been promised to whoever found the book, and I had found it. (S. 54)

3. Beispiel

Christie schreibt, dass Respekt wichtig für eine glückliche Beziehung sei,

Übersetzung:

Respekt aber, das ist etwas, worüber man nicht nachzudenken braucht; er ist da, und dafür ist man dankbar. Die Frau will das Gefühl haben, daß sie sich auf den Mann verlassen, seinem Urteil vertrauen und, wenn es schwierige Entscheidungen zu treffen gibt, sie diese getrost ihm überlassen kann. (S. 60)

Original:

But respect is a thing that you don’t have to think about, that you know thankfully is there. As the old Irish woman said of her husband, ‚Himself is a good head to me‘. That, I think, is what a woman needs. She wants to feel that in her mate there is integrity, that she can depend on him and respect his judgement, and that when there is a difficult decision to be made it can safely lie in his hands. (S. 64)

Agatha Christie: An Autobiography (1977)

Agatha Christie (1890 – 1976) beginnt ihren wunderbaren Lebensrückblick mit der Schilderung des Ortes, an dem sie beginnt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben:

Nimrud, Iraq, 2 April 1950. Nimrud is the modern name of the ancient city of Calah, the military capital of the Assyrians. Our Expedition House is built of mud-brick. It sprawls out on the east side of the mound, and has a kitchen, a living- and dining-room, a small office, a workroom, a drawing office, a large store and pottery room, and a minute darkroom (we all sleep in tents). But this year one more room has been added to the Expedition House, a room that measures about three square metres. […] There is a picture on the wall by a young Iraqi artist, of two donkeys going through the Souk, all done in a maze of brightly coloured cubes. There is a window looking out east towards the snow-topped mountains of Kurdistan.

Zur Entstehungsgeschichte

Ihr zweiter Mann, der Archäologe Max Mallowan, leitet zu dieser Zeit in Nimrud die Ausgrabungen, die u. a. zu der Entdeckung von Tausenden von Elfenbeinschnitzereien  führen. Christie kann nur wenig Zeit für ihre Erinnerungen erübrigen, da der Großteil ihrer Zeit vom Schreiben ihrer Krimis und der aktiven Unterstützung ihres Mannes bei den Ausgrabungsexpeditionen in Anspruch genommen wird, und so dauert es schließlich 15 Jahre, bis ihre Autobiografie – und mit ca. 500 Seiten ihr längstes, und wie ich finde, auch ihr bestes Buch überhaupt –  beendet ist.

On second thoughts, autobiography is much too grand a word. It suggests a purposeful study of one’s life. It implies names, dates and places in tidy chronological order. What I want is to plunge my hand into a lucky dip and come up with a handful of assorted memories. (S. 1)

Zum Inhalt

Die schnöden Fakten kann man ja überall nachlesen, doch die allein erklären nicht den Reiz des Buches. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, wie Christie hier vorgeht: Sie vermengt in fröhlichen Zeitsprüngen konkrete Kindheitserlebnisse, Selbstironie und ihren trockenen Humor mit Reflexionen über das Wesen der Erinnerung. Das liest sich vergnüglich, spannend und anregend.

This is one of the compensations that age brings, and certainly a very enjoyable one – to remember. (S. 12)

I think, myself, that one’s memories represent those moments which, insignificant as they may seem, nevertheless represent the inner self and oneself as most really oneself. […] So what I plan to do is to enjoy the pleasures of memory – not hurrying myself – writing a few pages from time to time. It is a task that will probably go on for years. But why do I call it a task? It is an indulgence. I once saw an old Chinese scroll that I loved. It featured an old man sitting under a tree playing cat’s cradle. It was called ‚Old Man enjoying the pleasures of Idleness.‘ I’ve never forgotten it. (S. 13)

Vor allem aber ist dieses Buch wirklich ein Fenster, und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Ein Fenster in ein buntes und erfülltes Leben

Hier gibt es keine krisenhafte Kindheit, wie bei so vielen anderen Schriftstellern, ganz im Gegenteil:

One of the luckiest things that can happen to you in life is to have a happy childhood. I had a very happy childhood. I had a home and a garden that I loved; a wise and patient Nanny; as father and mother two people who loved each other dearly and made a success of their marriage and of parenthood. (S. 15)

Christie erzählt von  ihrer Mutter, die den Schreck verkraften musste, dass Agatha schon als Fünfjährige lesen konnte, obwohl sie das erst für Achtjährige als wünschenswert deklariert hatte, und ihrem so liebenswerten, wenn auch nicht übermäßig intelligenten Vater. Er stirbt, als Agatha elf Jahre alt ist.

Als Vierjährige verliebt sie sich in einen Freund ihres Bruders:

It was a shattering and wonderful experience. […] When I think of it now, how supremely satisfying early love can be. It demands nothing – not a look nor a word. It is pure adoration. Sustained by it, one walks on air, creating in one’s own mind heroic occasions on which one will be of service to the beloved one. Going into a plague camp to nurse him. Saving him from fire. Shielding him from a fatal bullet. (S. 38)

Wir erfahren, wie der Privatunterricht zu Hause abläuft, und wenn sie die Großmutter in Ealing (London) besucht, gehen sie mindestens einmal die Woche ins Theater. Doch auch an das schier unfassbare Glück, als sie zu ihrem fünften Geburtstag einen Hund geschenkt bekommt, erinnert sie sich:

When I read that well-known cliche ’so and so was struck dumb‘ I realize that it can be a simple statement of fact. I was struck dumb – I couldn’t even say thank-you. I could hardly look at my beautiful dog. Instead I turned away from him. I needed, urgently, to be alone and come to terms with this incredible happiness […] I think it was the lavatory to which I retired – a perfect place for quiet meditation, where no one could possibly pursue you. (S. 33-34)

So anschaulich, liebevoll und detailliert beschreibt Christie die Spiele und Katastrophen ihrer Kindheit, geerdet mit freundlichem Humor, dass man den Eindruck gewinnt, sie wird einem erzählt, während man gemütlich auf dem Sofa sitzt und hofft, die Geschichte geht immer weiter.

Um ihre musikalischen Begabung zu fördern, erhält sie Gesangs- und Klavierunterricht und längere Auslandsaufenthalte, z. B. in Paris, sollen ihr den letzten gesellschaftlichen Schliff verleihen.

Da sich inzwischen die finanzielle Situation der Familie so weit verschlechtert hat, dass man der 17-jährigen Agatha keine traditionelle Coming-Out-Saison in London ermöglichen kann, beschließt Mrs Miller, der ein wärmeres Klima gesundheitlich helfen soll, mit ihrer Tochter nach Kairo zu reisen:

Cairo, from the point of view of a girl, was a dream of delight. We spent three months there, and I went to five dances every week. They were given in each of the big hotels in turn. There were three or four regiments stationed in Cairo; there was polo every day; and at the cost of living in a moderately expensive hotel all this was at your disposal (S. 168)

Nach ihrer Rückkehr nach England lernt sie bei einer Tanzveranstaltung ihren späteren Mann Archibald Christie kennen, für den sie sich von ihrem Verlobten trennt. 1914 heiraten die beiden.

Während des Weltkrieges arbeitet Agatha als  Hilfskrankenschwester und schließlich als Apothekenhelferin, eine Tätigkeit, der sie ihre Kenntnisse diverser Gifte verdankt.

From the beginning I enjoyed nursing. I took to it easily, and found it, and have always found it, one of the most rewarding professions that anyone can follow. I think, if I had not married, that after the war I should have trained as a real hospital nurse. (S. 230)

In dieser Zeit kommt ihr erstmals die Idee, eine Detektivgeschichte zu schreiben. Später bereut sie sehr, Poirot in seinem ersten Fall nicht jünger gemacht zu haben, da sie natürlich nie damit gerechnet hatte, dass dieser kleine belgische Detektiv sie noch jahrzehntelang verfolgen wird. Zwei Jahre später wird The Mysterious Affair at Styles von einem Verlag angenommen. Ihre Unerfahrenheit wird von The Bodley Head schamlos ausgenutzt und die finanziellen Konditionen sind miserabel, doch zunächst ist sie einfach überglücklich, dass tatsächlich ein Buch von ihr veröffentlicht werden soll.

Archie dient während des Krieges in der britischen Luftwaffe. Einmal liegen zwei Jahre zwischen ihren Wiedersehen.

It seems odd that I don’t remember being at all worried about Archie’s safety. Flying was dangerous – but then so was hunting, and I was used to people breaking their necks in the hunting field. It was just one of the hazards of life. There was no great insistence on safety then. […] To be concerned with this new form of locomotion, flying, was glamorous. Archie was one of the first pilots to fly – his pilot’s number was, I think, just over the hundred: 105 or 106. I was enormously proud of him. (S. 221)

Interessant auch, wie sie den Tag erlebt, als der Krieg zu Ende ist.

I went out in the streets quite dazed. There I came upon one of the most curious sights I had ever seen – indeed I still remember it, almost, I think with a sense of fear. Everywhere there were women dancing in the street. English women are not given to dancing in public […] But there they were, laughing, shouting, shuffling, leaping even, in a sort of wild orgy of pleasure: an almost brutal enjoyment. It was frightening. One felt that if there had been any Germans around the women would have advanced upon them and torn them to pieces. (S. 264)

1919 kommt das einzige Kind der beiden, Tochter Rosalind, zur Welt.

1926 stirbt Agathas Mutter, an der sie sehr gehangen hat. Archie ist ihr keine Unterstützung und zu allem Überfluss eröffnet er ihr, dass er sich scheiden lassen will, um seine Geliebte heiraten zu können. Agatha erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Auf ihr zehntägiges Verschwinden, das es bis auf die Titelseite der New York Times schaffte, geht sie in ihrer Autobiografie nicht ein (siehe dazu den Spiegel-Artikel von Daniel Kringiel).

Doch ihr Abscheu vor Journalisten geht auf diese Zeit zurück und erklärt, weshalb sie ihren zweiten Mann, den Archäologen Max Mallowan, 1930 heimlich, still und leise in Edinburgh heiratet. Besonders gefallen hat mir, in welcher Situation Max das erste Mal gedacht hat, dass Agatha die richtige Frau für ihn sein könnte. Die Ehe mit dem 14 Jahre jüngeren Mann, den sie mehrere Monate pro Jahr auf seinen Expeditionen im Irak und in Syrien begleitet, war glücklich und hielt bis zu ihrem Tod.

Nothing could be further apart than our work. I am a lowbrow and he is a highbrow, yet we complement each other, I think, and have both helped each other. (S. 523)

Ein Fenster in eine vergangene Zeit

Doch es ist auch ein Buch, das einen Blick in eine vergangene Zeit erlaubt, in der der keinem Beruf nachgehende Vater dem Dahinschmelzen des geerbten Vermögens nur planlos zuschauen kann und die Töchter dieser Schicht oft noch zu Hause unterrichtet wurden. So hat Agatha ihr Elternhaus Ashfield in Torquay auch nicht als „reich“ in Erinnerung, schließlich hatten sie nur drei Bedienstete und gehörten auch nicht zu den Familien, die sich ein Automobil leisten konnten; dafür entsprachen die Mahlzeiten, wenn man Gäste hatte – gemessen an heutigen Standards – wohl dem Niveau gehobener Restaurants. Überhaupt zählte man Henry James und Kipling zu den Gästen, die bewirtet wurden.

Servants, of course, were not a particular luxury – it was not a case of only the rich having them; the only difference was that the rich had more. […] Our various servants are far more real to me than my mother’s friends and my distant relations. I have only to close my eyes to see Jane moving majestically in her kitchen… (S. 30)

Servants did an incredible amount of work. Jane cooked five-course dinners for seven or eight people as a matter of daily routine. For grand dinner parties of twelve or more, each course contained alternatives – two soups, two fish courses, etc. The housemaid cleaned about forty silver photograph frames and toilet silver ad lib, took in and emptied a ‚hip bath‘ […] brought hot water to bedrooms four times a day, lit bedroom fires in winter, and mended linen etc. every afternoon. […] In spite of these arduous duties, servants were, I think, actively happy, mainly because they knew they were appreciated – as experts, doing expert work. As such, they had that mysterious thing, prestige; they looked down with scorn on shop assistants and their like. (S. 29)

Agathas Schwester Madge hatte vor dem Zweiten Weltkrieg noch 16 Angestellte, die das große Haus mit 14 Schlafzimmern in Schuss hielten. Und Männer wie ihr Bruder Monty, die nirgendwo richtig sesshaft wurden, konnten sich wenigstens noch im Burenkrieg auszeichnen.

Gesellschaftliche Gegebenheiten, wie die sexuelle Doppelmoral oder das Empire, wurden nicht hinterfragt und überglücklich nahmen Agatha und ihr erster Mann 1922 das Angebot Ernest Belchers an, mit ihm zehn Monate um die Welt zu reisen, um Werbung für die geplante British Empire Exhibition von 1924 zu machen.

I still think New Zealand the most beautiful country I have ever seen. Its scenery is extraordinary. […] Everywhere the beauty of the countryside was astonishing. I vowed then that I would come back one day, in the spring […] and see the rata in flower: all golden and red. I have never done so. For most of my life New Zealand has been so far away. Now, with the coming of air travel, it is only two or three days‘ journey, but my travelling days are over. (S. 289)

Ein Fenster in die Arbeit archäologischer Expeditionen

Agatha Christie ist schon bei ihrem ersten Aufenthalt in Ur, wo sie als VIP-Gast den Ausgrabungen der Woolleys zuschauen darf,  begeistert von Land, Leuten und Kultur.

I fell in love with Ur, with its beauty in the evenings, the ziggurrat standing up, faintly shadowed, and that wide sea of sand with its lovely pale colours of apricot, rose, blue and mauve changing every minute. I enjoyed the workmen, the foremen, the little basket-boys, the pickmen – the whole technique and life. The lure of the past came up to grab me. To see a dagger slowly appearing, with its gold glint, through the sand was romantic. The carefulness of lifting pots and objects from the soil filled me with a longing to be an archaeologist myself. (S. 377)

Für viele Jahre begleitet sie dann ihren zweiten Mann bei dessen Ausgrabungen, u. a. in Nimrud, wo sie beim Säubern der gefundenen Elfenbeinschnitzereien hilft, z. B. mit feinen Stricknadeln oder ihrer Gesichtscreme, oder die Kostbarkeiten fotografiert.

Später wird Max ihr sogar bescheinigen, vermutlich mehr über „pre-historic pottery“ zu wissen als jede andere Frau in England.

Ein Fenster in das Leben einer der erfolgreichsten Autorinnen überhaupt

Ihre ersten Geschichten schreibt sie, als sie krank im Bett liegt und sich langweilt. Im Laufe der Zeit entwickelt sich das zu einer Freizeitbeschäftigung wie vorher das Besticken von Kissenhüllen.

Eher nebenbei erfahren wir, wann und wo ihr Ideen für ihre Bücher gekommen sind und unter welchen Umständen diese dann entstanden. Und bei Murder at the Vicarage (1930), dem ersten Buch mit Miss Marple, weiß Christie selbst nicht mehr, wo, wann und warum sie es geschrieben hat.

Christie war keine Intellektuelle (in ihrer Familie galt sie immer als „slow“) und sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Bücher und Theaterstücke geschrieben hat, um Geld damit zu verdienen, und das, wie man weiß, überaus erfolgreich. So konnte sie beispielsweise ihrer Leidenschaft frönen, heruntergekommene Häuser zu kaufen, zu renovieren und sie anschließend weiterzuverkaufen:

… there was indeed a moment in my life, not long before the outbreak of the second war, when I was the proud owner of eight houses. (S. 426)

Als richtigen Beruf hat sie ihre Tätigkeit lange gar nicht ernst genommen.

How much more interesting it would be if I could say that I always longed to be a writer, and was determined that someday I would succeed, but, honestly, such an idea never came into my head. […] In fact I only contemplated one thing – a happy marriage. (S. 127-128)

Auf Formularen trug sie bei „Beschäftigung“ immer „married woman“ ein.

I never approached my writing by dubbing it with the grand name of ‚career‘. I would have thought it ridiculous. (S. 430)

Meine gute alte Zeit?

Da Christie verfügt hatte, dass ihre Autobiografie erst nach ihrem Tod erscheinen dürfe, wurde sie erstmals 1977 veröffentlicht.

Auf Deutsch erschien diese 1977 unter dem albernen und irreführenden Titel „Meine gute alte Zeit“. Das klingt, als ob hier jemand bloß einer glorifizierten Vergangenheit nachtrauert und die harschen Seiten des Lebens und der Geschichte ausblendet. Nichts könnte falscher sein.

Man denke nur an das Scheitern ihrer ersten Ehe, den Tod ihres ersten Schwiegersohnes oder die grässlichen Jahre während des Zweiten Weltkrieges:

So time went on, now not so much like a nightmare as something that had been always going on, had always been there. It had become, in fact, natural to expect that you yourself might be killed soon, that the people you loved best might be killed, that you would hear of deaths of friends. Broken windows, bombs, land-mines, and in due course flying-bombs and rockets – all these things would go on, not as something extraordinary, but as perfectly natural. (S. 489)

Eher schon findet sich eine gewisse Nostalgie, wenn sie z. B. von Orten schreibt, an denen sie glücklich war und die sie danach nie wieder besucht hat, wie beispielsweise den Schrein des Sheikh Adi in Nordirak.

The peacefulness of it comes back – the flagged courtyard, the black snake carved on the wall of the shrine. Then the step carefully over, not on the threshold, into the small dark sanctuary. There we sat in the courtyard under a gently rustling tree. […] We sat there a long time. Nobody forced information on us. […] When the sun began to get low, we left. It had been utter peace. Now I believe, they run tours to it. The ‚Spring Festival‘ is quite a tourist attraction. But I knew it in its day of innocence. I shall not forget it. (S. 81)

Und Christie veranschaulicht mit ihren Lebenserinnerungen den Wertewandel, den wir in vielen Bereichen in den letzten hundert Jahren erfahren haben, vor allem, was die Rolle von Mann und Frau anbelangt, auch wenn sie dabei ihre von Anfang an privilegierte Position ein bisschen aus den Augen verliert. Dem Gedanken an Gleichberechtigung könnte sie wohl wenig abgewinnen.

The real excitement of being a girl […] was that life was such a wonderful gamble. You didn’t know what was going to happen to you. That was what made being a woman so exciting. No worry about what you should be or do – Biology would decide. You were waiting for The Man, and when the man came, he would change your entire life. You can say what you like, that is an exciting point of view to hold at the threshold of life. What will happen? ‚Perhaps I shall marry someone in the Diplomatic Service… I think I should like that; to go abroad and see all sorts of places…‘ (S. 128)

Fazit

Das Buch ist in seiner Fülle von Geschichten unterhaltsam, warmherzig und erhellend, dabei kein bisschen trivial oder sentimental. Kurzum, ein Buch, das mir beim Wiederlesen genauso viel Freude wie beim ersten Lesen bereitet hat (wenn man mal von den wirren zwei Seiten absieht, auf denen sie die Todesstrafe befürwortet).

Was mir diesmal besonders auffiel, war Christies Faszination und vorbehaltlose Freude an Orten, ihrer Schönheit, ihrer Gastfreundlichkeit und ihrer Kultur, die wir zur Zeit nur mit Menschenrechtsverletzungen, Krieg oder Terror in Verbindung bringen, sei es im Iran, Irak oder in Syrien.

Neben dem sanften, auch selbstironischen Humor sind übrigens, genau wie in ihren Kriminalromanen, die Dialoge einer der Stärken des Buches. Diese dürften ja selten genau so verlaufen sein, wie sie hier niedergeschrieben sind; aber sie klingen völlig natürlich, wie gerade stattgefunden.

Auch der Epilog, in dem sie sich gelassen und ein bisschen spöttisch mit ihrem Altern und dem Tod auseinandersetzt: lesenswert!

An Autobiography, für mich das Beste, was Christie je geschrieben hat. Und wer wissen will, was damals der große Nachteil am Reisen mit dem Orient-Express war, wo sie ihren zweiten Mann kennengelernt hat und weshalb man sie zum zehnjährigen Bühnenjubiläum von The Mousetrap im Savoy zunächst nicht in den für die Party reservierten Raum hineinlassen wollte und welche zwei Dinge Agatha Christie in ihrem Leben am aufregendsten fand, der muss das Buch jetzt doch noch selbst lesen.

I like living. I have sometimes been wildly despairing, acutely miserable, racked with sorrow, but through it all I still know quite certainly that just to be alive is a grand thing. (S. 13)

I have remembered, I suppose, what I wanted to remember; many ridiculous things for no reason that makes sense. That is the way we human beings are made. (S. 529)

Zur Frage, was von der deutschen Übersetzung zu halten ist, geht es hier lang.

Fiona McFarlane: The Night Guest (2013)

Ruth woke at four in the morning and her blurry brain said, „Tiger.“ That was natural; she was dreaming. But there were noises in the house, and as she woke she heard them. They came across the hallway from the lounge room. Something large was rubbing against Ruth’s couch and television and, she suspected, the wheat-coloured recliner disguised as a wingback chair. Other sounds followed: the panting of a large animal; a vibrancy of breath that suggested enormity and intent; definite mammalian noises, definitely feline, as if her cats had grown in size and were sniffing for food with huge noses.

So beginnt der Debütroman der Australierin

Fiona McFarlane: The Night Guest (2013)

Der Roman schaffte es auf Anhieb auf die Shortlist des renommierten Miles Franklin Award für 2014 und wurde unter dem Titel Nachts, wenn der Tiger kommt von Brigitte Walitzek ins Deutsche übersetzt.

Zum Inhalt

Die 75-jährige Witwerin Ruth lebt allein mit ihren Katzen in ihrem Haus am Meer in New South Wales an der australischen Ostküste. Die erwachsenen Söhne leben im Ausland. Sie befürchtet nicht nur, nachts von einem Tiger heimgesucht zu werden, sondern bekommt einige Tage später auch sehr realen Besuch.

Frida Young erklärt, von der Regierung geschickt worden zu sein. Sie solle Ruth als Haushaltshilfe/Pflegekraft ein wenig unter die Arme greifen. Und bald schon ist Ruth, der die Altersgebrechen wie ein schmerzender Rücken oder Vergesslichkeit tatsächlich zu schaffen machen, völlig von Frida abhängig.

Die liebenswerte alte Dame erinnert sich an ihre Kindheit, ihre Ehe und ihre erste große Liebe Richard, der sie sogar einmal besucht. Die beiden alten Menschen verbringen ein schönes Wochenende miteinander.

He was looking back at her in a confidential way. If she’d been told, at nineteen, that it would take over fifty years to have him look at her like this, she would have been disgusted and heartbroken; now she was only a little sad, and it was both bearable and lovely. She brushed Richard’s arm with her hand. (S. 105)

Dem Leser ist rasch klar, dass Frida ihre eigenen Geheimnisse mit ins Haus gebracht hat, und Ruth ist zunehmend den Launen der undurchschaubaren Frida ausgeliefert, die mit den Ängsten, der Gebrechlichkeit und der Verwirrtheit der alten Frau ihr eigenes Spiel spielt.

Fazit

Vermutlich ist das Buch wirklich gut geschrieben, aber mir kam irgendwann die notwendige Distanz abhanden, um das überhaupt beurteilen zu können. Die Sprache, die Schilderungen aus der Sicht Ruths, der allmählich die Koordinaten für die Alltagsbewältigung abhanden kommen, dazu die sich langsam steigernde Spannung, das zunehmende Grauen. Ich war so mitgenommen davon, wie jemand die Hilfsbedürftigkeit eines alten und alleinstehenden Menschen ausnutzt, dass ich es schlicht nicht ertragen habe, es wirklich zu Ende zu lesen. Das letzte Drittel habe ich nur noch quergelesen.

Anmerkungen

Hier zwei Artikel aus dem Guardian:

Und das sagen die andern:

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Kathrine Kressmann Taylor: Address unknown (1938)

Schulse-Eisenstein Galleries, San Francisco, California, U.S.A.

November 12, 1932

Herrn Martin Schulse Schloss Rantzenburg Munich, Germany

MY DEAR MARTIN:
Back in Germany! How I envy you! Although I have not seen it since my school days, the spell of Unter den Linden is still strong upon me – the breadth of intellectual freedom, the discussions, the music, the lighthearted comradeship. And now the old Junker spirit, the Prussian arrogance and militarism are gone. You go to a democratic Germany, a land with a deep culture and the beginnings of a fine political freedom. It will be a good life. Your new address is impressive and I rejoice that the crossing was so pleasant for Elsa and the young sprouts.

So beginnt das schmale Werk Address unknown (1938), das auf Deutsch erst 2001 unter dem Titel Adressat unbekannt erschien.

Die Geschichte spielt von 1932 bis 1934 und besteht aus einem (fiktiven) Briefwechsel zwischen einem jüdischen, inzwischen in Amerika lebenden Kunsthändler und seinem Freund und Geschäftspartner Martin, der nach Deutschland zurückgekehrt ist.

Versichern sich die beiden in ihren Briefen zunächst noch ihrer innigen Freundschaft, bei der es keine Rolle spielt, dass Max Eisenstein Jude ist, so ändert sich allmählich der Ton in den Briefen. Martin findet trotz anfänglicher Zweifel immer mehr Gefallen an der erstarkenden Bewegung der Nationalsozialisten und sieht in ihr die Chance auf ein neues Deutschland, das sich nicht länger hinter der Schande von Versailles verstecken müsse.

Besorgte und kritische Fragen des amerikanischen Freundes zu den Veränderungen in Deutschland werden zunehmend verärgert vom Tisch gewischt. Schließlich bittet Martin sogar darum, dass Max ihm keine Briefe mehr an seine Privatadresse schickt, da dies ihm nur unnötigen Ärger mit der Zensur und den neuen Machthabern eintrage. Er hofft dafür auf Verständnis. Doch Max muss ihm doch noch einmal schreiben: Er bittet seinen alten Freund, eine diskret-schützende Hand über seine Schwester Griselle, die ehemalige Geliebte von Martin, zu halten, da diese politisch naiv ein Schaupielengagement in Berlin angenommen habe und er um ihre Sicherheit fürchtet, sollte sie als Jüdin enttarnt werden.

Ab hier wäre es schade, den weiteren Fortgang der Handlung vorwegzunehmen.

Fazit

Bei nur 57 Seiten (und einer außerordentlich großzügigen Platzaufteilung) sind natürlich keine tiefen Charakterschilderungen und Feinheiten im Detail möglich. Dennoch ist Address unknown ein spannendes Lehrstück, eine Geschichte, deren Ende den Leser überrascht und ihn mit einigen Fragen, und vielleicht auch mit – vorschneller – Genugtuung zurücklässt. Meine Ausgabe – gespickt mit Rechtschreibfehlern – hat, obwohl das für das Verständnis des Werkes und des Titels entscheidend ist, nicht kenntlich gemacht, dass der letzte Brief, den Max schreibt, an ihn mit dem Vermerk „Adressat unbekannt“ zurückgesandt wird.

Hintergrund

Das Wichtigste an dieser Geschichte ist aber wohl ihr Erscheinungsdatum: Sie wurde 1938 in der Zeitschrift Story veröffentlicht und warnte also sehr früh die amerikanische Öffentlichkeit vor dem Nationalsozialismus, die sehr lange der Meinung war, dass man sich in europäische Belange nicht einmischen solle. Die komplette Ausgabe der Zeitschrift war innerhalb von zehn Tagen ausverkauft. Reader’s Digest veröffentlichte eine gekürzte Version und die kurz darauf erschienene Buchausgabe war mit 50.000 verkauften Exemplaren ein für damalige Verhältnisse unglaublicher Erfolg. In Deutschland wurde das Buch 1939 verboten.

Im Vorwort einer amerikanischen Ausgabe gibt der Sohn der Autorin einige Hinweise zur Entstehung des Romans: Seine Mutter habe selbst erlebt, wie kultivierte warmherzige Deutsche, die längere Zeit in Amerika gelebt hatten, sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland massiv veränderten und bei einem Besuch in Amerika einen alten Freund auf der Straße ignorierten, weil dieser Jude war.

What changed their hearts so? What steps brought them to such cruelty? These questions haunted me very much and I could not forget them. […] I began researching Hitler and reading his speeches and the writings of his advisors. What I discovered was terrifying. What worried me most was that no one in America was aware of what was happening in Germany and they also did not care.

Wiederentdeckung

1995 wurde das schmale Bändchen anlässlich des 50sten Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager neu aufgelegt und erregte noch einmal internationales Aufsehen. In Frankreich stand es zwei Jahre auf der Bestsellerliste und wurde außerdem für die Bühne bearbeitet. Kressmann Taylor (1903 – 1996) erlebte als hochbetagte Dame den zweiten Erfolg ihres Werkes noch persönlich mit und verbrachte ihr letztes Lebensjahr mit Interviews und Autogrammstunden. Die deutsche Übersetzung erschien, wie gesagt, erst 2001.

Und das sagen die Kritikerinnen Anne Karpf und Elke Heidenreich

Im Juli 2002 äußerte sich Anne Karpf im Guardian enthusiastisch:

If I were to tell you that a novel made up entirely of letters, just 54 pages long (eight of them blank), came with a New York Times Book Review plaudit on its cover judging it „the most effective indictment of Nazism to appear in fiction“, you might think it the mother of all hype. Yet spend three-quarters of an hour with it and you’ll be jabbing all comers with the injunction: ‚Read!‘

Elke Heidenreich empfahl das schmale Werk als Schullektüre und damit liegt sie keineswegs verkehrt. Natürlich kann man das kleine fiktive Werk nicht mit Dokumenten wie Viktor Klemperers Tagebüchern vergleichen. Aber Umfang, Spannung, Botschaft und Diskussionsanlässe sprechen durchaus für eine Lektüre im Unterricht. Allerdings versteigt sie sich in ihrer Begeisterung dann doch zu arg schrillen Tönen:

Ich habe nie auf weniger Seiten ein größeres Drama gelesen. Diese Geschichte ist meisterhaft, sie ist mit unübertrefflicher Spannung gebaut, in irritierender Kürze, kein Wort zuviel, keines fehlt. […] eine viel größere Öffentlichkeit sollte ihm beschieden sein. Nie wurde das zersetzende Gift des Nationalsozialismus eindringlicher beschrieben. ‚Adressat unbekannt‘ sollte Schullektüre werden, Pflichtlektüre für Studenten, es sollte in den Zeitungen abgedruckt und in den Cafes diskutiert werden. Ich würde wieder mehr Vertrauen in dieses Land haben, wenn ich dieses Buch in den nächsten Monaten und Jahren aus vielen Jackentaschen ragen sähe. Ich träume von einer morgendlichen vollen U-Bahn in Berlin, in der Hunderte von Menschen Kressmann Taylor lesen, aufsehen und sich mit Blicken gegenseitig versichern: nie wieder. (im Nachwort zu der Ausgabe anlässlich des Welttag des Buches 23/4/2012)

Diese Hoffnung nennt sie selbst „sentimental“. Die Vorstellung, dass eines Morgens alle Menschen in der U-Bahn das gleiche Buch lesen, klingt für mich eher nach einer bedenklichen Massengehirnwäsche. Dann doch lieber das ironische Understatement von Anne Karpf …

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Emily St. John Mandel: Station Eleven (2014)

The king stood in a pool of blue light, unmoored. This was act 4 of King Lear, a winter night at the Elgon Theatre in Toronto. Earlier in the evening, three little girls had played a clapping game onstage as the audience entered, childhood versions of Lear’s daughters, and now they’d returned as hallucinations in the mad scene. The king stumbled and reached for them as they flitted here and there in the shadows. His name was Arthur Leander.

So beginnt der Endzeitroman der kanadischen Autorin

Emily St. John Mandel: Station Eleven (2014)

Das Buch wurde von Wibke Kuhn ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel Das Licht der letzten Tage.

Ein dickes Dankeschön an Deep Read, ohne deren verlockende Besprechung das Buch hier nicht eingezogen wäre.

Zum Inhalt

Bei einer Theateraufführung in Toronto erleidet der Hauptdarsteller Arthur Leander einen Herzinfarkt. Auch die sofort eingeleiteten Erste-Hilfe-Maßnahmen können ihn nicht retten. Später unterhalten sich noch einige Kollegen an der Theaterbar über Arthur und überlegen, wer nun benachrichtigt werden muss.

Of all of them there at the bar that night, the bartender was the one who survived the longest. He died three weeks later on the road out of the city. (S. 15)

Es ist der letzte Abend, an dem unsere Welt noch so ist, wie wir sie kennen. Flugzeugpassagiere aus Georgien haben eine tödliche Seuche mit nach Kanada gebracht. Schon im Laufe des Nachmittags sterben die ersten Opfer in den Krankenhäusern, die Inkubationszeit ist so kurz, dass am Abend alle Krankenhäuser der Stadt überfüllt sind.

Jeevan Chaudhary, der noch versucht hatte, den Schauspieler auf der Bühne wiederzubeleben, verbarrikadiert sich mit seinem Bruder in dessen Wohnung. Dort verfolgen sie das Geschehen im Fernsehen, bis ein Sender nach dem anderen die Arbeit einstellt. Das Undenkbare ist passiert. Die Zivilisation ist am Ende. Man geht davon aus, dass maximal ein Prozent der Menschheit überlebt hat. Als einige Wochen später die Vorräte zur Neige gehen, beschließt Jeevan, die Wohnung zu verlassen und herauszufinden, ob er weitere Überlebende findet.

Neben dieser Zeitebene, die während des Zusammenbruchs spielt, gibt es die Ebene ca. zwanzig Jahre später. Wir folgen der Travelling Symphony, einer Wandertruppe, die mit von Pferden gezogenen Wagen die weit auseinanderliegenden kleinen Siedlungen ansteuert und dort klassische Konzerte gibt und außerdem Shakespeare-Stücke im Repertoire hat.

Dieter was learning the part of Lear, although he wasn’t really old enough. Dieter walked a little ahead of the other actors, murmuring to his favourite horse. The horse, Bernstein, was missing half his tail, because the first cello had just restrung his bow last week. (S. 36)

Auf den langen Wanderungen treffen die ca. 20 Mitglieder der Truppe auf Überreste der ehemaligen Welt, z. B. auf Tankstellen und auf Autowracks, in denen noch die Skelette sitzen. In längst schon geplünderten Häusern finden sie manchmal etwas Brauchbares, noch etwas Kleidung oder eine alte Zeitschrift.

Schließlich haben zwei Mitglieder der Travelling Symphony nicht, wie vereinbart, an einem bestimmten Ort auf die anderen gewartet. Stattdessen treffen sie auf einen offensichtlich durchgeknallten Sektenführer, der diesen Ort vollständig unter Kontrolle hat. Und dann verschwinden während einer Nachtwache plötzlich noch zwei weitere Mitglieder der Truppe.

Immer wieder wechseln die Zeitebenen. Mal sind wir in der Vergangenheit, wo wir u. a. die Ehefrauen von Arthur Leander kennenlernen und erfahren, was es mit einem Comic mit dem Titel „Station Eleven“ auf sich hat. Dann wiederum bewegen wir uns in der Ebene, während der die Welt, wie wir sie kennen, zusammenbricht.

Schließlich gibt es noch die gefährliche und immer auch gefährdete Gegenwart, in der täglich neu verhandelt werden muss, welche Werte gelten sollen. Für was lohnt sich zu leben, wenn das Motto der Travelling Symphony, das sie einer Star Trek-Episode entlehnt haben, gelten soll: Survival is insufficient.

Fazit

Wir haben hier keine feinen Charakterzeichnungen a la Tolstoi, das Grauen, der Schock, die Trauer, sind sicherlich nicht immer in denkbarer Tiefe dargestellt, aber um ehrlich zu sein, das war mir irgendwann völlig egal. Ich bin schon lange nicht mehr in einem Buch so abgetaucht.

Und normalerweise habe ich nicht so viel für Zeitsprünge und Wechsel der Erzählerstimmen übrig, weil ich dann rasch den Verdacht habe, dass der Autor damit über fehlende Substanz hinwegtäuschen will. Doch hier habe ich allen Wechseln und Sprüngen vertraut, wollte immer wissen, wie es weitergeht, und war fasziniert, wie sich Motive und Linien immer weiter ineinander verschränken. Ich fand diese ausgedachte Welt unglaublich und sie verfolgt mich geradezu visuell. Kein Wunder, dass die Verfilmung bereits beschlossene Sache ist.

Die Autorin setzt – im Gegensatz zu Cormac Mc Carthy beispielsweise – weder auf die explizite Schilderung von Horror und Gewalttaten noch auf die Frage des reinen Überlebenskampfes, sondern eher darauf, unsere Weltsicht ins Wanken zu bringen. Wie sähe eine Welt aus, in der das, was wir überhaupt nicht mehr als etwas Besonderes wahrnehmen, wie Elektrizität, Autos, Flugzeuge, Internet, ausfällt? Wenn plötzlich 99 Prozent der Bevölkerung nicht mehr da wären – und damit auch ihr Know-How fehlen würde? Was gibt, auch nach dem „Ende der Welt“ dem Leben Bedeutung? Welche Rolle kommt der Kultur, dem Theater, der Musik, einem Buch, noch zu?

Unglaublich tolles Buch, und spannend sowieso. Ein Schmöker im besten Sinne. Deep Read hat es so schön auf den Punkt gebracht: „Und so klappt man diesen Roman nach 400 Seiten zu und ist unglaublich einverstanden, zuversichtlich, getröstet. Und dass, obwohl gerade die alte Welt untergegangen ist.“

Ach, und Shakespeare möchte man danach auch gleich wieder lesen.

An incomplete list:

No more diving into pools of chlorinated water lit green from below. No more ball games played out under floodlights. No more porch lights with moths fluttering on summer nights. No more trains running under the surface of cities on the dazzling power of the electric third rail. No more cities. No more films […] No more screens shining in the half-light as people raise their phones above the crowd to take photographs of concert stages. Nor more concert stages lit by candy-coloured halogens, no more electronica, punk, electric guitars.
No more pharmaceuticals. No more certainty of surviving a scratch on one’s hand, a cut on a finger while chopping vegetables for dinner, a dog bite.
No more flight. No more towns glimpsed from the sky through airplane windows, points of glimmering light; no more looking down from thirty thousand feet and imagining the lives lit up by those lights at that moment. […]
No more countries, all borders unmanned. No more fire departments, no more police. No more road maintenance or garbage pickup. […]
No more Internet. No more social media, no more scrolling through litanies of dreams and nervous hopes and photographs of lunches, cries for help and expressions of contentment and relationship-status updates with heart icons whole or broken, plans to meet up later, pleas, complaints, desires, pictures of babies dressed as bears or peppers for Halloween. No more reading and commenting on the lives of others, and in doing so, feeling slightly less alone in the room. No more avatars. (S. 36/37)

Anmerkungen

Inzwischen habe ich noch folgendes Zitat von Agatha Christie in ihrer Autobiografie (1977) gefunden, das hier erstaunlich gut passt:

What will it all end in? Further triumphs? Or possibly the destruction of man by his own ambition? I think not. Man will survive, though possibly only in pockets here and there. There may be some great catastrophe – but not all mankind will perish. Some primitive community, rooted in simplicity, knowing of past doings only by hearsay, will slowly build up a civilisation once more. (S. 222)

Auch wenn St. Mandel nicht müde wird zu betonen, dass Station Eleven kein Science Fiction Roman sei, hat sie 2015 für ihr Buch den Arthur C. Clarke Award verliehen bekommen.

Außerdem schaffte sie es 2014 auf die Shortlist des National Book Award, 2015 auf die Shortlist des PEN/Faulkner Award for Fiction und sie gewann den Toronto Book Award.

Ein Interview mit der Autorin gibt es auf Literary Hub.

Hier geht’s lang zu einigen Rezensionen.

Und Justine Jordan schreibt im Guardian:

Mandel isn’t interested in how apocalypse might act upon art: this is very much a novel about individual rather than collective destiny. The glacial calm of her prose extends to the characters, so that while the book is visually stunning, dreamily atmospheric and impressively gripping, we never feel the urgency and panic of global disaster, let alone its moral weight.

But perhaps that is beside the point. Station Eleven is not so much about apocalypse as about memory and loss, nostalgia and yearning; the effort of art to deepen our fleeting impressions of the world and bolster our solitude. Mandel evokes the weary feeling of life slipping away, for Arthur as an individual and then writ large upon the entire world. In Year Twenty, Kirsten, who was eight when the flu hit, is interviewed about her memories, and says that the new reality is hardest to bear for those old enough to remember how the world was before. „The more you remember, the more you’ve lost,“ she explains – a sentiment that could apply to any of us, here and now.

Emma Healey: Elizabeth is missing (2014)

‚You know there was an old woman mugged around here?‘ Carla says, letting her long black ponytail snake over one shoulder. ‚Well, actually it was Weymouth, but it could have been here. So you see, you can’t be too careful. They found her with half her face smashed in.‘ This last bit is said in a hushed voice, but hearing isn’t one of my problems. I wish Carla wouldn’t tell me these things; they leave me with an uneasy feeling long after I’ve forgotten the stories themselves. I shudder and look out of the window.

So beginnt der Debütroman der 1985 geborenen Autorin

Emma Healey: Elizabeth is missing (2014)

Die deutsche Übersetzung Elizabeth wird vermisst von Rainer Schumacher erschien 2014. Die Autorin hat für dieses Buch den Costa Book Award in der Kategorie Debütroman gewonnen.

Zum Inhalt

Die verwitwete 82-jährige Maud, die uns ihre Geschichte erzählt, lebt zwar noch in ihrem eigenen Haus, doch so richtig gut läuft das nicht mehr, denn sie leidet an Demenz und vergisst schon mal zu trinken, den Gasherd abzustellen oder was sie nun eigentlich im Laden kaufen wollte.

Ihre Tochter und diverse Pflegekräfte tun, was sie können, doch oft weisen sie die alte Dame zurecht, sind genervt und überfordert. Und vor allem können sie die alte Leier nicht mehr hören, dass Elizabeth, die einzige gute Freundin Mauds, angeblich verschwunden sei. Doch Maud gibt nicht auf und versucht verzweifelt Hinweise auf den Verbleib Elizabeths zu finden, was nicht so einfach ist, wenn man nicht mal mehr weiß, wann man seine Freundin eigentlich das letzte Mal gesehen hat. Die Zettel, die sie sich selbst schreibt, sind auch nicht wirklich hilfreich, da sie nie weiß, welcher Zettel der aktuelle ist.

Die Suche nach Elizabeth löst immer wieder Assoziationen an die Vergangenheit aus, denn als Schülerin musste Maud miterleben, wie ihre ältere, frisch verheiratete Schwester Sukey über Nacht spurlos verschwand. Ein Trauma, das die Familie nie verwunden hat. Elizabeths Erinnerungen an früher sind – im Gegensatz zu den Erinnerungen an die letzte Stunde, die letzten Tage – glasklar. Und der Schmerz von damals ist sicherlich einer der Gründe, weshalb Maud sich mit dem Verschwinden Elizabeths nicht abfinden kann. Und so folgen wir Maud bei ihren mühsamen, manchmal skurrilen, manchmal traurigen Bemühungen, Licht ins Dunkel dieser zwei Vermisstenfälle zu bringen.

Fazit

Zwar wurde das Geheimnis der verschwundenen Freundin Elizabeth überstrapaziert, denn es blieb offen, weshalb die Lösung sich nicht auf einem der vielen Zettel finden sollte, die Maud doch dauernd schreibt, um Wichtiges nicht zu vergessen. Dadurch entstanden einige Längen, die vermeidbar gewesen wären.

Doch davon abgesehen, ist der Autorin ein spannender und berührender Roman gelungen. Spannend, weil ich wissen wollte, wo Elisabeth ist – auch wenn die Auflösung enttäuscht – und vor allem, was damals mit Sukey, Mauds Schwester, passiert ist.

Berührend, weil einer jungen Autorin gelingt, so einfühlsam und glaubwürdig aus Sicht einer verwirrten alten Dame zu schreiben, der die Orientierung in der Gegenwart allmählich abhanden kommt. Die sich einsam und unverstanden fühlt, deren Welt unübersichtlich und bedrohlich wird, denn was soll man von Menschen halten, die behaupten, sie seien die eigene Tochter oder Enkeltocher, dabei erkennt man sie manchmal gar nicht mehr.

Und vor allem zeigt es, dass die Welt und Denkweise eines dementen Menschen eine Welt ist, die vielleicht nur dem Außenstehenden unlogisch, chaotisch und verwirrt vorkommt. Und es zeigt, wie wichtig Geduld, Liebe, Humor, Würde und Fürsorge im Alter sind, auch wenn gerade das so schwierig zu gewährleisten ist…

Anmerkungen

Die englischen Verlage haben sich um die Rechte am Buch gerissen und in den wichtigen britischen Zeitungen erschienen Rezensionen. In Deutschland ging das Buch – veröffentlicht im Bastei Lübbe Verlag – anscheinend unter. Dabei halte ich es für wesentlich besser als Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau von Dimitri Verhulst, in dessen Roman ebenfalls eine (vorgespielte) Demenz eine tragende Rolle spielt.

Deutsche Besprechungen gibt es bei Leselebenszeichen und bei phelmas.com.

Hier einige englischsprachige Besprechungen:

Wer noch weitere Besprechungen sucht, wird auf der Homepage der Autorin fündig.

Joseph O’Connor: Star of the Sea (2002)

All night long he would walk the ship, from bow to stern, from dusk until quarterlight, that sticklike limping man from Connemara with the drooping shoulders and ash-coloured clothes. The sailors, the watchmen, the lurkers near the wheelhouse would glance from their conversations or their solitary work and see him shifting through the vaporous darkness; cautiously, furtively, always alone, his left foot dragging as though hefting an anchor.

So anschaulich und an die Erzähltraditionen des 19. Jahrhundert erinnernd beginnt der Roman The Star of the Sea des irischen Schriftstellers Joseph O‘Connor (und Bruders von Sinéad O’Connor). 2004 erschien die Übersetzung der ca. 400 Seiten von Manfred Allié und Gabrielle Kempf-Allié unter dem Titel Die Überfahrt.

Das in die Jahre gekommene Passagierschiff Star of the Sea (= Stella Maris; Bezeichnung für die Jungfrau Maria) ist 1847 unterwegs von Queenstown (Irland) nach New York. An Bord befinden sich laut den akribischen Aufzeichnungen des wackeren Kapitäns Lockwood folgende Personen:

We have thirty-seven crew, 402 1/2 ordinary steerage passengers (a child being reckoned in the usual way as one half of one adult passenger) and fifteen in the First-Class quarters or superior staterooms. Among the latter: Earl David Merredith of Kingscourt and his wife the Countes, their children and an Irish maidservant. Mr G.G. Dixon of the New York Tribune: a noted columnist and man of letters. Surgeon Wm. Mangan, M.D. of the Theatre of Anatomy, Peter Street, Dublin, accompanied by his sister, Mrs Derrington, relict; His Imperial Highness, the potentate Maharajah Ranjitsinji, a princely personage of India; Reverend  Henry Deedes, D.D., a Methodist Minister from Lyme Regis in England (upgraded); and various others. (S. 3)

Was hier zunächst so spröde aufgezählt wird, entfaltet bald eine unglaubliche Wucht, denn die Schicksale mehrerer Passagiere sind miteinander verknüpft oder werden sich im Laufe der Reise miteinander verknüpfen, nicht immer zum Guten. Schließlich geschieht sogar ein Mord.

Im Zentrum stehen mehrere Passagiere der ersten Klasse, während die über 400 Menschen, die ihr letztes Geld für die Überfahrt ausgegeben hatten, ständig Hunger haben und im überfüllten, stinkenden, lauten und Krankheiten befördernden Zwischendeck hausen, bis auf wenige Ausnahmen keine aktive Rolle spielen. Aber indirekt erfahren wir doch viel über sie, z. B. wenn der Kapitän in seinen Aufzeichnungen, die sich mit denen des amerikanischen Reporters Dixon abwechseln, berichtet, welche Passagiere den Tag nicht überlebt haben und dem Meer und der Gnade Gottes anbefohlen werden mussten.

Fast alle Auswanderer – egal ob erste Klasse oder Zwischendeck – müssen ihre Heimat wegen der Großen Hungersnot verlassen. Die Große Hungersnot in Irland zwischen 1845 und 1852 (the Great Famine) wurde ausgelöst durch mehrere Kartoffelmissernten in Folge und die zynische Laissez-faire-Haltung der britischen Regierung, die dafür sorgte, dass gerade während der katastrophalen Hungerjahre so viel Weizen aus Irland exportiert wurde wie nie zuvor (weil die überwiegend britischen Großgrundbesitzer damit gut Geld machen konnten). „Infolge der Hungersnot starben eine Million Menschen, etwa zwölf Prozent der irischen Bevölkerung. Zwei Millionen Iren gelang die Auswanderung“ (Wikipedia).

Ein weiterer Faktor war die grausame und unbarmherzige Vertreibung der Kleinpächter von ihrem Land, weil sie die Pacht nicht länger aufbringen konnten. Wer „Glück“ hatte, konnte irgendwie noch die Überfahrt nach Amerika bezahlen, wo sie dann keineswegs mit offenen Armen empfangen wurden. Viele andere verhungerten.

Fazit

Zwischenzeitlich scheint die Handlung  auf der Stelle zu treten, denn in mehreren langen Rückblenden werden uns erst einmal die einzelnen Lebensgeschichten der Hauptpersonen erzählt, bevor wir wieder auf die Star of the Sea zurückkehren, doch das stört überhaupt nicht.

Selbst dass manche Charaktere nicht mit so ganz tolstoifeinem Blick gezeichnet werden, war egal. Ich habe schon lange nicht mehr so einen packenden und bewegenden Roman gelesen, der eine ganze Gesellschaft in den Blick nimmt. Öfter fühlte ich mich an Charles Dickens erinnert (der sogar seinen eigenen Auftritt in der Geschichte hat), nur ohne den Kitsch und ohne den Klamauk. Auch wie das in die Jahre gekommene Schiff selbst zu leben scheint, stöhnt und ächzt, sich durch Stürme kämpft, Ratten, Not und menschliche Schicksale beherbergt, war ganz großes Kino.

Vor allem durch die Einbettung der Geschichte in die Große Hungersnot in Irland öffnet sich der Blick auf einen wichtigen Moment der irischen Geschichte, ja der Menschheit insgesamt. Was für eine Not, was für eine Traurigkeit und – wie leicht das Wegschauen fiel. Was vorher nur ein paar Schlagworte aus der Geschichte waren, bekam plötzlich eine Tiefenschärfe, eine menschliche Dimension. Was für ein Trauma das für Irland bedeutet und welcher Hass sich da entwickelt haben muss, wurde auf einmal sehr nachvollziehbar.

Heute machen sich wieder Menschen auf, um Hungertod und Krieg zu entkommen. Wieder in überfüllten Booten. Skrupellosen Schleusern ausgeliefert. Und falls sie überhaupt irgendwo ankommen und nicht schon unterwegs ertrunken, erstickt oder sonst wie zu Tode gekommen sind, müssen sie sich in Flüchtlingsheimen fürchten und sehen sich u. U. einem pöbelnden Mob gegenüber, der von irrationalen Ängsten und Hass getrieben ist. Wie viel weiter als damals sind wir eigentlich gekommen?

Dixon, der amerikanische Journalist, der selbst von den Einkünften einer Plantage profitiert, will jedenfalls nicht länger dazu schweigen:

Nothing hat prepared him for it: the fact of famine. The trench-graves and screams. The hillocks of corpses. The stench of death on the tiny roads. The sunlit, frosted mornings he had walked alone from the inn at Cashel to the village of Carna – the sun shone, still, in this place of extinguished chances – and found three old women fighting over the remains of a dog. The man arrested on the outskirts of Clifden accused of devouring the body of his child. The blankness on his face as he was carried into the courtroom, not being able to walk with hunger. The blankness when he was found guilty and carried away. […] Dixon had no words for it. Nobody did.

And yet could there be silence? What did silence mean? Could you allow yourself to say nothing at all to such things? To remain silent, in fact, was to say something powerful: that it never happened: that these people did not matter. They were not rich. They were not cultivated. They spoke no lines of elegant dialogue; many, in fact, did not speak at all. They died very quietly. They died in the dark. (S. 130)

Anmerkungen

Hier geht’s lang zu einigen Besprechungen:

  • literaturkritik.de – Das Albtraumschiff (Petra Porto)
  • TAZ – Das Phantom der Wilden (Andreas Merkel)
  • FAZ – Kreuzfahrt auf einem Sargschiff (Tanya Lieske)

Andy Miller: The Year of Reading Dangerously (2014)

Auf Millers Homepage kann man, wenn man das denn möchte, sicherheitshalber genauer aufdröseln, mit welchen der zahlreichen und z. T. berühmten Namensverwandten er NICHT identisch ist. Auch verbittet er sich jegliche Verwechslung mit jenem „Andy Miller on Facebook who counts ‚Women bringing me sandwiches‘ amongst his activities and interests. I am not on Facebook. I make my own sandwiches.“

Aber nun zum Inhalt

Let me begin on the back foot and linger there awhile. This book is entitled The Year of Reading Dangerously. It is the true story of the year I spent reading some of the greatest and most famous books in the world, and two by Dan Brown. I am proud of what I achieved in that year and how the experience changed my life – really altered its course – which is why I am about to spend several hundred pages telling you about it.

Mit diesen einleitenden Worten wäre der Inhalt des biografisch verankerten Lektürerückblicks des Journalisten und Schriftstellers Andy Miller bereits umrissen.

Auslöser war zunächst seine Situation als berufstätiger und ständig übermüdeter Papa eines dreijährigen Sohnes. Dabei kommt Miller irgendwann zu dem ernüchternden Ergebnis:

I assume we are happy. Certainly we love each other. We have been working parents for three years. In that time I have, for pleasure, read precisely one book – ‚The Da Vince Code‘ by Dan Brown. (S. 23)

Irgendetwas Entscheidendes fehlt jedoch, Bücher hatten bisher immer zu seinem Leben gehört, nicht umsonst hat Miller Literatur studiert. Doch jetzt fehlen Zeit und Energie für anspruchsvollere Literatur. Und selbst die Zeit, die er in öffentlichen Verkehrsmitteln auf dem Weg zur Arbeit zum Lesen verwenden könnte, verbringt er eher mit Sudoko oder irgendwelchen Zeitschriften.

Und überhaupt befindet er sich gerade in seiner eher mittelmäßigen Midlife-Crisis, in der ihm nicht nur Literatur, sondern auch Musik und gute Filme abhanden gekommen sind:

Now, however, like many people on the threshold of middle-age, out there in the jungle somewhere I could discern a disconcerting drumbeat; and I realised that at some point in the aforementioned Not Too Distant Future, closer now, the drumming would cease, leaving a terrible silence it its wake. And that would be it for me. Immediately, we produced a child. But if anything, this only made matters worse. I had heard that other people dealt with this sort of problem by having ill-advised affairs with schoolgirls, or dyeing their hair a ‚fun‘ colour, or plunging into a gruelling round of charity marathon running, ‚to put something back‘. But I did not want to do any of that; I just wanted to be left alone. My sadness for things undone was smaller and duller, yet maybe more undignified. It seemed to fix itself on minor letdowns, everyday stuff I had been meaning to do but somehow, in half a lifetime, had not got round to. I was still unable to play the guitar. I had never been to New York. I did not know how to drive a car or roast a chicken. Roasting a chicken – the impossible dream! Even my mid-life crisis was a disappointment. (S. 39)

Als er mit Sohn und Kinderwagen auf der Flucht vor einem Regenguss ist, findet er zufällig in einem Buchladen den Roman Der Meister und Margarita des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow. Miller kommt auf den Geschmack und beschließt, auf den Genuss anspruchsvoller Literatur nicht länger verzichten zu wollen.

Eine Bücherliste muss her, die im Laufe der Zeit auf 50 Titel anwächst und die er in einem Jahr „abgearbeitet“ haben will. Die Auswahl erfolgt streng subjektiv. Es werden Bücher ausgewählt, die er tatsächlich gerne kennen würde und von denen er hofft, dass sie das erfüllen, was Henry Miller einmal so ausgedrückt habe: „They were alive and they spoke to me.“ (S. 8)

Schließlich stehen auf der „List of Betterment“ so ganz unterschiedliche Titel, wie z. B.:

  • Middlemarch (George Elliot)
  • Post Office (Charles Bukowski)
  • The Ragged Trousered Philanthropists (Robert Tressell)
  • The Sea, The Sea (Iris Murdoch)
  • The Communist Manifesto (Marx/Engels)
  • Moby-Dick (Herman Melville)
  • Anna Karenina (Leo Tolstoy)
  • Of Human Bondage (Somerset Maugham)
  • The Odyssey (Homer)
  • Absolute Beginners (Colin MacInnes)
  • Krautrocksampler (Julian Cope)
  • The Leopard (Giuseppe Tomasi di Lampedusa)
  • Beloved (Toni Morrison)
  • Atomised (Michel Houellebecq)

An Houellebecq schreibt er einen enthusiastischen Brief, den er zwar nie abgeschickt hat, der hier aber abgedruckt wird. Das letzte Buch auf seiner Liste, das übrigens seine Frau aussuchen musste, war The Code of the Woosters von P.G. Wodehouse.

Doch das Buch, das sowohl ihn als auch seine Frau komplett von den Socken gehauen hat, war Krieg und Frieden von Tolstoi. Hier schließt sich dann auch der Kreis zum Titel. Krieg und Frieden war nach Aussage Millers tatsächlich der letzte Anstoß, sein Leben noch einmal komplett zu ändern. Er reicht seine Kündigung ein und beschließt selbst zu schreiben. Eines der Resultate ist das vorliegende Buch.

Nun schreibt Miller aber nicht einfach fünfzig Besprechungen. Viele der von ihm gelesenen Titel spielen im Buch gar keine Rolle, stattdessen wählt er aus, erzählt, welche Bücher ihm aus welchen Gründen besonders gefallen, welche ihn schier zur Verzweiflung gebracht haben und welche Bücher in seiner Biografie, beim Erwachsenwerden, wichtig waren.

Und vor allem beschäftigt ihn die Frage, wie man die Lektüre der Klassiker mit einem Vollzeitjob und einem Familienleben unter einen Hut bringen kann. Dazu gibt es mal mehr, mal weniger interessante Exkurse zum Lesen im einundzwanzigsten Jahrhundert, zum Verschwinden der örtlichen Buchhandlungen und den ständigen Budgetkürzungen bei allem, was mit Literatur oder (Schul-)Büchereien zu tun hat.

Gleichzeitig macht er sich so seine Gedanken über eine weitere Veränderung:

Meanwhile, the last decade has given us blogs, book groups, festivals, all the chatter of the social network, developments which, while they may indeed be progress, are not the thing itself. They are not reading. (S. 12)

Fazit

Ich selbst fand meist die Hintergrundinformationen zu den Büchern am interessantesten. Wie Melville, einer der ganz Großen, von seinen Zeitgenossen keineswegs als Literat anerkannt wurde und schließlich einem Brotberuf nachgehen musste und unbeachtet starb. Oder dass Bulgakovs Roman erst 26 Jahre nach seinem Tod erschien – und es somit keineswegs selbstverständlich war, dass Miller dieses Buch in der Auslage einer kleinen Buchhandlung in Broadstairs entdeckte.

Dass er mit Jane Austen nicht warm wird, ist natürlich unverzeihlich, dafür scheitert er an Romanen des Magischen Realismus genauso grandios wie ich…

Das Buch ist ein ehrliches und über weite Strecken vergnügliches Plädoyer für Kultur, wenn auch nicht immer ganz so knackig und hübsch auf den Punkt gebracht, wie ich das von Nick Hornbys Buchkolumnen in Erinnerung habe. Köstlich jedoch, als er beispielsweise planlos Rezepte aus Murdochs The Sea, The Sea nachkocht, weil er keinen Zugang zum Buch findet. Das muss kulinarisch eine ziemliche Katastrophe gewesen sein. Seine Frau bat ihn jedenfalls, von solcherlei Experimenten in Zukunft abzusehen.

Auch das Kapitel, in dem er Gemeinsamkeiten zwischen Dan Brown und Melville sucht – und findet, macht Spaß.

The Year of Reading Dangerously ist letztlich nicht nur das Buch mit dem scheußlichsten Cover (gebundene Ausgabe), das mir seit langem untergekommen ist, sondern vor allem eine dringende Einladung, (wieder) Bücher zu lesen, die einen fordern, die einem etwas abverlangen und bei denen man eben auch mal zugeben muss, vielleicht nicht alles verstanden zu haben.

Culture could come in many forms, high, low or somewhere in-between: Mozart, The Muppet Show, Ian McEwan. Very little of it was truly great and much of it would always be bad, but all of it was necessary to live, to be fully alive, to frame the endless, numbered days and make sense of them. (S. 40)

Und diese Kultur kann unerwartete Nebenwirkungen mit sich bringen: Tina, seine Frau, kauft nach ihrer Lektüre von Tolstoi wesentlich weniger Bücher, da die meisten ohnehin nicht so gut sein können wie Krieg und Frieden. Da stecke schließlich schon fast alles drin. (Ich habe den Fehler gemacht, diese Anekdote meinem Mann zu erzählen, woraufhin es keine fünf Minuten dauerte, bis er mir freundlich lächelnd seine alte Ausgabe des ersten Bandes von Krieg und Frieden in die Hand drückte.)

Anmerkungen

Hier gibt es ein Interview mit Miller und hier einige Besprechungen:

Dorothy B. Hughes: In a Lonely Place (1947)

It was good standing there on the promontory overlooking the evening sea, the fog lifting itself like gauzy veils to touch his face. There was something in it akin to flying; the sense of being lifted high above crawling earth, of being a part of the wildness of air. Something too of being closed within an unknown and strange world of mist and cloud and wind. He’d liked flying at night; he’d missed it after the war had crashed to a finish and dribbled to an end.

So, doch eigentlich ganz ansprechend, beginnt der Kriminalroman In a Lonely Place (1947) von Dorothy B. Hughes.

Das wird die kürzeste Erwähnung, die es vermutlich je auf meinem Blog geben wird: Nicht wirklich überraschend, denn ich habe das Buch ja auch auf S. 14 abgebrochen.

Also: Der Stil ist klasse – kein Wunder, Hughes gab als literarische Vorbilder u. a. Faulkner und Greene an und war damals sehr erfolgreich mit ihren Krimis. Trotzdem hätte ich gern mein Geld zurück: Der Klappentext, der einen chandlermäßigen Noir Crime – also  bestens geeignet für fiebrige Erkältungstage – vermuten lässt, führt in die Irre. Ich hätte jedenfalls Abstand vom Kauf  genommen, wenn ich gewusst hätte, dass man spätestens (!) auf S. 14 weiß, wer der psychopathische Mörder ist (die Hinweise beginnen aber bereits auf S. 2) und der Rest vermutlich nur noch das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Täter darstellt.

Die personale Erzählperspektive räumt überdies gerade dem Mörder und Frauenhasser sehr viel Raum ein, und das, wo ich doch viel lieber einen klassischen Whodunit gelesen hätte.

Das Buch wurde zwar mit Humphrey Bogart verfilmt, hält sich allerdings in wesentlichen Elementen nicht an die Romanvorlage. Das kann dem Film nur gut getan haben.

Aber etwas Positives gibt es doch: Die dem Buch vorangestellten Verse des irischen Dramatikers John Millington Synge:

It’s in a lonesome place you do
have to be talking with someone,
and looking for someone, in the
evening of the day.

Die Verse stammen aus Synges Theaterstück In the Shadow of The Glen (1903).

Alfred Hayes: In Love (1953)

Here I am, the man in the hotel bar said to the pretty girl, almost forty, with a small reputation, some money in the bank, a convenient address, a telephone number easily available, this look on my face you think peculiar to me, my hand here on this table real enough, all of me real enough if one doesn’t look too closely. Do I appear to be a man, the man said in the hotel bar at three o’clock in the afternoon to the pretty girl who had no particular place to go, who doesn’t know what’s wrong with him, or a man who privately thinks his life has come to some sort of an end?

I assume I don’t.

I assume that in any mirror, or in the eyes I happen to encounter, say on an afternoon like this, in such a hotel, in such a bar, across a table like this, I appear to be someone who apparently knows where he’s going, assured, confident of himself, and aware of what, reasonably, to expect when he arrives, although I could hardly, if now you insisted on pressing me, describe for you that secret destination.

But there is one. There must be one. We must behave, mustn’t we, as though there is one, cultivating that air of moving purposely somewhere, carrying with us that faint preoccupation of some appointment to be kept, that appearance of having a terminal, of a place where, even while we are sitting here drinking these daiquiris and the footsteps are all quieted by the thick pleasant rugs and the afternoon dies, you and I are expected, and that there’s somebody there, quite important, waiting impatiently for us? But the truth is, isn’t it, that all our purposefulness is slightly bogus, we haven’t any appointment at all, there isn’t a place where we’re really expected or hoped for, and that nobody’s really waiting, nobody at all, and perhaps there never was […]

So beginnt der schmale Roman von nur 160 Seiten:

Alfred Hayes: In Love (1953)

Die deutsche Übersetzung von Matthias Fienbork erschien ebenfalls unter dem Titel In Love (2015).

Allerdings wurde der Roman schon in den fünfziger Jahren im Rowohlt Verlag veröffentlicht, damals noch unter dem Titel Liebe lud mich ein.

Zum Inhalt

Man kann sich ein Gemälde von Edward Hopper vorstellen. New York. Ein Mann, um die vierzig, sitzt in einer Hotelbar und erzählt einer jungen Frau in einem – mir zwischendurch endlos erscheinenden – Monolog die Geschichte seiner letzten gescheiterten Liebesbeziehung oder Affäre.

Wie auch in My Face for the World to See bleiben die Hauptpersonen namenlos. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, der vorübergehend in einem Hotel wohnt, lernt eine junge Frau kennen, die mit Anfang zwanzig bereits geschieden und Mutter einer Tochter ist, die bei den Großeltern auf dem Land aufwächst.

Für den Mann ist die Affäre eine hübsche und bequeme Einrichtung:

I realize now that I had accustomed myself, without admitting it, to thinking of her as being always in this place, in these surroundings; that to me the studio couch and the drapes drawn […] and even the disorder of her medicine cabinet, were permanent. She would exist among those love letters and these portraits for as long as I loved her. I did not, of course, think of myself as loving her forever […] (S. 18)

Nachdem man abends irgendwo etwas gegessen hat, geht man ins Kino oder irgendwo zum Tanzen, anschließend gehen die beiden in ihr kleines Apartment und der Abend endet im Bett.

It was a very convenient and fixed and unvarying idyll I had in mind, a simple sequence of pleasures that would not seriously change my life or interfere with my work, that would fill the emptiness of my long evenings and ease the pressures of my loneliness, and give me what I suppose I really thought of as the nicest amusement in all the amusement park: the pleasure of love. (S. 19)

Doch dann verschiebt sich das Machtverhältnis. Der reiche Unternehmer Howard bietet der hübschen Frau 1000 Dollar für eine gemeinsame Nacht. Scheint das zunächst ausgeschlossen, wird schließlich offenbar, dass der moralische Verteidigungswall bröckelt. Sie beginnt eine „harmlose“ Freundschaft mit dem älteren Mann, gegen die schließlich auch ihr Geliebter nichts einwenden könne. Dann, von einem Tag auf den andern, gibt sie ihrem Geliebten den Laufpass.

I knew that she had wanted what I was not prepared to give her: the illusion that she was safe, the idea she was protected. She had expected, being beautiful, the rewards of being beautiful; at least some of them; one wasn’t beautiful for nothing in a world which insisted that the most important thing for a girl to be was beautiful. (S. 61)

Daraufhin verzehrt sich der Erzähler in Eifersucht, Melancholie und Lebensüberdruss, wobei er auch diese Gefühle im Detail seziert. Drei Monate später ruft sie ihn nachts um drei Uhr an. Ob sie zueinander noch kommen, möge der interessierte Leser dann selbst herausfinden.

Fazit

Sprachlich fand ich die ersten Seiten großartig. Ich wollte hören, welche Geschichte er nun zu erzählen hat. Doch irgendwann beschlich mich Ermüdung ob der nicht endenwollenden Wiedergabe indirekter Rede, der moralischen Unverbindlichkeit, des Lebensüberdrusses, der Haltlosigkeit und angesichts der seitenlangen Gedankenschleifen.

Zwischendurch musste ich an Jane Austen denken. Ihre Heldinnen durchlaufen einen Entwicklungsprozess, an deren Ende sie in der Lage sind, ihrem zukünftigen Ehemann eine geistig ebenbürtige und respektierte Partnerin zu sein. In Hayes Romanen – 150 Jahre später – ist das einzige Kapital der Frau ihr Körper, ihre Schönheit und Jugend. Sie ist ein nett anzusehendes und nicht allzu intelligentes Deko-Objekt.

Zum Frauenbild in den Fünfzigern passt auch dieser Artikel auf Spiegel Online.

Auf der Suche nach dem Glück, beim großen unverbindlichen Spiel, bei dem hinter der nächsten Ecke vielleicht noch größere Vergnügungen warten, sind letztlich alle Verlierer. Und alle sind käuflich.

Kein Zweifel: Für mich war My Face for the World to See das stärkere Buch.

 Anmerkungen

Weitere Besprechungen gibt es bei Literaturen und im Bücherwurmloch.

Und das sagt der Nordkurier und – das Internet macht’s möglich – hier kann man die Rezension aus der Zeit aus dem Jahr 1956 nachlesen.

Angela Schader bespricht die Neuübersetzung in der NZZ.

Graham Swift: Last Orders (1996)

It aint like your regular sort of day. Bernie pulls me a pint and puts it in front of me. He looks at me, puzzled, with his loose, doggy face but he can tell I don’t want no chit-chat. That’s why I’m here, five minutes after opening, for a little silent pow-wow with a pint glass. He can see the black tie, though it’s four days since the funeral.

Mit diesen Sätzen beginnt der fantastische 1996 mit dem Booker Prize ausgezeichnete Roman Last Orders des Briten Graham Swift. Das Buch wurde von Barbara Rojahn-Deyk ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel Letzte Runde.

Jack Dodd, Metzger in London, ist also vor vier Tagen beerdigt worden. Im Alter von 68 ist er an Magenkrebs gestorben, und das kurz bevor er seinen Plan, in Rente zu gehen und mit seiner Frau Amy einen Bungalow in Margate am Meer zu kaufen, verwirklichen kann.

Neben seiner Witwe Amy hinterlässt er eine 50-jährige Tocher namens June und einen im Zweiten Weltkrieg adoptierten Stiefsohn namens Vince. Vince ist inzwischen auch schon 40 und hat sich als Autohändler selbstständig gemacht statt die Metzgerei zu übernehmen.

Jacks letzter Wunsch ist es nun, dass seine Asche im Meer bei Margate verstreut wird. Aus Gründen, die der Leser später erfahren wird, möchte Amy, seine Frau, nicht dabei sein. Stattdessen erklären sich Vince und Jacks Freunde aus Kriegszeiten und jahrzehntelange Trinkkumpane bereit, den Wunsch des Verstorbenen umzusetzen.

Der ganze Roman spielt an diesem einen Tag. Am Morgen treffen sich Vince und die alten Männer in ihrer Stammkneipe: Ray, dessen Ehe schon vor 25 Jahren gescheitert ist und dessen Tochter genauso lange schon in Australien lebt, Lenny, voll Wut über das, was das Leben ihm und seiner Tochter angetan hat, und Vic. Vic ist der einzige, der mit sich und seinem Beruf – als Bestatter – im Reinen ist.

In vielen Rückblenden aus der Sicht Amys oder einer der Männer setzt sich nun mosaikartig die Lebensgeschichte dieser Männer und ihrer Familien zusammen. Wir erfahren, wie die Familiengeschichten zusammenhängen, welche schuldhaften und z. T. unbewussten Verbindungen es da gibt und natürlich auch, welche Fortschritte die Männer auf ihrer Tour nach Margate machen. Vince hat dazu extra einen eleganten blauen Mercedes aus seinem Geschäft organisiert.

He thought he should give Jack the best. But it’s not so bad for us too, for Vic and Lenny and me, sitting up, alive and breathing. The world looks pretty good when you’re perched on cream leather and looking out at it through tinted electric windows, even the Old Kent Road looks good. (S. 17)

Die Männer bemühen sich um eine dem Anlass angemessene Ernsthaftigkeit. Sie möchten ihrem verstorbenen Freund Jack ein würdiges Geleit geben, ohne dabei so recht zu wissen, wie das gehen könnte, und alte Ressentiments und nie sauber geklärte Konflikte sorgen dafür, dass es keineswegs immer würdig zugeht. Und dabei ist die Frage, ob man nun die Urne mit in die Kneipe nimmt oder nicht, noch das kleinste Problem.

Auf halben Wege kommt es zu einer Prügelei, man kehrt in Kneipen ein und findet sich irgendwann völlig ungeplant – und durch die Prügelei verdreckt und zerschunden – in der Canterbury Cathedral wieder, die noch keiner der Männer zuvor besucht hat.

… and it’s like we’re all thinking we might have lived all our lives and never seen Canterbury Cathedral, it’s something Jack’s put right. (S. 193)

Dabei gelingt es Swift, das Ganze immer in einer tiefen Menschlichkeit zu verankern, die allen Fallen von Sentimentalität oder Klamauk aus dem Weg geht. Als Ray seinen Freund Jack kurz vor dessen Tod noch einmal im Krankenhaus besucht, fällt ihm auf:

He (Jack) ought to look less like himself but he doesn’t, he looks more like himself. It’s as if because his body’s packed up, everything’s gone into his face and though that’s changed, though it’s all hollow with the flesh hanging on it, it only makes the main thing show through better, like someone’s turned on a little light inside. (S. 34)

Natürlich gehen den Männern auf dieser Fahrt auch Gedanken an die eigenen Versäumnisse und großen Lebensfehler durch den Kopf, man ist traurig und wenn keiner der anderen hinschaut, fließen auch ein paar Tränen.

Fazit

Ich habe drei Anläufe gebraucht, um in dieses Buch hineinzukommen. Zunächst fand ich es anstrengend, die Namen und Beziehungen zwischen den Charakteren zu entwirren. Und wechselnden Erzählerstimmen stehe ich normalerweise eher skeptisch gegenüber.

Doch als erst einmal alles sortiert war, konnte ich mehr und mehr nachvollziehen, wieso das Buch viele  begeistert hat. Es ist warmherzig, lebensbejahend, unsentimental, schnoddrig, derb, melancholisch, witzig, ehrlich, fragend und weise. All die Puzzleteile setzen sich schließlich zu einem Puzzle des menschlichen Lebens zusammen. Die Männer können über das Wesentliche nicht oder nur in Andeutungen reden, doch wir, die Leser, dürfen ihre Gedanken belauschen. Und das ist große Literatur.

Anmerkungen

2001 wurde der Roman verfilmt.

Interessanterweise entspann sich ein Jahr nach der Veröffentlichung eine Debatte darüber, ob Swift sich bei seinem Plot in ungebührlicher Weise bei William Faulkners Buch As I lay Dying  (1930) bedient habe. Chris Blackhurst schrieb darüber im Independent.

Dieser Vorwurf wurde letztlich als haltlos verworfen. Wer dazu in die Tiefe gehen möchte, dem empfehle ich diesen Link.

Eine schöne Besprechung von Reiner Luyken gibt es in der ZEIT.

Alice McDermott: Someone (2013)

Pegeen Chehab walked up from the subway in the evening light. Her good spring coat was powder blue; her shoes were black and covered the insteps of her long feet. Her hat was beige with something dark along the crown, a brown feather or two. There was a certain asymmetry to her shoulders. She had a loping, hunchbacked walk. She had, always, a bit of black hair along her cheek, straggling to her shoulder, her bun coming undone.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Someone (2013) der 1953 geborenen amerikanischen Autorin Alice McDermott.

Es scheint gerade eine gute Zeit für fiktive Lebensgeschichten einer Jedermann-Figur zu sein. Man denke nur an die Romane von Seethaler. Schon der Titel zeigt die vorgebliche Durchschnittlichkeit der von McDermott gewählten Hauptperson:

Marie, Kind irischer Einwanderer, erinnert sich an Stationen ihres Lebens und erzählt fast chronologisch ihre Geschichte, die im New Yorker Stadtteil Brooklyn in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. Dabei wird dem Leser keine brutale Zeit der Entbehrungen geschildert: Marie wächst in der Geborgenheit ihrer Familie auf. Besonders hängt sie an ihrem Vater. Die Mutter ist tüchtig, hält mit Strenge, Liebe und Sparsamkeit die Familie zusammen. Auch dass der Vater ein Trinker ist, reißt die Familie nicht auseinander. Ihr hübscher Bruder Gabe hockt immer über den Büchern und träumt davon, Priester zu werden.

Gleichzeitig nimmt man – schon bedingt durch die räumliche Nähe in den Mietshäusern – Anteil am Leben der Nachbarn, ihren Sorgen, Enttäuschungen und Krankheiten.

Zwischendurch springen Maries Gedanken zu ihrer ersten Liebe, ihren Augenoperationen und der traumatischen Erinnerung an die Geburt ihres ersten Kindes, bei der sie beinahe gestorben wäre. Auch die Erzählgegenwart des Alters wird mit den Erinnerungen verwoben.

Wir erfahren von dem Ende der Priestertätigkeit ihres Bruders und seinem späteren Zusammenbruch, ihrer Arbeit als Empfangsdame in einem Bestattungsunternehmen und ihrer langen und glücklichen Ehe mit Tom, einem Brauereiarbeiter. Kurzum, es geht um das ganz „gewöhnliche“ Leben einer einfachen Frau, die ihr bescheidenes Glück, über das sie nicht viele Worte verliert, gefunden hat. Und die, wie wir alle, den Lauf der Zeit nicht aufhalten kann.

Fazit

Das Buch enthält viele gelungene Stellen und ich mochte die Sprache, die Beschreibungen und vor allem die Gleichberechtigung, die zwischen den Erinnerungen herrscht, die die Illusion vermittelt, dass unsere Vergangenheit genauso da und lebendig sein kann wie der Moment der Gegenwart.

Und doch bleibt eine gewisse Konstruiertheit, eine Leere, da die Ich-Erzählerin vieles in sich verbirgt, nicht ausspricht, überhaupt sehr zurückhaltend mit Reflexionen und Gefühlsäußerungen ist. Und – dafür kann McDermott natürlich nichts – aber wer das großartige A Tree in Brooklyn<