Georges Hyvernaud: Der Viehwaggon (OA 1953)

Irgendwann vor Jahren erstanden, dann im Regal vergessen und mich vom zunächst unattraktiv erscheinenden Titel des Werks abhalten lassen, es endlich mal zu lesen. Was für ein Fehler. Völlig unverständlich, dass der bereits 1953 erschienene Roman Der Viehwaggon von Georges Hyvernaud, der deutlich autobiografische Züge trägt, erst 2007 in deutscher Übersetzung von Julia Schoch erschien. Und am Ende ergibt auch der Titel einen durchaus mehrdeutigen Sinn. Aber zurück zum Inhalt.

Anfang der fünfziger Jahre in Paris: Der Ich-Erzähler, ein kleiner Angestellter in einer Mineralwasserfirma, ist – spätestens seit den Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft – nicht mehr in der Lage, so bewusstlos wie die anderen im Strom der Menschen mitzuschwimmen.

Auch wenn man seine Wände und Worte von früher wiederfinden kann – man weiß, wie sehr Wände und Worte lügen. Man traut ihnen nicht, sie sind trügerisch. (S. 48)

Er wird zum Protokollanten, zum Zuhörenden, dem alle Gewissheiten, aller Ehrgeiz und alle Wünsche abhanden gekommen sind. Er misstraut dem Pathos und den hochtrabenden Sätzen. Er verabscheut das „widerliche Glück“ der anderen, die sich nach dem Krieg wieder prima eingerichtet haben. Sogar die Farbe ist für ihn aus der Welt verschwunden. Er könne die Welt nur noch

in diesen abgeblätterten Brauntönen […] sehen, diesen pusteligen Grautönen, diesem verwässerten Schwarz der Bretter des Viehwaggons. Aber nichts gegen zu machen. Ist so eine Art Behinderung, die ich da hab, eine Krankheit des Blicks. (S. 119)

Der Erzähler wird zum Beobachter seiner Mitmenschen, wie ein Spaziergänger am Abend, der von außen in die erleuchteten Fenster schaut. Es widert ihn an, wie die anderen die Angst und die Schuld der Kriegsjahre, die Frage nach dem, was Menschen einander antun können, erfolgreich verdrängen und die satt und selbstgefällig in den Spiegel sehen und nun darüber entscheiden, wer zu den Guten, den Helden mit reinem Gewissen, wer zu den Bösen und wer einfach zu den Pechvögeln gehörte.

Der Erzähler gaukelt seinen Bekannten vor, er schreibe einen Roman, nur um abends hin und wieder seine Ruhe zu haben. Stattdessen notiert er seine Gedanken und Gespräche, die er tagsüber geführt hat. Nahe Beziehungen, Familie oder Liebe spielen dabei keine Rolle. Und genau diese Aufzeichnungen ergeben am Ende das Werk, das wir lesen.

Wände, und zwischen den Wänden Leute, mit ihren Streitereien, ihrer Erschöpfung, dieser Bitterkeit und dem Überdruß jedesmal, wenn der Tag zu Ende geht. (S. 8)

Er geht schlafen. Sie alle gehen schlafen, die Leute. Auch die Gebisse in den Wassergläsern gehen schlafen, die Brillen in den kleinen schwarzen Etuis, die Uhren auf den Nachttischchen. Das ist der Augenblick, in dem die Menschheit sich auflöst, sich zersetzt, auseinanderfällt und den Schein von Zusammenhang, in den sie sich sechzehn Stunden am Tag fügt, nicht länger aufrechterhält.  (S. 9)

Ziemlich unterhaltsam, diese Vorstellung. Meine Landsleute in ihren Betten inmitten der Einzelteile ihres Anstands und ihrer Wichtigkeit. Nur die Stuhllehnen tragen noch Sakkos. Und nur die Sakkos tragen noch Orden… (S. 10)

Gleichzeitig macht sich der Erzähler so seine Gedanken über die Errichtung von Denkmälern und über literarische Wertmaßstäbe, denn über so durchschnittliche und im Grunde ärmliche Gestalten, wie ihn und seine Bekannten schreibe man keine Romane.

Man muß sie bloß mal an eine Bahnsteigsperre der Metro setzen, die Herzoginnen bei Marcel Proust oder Balzac, muß sie nur mal acht Stunden am Tag Pappbilletts lochen lassen, tagelang, von Montag bis Samstag, dann wird man schon sehen, was von ihren vornehmen Dramen noch übrigbleibt. Dann braucht man bloß noch Erschöpfung und Krampfadern beschreiben, Gasrechnungen und Amtsgänge. Nicht sehr romanhaft, das Ganze. Das Leben ist nicht romanhaft, wenn man gezwungen ist, seine Brötchen zu verdienen. (S. 98)

Unsereins hat keine Dramen. Wir haben nur Ärger, Scherereien. Und noch dazu kaum Zeit, darüber nachzudenken. Denn unsere Zeit schwindet in absurder Schufterei und schäbigen Berechnungen dahin. (S. 99)

Man müsste dazu diesen „massenhaften Zufallsexistenzen“ schon große Krisen oder Komplexe, einfach eine gewisse Bedeutungsschwere auf den Leib schreiben. Doch das könne er nicht; er sehe die Menschen halt so, wie sie sind. Dieser Blick macht natürlich auch einsam. Über die Frau seines Bekannten schreibt er:

Sogar eine Madame Bourladou … Nichts ist leerer. Vierzig Jahre gutes Benehmen und schmelzendes Lächeln. Vierzig Jahre Häkelspitze, eheliche Treue und Kochrezepte. Besonderes Kennzeichen: eine Leidenschaft für Pflegemittel. Im weitesten Sinne des Wortes – alles, womit sich Kupfer, Beziehungen, die menschliche Haut, die bürgerliche Intelligenz und Louis-XVI-Möbel pflegen lassen. (S. 28)

Die Erinnerungen an den Krieg, der seine Sicht auf den Menschen verändert habe, sind der Dreh- und Angelpunkt seiner Wahrnehmung. Das Bild des Viehwaggons wird ihm so zum Symbol der absurden menschlichen Existenz.

Da ist ein Güterzug, der sich durch eine gewaltige geräuschlose Katastrophe schleppt. Anstelle von Gütern hat man Menschen hineingepfercht. Die Waggons sind verschlossen, verriegelt, zugesperrt. Was könnte einem besser das Gefühl von Verhängnis vermitteln. (S. 114)

Wir waren Millionen von Menschen, die aus irgendeinem Grund in Güterzügen herumgefahren wurden. (S. 115)

Nichts als Erinnerungen an Angst, Erniedrigung und Ausgeliefertsein. Eine Erfahrung, die harsche Gewissheiten hinterläßt. Man sieht den Menschen am Ende nur noch als unterworfenes, niedergewalztes, vernichtetes Wesen. Und man versucht nicht einmal mehr zu begreifen. Man verkriecht sich in seiner Ecke. (S. 41)

Der Massenmensch ist gesichtslos und austauschbar geworden.

Hier spricht einer dringlich und verdichtet davon, was er nun als die wahre Lage des Menschen zu erkennen glaubt, nachdem sich alle vermeintlichen Sicherheiten als Schein entpuppt haben. Hier weigert sich einer zu vergessen und zum Alltag überzugehen.

Schein auch das Buch unter der Lampe und die Freunde um den Tisch, Schein die Stabilitäten und Sicherheiten. Der Hunger aber, Zwang, Fieber und Flucht sind wahr und dauerhaft. (S. 178)

Kurzum: Ein kompromissloses, ein satirisches, ein aufregendes Buch.

Zum Autor

Hyvernaud (1902 – 1983), Lehrer, wurde 1939 eingezogen und geriet bereits 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Fünf Jahre verbrachte er in einem Kriegsgefangenenlager in Pommern und erst im April 1945 wird er aus einem Lager  bei Soest befreit.

Aus dieser Erfahrung resultiert ein schmales Werk, zwei Romane und etwas Kurzprosa. Hyvernaud wird veröffentlicht – Sartre setzt sich für ihn ein -, doch die Kritik reagiert auf Der Viehwaggon ausgesprochen ablehnend, vermutlich rührte der Autor an Tabus. Jedenfalls geraten Autor und Werk rasch in Vergessenheit.

Die Konsequenz, die er zieht, rigoros wie sein Schreibstil: Er wählt das Schweigen. Fortan ist er nur noch Verfasser von Unterrichtsmaterialien für das französische Schulsystem. (Julia Schoch in ihrem Nachwort der Suhrkamp-Ausgabe, S. 197)

Marcelle Sauvageot: Fast ganz die Deine (OA 1934)

Fast ganz die Deine ist sicherlich schon von den Umständen der Entstehung her eine außergewöhnliche Auseinandersetzung mit einer unglücklich endenden Liebesbeziehung.

Wenn ein Schmerz unbekannt ist, hat man mehr Kraft, ihm zu widerstehen, denn man kennt seine Macht nicht; man sieht  nur den Kampf und hofft, daß es später wieder ein erfüllteres Leben geben wird. Doch wenn man Bescheid weiß, möchte man mit erhobenen Händen um Gnade flehen und voll fassungsloser Müdigkeit sagen: ‚Nicht noch einmal!‘ Man sieht all die leidvollen Phasen voraus, durch die man wird gehen müssen, und weiß, danach kommt die Leere. (S. 16)

Marcelle Sauvageot, die in Paris als Französischlehrerin arbeitete, erkrankte mit 26 Jahren an Tuberkulose und ging 1930 in ein Sanatorium, aus dem sie nach einigen Monaten als geheilt entlassen wurde. Doch die Krankheit brach drei Jahre später wieder aus. Es folgt ein erneuter Sanatoriumsaufenthalt, diesmal in Davos; als sie stirbt, ist sie erst 33 Jahre alt.

Ihr namenlos bleibender Geliebte schreibt ihr 1930, dass er nun doch eine andere heirate, aber ihr Freund bleiben wolle. Daraufhin antwortet Sauvageot aus dem Sanatorium mit einem langen, ca. 70-seitigen Brief, der zwischen dem 7. November und dem 24. Dezember 1930 entsteht. In ihm bemüht sie sich, diese Liebe, ihren Schmerz, das Wesen des Geliebten, ihren Illusionen und Hoffnungen sowie dem Scheitern der Beziehung auf den Grund zu gehen, doch abschicken wird sie den Brief nicht. Letztendlich ist es auch der Versuch, sich wieder ihrer Selbständigkeit zu vergewissern, indem der ehemals so Geliebte aus dem Herzen geschubst wird, in der Hoffnung, auf diese Weise wieder zur Ruhe zu kommen.

Diese Vergangenheitsform, wenn die Gegenwart noch so nah widerhallt, ist traurig wie das Ende von Festen, wenn die Lichter ausgehen, wenn man allein zurückbleibt und den Paaren nachblickt, die in die dunklen Straßen hinausgehen. Es ist zu Ende: Man hat nichts mehr zu erwarten und bleibt doch noch endlos so stehen, wohl wissend, daß nichts mehr kommen wird. (S. 21)

Allerdings zeigt sie den Brief einigen Freunden, die ihr zureden, ihn zu veröffentlichen.

163 Exemplare werden 1933 privat verteilt […]. Posthum kommt 1934 eine zweite Auflage zustande, gefolgt von weiteren Auflagen in weiteren Verlagen 1936, 1943, 1986. Paul Claudel, Paul Valéry, Clara Malraux und andere preisen den Text. Seine Individualität beeindruckt sie, seine Bescheidenheit und Offenheit berühren sie, seine radikale Ehrlichkeit und Suche machen ihn singulär. (Ulrike Drasner, im Nachwort der Ausgabe des Nagel & Kimche Verlages, 2005, S.94/95)

Draesner weist zu Recht darauf hin, dass es egal sei, ob diese Briefe möglicherweise im Nachhinein doch bearbeitet, umgestellt oder auch erfunden seien, der reale Adressat, dessen Untreue der Erzählerin durchaus bekannt war,  habe sich ja bereits als Fiktion herausgestellt.

Ihre Briefe an dieses Du werden zunehmend zu einer Form des Selbstgesprächs. Doch es schließt sich nicht in sich, sondern öffnet sich auf ein neues Gegenüber: den Leser. (S. 97)

Mein Fazit nach der Lektüre ist verhalten. Einerseits gefällt mir diese strenge Selbstbefragung, andererseits bleibt vieles Fragment und so sind mir auch am Ende sowohl diese Beziehung als auch der Adressat dieses Briefes fremd. Eine Liebe, bei der von Anfang an keiner der beiden treu war. Und ein Mann, der ernsthaft  von einer Frau träumt, die glücklich ist, wenn sie ihm den ganzen Tag beim Spucken in einen Teich beobachten dürfe. Das wäre wohl selbst unter glücklicheren Umständen nicht gutgegangen. Und schon ganz und gar nicht mit einer so reflektierten Frau. 

 

Fundstück von Irène Némirovsky

In solchen Momenten begriff er, warum Menschen heiraten … um ‚das‘ zu haben, die Gegenwart eines anderen, das Geräusch von Röcken, jemanden, dem man unwichtige Dinge erzählen konnte, jemanden, den man nicht anlächeln mußte, wenn man schlechter Stimmung war, jemanden, der da war, wenn man schwieg.

Aus: Irène Némirovsky: Das Mißverständnis (OA 1926)

Ein kleiner, feiner Roman über eine von von Anfang an zum Scheitern verurteilte Liason zwischen einer gelangweilten reichen Ehefrau und einem in engen finanziellen Verhältnissen lebenden Angestellten, dessen Leben durch den Krieg in andere als die erwarteten Bahnen gelenkt worden war. Das Erstaunliche daran ist für mich, wie hier – im Debüt einer dreiundzwanzigjährigen Schriftstellerin – schon das große Talent und das psychologische Feingefühl der Autorin zu erkennen sind, trotz einiger Holprigkeiten und kurzer melodramatischer Anwandlungen.

Einen ausführlichen Beitrag gibt es auf der Lesewelle, die leider seit längerem nicht mehr aktiv ist.

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Yasmina Khadra: Die Sirenen von Bagdad (OA 2006)

Beirut versinkt in der Nacht und verhüllt das Gesicht. Die blutigen Krawalle vom Vortag haben die Stadt keineswegs wachgerüttelt, was beweist, dass sie selbst im Gehen noch schläft. Und nach alter Väter Sitte stört man keinen Schlafwandler, auch dann nicht, wenn er ins eigene Verderben rennt. Ich hatte mir Beirut anders vorgestellt, arabisch, und stolz darauf. Ich hatte mich geirrt.

So beginnt Die Sirenen von Bagdad des 1955 geborenen algerischen Autors Mohammed Moulessehoul, der um Probleme mit der Zensur zu umgehen, seine Bücher unter dem Namen seiner Frau veröffentlichte. Nach der Übersiedlung nach Frankreich hat er diesen Namen beibehalten.

Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Regina Keil-Sagawe.

Zum Inhalt

Zu Beginn der Geschichte befindet sich der ca. 20-jährige Ich-Erzähler, ein Beduine aus dem Irak, in Beirut (Libanon). Er scheint auf etwas zu warten, doch bevor wir Genaueres erfahren, wird zunächst in einer großen Rückblende die Geschichte des jungen Mannes ausgebreitet.

Er hat nach dem Einmarsch der Amerikaner in Bagdad sein Studium abgebrochen und ist zu seiner Familie in sein Heimatdorf Kafr Karam zurückgekehrt, wo er mit den anderen jungen Männern des Dorfes notgedrungen in den Tag hineinlebt.

Sicher, wir hatten unsre kleinen Eigenarten, aber unsere Streitigkeiten arteten nie aus. Wenn es zu heftig zu werden drohte, schritten die Alten ein. Falls die gegnerischen Parteien die erlittene Kränkung als unverzeihlich ansahen, sprachen sie fortan nicht mehr miteinander, und der Fall war erledigt. Im Übrigen gehörte es zu unseren Lieblingsbeschäftigungen, uns mit Freunden auf dem Marktplatz oder in der Moschee zu treffen, durch die staubigen Straßen zu schlendern oder uns, an die Mauern gelehnt […] in der Sonne zu räkeln. Das Paradies war es nun nicht gerade, doch wir glichen die geistige Enge durch umso mehr Herzenswärme aus. Wir konnten uns über jeden witzigen Spruch ausschütten vor Lachen und fanden in unseren Blicken die Kraft, den Gemeinheiten des Lebens die Stirn zu bieten. (S. 30)

Zunächst kann man den Terror, der woanders im Land und besonders in der Hauptstadt tobt, noch halbwegs ignorieren, auch wenn die Diskussionen im Dorf hitziger werden und jeder allmählich das Gefühl hat, sich zwischen den verschiedenen politisch-militärischen Gruppen positionieren zu müssen. Und schließlich verlassen die ersten jungen Männer das Dorf, um sich den Kämpfern im Widerstand anzuschließen.

Doch dann wird der junge Ich-Erzähler zum ersten Mal Zeuge einer undenkbaren, ja unvorstellbaren Tat. Noch während er versucht, sich von diesem Schock zu erholen, bricht sein altes Leben endgültig zusammen.  Die Welt hört auf, ein geordneter und sinnvoller Ort zu sein.

Fazit

Manchmal habe ich mich an der Übersetzung gestoßen, deren Qualität ich gar nicht beurteilen kann; aber Redewendungen wie „treulose Tomate“; „etwas intus haben“ oder „auf dem falschen Dampfer sein“ klangen in meinen Ohren zu deutsch, als dass ich sie als die Sprache irakischer junger Männer empfunden hätte.

Sowohl das pamphletartige Herunterspulen von Klischees in manchen Dialogen – aus denen ich meinte, den Autor herauszuhören – als auch eine Wendung am Ende haben mich gestört bzw. nicht überzeugt.

Doch trotzdem fand ich das Buch lesenswert. Nicht nur, weil Khadra über weite Strecken so anschaulich schreibt, dass man nur wenige Zeilen braucht, um sofort in der Geschichte zu sein:

Jeden Morgen brachte Bahia, meine Zwillingsschwester, mir das Frühstück ans Bett. ‚Aufstehen da drinnen!‘, rief sie, während sie die Tür aufstieß, ‚du gehst noch mal auf wie ein Hefeteig!‘ Sie stellte das Tablett auf einem niedrigen Tischchen am Fußende ab, riss das Fenster weit auf und zwickte mich in die Zehen. Ihre Gesten waren herrisch, was in einem seltsamen Gegensatz zur Sanftheit ihrer Stimme stand. (S. 21)

Vor allem aber wird hier der Versuch unternommen, aus der Innensicht zu zeigen, wie sich das für einfache Menschen anfühlt, wenn westliche Soldaten zur Befreiung anrücken, man bald nicht mehr weiß, wer Freund und wer Feind ist, und sich die „Überlegenheit“ des Westens vor allem in sogenannten Kollateralschäden – überhaupt, was für ein Wort – und noch größerem Chaos und Blutvergießen zeigt.

Dabei gibt es keine Schwarzweißmalerei; auch der junge Beduine hat seine Glaubenssätze, die er nicht hinterfragt und reflektiert.

In Kafr Karam kostete man nicht von der verbotenen Frucht. Eher wäre man krepiert, als zu stehlen oder sich dem Laster zu ergeben. Der Gesang der Sirenen mochte noch so laut tönen, der Mahnruf der Alten hat ihn noch stets überdeckt – Anstand und Ehre sind uns angeboren. (S. 24)

Letztlich geht es um die Fragen, was passiert, wenn man die Würde des Menschen antastet, wie die Spirale des Hasses entsteht und wie der Hass den Einzelnen und dann die Gesellschaft korrumpiert.

Würde ist nichts, worüber sich feilschen lässt. Wer sie verliert, dem reichen alle Leichentücher der Erde nicht, um sein Haupt zu verhüllen, und kein Grab nimmt freiwillig seine Reste auf. (S. 141)

Und das Buch erinnert daran, dass das, was wir eher flüchtig, eher nebenbei in den Zeitungen lesen oder in den Nachrichten hören, von anderen Menschen konkret durchlitten werden muss.

Eugene Dabit: Hôtel du Nord (1929)

Ein trübes Licht hing zwischen den verschlissenen Vorhängen, die ausgeblichene Blümchentapete ließ die Wände trostlos wirken, das Bett stand eingezwängt zwischen einem hellen Holzschrank und dem Waschtisch, in der Ecke lag neben dem Toiletteneimer ein Paar alter Schuhe. Die Enge, die Ärmlichkeit, der Geruch dieses Ortes, das alles sorgte für Unbehagen.

So also sehen die Zimmer aus im Hôtel du Nord, dem Schauplatz des Romans Hôtel du Nord (1929) von Eugène Dabit. Zwei Jahre später erhielt der Autor dafür den 1929 geschaffenen französischen Literaturpreis Prix du roman populiste, der Werke auszeichnen sollte, die einfache Menschen als handelnde Personen in den Mittelpunkt stellen.

Die Neuübersetzung ins Deutsche stammt von Julia Schoch (2015) und erschien bei Schöffling & Co. Doch nun zum Inhalt.

Emile Lecourvreur und seine Frau, die Arbeiterin Louise, kaufen mit Geld, das sie von Louises Bruder geliehen haben, ein schäbiges Hotel an einem Kanal in Paris.

Nebeneinander, vereint, schreiten sie in eine Welt voller Hoffnungen. Ihre Augen leuchten. Wie schön es doch ist, einen Abend wie diesen zu erleben, zu der Stunde, da die Straßenlaternen angehen, die Lichterketten und Reklameschilder, die schillernden Auslagen. Die alten Nöte sind vergessen … Louise sieht sich bereits beim Schlussverkauf […] in den Stofffluten wühlen. (S. 17)

Dabit breitet in locker miteinander verwobenen Episoden, in denen jeweils andere Gäste im Mittelpunkt stehen, ein Milieu- und Sittenbild aus, das nichts mit dem Paris der prächtigen Boulevards und großen Museen zu tun hat.

Denn in diesem Hotel mit den 40 Zimmern steigen keine Touristen ab, sondern gewöhnliche Menschen leben dort, manchmal wenige Tage, öfter jedoch Monate oder Jahre, denn Wohnungen können sich die Arbeiter, Näherinnen, Wäscherinnen, arme Ehepaare oder auch Liebespaare von ihrem kärglichen Lohn nicht leisten. Auch die trinkfesten Rollkutscher des benachbarten Fuhrunternehmens gehören zu den Stammgästen. (Rollkutschen waren einfache Pferdefuhrwerke, die dem Transport von Waren dienten).

Für die neuen Besitzer bedeutet das Hotel – neben der finanziellen Absicherung – vor allem eines: Arbeit. Louise kümmert sich – von einem Dienstmädchen unterstützt – um die Zimmer, die sie nach und nach verschönert, während Emile in der Bar des Hotels arbeitet und zusätzlich seinen Dienst als Nachtportier versieht. Louise ist dabei diejenige, die ohne viel Aufhebens ihr Möglichstes versucht, damit das Hotel ein Ort der Menschlichkeit ist und dabei nicht zum Stundenhotel verkommt. Sie besucht kranke Mieter im Krankenhaus und wirft auch das Dienstmädchen nicht raus, obwohl es ein Kind erwartet.

Doch letztlich ändert Louises Freundlichkeit nichts am Lauf der Dinge. Der kranke Mieter stirbt und die Mädchen vom Land bleiben naiv und fallen auf den erstbesten Schürzenjäger herein, werden schwanger, die Väter verschwinden, das Kind muss zu einer Amme aufs Land gegeben werden. Die alleinstehenden Frauen sind einsam; die Gefahr, vergewaltigt zu werden oder käuflich zu werden, ist allgegenwärtig.

Die Männer langweilen sich, trinken viel, arbeiten hart, doch eine Perspektive auf Veränderung hat kaum jemand von ihnen.

Das liest sich süffig und ist zunächst ein interessanter Einblick in eine andere Welt. Dabit schreibt ganz ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Pathos und ohne Mitleid. Ein Stück weit können wir nachvollziehen, warum Menschen in solch auch geistig beengten, harten und schmutzigen Verhältnissen grob werden und Träume von einer schöneren Zukunft wie Seifenblasen platzen.

Schlecht rasiert, kaum gewaschen, haben ihre starren Gesichter die Farbe des Morgengrauens. Die Müdigkeit lässt ihre Stimme belegt klingen, und ihre Lider flattern. Mit Flüchen, mit einem lauten ‚Scheißarbeit‘ reißen sie sich aus ihren Träumen. Manchmal lassen sie sich auf einen Stuhl fallen, strecken sich durch; ihr eintöniges Dasein drückt sie nieder. […] Mechanische Existenzen, unwiderruflich an Aufgaben ohne Größe gekettet. (S. 41/42)

Die Abstumpfung der Menschen wird fast schon fatalistisch konstatiert, aber weder beklagt noch psychologisiert. Ein Ehemann brüstet sich damit, seine Frau „ordentlich verdroschen“ zu haben:

Wird ihr eine Lehre sein. Mir jeden Abend Wurst vorzusetzen! (S. 116)

Allerdings blicken wir nur oberflächlich in die einzelnen Leben hinein. Und auch wenn die Protagonisten selbst sich vielleicht auch nicht mit mehr Tiefe betrachten (können) oder ihnen dafür die Sprache fehlt, irgendwann rauschten die grobkörnig erzählten Geschichten und Episoden an mir vorbei.

Wirklich Anteil genommen habe ich nicht. Das spricht aber vielleicht gar nicht gegen die Qualität des Romans, sondern zeigt, dass es dem Autor gelungen ist, die Worte von Jean Guéhenno umzusetzen, die er seinem Werk vorangestellt hat:

Keiner von uns, der besonders wäre, unverwechselbar. An uns ist nichts, das die Blicke auf sich zieht, die Aufmerksamkeit und Liebe weckt. Nicht einmal originell sind wir. Wir sind weder liebenswert noch rührend. Jeder von uns gäbe einen schlechten Romanhelden ab. Er ist unbedeutend, und unbedeutend ist sein Leben. Es entrinnt niemals dem Prinzip ‚gewöhnliches Elend‘.

Anmerkungen

1923 kauften die Eltern des Schriftstellers das Hôtel du Nord. Eugène hat dort so manche Schicht als Nachtwächter gearbeitet. Das Gebäude gibt es übrigens immer noch.

Das Schicksal wollte es, dass ich lange Zeit im Hôtel du Nord lebte und arbeitete. Hier habe ich die Figuren meines Romans ankommen und wieder fortgehen sehen, ohne ihnen später je wieder zu begegnen. Nichts ist erschütternder und trostloser als ihr Dasein, ein Leben ohne Poesie, ohne Aufbegehren, auch ohne Traum… Nichts von ihnen ist geblieben. Ein Name? Nur selten. So kam mir der Wunsch, sie wieder lebendig werden zu lassen, sie zu verstehen, zu lieben. (aus dem Nachwort von Julia Schoch, S. 211)

Das Buch wurde 1938 verfilmt.

Henri Alain-Fournier: Der große Meaulnes (OA 1913)

Er kam an einem Sonntag im November 189… in unser Haus. Ich sage noch immer ‚unser Haus‘, obwohl es uns nicht mehr gehört. Vor fast fünfzehn Jahren sind wir aus der Gegend fortgezogen und werden sicher niemals dorthin zurückkehren.

Mit diesen Sätzen beginnt der unglaubliche Roman von Der große Meaulnes (1913) von Henri Alain-Fournier, neu ins Deutsche übersetzt von Cornelia Hasting und Otfried Schulze. Der Autor, der eigentlich Henri Alban-Fournier hieß, wurde 1986 geboren, war also bei Veröffentlichung seines einzigen fertiggestellten Romans gerade einmal 27 Jahre alt und starb 1914 nahe Verdun.

Zum Inhalt

Im Rückblick erzählt der Lehrer François Seurel von seinen Jugenderinnerungen, die im Wesentlichen um seinen früheren Kameraden Augustin Meaulnes kreisen. Dieser wurde als 17-jähriger Pensionsschüler in die Familie Seurel aufgenommen, um von Monsieur Seurel unterrichtet zu werden. Der lebhafte, immer in die Ferne schweifende und furchtlose Augustin wird das Vorbild und der Held des zwei Jahre jüngeren Francois. Francois selbst ist ruhig und zurückhaltend und durch ein steifes Knie etwas gehandicapt.

Eines Tages verirrt sich Augustin bei dem Versuch, die Großeltern von Francois vom Bahnhof abzuholen, samt dem Pferd, das er sich unerlaubt vom Nachbarhof ausgeliehen hat.  Während er schon völlig orientierungslos durch die Gegend irrt, stößt er auf ein Landgut, auf dem ein geheimnisvolles und märchenhaftes Kostümfest gefeiert wird.

Arm und Reich, Alt und Jung feiern für mehrere Tage die bevorstehende Hochzeit des jungen Herrn Frantz, der mit seiner Braut auf dem Hof erwartet wird. Während der Vergnügungen und Lustbarkeiten trifft Augustin auf Yvonne, die Schwester des Bräutigams, und verliebt sich in sie mit jugendlicher Unbedingtheit. Doch das Fest geht traurig zu Ende. Frantz kehrt ohne Braut zurück und verlässt bald darauf den Hof, ohne jemandem zu sagen, wohin er mit seinem Kummer fliehen möchte. Die Gäste verlassen das Anwesen.

Auch Augustin kehrt nach mehreren Tagen in seinen Alltag als Schüler zurück. Doch seit diesem Ausflug ist er ein anderer. Sein ganzes Streben geht nun dahin, das geheimnisvolle Gut und vor allem Yvonne wiederzufinden. Später wird Augustin dieses Erlebnis zu einem nahezu mythischen Ereignis verklären, ohne dass ihm der Leser das übelnehmen könnte:

Sicher wollte ich Mademoiselle de Galais einmal wiedersehen, nur sie wiedersehen …  Aber jetzt bin ich davon überzeugt, daß ich, als ich das namenlose Gut entdeckte, auf einer Höhe, auf einer Stufe der Vollkommenheit und Reinheit war, die ich nie wieder erreichen werde. Im Tod erst, wie ich dir einmal schrieb, werde ich vielleicht die Schönheit jener Zeit wiederfinden. (S. 174)

Francois macht sich die Sehnsucht des Freundes ebenfalls zu eigen und schmiedet mit ihm Fluchtpläne. Als ständiger Beobachter scheint er vor allem durch die Freundschaft zu Francois zu leben und seine Erfüllung  zu finden. Doch gerade in seiner halsstarrigen Suche nach dem einmal gesehenen Glück wird Augustin schuldig.

Für den Erzähler Francois verkörpert die Jugendzeit mit Augustin die Unbedingtheit, den für immer verlorenen Zauber der Kindheit. So heißt es schon auf S. 8, nachdem Francois den Bauplan des elterlichen Hauses geschildert hat:

… das ist knapp der Plan des Hauses, in dem ich die stürmischsten und kostbarsten Tage meines Lebens verbrachte – des Hauses, von dem unsere Abenteuer ausgingen und wohin sie zurückkehrten, sich zu brechen wie Wellen an einem einsamen Felsen.

Eine tiefe Melancholie liegt also von Anfang an über allem.

Fazit

Was man jedem anderen Schriftsteller übelnehmen würde, äußert seltsame Zufälle in der Handlungsführung und unklare Charakterbeschreibungen – Yvonne erinnert ganz fürchterlich an die schlimmsten Frauenfiguren bei Charles Dickens – sowie Pathetik und Ich-Bezogenheit, kommt mir beim Lesen dieses kleinen Romans (247 Seiten) als pedantische Krittelei vor.

Das Buch ist im Laufe der Zeit auf die unterschiedlichsten Arten gedeutet worden, sei es, dass man darin die romantische Suche nach dem unerreichbaren Ideal verkörpert oder den Verlust der Kindheit betrauert sah. Andere wiederum legten die Betonung auf die Unabwendbarkeit des Erwachsenwerden-Müssens, dem man sich nicht ungestraft widersetzen dürfe.

Überhaupt ist erstaunlich, wie wenig hier die Erwachsenen die Handlung beeinflussen. Verblendet von einer merkwürdigen Liebe sehen sie nahezu tatenlos zu, selbst wenn sich ihre Kinder zugrunde richten.

Ich selbst finde gerade Francois, den Erzähler, interessant. Auch er, der seinem Freund, dem ‚großen Meaulnes‘ in schwärmerischer Zuneigung zugetan ist, hätte vielleicht den Gang der Dinge noch zum Guten beeinflussen können, hätte er sich nicht selbst mit der passiven Zuschauerrolle zufriedengegeben.

Für den, der noch etwas tiefer in die Interpretation einsteigen möchte: Auf Interesting Literature gibt es einen Beitrag mit dem Titel An Analysis of Nostalgia.

Sylvain Tesson: In den Wäldern Sibiriens (OA 2011)

Die Marke Heinz vermarktet etwa fünfzehn verschiedene Saucen. Der Supermarkt von Irkutsk führt sie alle, und ich kann mich nicht entscheiden. Ich habe schon sechs Einkaufswagen mit Nudeln und Tabasco beladen. Der blaue Lastwagen wartet auf mich. Mischa, der Fahrer, hat den Motor nicht abgestellt, draußen herrschen minus 32 Grad. Morgen verlassen wir Irkutsk. In drei Tagen werden wir die Blockhütte am Ostufer des Sees erreichen. […] Fünfzehn Sorten Ketchup. Wegen solcher Dinge wollte ich dieser Welt den Rücken kehren.

Mit diesen Sätzen beginnt der großartig coole Reisebereicht In den Wäldern Sibiriens: Tagebuch aus der Einsamkeit (2014) von Sylvain Tesson. Das französische Original, ins Deutsche von Claudia Kalscheuer übersetzt, erschien 2011.

Ausnahmsweise fange ich mal mit einem Zitat aus einer Rezension an, das bringt es nämlich schon gut auf den Punkt: Blake Morrison schreibt im Guardian: „… he [Tesson] comes across as the brainiest, daftest, sternest, funniest, most companionable hermit you’ll ever meet.“

Der Schriftsteller, Journalist und Reisende Tesson (*1972) fasst auf der ersten Seite des Buches unter dem Titel Randnotiz zusammen, um was es eigentlich gehen soll:

Ich hatte mir vorgenommen, vor meinem 40. Lebensjahr als Eremit in den Wäldern zu leben.
Ich zog für sechs Monate in eine sibirische Hütte am Ufer des Baikalsees, an der Spitze des Nördlichen Zedernkaps. Das nächste Dorf, 120 Kilometer entfernt, keine Nachbarn, keine Zugangsstraßen, gelegentlich ein Besuch. Im Winter Temperaturen um die minus 30 Grad, im Sommer Bären an den Ufern. Kurz, das Paradies.
Ich nahm Bücher mit, Zigarren und Wodka. Alles Übrige – die Weite, die Stille und die Einsamkeit – war schon da.
In dieser Wildnis schuf ich mir ein schlichtes und schönes Leben, ich machte die Erfahrung eines aus einfachen Handlungen bestehenden Daseins. Im Angesicht von See und Wald betrachtete ich das Vorüberziehen der Tage. Ich hackte Holz, angelte mein Abendessen, las viel, wanderte durch die Berge und trank am Fenster Wodka. Die Blockhütte war ein idealer Beobachtungsposten, um noch die kleinste Bewegung der Natur zu erfassen.
Ich erlebte den Winter und den Frühling, das Glück, die Verzweiflung und am Ende den Frieden. In der tiefsten Taiga verwandelte ich mich. Die Bewegungslosigkeit gab mir, was das Reisen mir nicht mehr verschaffen konnte. Der Geist des Ortes half mir, die Zeit zu zähmen. Meine Einsiedelei wurde zum Laboratorium dieser Wandlungen.
Jeden Tag verzeichnete ich meine Gedanken in einem Heft. Dieses Tagebuch eines Einsiedlerlebens halten Sie in Händen.

2003 wanderte Tesson das erste Mal am Baikalsee. Das hinterließ einen so tiefen Eindruck, dass er beschloss, irgendwann wiederzukommen. Sieben Jahre später erfüllt er sich nun diesen Traum und bezieht seine Blockhütte am Ufer des ältesten und tiefsten Sees der Welt. Neben den streng überlebenswichtigen Vorräten hat er auch ein paar Luxusgüter im Gepäck: Beträchtliche Mengen an Wodka, Paracetamol (gegen die Wirkungen des Wodka), Zigarren und eine große Bücherkiste. Solarzellen liefern den Strom für seinen kleinen Computer. Das Satellitentelefon für Notfälle funktioniert nur ab und zu.

Als erstes räumt er den Müll des Vorgängers hinter die Hütte. Zunächst ist er allein, später kommen zwei Hunde dazu. Ab und an bekommt er Besuch von trinkfesten Fischern und Angestellten des Baikal-Lena-Naturreservats.

Im Abstand von 30 Kilometern beherbergen Stationen des Naturschutzgebiets Inspektoren […] Später werde ich in melancholischen Momenten, wenn ich das Bedürfnis verspüre, mit jemandem anzustoßen, nur einen Tag nach Süden oder fünf Stunden nach Norden wandern müssen. (S. 22)

Und so beginnt sein großes Abenteuer:

Ich bin an der Landungsbrücke meines Lebens angelangt. Ich werde endlich erfahren, ob ich ein Innenleben habe. (S. 33)

Über weite Strecken spürt man sein geradezu physisches Wohlbehagen, das er empfindet, ja manchmal macht ihn die Einsamkeit fast ein bisschen größenwahnsinnig: Sie

wirkt als Resonanzkörper: Alle Eindrücke sind wesentlich stärker, wenn man allein ist. Sie erlegt einem Verantwortung auf: Im menschenleeren Wald bin ich Botschafter der menschlichen Gattung. Ich muss dieses Schauspiel für alle genießen, denen es versagt ist. Sie […] wäscht alles Geschwätz von mir ab, erlaubt es, mein Inneres zu sondieren. Sie lässt Erinnerungen an geliebte Menschen aufsteigen… (S. 114)

Er wandert und klettert, angelt, beobachtet stundenlang den gefrorenen See, erlebt Stürme, geht später im Frühling den Bären aus dem Weg und protokolliert die feinsten Nuancen am Himmel und in der Eisdecke. Er füttert Meisen, wärmt sich an seinem Ofen und philosophiert dabei buchstäblich über Gott und die Welt. Er angelt und fährt stundenlang Schlittschuh, vermisst seine Liebste und genießt seinen nachhaltigen und konzentrierten Lebensstil, den er durchaus als Revolte gegen die Gesellschaft deutet.

Die Blockhütte, das Reich der Vereinfachung. Unter dem Schutz der Kiefern beschränkt sich das Dasein auf lebenswichtige Handlungen. Die den täglichen Aufgaben abgerungene Zeit füllt sich mit Ausruhen, Kontemplation und kleinen Freuden. Die Palette der zu erledigenden Dinge ist begrenzt. Lesen, Wasser holen, Holz hacken, schreiben und Tee eingießen werden zu einer Liturgie. In der Stadt geht jede Handlung auf Kosten von tausend anderen. Der Wald verdichtet, was die Stadt zerstreut. (S. 40)

In eine Hütte zu ziehen bedeutet, von den Kontrollschirmen zu verschwinden. Der Einsiedler löscht sich. Er sendet keine digitalen Spuren mehr, keine Telefonsignale, keine Bankkartenimpulse. […] er tritt aus dem großen Spiel aus. (S. 120)

Aber auch die dunklen Momente des Zweifels, des nicht enden wollenden Regens und der Verzweiflung verschweigt er nicht.

Gleichzeitig spürt Tesson die Notwendigkeit, sich und seinen Tag zu strukturieren, denn er weiß um die Gefahr, ohne die soziale Kontrolle der Mitmenschen den ganzen Tag nur verdreckt und betrunken in der Ecke zu liegen.

Robinson kennt diese Gefahr und beschließt, um nicht auf den Hund zu kommen, jeden Abend am Tisch und im Anzug zu dinieren, als empfange er einen Gast. […] Die Einsamkeit ist eine Bewährungsprobe […] Der Einsame muss sich der Pflicht der Tugend unterwerfen, sagt er, und darf sich keine Grausamkeit erlauben. Wenn er schlecht handelt, wird sein Einsiedlertum ihm eine doppelte Strafe auferlegen: Nicht nur wird er das durch seine eigene Bosheit verdorbene Klima zu ertragen haben, sondern er wird auch die Niederlage einstecken müssen, der menschlichen Gattung nicht würdig gewesen zu sein. (S. 99/100)

Er liest und wird immer mal wieder durch Besuche aufgestört, was dann regelmäßig in Besäufnissen endet. Wir wandern mit ihm durch die Jahreszeiten, erleben seine Entschleunigung, sehen, wie seine Konzentration sich verschiebt. Brauchte er in Paris den Trubel, Besuche und Betriebsamkeit, um die Tage zu bewältigen, reicht ihm hier schon der Besuch einer Meise am Fenster, um ihn einen ganzen Nachmittag zu entzücken.

Dabei sorgt aber die harsche Natur dafür, dass er nicht völlig abhebt. Auf einem Aussichtspunkt oberhalb des Sees sinniert er:

Im Leben braucht es drei Zutaten: Sonne, einen Ausblick und in den Beinen die milchsaure Erinnerung an die Anstrengung. Und kleine Montechristos. Das Glück ist flüchtig wie ein Wölkchen Zigarrenrauch. Es herrschen minus 30 Grad. Zu kalt für längere Kontemplationen.

Fazit

Keine Frage, unbedingt lesenswert! Selbst wenn mir Tessons Hang zu apodiktischen Aussagen manchmal auf die Nerven fiel.

Siebzig Jahre historischer Materialismus haben bei den Russen jedes ästhetische Empfinden zunichtegemacht. Woher kommt der schlechte Geschmack? Warum gibt es Linoleum und nicht nichts? Wie hat der Kitsch die Welt erobert? Der Run der Völker auf das Hässliche ist das Hauptphänomen der Globalisierung. […] Der schlechte Geschmack ist der gemeinsame Nenner der Menschheit. (S. 26)

Tesson ist ein belesener Reisender. Seine Bücherkiste enthält ca. 60 Titel, von den Stoikern, den Eremiten des 4. Jahrhunderts bis hin zu Shakespeare, Robinson Crusoe und einigen Krimis, aus denen er immer wieder zitiert, die er gedanklich verknüpft, denen er widerspricht, aus denen er entnimmt, was ihm nützlich erscheint. Schön auch die Lektüre der chinesischen Dichter, die sich schon vor Jahrhunderten so ihre Gedanken über den Rausch, die Schönheit und die Zurückgezogenheit gemacht  haben.

Es macht Spaß, Tesson dabei zu folgen. Beim nächtlichen Besuch seiner Latrine, 120 Schritte von der Hütte entfernt, fällt ihm beispielsweise die Geschichte von Daphne du Maurier ein, in der ein Mann in einer kalten Winternacht über die Wurzeln eines Baumes stolpert, den seine Frau einst gepflanzt hat.

Manchmal ist es auch einfach nur komisch. Da verkriecht sich einer im Winter am Ufer des Baikalsees und selbst dort ist er nicht vor Leuten sicher, die weder Sinn für die Schönheit des Ortes oder die Einsamkeit haben. Eines Nachts kommen Mitglieder aus Putins Partei in acht Geländewagen und  kampieren am Strand. Er ist niedergeschmettert, nicht zuletzt, weil sie die schöne Schneefläche komplett zertrampelt haben.

… der Lärm, die Hässlichkeit, das testosterongesteuerte Herdenverhalten. Und ich armer Tropf mit meinen Reden über Rückzug und meinem Exemplar von Jean-Jacques‘ Träumereien auf dem Tisch! Ich denke an die Benediktinerbrüder, die heute gezwungen sind, Touristen durch ihre Klöster zu führen … (S. 42)

Einmal besucht ihn der Meteorologe von einer der Inseln, in Begleitung einer australischen Touristin.

Die Australierin versteht einiges nicht ganz:
„Do you have a car?“ – „No“, sage ich.
„A TV?“ – „No.“
„If you ever have a problem?“ – „I walk.“
„Do you go to the village for food?“ – „There is no village.“
„Do you wait for a car on the road?“ – „There is no road.“
„Are those your books?“ – „Yes.“
„Did you write all of them?“

Selbst zwei Shivaisten, die vor ihm einen schwer verdaulichen „spirituellen Brei“  auswalzen und dabei aussehen wie „Killer einer Spezialeinheit“ verirren sich an sein einsames Ufer.

Tesson ist kein romantischer Spinner. Angesichts der begrenzten Ressourcen unserer Erde hält er zwar ein ökonomisches Nullwachstum für das Gebot der Stunde, doch glaubt er nicht, dass irgendeine Regierung den Mut hätte, ihrer Bevölkerung abzuverlangen, eher „Seneca zu lesen, als Cheeseburger zu verschlingen“. (S. 45)

Dabei ist er sich völlig im Klaren darüber, dass er sich mit diesen sechs Monaten einen Luxus leistet, der immer elitär bleiben wird. Würden das viele oder gar alle nachahmen, gäbe es diese fast unberührten Orte der Schönheit nicht mehr.

Wenn die Massen in die Wälder zögen, würden sie die Übel mitbringen, die sie fliehen wollten, indem sie die Stadt verließen. Es gibt keinen Ausweg. (S. 46)

Am Rande werden auch die Umweltzerstörung und der gedankenlose Raubbau an den Wäldern der Taiga erwähnt. So zerlegen chinesische Holzfäller russische Zedern, um daraus beispielsweise Essstäbchen herzustellen.

Zum Abschluss noch einmal seine Beweggründe, sich in eine Blockhütte zurückzuziehen:

Ich war zu geschwätzig
Ich wollte Stille
Zu viel unbearbeitete Post
und zu viele Leute zu treffen
Ich beneidete Robinson …

Sicherlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn er seiner Geschwätzigkeit ein Schnippchen schlagen wollte und nun unzählige Tagebuchseiten vollgeschrieben hat. Egal.

Die wenigsten von uns werden sechs Monate in irgendeine Wildnis oder ein Kloster aufbrechen, doch die Fragen, die Tesson (sich) stellt, und die Einsichten, die er gewinnt, sind natürlich nicht nur für Eremiten von Belang:

Kann man sich selbst ertragen? (S. 50)

Es tut gut, kein Gespräch in Gang halten zu müssen. (S. 68)

Schade fand ich zunächst, dass hier in keiner Zeile davon erzählt wird, wie es Tesson nach seiner Rückkehr in die Zivilisation ergangen ist.

Aber vielleicht ist gerade das das Spannende? Wir malen uns aus, was wäre, wenn, und träumen ein bisschen, schreiben in unser Tagebuch und überlegen, wie auch wir ein bisschen geerdeter, ruhiger und konzentrierter leben können …

PS: Tesson empfindet seine Versuche, die ihn schier überwältigende Landschaft zu fotografieren, mehr und mehr als Frevel am Augenblick. So enthält das Buch leider keine Bilder. Hier gibt es immerhin einen kleinen Trailer auf YouTube.

2011 erhielt er für dieses Buch den französischen Literaturpreis Prix Médicis.

R. Goscinny & A. Uderzo: Asterix in Britain

A pirate ship is sailing cautiously along the Mare Britannicum, the channel separating Britain from the continent.

So beginnt der achte Band der berühmten Comic-Reihe um den kleinen Gallier Asterix, die 1959 von Autor Rene Goscinny (1926–1977) und Zeichner Albert Uderzo (*1927) geschaffen wurde. In über 100 Sprachen wurde der Comic bisher übersetzt.

Mein Mann ist seit Jahren darum bemüht, meinen literarischen Horizont zu erweitern, so bekam ich z. B. von ihm Die Elenden von Victor Hugo oder Therese Raquin von Emile Zola geschenkt. Man sieht, nicht unbedingt erheiternde Lektüre. Und dann zum letzten Geburtstag ein weiterer Versuch, mir einen französischen Klassiker nahezubringen: Asterix. Da ich den Monate lang unbeachtet hier liegen ließ, stieß er jetzt eine Drohung aus, auf die ich notgedrungen reagieren musste. Wenn ich nicht endlich diese eklatante Bildungslücke schließe, würde er mir keine Bücher mehr schenken. Also gab ich klein bei und las den ersten Asterix meines Lebens. Der Name „Asterix“ leitet sich übrigens von dem typografischen Zeichen Asterisk ab (griech. für Sternchen) und der Name „Obelix“ möglicherweise von dem typografischen Zeichen für das Kreuz.

Die Veralberung der Briten, ihres nebligen Wetters und ihrer angeblichen Vorlieben für Minze, Rasenpflege und Rugby ist auch für Comic-Analphabeten reizend. Und ich weiß jetzt endlich, wie der Tee wirklich nach England gekommen ist, denn bevor Asterix und Obelix das schmackhafte Kraut auf die Insel brachten, haben die Engländer immer nur „a cup of hot water with a spot of milk“ getrunken. Den ganzen Schlamassel mit den Römern haben sich die Briten auch nur dadurch eingebrockt, dass sie sämtliche Kampfhandlungen um fünf Uhr nachmittags unterbrochen haben.

Und angeregt von Philea’s Blog habe ich schon mal damit begonnen, Lesezeichen zu falten, denn – egal, wie viele Lesezeichen ich schon gekauft habe – immer wenn ich eins brauchte, waren sie allesamt unauffindbar. Damit kann ich doch dem nächsten Geburtstag wieder ganz gelassen entgegensehen.

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Alexandre Dumas: Die Kameliendame (OA 1848)

Ich bin der Ansicht, daß man Gestalten erst dann zu erschaffen vermag, wenn man die Menschen eingehend erforscht hat, wie man ja auch eine Sprache erst beherrscht, nachdem man sie von Grund auf erlernt hat. Da ich selbst noch nicht in dem Alter bin, in dem man frei erfinden kann, will ich hier nichts als Tatsachen berichten. Der Leser darf also getrost der Überzeugung sein, daß diese Geschichte sich tatsächlich zugetragen hat und alle Personen, mit Ausnahme der Heldin, noch am Leben sind. Zumal es ein Leichtes wäre, für die meisten der hier geschilderten Begebenheiten in Paris Zeugen zu finden, sollte man mir nicht genug vertrauen.

Mit dieser Herausgeberfiktion beginnt der Roman Die Kameliendame (1848) von Alexandre Dumas, den er in nur vier Wochen schrieb. Ins Deutsche wurde das Buch von Michaela Meßner übersetzt. Die erste deutsche Ausgabe erschien erst 1907.

Ein namenloser junger Mann wird zufällig Zeuge einer Versteigerung, bei der die Einrichtungsgegenstände und Kleider der kürzlich verstorbenen Kurtisane Marguerite Gautier unter den Hammer kommen. Dabei erwirbt er das Buch Manon Lescaut, da eine handschriftliche Eintragung seine Neugier geweckt hat.

Kurz darauf sucht ihn eben jener Armand Duval auf, von dem die Widmung im Buch stammt, und bittet ihn unter Tränen um das Buch. Die beiden jungen Männer freunden sich an und Armand ist irgendwann bereit, dem neugewonnenen Freund die tragische Geschichte seiner Beziehung zu Marguerite zu erzählen.

Armand hatte sich in die überaus schöne Kurtisane Marguerite verliebt und sie aus der Ferne verehrt.

In einem Oval von unbeschreiblicher Anmut stelle man sich zwei schwarze Augen vor, überwölbt von Brauen, deren geschwungener Bogen so rein ist, daß sie wie gemalt erscheinen; die Augen überschleiere man mit langen Wimpern, die beim Senken den rosigen Teint der Wangen überschatten; die Nase zeichne man fein, gerade, geistreich, mit leicht geöffneten Nasenflügeln, die ein heftiges Verlangen nach dem sinnlichen Leben verraten; dann entwerfe man einen regelmäßigen Mund, dessen anmutige Lippen milchweiße Zähne sehen lassen; die Haut koloriere man nach Art samtschimmernder Pfirsiche, die noch von keiner Hand berührt wurden, und das Ganze ergibt dann diesen berückenden Kopf. (S. 14)

Die beiden lernen sich kennen und Armand bringt eine unvermutete Seite in der jungen Frau zum Klingen, denn er will ihre Gesellschaft und ihren Körper nicht – wie sonst all die anderen Männer – kaufen. Er war derjenige, der sich jeden Tag nach ihrem Befinden erkundigt hatte, ohne dabei seinen Namen zu hinterlassen, als sie krank war. Und er hat als einziger Mitleid mit ihr, als sie nach einem Abendessen Blut hustet. Armand erkennt, dass sich die erfolgreiche Kokotte noch „so etwas wie Arglosigkeit“ bewahrt hat.

Man merkte ihr an, daß das Laster bei ihr noch etwas ganz Jungfräuliches war. (S. 77)

Sie verlieben sich ineinander und das Unheil nimmt seinen Lauf, denn eine Frau wie Marguerite führt einen Lebenswandel mit Pferden, Kutsche und teuren Kleidern, Blumen und Theaterbesuchen, den ihr Armand noch nicht einmal ansatzweise finanzieren könnte.

Sie ist trotz ihrer Jugend lebenserfahren, klug und sich über ihre Stellung völlig im Klaren:

Wenn all die Frauen, die unser schändliches Gewerbe ergreifen, von Anbeginn wüßten, was da auf sie zukommt, dann würden sie lieber Dienstmädchen werden. Aber nein! Uns verlockt die Eitelkeit, Kleider, Diamanten und Equipagen zu besitzen […] und dann verschleißt man nach und nach sein Herz, seinen Körper und seine Schönheit. Man wird gefürchtet wie ein wildes Tier, verachtet wie ein Paria und ist von lauter Menschen umgeben, die stets mehr nehmen als sie selbst geben, und eines Tages verreckt man wie ein Hund, nachdem man seine Freunde und auch sich selbst verloren hat. (S. 102)

Freunde haben wir natürlich keine. Wir haben selbstsüchtige Verehrer, die ihr Vermögen nicht für uns vergeuden, wie sie immer behaupten, sondern für die eigene Eitelkeit. Für diese Leute, die selbst an gar nichts glauben, müssen wir fröhlich sein, wenn sie guter Laune sind, Appetit haben, wenn sie essen gehen wollen. Aber Herz dürfen wir auf keinen Fall zeigen, sonst werden wir zur Strafe verhöhnt und verlieren unser Ansehen Wir können nicht mehr frei über unser Leben verfügen. Wir sind keine Menschen mehr, sondern Dinge. (S. 142)

Marguerite ist diejenige, die die Unmöglichkeit ihrer Liebe sieht, denn selbst wenn sie für Armand ihren Lebenswandel ändern würde, wovon sollten sie leben und wie wäre sie abgesichert, wenn Armand, wie zu erwarten ist, in einigen Jahren nichts mehr von ihr wissen will und sie dann keine reichen Gönner mehr hätte? Doch für kurze Zeit verdrängen sie alle Sorgen um die Zukunft. Marguerite prostituiert sich weiterhin, um sich mit dem Geld ihrer Liebhaber ein kleines Haus auf dem Land mieten zu können. Dort verleben die beiden einen glücklichen Sommer, ausschließlich ihrer Liebe lebend.

Aus heutiger Sicht ist es putzig, dass Armand auch nicht ein einziges Mal auf die Idee kommt, sich eine Stellung zu suchen. Seine einzige Idee diesbezüglich ist der Spieltisch.

Doch die Familie Armands will nicht zulassen, dass der Lebenswandel des Sohnes die Familie zu kompromittieren droht. Zwar war das Kurtisanentum ein akzeptierter Teil des gesellschaftlichen Lebens in Paris, und eine attraktive und kostspielige Geliebte war nichts anderes als ein Statussymbol, doch Armand nimmt nach Ansicht des Vaters diese Liebschaft viel zu ernst und bedenkt nicht, dass sie sein weiteres Fortkommen behindern, ja unmöglich machen würde.

Das Buch ist so voller Verve und mitreißendem Pathos und interessantem Zeitkolorit, dass man den beiden Liebenden gerne durch ihre Verirrungen und Seelenqualen folgt, auch wenn die Selbstlosigkeit Marguerites, mit der sie schließlich alles für ihren Liebhaber opfert, schon ein wenig übermenschlich wirkt. Doch sie verkörpert – im Gegensatz zur verlogenen feinen Gesellschaft – einen Liebesbegriff, der wirklich das Wohl des Geliebten im Blick hat.

Armand hingegen ist ein alberner und rührseliger Wicht. Er behauptet, sie schon nach 24 Stunden unendlich und unwiderruflich zu lieben, redet dabei gern davon, dass er sie die folgende Nacht wieder besitzen werde und philosophiert darüber, dass es doch eine ganz andere Heldentat sei, das Herz einer erfolgreichen Kurtisane zu erobern als das eines einfachen und keuschen Mädchens.

Er kümmert sich keinen Deut darum, was später aus Marguerite werden soll, wenn sie mit ihren reichen Liebhabern bricht. Eine Eheschließung kommt ihm nicht einmal in den Sinn. Das würde die Gesellschaft nicht verzeihen. Doch solange er in Marguerite verliebt ist, würde er gern von seiner Umwelt in Ruhe gelassen werden. Selbst auf die Briefe seines Vaters antwortet er nicht mehr.

Er weint gern und viel, ist eifersüchtig und trotz angeblich unsterblicher Liebe sofort bereit, das Schlimmste von seiner Geliebten zu denken. Eigentlich geht es ihm immer nur um sich selbst. Als er – das erfährt der Leser schon ganz früh – kurz nach der Beerdigung Marguerites nach Paris zurückkommt, lässt er sie exhumieren:

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß diese Frau, die so jung und so schön war, als ich wegfuhr, nun tot sein soll. Davon muß ich mich mit eigenen Augen überzeugen. Ich muß sehen, was Gott aus diesem Wesen gemacht hat, das ich so sehr liebte, vielleicht wird mir dann der Ekel vor diesem Anblick die Verzweiflung über die Erinnerung nehmen … (S. 46)

Vielleicht war es gerade dieses Pathos, das die Bühnenfassung des Buches zu einem der erfolgreichsten Theaterstücke des 19. Jahrhunderts machte, die wiederum als Inspiration für die Oper „La Traviata“ gilt.

Interessant ist es auch, sich Armands Vorstellung von Liebe ein bisschen genauer anzuschauen. Ist es wirklich Liebe, wenn Armand eine heiße Liebesnacht mit Marguerite verbringt, obwohl sie hohes Fieber hat?

Ach, was war das für eine seltsame Nacht! Ihr ganzes Leben schien in die Küsse zu strömen, mit denen sie mich bedeckte, und ich liebte sie so sehr, daß ich mir inmitten des fieberhaftes Rausches meiner Liebe die Frage stellte, ob ich sie nicht töten solle, damit sie nie wieder einem anderen gehören könnte. (S. 222)

Der Roman ist auch ein Plädoyer für Barmherzigkeit gegenüber denjenigen, die durch das Raster der Wohlanständigkeit fallen. Aus heutiger Sicht fällt allerdings auf, dass der Erzähler zwar Mitgefühl, Nachsicht und Vergebung für die Prostituierten fordert.

Es genügt nicht, beim Eintritt ins Leben zwei Pfähle aufzustellen, deren einer die Inschrift Weg des Guten und der andere die Warnung: Weg des Bösen trägt, und dann denen, die davorstehen, zu sagen: ‚Trefft eure Wahl!‘; vielmehr muß man wie Christus denen, die sich auf Abwege leiten ließen, die Pfade weisen, die vom zweiten zum ersten hinführen; und vor allem dürfen die ersten Schritte auf diesen Wegen weder allzu schmerzhaft sein noch allzu ungangbar erscheinen. […] Weshalb sollten wir strenger sein wollen als Christus? Weshalb sollten wir, indem wir uns halsstarrig an die Ansichten einer Welt klammern, die sich hart gibt, damit man sie für stark hält, jene blutenden Seelen zurückstoßen, deren Wunden das Übel ihrer Vergangenheit entströmt wie schlechtes Blut einem Kranken und die doch nur warten, daß eine Freundeshand sie pflege und ihrem Herzen Genesung bringe? (S. 25)

Doch die Liebhaber, die dieses System der Ausbeutung erst ermöglichen, scheinen sich dabei nicht mit Schuld zu beladen. Die Doppelmoral und die Regeln der damaligen Gesellschaft werden als gegeben akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, mit dem Tod der Heldin ist die kurzzeitig gefährdete Ordnung wieder gesichert.

… der junge Duval ist auf den Pfad seiner gesellschaftlichen Pflichten zurückgebracht, und es wird keine Mühe gescheut, den schwer Getroffenen in den Schoß der Familie zurückzuholen. Nachdem die Kurtisane dem jungen Herrn von Stand geopfert wurde, endet die Anklage an die Gesellschaft in einem Loblied auf Familie und Rechtschaffenheit. (Michaela Meßner in ihrem Nachwort zur dtv-Ausgabe, S. 258)

Anmerkungen

Beim Autor dieses Werkes handelt es sich übrigens nicht um den Schöpfer von Der Graf von Monte Christo oder des Romans Die drei Musketiere, sondern um dessen unehelichen Sohn, der deshalb auch Dumas der Jüngere genannt wird.

1844 lernt Dumas der Jüngere die ebenfalls zwanzigjährige Marie Duplessis kennen, eine berühmte Kurtisane, mit der er elf Monate liiert war und „deren tragische Lebensgeschichte ihm zu seinem literarischen Durchbruch verhalf“. (Meßner, S. 253)

Viele Handlungsdetails hat Dumas fast unverändert der Realität entnommen. Duplessis stirbt 1847. „Am 10. Februar kehrte er [Alexandre Dumas] nach Paris zurück, genau an dem Tag, an dem ihre Habe versteigert wurde. Dumas selbst erstand Maries goldene Halskette. Den Erlös der Versteigerung, die auch Charles Dickens miterlebte, hatte Marie Duplessis einer Nichte unter der Bedingung vermacht, daß das junge Mädchen nie nach Paris gehen dürfe.“ (Meßner, S. 256)

Irène Némirovsky: Die Familie Hardelot (1947)

Sie waren beisammen, sie waren glücklich. Die wachsame Familie schob sich zwischen sie und trennte sie mit unerbittlicher Sanftmut, aber der junge Mann und das junge Mädchen wußten, daß sie einander nahe waren; alles übrige verblaßte. Es war ein Herbstabend am Ufer des Ärmelkanals, zu Beginn dieses Jahrhunderts. Pierre und Agnes, die Eltern der beiden sowie Pierres Verlobte warteten auf das letzte Feuerwerk der Saison. Auf dem feinen Sand der Dünen bildeten die Bewohner von Wimereux-Plage dunkle, kaum von den Sternen erhellte Gruppen. Rings um sie wehte die feuchte Seeluft. Tiefer Frieden lag über ihnen, über dem Meer und über der Welt.

So beginnt der lesenswerte Roman der Schriftstellerin, die 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ums Leben kam:

Irène Némirovsky: Die Familie Hardelot (1947) – übersetzt von Eva Moldenhauer (2010)

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges scheint noch alles intakt in der Familie Hardelot. Im jährlichen Badeurlaub gelten scheinbar ewige und nicht hinterfragbare Regeln: Nur die Männer dürfen am Strand die Schuhe und Strümpfe ausziehen, die Damen stolpern durch den Sand.

Die Männer gestatteten sich einige Zwanglosigkeiten; sie streckten die Beine aus, stützten sich auf einen Ellbogen. […] Die Frauen blieben mit steifem Oberkörper auf der Erde sitzen wie auf den Stühlen eines Salons, wobei der Rock züchtig die Knöchel bedeckte. Wenn das vom Wind gezauste bleiche Gras ihre Waden streifte, preßten sie mit schamvollen Bewegungen ihre Beine zusammen. Ihre Kleider waren schwarz und lang; gestärkte, auf Fischbeinstäbe gezogene Wäschekragen umschlossen ihren Hals und zwangen sie, den Kopf ruckartig nach links und rechts zu drehen, so wie ein Huhn einen Wurm pickt. (S. 7)

Die Papierfabrik der Hardelots wird vom erfolgreichen, wenn auch tyrannischen Großvater geleitet. Er ist es auch, der die Verlobung zwischen Pierre, seinem Enkel, und Simone, einer wohlhabenden Waise, eingefädelt hat. Und diesem Mann widerspricht man nicht. Doch das Undenkbare passiert. Pierre und Agnes, seine große Liebe, die aber leider nur einer Bierbrauerfamilie entstammt, treffen sich heimlich. Agnes wäre nun für immer kompromittiert, doch Pierre besinnt sich und löst die Verlobung mit Simone und heiratet Agnes. Das junge Paar muss mittellos nach Paris gehen, denn der Großvater verweigert jeden Kontakt. In Simone hat das Paar nun eine erbitterte Feindin, die mehr als einmal versuchen wird, der Familie zu schaden, wo immer es geht.

Allerdings werden diese Sorgen um Standesdünkel, um Familienehre und das Wahren des Scheins bald von ganz anderen Problemen überschattet. Der erste Weltkrieg bricht aus und die einst reiche Familie Hardelot verliert ihre Häuser, ihre Fabrik. Doch Pierre, der eingezogen wird, überlebt und der starrsinnige Großvater lässt alles wieder aufbauen, sogar das Dorf. Man scheint noch einmal davongekommen zu sein. Pierre geht seinem Großvater nun sogar zur Hand, auch wenn Agnes dem Familienpatriarchen weiterhin nicht unter die Augen kommen darf. Agnes und Pierre bekommen zwei Kinder, und auch Simone, die inzwischen einen Nichtsnutz geheiratet hat und sich stark in der Firma engagiert, hat eine Tochter.

Wieder konzentrieren sich alle Freuden, alle Sorgen auf den engsten Familienkreis. Als der Großvater kurzerhand Pierres Urlaub streicht, ist Agnes unglücklich und wirft ihrem Mann Feigheit vor, doch am Ende des Tages heißt es:

Ohne Bedauern überließen sie diesen verflossenen Tag der Vergangenheit, dem Vergessen, diesen Tag, der zu den ruhigsten, köstlichsten, strahlendsten ihres Lebens gehörte. Aber das wußten sie nicht. (S. 113)

Und so bewegt sich die Handlung, von einigen Liebeskatastrophen abgesehen, rasch auf den Zweiten Weltkrieg zu. Kritiker haben in dieser Mischung aus intimen Familienszenen und Gesprächen und großen Zeitsprüngen von mehreren Jahren eine interessante Montagetechnik gesehen, die es ermöglicht, auf 250 Seiten ca. 30 Jahre Familiengeschichte unterzubringen. Allerdings – welche Familiengeschichte wäre nicht interessant, wenn man sie vorrangig anhand der großen geschichtlichen Ereignisse aufrollt?

Man wartete auf den Krieg, wie der Mensch auf den Tod wartet. Er weiß, daß er ihm nicht entrinnen wird; er fleht nur um Aufschub. ‚Einverstanden, du wirst kommen, aber warte noch ein bißchen, warte, bis ich dieses Haus gebaut, diesen Baum gepflanzt, meinen Sohn verheiratet habe, warte, bis ich keine Lust mehr habe zu leben.‘ Vom Krieg erbat man sich nichts anderes Noch ein paar Monate Ruhe, noch ein Jahr, noch eine sorglose Saison … Mehr erhoffte man nicht: morgen wie heute die Suppe auf dem Tisch, die ganze Familie vereint, die Zerstreuungen, die Geschäfte, die Liebe, noch eine Weile, noch einen kleinen Augenblick, dann … So wie auf den alten Gemälden der Tod neben dem pflügenden Bauern einhergeht, aus dem Glas des Reichen trinkt, auf dem Elendslager des Armen schläft, bei den Festgelagen mit den Musikern singt […] so spürten die Menschen von 1938 ständig neben sich den unsichtbaren, doch anwesenden Krieg. (S. 172)

Noch einmal werden die Deutschen alles plattwalzen und Not, Trauer, Tod, Chaos und Zerstörung hinterlassen.

ACHTUNG: Spoiler:

Zwar hat mich das Ende des Romans als Leserin gefreut, doch angesichts der geschichtlichen Situation und der Biografie Némirovskys erscheint es einem auch als naiv. Nur in den Häusern der anderen kommen nicht alle aus dem Krieg zurück. Aber am Hause der Hardelots geht der Tod vorbei. Das Undenkbare konnte nicht geschrieben werden, wie denn auch.

Davon abgesehen fasziniert an diesem Buch die kristallklare Sprache und der kluge und immer auch ein wenig spöttisch-liebevolle Blick der Schriftstellerin auf ihre Figuren. Ein bisschen habe ich mich jedoch daran gestört, dass die Autorin alles ausbuchstabiert. Nichts bleibt zwischen den Zeilen. So heißt es schon ganz am Anfang:

Während des Winters sahen sich die Hardelots und die Florents selten, obwohl sie Nachbarn waren. Die Leute von Saint-Elme besaßen ein wahres Talent, alles zu ignorieren, wovon sie nichts wissen wollten. Wie gut sie es verstanden, sich nach Belieben blind und taub zu stellen! Mit welchem Zartgefühl sie sich alles aus dem Weg räumten, was ihnen mißfiel! Familien konnten zwanzig Jahre lang Tür an Tür wohnen und nie einen einzigen Blick wechseln. (S. 9)

Das Buch schildert nicht nur eine wunderbare Liebesgeschichte, sondern erzählt auch von dem Untergang einer Lebensweise und aller Selbstverständlichkeiten, der hier nicht wie bei den Buddenbrooks durch innerfamiliäre Veränderungen ausgelöst wird,  sondern durch zwei Weltkriege. Dabei schien die große Politik immer weit weg zu sein, um dann doch wie eine undurchschaubare Naturkatastrophe über die Familie hereinzubrechen.

Wenn man dann bedenkt, dass das Buch um 1940/41 entstand, ahnt man, wie nah die Autorin dem Schrecken war. Sandra Kegel schrieb am 23. Dezember 2010 in der FAZ:

Zu diesem Zeitpunkt war sie [gemeint ist die Autorin] selbst bereits auf der Flucht vor den deutschen Besatzern, Frankreich hatte ihr bis zuletzt die französische Staatsbürgerschaft verweigert. Wie schon in früheren Werken bestechen auch in diesem Familienroman die ironisch-beißenden Beschreibungen der französischen Provinz und ihrer Bewohner, die so sehr von dem trügerischen Gefühl der Beständigkeit und der Sicherheit erfüllt sind, dass sie die Zeichen der Katastrophe übersehen.

Von Marion Skalski stammt der folgende Deutungsansatz im 3sat-Hörbuchtipp für Februar 2011:

Irène Némirovsky muss geahnt haben, dass eine Gesellschaft, deren wichtigste Maxime es ist, die Form zu wahren, auch mit den Nazis kollaborieren würde.

Ein kurzer Abriss zur Biografie Némirovskys und der Wiederentdeckung ihres Werkes ca. 60 Jahre nach ihrem Tod findet sich in meiner Besprechung ihrer Erzählung Der Ball.

Pierre Péju: Die Kleine Kartäuserin (OA 2002; deutsche Ausgabe 2005)

Fünf Uhr abends. Punkt fünf Uhr abends wird es sein im kalten Novemberregen, wenn der Lieferwagen des Buchhändlers Vollard (Etienne) im raschen Verkehr auf dem Boulevard mit voller Wucht ein kleines Mädchen treffen wird, das sich plötzlich vor seine Räder wirft.

Mit seinen feinen Gliedern, dem bleichen, zarten Fleisch unter dem roten Anorak und der roten Strumpfhose läuft das Mädchen einfach geradeaus. Tränennebel, Panik eines Kindes, das sich verlaufen hat, und im letzten Moment dieser entsetzte Blick unter dem brauen Pony.

Mit diesen Sätzen beginnt der Debütroman Die Kleine Kartäuserin des 1946 geborenen französischen Philosophie-Dozenten Pierre Péju, der von Elsbeth Ranke ins Deutsche übersetzt  wurde. Das Buch war überaus erfolgreich und wurde in über zehn Sprachen übersetzt und auch verfilmt.

Die ersten Zeilen nennen bereits den Fluchtpunkt der Geschichte, einen fürchterlichen Autounfall während der Rushhour in einer französischen Großstadt. Drei Lebenswege treffen hier aufeinander und die Menschen werden danach nicht mehr die sein, die sie vorher waren.

Alles ist jetzt möglich, auch das Schlimmste. Denn auch das Schlimmste streicht immer in der Meute des Möglichen umher. Die Hyäne des Schlimmsten tummelt sich ziellos in der Banalität. (S. 9 der Taschenbuchausgabe)

Da ist zum einen Etienne Vollard, der ältere, eigenbrötlerische Buchhändler, der dem panisch auf die Straße rennenden Kind nicht mehr rechtzeitig ausweichen kann. Nach dem Prozedere auf der Polizeiwache wird er entlassen, mehrere Zeugen haben bestätigt, dass er keine Chance hatte. Noch unter Schock irrt er die Nacht durch das nahe gelegene Gebirge der Chartreuse. Am nächsten Tag schneit es.

Vollard ist allein unter diesem Schnee. Alles in ihm ist gefroren, hart geworden. Verkrampfte Kiefer, geballte Fäuste. Er hat beschlossen, so schnell wie möglich zur Notaufnahme zu fahren. Bei jeder Haarnadelkurve erkennt er die Stadt ein bisschen deutlicher, die sich wie eine gräuliche Pfütze unter dem dicken Dunst ausbreitet. Das Krankenhaus taucht auf, eine Stadt in der Stadt, wo Leid, Verletzungen, Krankheiten, Todeskampf sich in weitläufigen Etagen häufen. Die Glastüren sind für Vollard das Tor zum Labyrinth. Da steht er, zunächst ganz aus der Fassung wegen des Arzneigeruchs, der knirschenden Wagen, auf denen frisch verletzte Körper vorübergleiten, wegen des Wirbels von Kitteln und Verbänden. (S. 27)

Zum anderen treffen wir das Unfallopfer, die kleine Eva. Ihr Zustand ist kritisch, sie hat schwere Hirnverletzungen erlitten und muss noch einmal operiert werden. Im Krankenzimmer trifft Vollard schließlich auf Thérèse, die junge Mutter der Kleinen.

Ein leicht surrealer Dialog entspinnt sich, denn die Mutter ist die Gelassenheit selbst, kein Schock, keine Besorgnis, keine Vorwürfe; nein, sie freut sich, dass ihr da jemand zuhört. Normalerweise holt sie ihre Tochter nachmittags von der Schule ab, denn sie leben noch nicht lange in der Stadt und zu weit entfernt von der Schule, als dass Eva allein den Weg zur Wohnung hätte finden können. Dabei war Thérèse schon öfter zu spät gekommen, denn eigentlich macht sie nichts anderes als vor sich und ihrem Leben wegzulaufen. Sobald sie ihre Tochter morgens zur Schule gebracht hatte, fährt sie irgendwohin, mit dem Auto, mit dem Zug. Hauptsache fort:

Wenn der Motor ein Traum ist und die Landschaft ein blaßlila Löschpapier, wenn sie endlich spürt, wie sie durchsichtig wird. (S. 32)

Sie muss sich jeden Tag dazu zwingen, zurückzukommen. Diesmal hat sich Thérèse aber fast zwei Stunden verspätet und Eva ist nicht, wie die anderen Kinder, die noch nicht nach Hause können,  in den Schulhort gegangen, sondern hat sich im strömenden Regen selbst auf den Nachhauseweg begeben, sich prompt verlaufen und ist in Panik geraten und vor den Lieferwagen des Buchhändlers gerannt.

Dann wechselt die Geschichte in die Kindheit Vollards und dort werden die Menschen plötzlich dreidimensional und laufen nicht mehr als Ideen oder Verkörperungen philosophischer Fragen durch die Welt. Vollard wird, als er neu in die Klasse kommt, rasch als ideales Mobbingopfer identifiziert. Er ist groß und dicklich und wehrt sich viel zu spät gegen die Grausamkeiten und Ekligkeiten seiner Mitschüler. Was diese vor allem so empört: Seine schier unbegrenzte Fähigkeit, Dinge auswendig zu lernen, und sein Verlangen, sich in jeder freien Minute mit einem Buch zurückzuziehen.

Kein Wunder, dass wir ihn nun, Jahrzehnte später, als Besitzer des wunderbar altmodisch vollgestopften Buchladens „Wort und Sein“ antreffen. Er versucht, sich der Situation, der „Absurdität“ zu stellen, und beginnt Eva regelmäßig zu besuchen und dem im Koma liegenden Mädchen Geschichten zu erzählen.

Fazit

Sprachlich changiert das Werk zwischen faszinierenden Metaphern und ermüdendem Wortgeklingel, das sich in unzähligen Abstrakta verliert. Schön zum Beispiel, wie Péju die erste Nacht nach dem Unfall beschreibt, in der Vollard, der an Schlaflosigkeit leidert, zum ersten Mal seit Jahren wieder durchschlafen kann:

Der ewig Schlaflose fiel in einen großen Bottich Nachtsaft, reiner Nachtsaft, schön schwarz und dickflüssig, der in seinem Schädel die Löcher flickte, aus dem diese leuchtenden Sätze krochen, um sich in seinem Hirn aufzuspulen, das sich dem Schlaf widersetzte. (S. 105)

Letztendlich kreist das Buch um das Problem unseres Schuldigwerdens und um die Tatsache, dass unser Leben buchstäblich von einer Sekunde auf die andere aus den Angeln gehoben werden kann.

Sein Irrweg durch das Gebirge, der Schmerz und das Wandern im Schatten dieser Berge, die er so gut kennt, hilft ihm, sich einzugestehen, daß er fortan damit wird leben müssen: mit dieser nicht wiedergutzumachenden Absurdität, ein Kind überfahren und vielleicht getötet zu haben. (S. 23)

Und er spürt genau, daß seine Muskeln, sein Fleisch, seine Knochen, seine Nerven, sein Gehirn niemals aufhören werden gegen diesen Kinderkörper zu prallen, an einem verschneiten Nachmittag, der so weit ist wie die Zeit, die ihm noch zu leben bleibt. (S. 29)

Der Autor stellt die Fragen, Antworten und Trost gibt es nicht. Der Interpretation mancher Kritiker, dass das Buch „eine Hommage an die Literatur und an den Buchhändler“ sei (Le Figaro), kann ich nicht zustimmen. Im Gegenteil, die Geschichte zeigt überdeutlich, dass die Bücher Vollard – als es hart auf hart kommt – ihm eben nicht helfen können, weder die von ihm gelesenen noch die, die in seinem Geschäft auf den richtigen Leser gewartet haben. Und so ist es nur folgerichtig, wenn es heißt:

Vollard hatte die Literatur nie als Entspannung angesehen und die Lektüre nie als Trost. Im Gegenteil. Wenn man wie wahnsinnig las, so wie er immer schon gelesen  hatte, bedeutete das eher, daß man die Wunde eines anderen aufdeckte. Die Wunde eines einsamen Mannes, das Unbehagen einer einsamen Frau. Lesen bedeutete, in diese Wunde herabzusteigen, sie zu durchlaufen. Hinter den Sätzen, noch hinter den schönsten, den meisterlichsten, waren immer Schreie zu hören. (S. 124)

norge0304 013

Irène Némirovsky: Der Ball (OA 1930)

Als Madame Kampf das Studierzimmer betrat, zog sie die Tür derart schroff hinter sich zu, daß der Kristallüster im Luftzug klingelte wie reines, leises Glöckchengeläut. Doch Antoinette, die so tief über das Pult gebeugt saß, daß ihr Haar die Buchseite streifte, hatte nicht aufgehört zu lesen. Ihre Mutter sah sie einen Augenblick wortlos an; dann baute sie sich vor ihr auf, die Arme vor der Brust verschränkt.

So beginnt die Erzählung der jüdischen Autorin, die 1942 im KZ Auschwitz ums Leben kam:

Irène Némirovsky: Der Ball (1930) – neu übersetzt von Claudia Kalscheuer (2005)

In der kaum 90 Seiten langen Erzählung werden die Vorbereitungen zu einem Ball geschildert, den das durch eine Börsenspekulation zu plötzlichem Reichtum gekommene Ehepaar Kampf geben will. Der Ball, bei dem über 170 Gäste erwartet werden, soll ihre neue gesellschaftliche Stellung demonstrieren und ihnen Eintritt in bessere Kreise verschaffen. Eine arme Verwandte wird nur deshalb eingeladen, damit diese dann später der ganzen Verwandtschaft von dem glänzenden Ereignis erzählen kann. Denn die familiären Beziehungen sind trübe, hatte sich die Familie doch vor vielen Jahren gegen die Ehe Madame Kampfs mit einem Juden ausgesprochen.

Die boshafte und herrische Madame Kampf fürchtet bei dem Ball die Konkurrenz ihrer vierzehnjährigen Tochter Antoinette, deshalb soll diese auch nicht am Ball teilnehmen, sondern den Abend in der Rumpelkammer verbringen, da man in ihrem Zimmer die Bar einrichten will. Dabei wünscht sich Antoinette, die noch voller Jungmädchenträume ist, nichts so sehr wie wenigstens eine Viertelstunde an dem Ereignis teilnehmen zu dürfen.

Ein Ball … Lieber Gott, lieber Gott, wäre es denn möglich, daß nur ein paar Schritte von ihr entfernt dieses herrliche Ereignis stattfände, das sie sich undeutlich als ein Gewirr von wilder Musik, berauschenden Parfums, prachtvollen Gewändern vorstellte, mit geflüsterten Liebesworten in einem abgelegenen Separee, dunkel und kühl wie ein Alkoven – und daß sie an diesem Abend wie an jedem anderen um neun Uhr im Bett läge, wie ein Baby? (S. 29)

Doch die Beziehung zwischen Tochter und Mutter ist schon seit Jahren zerrüttet, spätestens seitdem die Mutter die Elfjährige auf der Straße geohrfeigt und öffentlich gedemütigt hat. Kein Wunder also, dass das Mädchen ihrer Mutter nichts als Angst und Hass entgegenbringt.

Antoinette findet – zufällig – einen Weg, sich zu rächen und das Kartenhaus ihrer Eltern zum Einsturz zu bringen.

Eine Art Schwindel erfaßte sie, ein wilder Drang, allem zu trotzen und Böses zu tun. (S. 51)

Fazit

Zum Glück ist das Werk so kurz, denn länger hätte ich es wohl kaum mit solch unsympathischen Figuren ausgehalten.

Aber gerade in der Verknappung liegt auch der Reiz der Geschichte, die schon eine Charakterstudie ersten Ranges darstellt. Weder die Eltern noch Antoinette werden in Schwarz-Weiß gezeigt, alle – auch Antoinette – sind geprägt von ihrem Umfeld und fast bekommt man ein bisschen Mitleid mit der Mutter, die einem Ziel hinterherläuft, das sie niemals wird erreichen können. Sie kommt gar nicht auf die Idee, ihre Götzen Reichtum und gesellschaftliche Anerkennung zu hinterfragen. Sie möchte unbedingt etwas darstellen, doch dabei kommt bestenfalls eine Karikatur heraus, beispielsweise wenn sie sich dabei ertappt, so grob und „unfein“ wie früher zu reden. Im Grunde ist sie von Minderwertigkeitsgefühlen zerfressen und sucht die Nähe der Reichen, um selbst jemand zu sein.

Die Irrungen und Wirrungen der heranwachsenden Antoinette werden ebenfalls feinfühlig dargelegt und so ist „Der Ball“ auch eine Geschichte über das Überschreiten der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenen. Dabei ist sie keineswegs nur das Opfer ihrer charakterlosen Mutter, sondern auch – wie sie mit Schrecken feststellen muss – ihr Spiegelbild.

Zur Autorin

Némirovsky, die Tochter eines jüdischen Bankiers, wurde in der Ukraine geboren.

Da ihre Eltern sich nicht sonderlich für sie interessierten, wuchs sie unter der Obhut einer französischen Gouvernante auf, so dass Französisch ihr zur zweiten Muttersprache wurde. Im Verlauf der Russischen Revolution floh die Familie und kam über Finnland und Schweden 1919 nach Paris. In den 1920er Jahren gelangte ihre Familie wieder zu Reichtum und Irène konnte ein behütetes und luxuriöses Leben führen. (Wikipedia)

Sie wurde zu einer gefeierten Schriftstellerin, die sich – trotz ihrer jüdischen Herkunft – immer wieder den Vorwurf einhandelte, selbst antisemitisch zu sein und den Vorurteilen der Nazis noch Munition zu verschaffen, da sie in ihren Werken oft ein unsympathisch geldgieriges jüdisches Milieu schilderte und bis zum bitteren Schluss auch bereit war, für antisemitische Zeitungen zu schreiben (siehe den Artikel von Ruth Franklin, Januar 2008 in The New Republic). 1926 heiratete sie den jüdischen Physikingenieur und späteren Bankier Michel Epstein, auch er wurde deportiert. Die zwei Töchter des Ehepaares, Élisabeth und Denise, überlebten den Holocaust.

Erst als ihre älteste Tochter Denise in den späten neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts plante, einen Koffer mit Notizen ihrer Mutter einem Archiv zu übergeben, nahm sie den Inhalt des Koffers genauer in Augenschein. Dabei wurde 1998 das Romanfragment Suite Francaise entdeckt und nach seiner Veröffentlichung im Jahre 2004 eine literarische Sensation. Némirovsky war die erste, der posthum der französische Literaturpreis Prix Renaudot verliehen wurde.

Daraufhin setzte eine weltweite Neuentdeckung der Schriftstellerin ein. Im Jewish Quarterly erschien im Herbst 2008 ein lesenswerter Artikel von Tadzio Koelb, der sich kritisch mit der begeisterten Rezeption von Suite Francaise in der britischen Presse auseinandersetzt und den Literaturkritikern vorwirft, sich zu wenig mit dem Roman selbst zu beschäftigen und ihn vorschnell als Meisterwerk zu verklären, und zwar hauptsächlich aufgrund des fantastisch vermarktbaren Schicksals der Autorin.

1992 erschien Élisabeth Gilles Biografie ihrer Mutter, die sie nie richtig hatte kennenlernen dürfen: Le Mirador: mémoires rêvés (auf Deutsch: Erträumte Erinnerungen) und 2007 veröffentlichten Olivier Philipponnat und Patrick Lienhardt ihre hochgelobte Biografie zu Némirovsky. Sie weisen die Etikettierung der Schriftstellerin als „antisemitisch“ eindeutig zurück:

Némirovsky rejected the accusations. When a reporter from a Zionist newspaper showed up at her home, she said: “I’m accused of anti-Semitism? Come now, that’s absurd! For I’m Jewish myself and say so to anyone prepared to listen!” But Jewish enemies were making use of her characters, the reporter persisted. “Nevertheless, that’s the way I saw them,” she replied. To Mr. Philipponnat and Mr. Lienhardt critics then and now have given the book a myopic reading. Calling it a depiction of a social milieu, they ask, “Had ‘David Golder’ been written in 2009 by Bernard Madoff’s daughter, who would dream of accusing her of anti-Semitic views? (Patricia Cohen, am 25. April 2010 in der New York Times)

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