Irgendwann vor Jahren erstanden, dann im Regal vergessen und mich vom zunächst unattraktiv erscheinenden Titel des Werks abhalten lassen, es endlich mal zu lesen. Was für ein Fehler. Völlig unverständlich, dass der bereits 1953 erschienene Roman Der Viehwaggon von Georges Hyvernaud, der deutlich autobiografische Züge trägt, erst 2007 in deutscher Übersetzung von Julia Schoch erschien. Und am Ende ergibt auch der Titel einen durchaus mehrdeutigen Sinn. Aber zurück zum Inhalt.
Anfang der fünfziger Jahre in Paris: Der Ich-Erzähler, ein kleiner Angestellter in einer Mineralwasserfirma, ist – spätestens seit den Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft – nicht mehr in der Lage, so bewusstlos wie die anderen im Strom der Menschen mitzuschwimmen.
Auch wenn man seine Wände und Worte von früher wiederfinden kann – man weiß, wie sehr Wände und Worte lügen. Man traut ihnen nicht, sie sind trügerisch. (S. 48)
Er wird zum Protokollanten, zum Zuhörenden, dem alle Gewissheiten, aller Ehrgeiz und alle Wünsche abhanden gekommen sind. Er misstraut dem Pathos und den hochtrabenden Sätzen. Er verabscheut das „widerliche Glück“ der anderen, die sich nach dem Krieg wieder prima eingerichtet haben. Sogar die Farbe ist für ihn aus der Welt verschwunden. Er könne die Welt nur noch
in diesen abgeblätterten Brauntönen […] sehen, diesen pusteligen Grautönen, diesem verwässerten Schwarz der Bretter des Viehwaggons. Aber nichts gegen zu machen. Ist so eine Art Behinderung, die ich da hab, eine Krankheit des Blicks. (S. 119)
Der Erzähler wird zum Beobachter seiner Mitmenschen, wie ein Spaziergänger am Abend, der von außen in die erleuchteten Fenster schaut. Es widert ihn an, wie die anderen die Angst und die Schuld der Kriegsjahre, die Frage nach dem, was Menschen einander antun können, erfolgreich verdrängen und die satt und selbstgefällig in den Spiegel sehen und nun darüber entscheiden, wer zu den Guten, den Helden mit reinem Gewissen, wer zu den Bösen und wer einfach zu den Pechvögeln gehörte.
Der Erzähler gaukelt seinen Bekannten vor, er schreibe einen Roman, nur um abends hin und wieder seine Ruhe zu haben. Stattdessen notiert er seine Gedanken und Gespräche, die er tagsüber geführt hat. Nahe Beziehungen, Familie oder Liebe spielen dabei keine Rolle. Und genau diese Aufzeichnungen ergeben am Ende das Werk, das wir lesen.
Wände, und zwischen den Wänden Leute, mit ihren Streitereien, ihrer Erschöpfung, dieser Bitterkeit und dem Überdruß jedesmal, wenn der Tag zu Ende geht. (S. 8)
Er geht schlafen. Sie alle gehen schlafen, die Leute. Auch die Gebisse in den Wassergläsern gehen schlafen, die Brillen in den kleinen schwarzen Etuis, die Uhren auf den Nachttischchen. Das ist der Augenblick, in dem die Menschheit sich auflöst, sich zersetzt, auseinanderfällt und den Schein von Zusammenhang, in den sie sich sechzehn Stunden am Tag fügt, nicht länger aufrechterhält. (S. 9)
Ziemlich unterhaltsam, diese Vorstellung. Meine Landsleute in ihren Betten inmitten der Einzelteile ihres Anstands und ihrer Wichtigkeit. Nur die Stuhllehnen tragen noch Sakkos. Und nur die Sakkos tragen noch Orden… (S. 10)
Gleichzeitig macht sich der Erzähler so seine Gedanken über die Errichtung von Denkmälern und über literarische Wertmaßstäbe, denn über so durchschnittliche und im Grunde ärmliche Gestalten, wie ihn und seine Bekannten schreibe man keine Romane.
Man muß sie bloß mal an eine Bahnsteigsperre der Metro setzen, die Herzoginnen bei Marcel Proust oder Balzac, muß sie nur mal acht Stunden am Tag Pappbilletts lochen lassen, tagelang, von Montag bis Samstag, dann wird man schon sehen, was von ihren vornehmen Dramen noch übrigbleibt. Dann braucht man bloß noch Erschöpfung und Krampfadern beschreiben, Gasrechnungen und Amtsgänge. Nicht sehr romanhaft, das Ganze. Das Leben ist nicht romanhaft, wenn man gezwungen ist, seine Brötchen zu verdienen. (S. 98)
Unsereins hat keine Dramen. Wir haben nur Ärger, Scherereien. Und noch dazu kaum Zeit, darüber nachzudenken. Denn unsere Zeit schwindet in absurder Schufterei und schäbigen Berechnungen dahin. (S. 99)
Man müsste dazu diesen „massenhaften Zufallsexistenzen“ schon große Krisen oder Komplexe, einfach eine gewisse Bedeutungsschwere auf den Leib schreiben. Doch das könne er nicht; er sehe die Menschen halt so, wie sie sind. Dieser Blick macht natürlich auch einsam. Über die Frau seines Bekannten schreibt er:
Sogar eine Madame Bourladou … Nichts ist leerer. Vierzig Jahre gutes Benehmen und schmelzendes Lächeln. Vierzig Jahre Häkelspitze, eheliche Treue und Kochrezepte. Besonderes Kennzeichen: eine Leidenschaft für Pflegemittel. Im weitesten Sinne des Wortes – alles, womit sich Kupfer, Beziehungen, die menschliche Haut, die bürgerliche Intelligenz und Louis-XVI-Möbel pflegen lassen. (S. 28)
Die Erinnerungen an den Krieg, der seine Sicht auf den Menschen verändert habe, sind der Dreh- und Angelpunkt seiner Wahrnehmung. Das Bild des Viehwaggons wird ihm so zum Symbol der absurden menschlichen Existenz.
Da ist ein Güterzug, der sich durch eine gewaltige geräuschlose Katastrophe schleppt. Anstelle von Gütern hat man Menschen hineingepfercht. Die Waggons sind verschlossen, verriegelt, zugesperrt. Was könnte einem besser das Gefühl von Verhängnis vermitteln. (S. 114)
Wir waren Millionen von Menschen, die aus irgendeinem Grund in Güterzügen herumgefahren wurden. (S. 115)
Nichts als Erinnerungen an Angst, Erniedrigung und Ausgeliefertsein. Eine Erfahrung, die harsche Gewissheiten hinterläßt. Man sieht den Menschen am Ende nur noch als unterworfenes, niedergewalztes, vernichtetes Wesen. Und man versucht nicht einmal mehr zu begreifen. Man verkriecht sich in seiner Ecke. (S. 41)
Der Massenmensch ist gesichtslos und austauschbar geworden.
Hier spricht einer dringlich und verdichtet davon, was er nun als die wahre Lage des Menschen zu erkennen glaubt, nachdem sich alle vermeintlichen Sicherheiten als Schein entpuppt haben. Hier weigert sich einer zu vergessen und zum Alltag überzugehen.
Schein auch das Buch unter der Lampe und die Freunde um den Tisch, Schein die Stabilitäten und Sicherheiten. Der Hunger aber, Zwang, Fieber und Flucht sind wahr und dauerhaft. (S. 178)
Kurzum: Ein kompromissloses, ein satirisches, ein aufregendes Buch.
Zum Autor
Hyvernaud (1902 – 1983), Lehrer, wurde 1939 eingezogen und geriet bereits 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Fünf Jahre verbrachte er in einem Kriegsgefangenenlager in Pommern und erst im April 1945 wird er aus einem Lager bei Soest befreit.
Aus dieser Erfahrung resultiert ein schmales Werk, zwei Romane und etwas Kurzprosa. Hyvernaud wird veröffentlicht – Sartre setzt sich für ihn ein -, doch die Kritik reagiert auf Der Viehwaggon ausgesprochen ablehnend, vermutlich rührte der Autor an Tabus. Jedenfalls geraten Autor und Werk rasch in Vergessenheit.
Die Konsequenz, die er zieht, rigoros wie sein Schreibstil: Er wählt das Schweigen. Fortan ist er nur noch Verfasser von Unterrichtsmaterialien für das französische Schulsystem. (Julia Schoch in ihrem Nachwort der Suhrkamp-Ausgabe, S. 197)