Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer: Brautbriefe Zelle 92 (1992)

Wen dieser Briefwechsel kaltlässt, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.

Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945), der bekannte Theologe, aktiv im Widerstand gegen Hitler, begegnet im Juni 1942 seiner großen Liebe, der 18 Jahre jüngeren Maria von Wedemeyer. Im November 1942 bittet Marias Mutter wegen des Altersunterschiedes um das Einhalten einer einjährigen Kontaktsperre, was sie allerdings im April 1943 zurücknimmt, als Bonhoeffer von den Nazis verhaftet wird und für fast zwei Jahre in Berlin Tegel, Zelle 92, inhaftiert ist. Den ersten Kuss geben sich die Brautleute im Gefängnis.

Also schreiben sich diese zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten und beide sind wunderbar ehrliche Briefeschreiber. Besonders die Briefe der jungen Frau sind von großer Anschaulichkeit und zeigen – vor allem in der Anfangsphase – Lebenslust, Energie und übersprudelnde Verliebtheit.

Wenn ich morgens um 6 aufwache, ist mein erster Griff in die Nachttischschublade nach Deinem Bild. Dann stelle ich es auf die Bettdecke und sage: „Guten Morgen, Dietrich, hast Du gut geschlafen? Machst Du ein fröhliches Gesicht? Denkst Du an mich? Hast Du mich noch lieb? Freust Du Dich auf später?“ und noch viel mehr. (2. September 1943, S. 49)

Hurra, Hurra, Hurra, Hoch, Vivat und Halleluja! Ich hab einen Brief von meinem Dietrich bekommen und bin sehr glücklich darüber. Mein liebster Dietrich, was kannst Du für schöne Briefe schreiben! Ich bin verliebt in jeden einzelnen Satz, in jedes Wort, in jeden Kringel Deiner Schrift. Ich lese immer und immer wieder. Es unterhält sich so schön mit Dir, wenn man einen Brief dazu in Händen hat. (21. September 1943, S. 58)

Wir lesen aber auch von Marias Sorge, dem älteren und gebildeten Mann vielleicht doch nicht genügen zu können. Sie spricht von ihrem Alltag, ihrer Arbeit, der Trauer über den Tod des Vaters und des Lieblingsbruders im Krieg.

Da werden Hochzeitspläne geschmiedet und sie denkt darüber nach, woher man die zum Hausstand notwendigen Möbel bekommt und wie man sich wohl jeweils in der Schwiegerfamilie wird eingewöhnen können. Dietrich und Maria empfehlen einander ihre Lieblingsbücher (wobei Bonhoeffer nicht immer glücklich ist mit den Vorlieben seiner jungen Braut). Man erfährt, wie sich die beiden nach den „Sprecherlaubnissen“ fühlen, wo sie für kurze Zeit unter Aufsicht miteinander reden dürfen.

Eigentlich ist es ganz unverständlich, wenn ich so neben Dir sitze, daß es nun nicht einfach so weitergehen kann, daß ich nicht Deine Hand fassen darf und mit Dir zusammen hinausgehen kann durch die 2 großen Türen auf die Straße und dann immer weiter nur noch mit Dir zusammen. (Maria am 5. Januar 1944, S. 111)

Dietrichs Briefe klingen gesetzter, durchdachter und reifer und sind durch seine theologische Arbeit und seinen Glauben geprägt. So schreibt er am 21. November 1943:

Weißt Du, so eine Gefängniszelle, in der man wacht, hofft, dies und jenes – letztlich Nebensächliche – tut, und in der man ganz darauf angewiesen ist, daß die Tür der Befreiung von außen aufgetan wird, ist gar kein so schlechtes Bild für den Advent. (S. 83)

Doch zeigen gerade die wenigen an der Zensur vorbeigeleiteten Briefe, wie viel Herz und Leidenschaft sich eben den grauenhaften Bedingungen anpassen musste und sich nicht frei artikulieren durfte. So beginnt einer der wenigen unzensierten Briefe Dietrichs:

Meine liebe, liebe Maria! Es geht nun nicht mehr länger, ich muß endlich einmal an Dich schreiben und zu Dir sprechen, ohne daß ein Dritter daran teilnimmt. Ich muß Dich in mein Herz sehen lassen, ohne daß ein anderer, den es nichts angeht, mit hineinguckt. Ich muß zu Dir von dem reden, was uns beiden ganz allein auf der Welt gehört und was entheiligt wird, wenn es fremden Ohren preisgegeben wird. Was Dir allein gehört, daran lasse ich keine Dritten teilnehmen; ich empfände es als unerlaubt, als unrein, als hemmungslos, und als würdelos Dir gegenüber. Was in verschwiegenen Gedanken und Träumen mich zu Dir zieht und an Dich bindet, liebste Maria, das kann erst in der Stunde offenbar werden, in der ich Dich in meine Arme schließen darf. (11. März 1944, S. 150)

Außerdem ist er anfangs unsicher, ob er der jungen Maria mit einem von den Nazis inhaftierten Bräutigam nicht doch zu viel aufbürdet.

Die beiden wissen um ihre Unterschiede und tun das Menschenmögliche, sich durch ihre Briefe kennenzulernen, obwohl die meisten der Briefe ja die Zensur passieren mussten und nur wenige Briefe durch wohlwollendes Wachpersonal an den Augen der Nazi-Schergen vorbeigeschmuggelt werden konnten.

Wir bekommen Einblick in die familäre Prägung, vor allem von Maria. Sie schildert, wie bei ihr zuhause noch eine Jagdgesellschaft stattfindet, bei der die Gäste in Frack und Abendkleid erscheinen. Und wir hören von den Höhen und Tiefen dieses ungewöhnlichen Brautstandes, der beiden tiefes Glück, Traurigkeit, aber auch Dankbarkeit und Sehnsucht bedeutet. Immer wieder müssen sie darum ringen, das Unverständliche, das Sinnlose im Gottvertrauen wieder sinnvoll werden zu lassen, eine Aufgabe, an der besonders Maria spürbar reift.

Morgens, wenn ich um 1/2 sechs aufstehe, dann bemühe ich mich immer recht zart und behutsam an Dich zu denken, damit Du noch ein bißchen weiterschlafen kannst. Ich hab einen Kreidestrich um mein Bett gezogen etwa in der Größe Deiner Zelle. Ein Tisch und ein Stuhl steht da, so wie ich es mir vorstelle. (Maria, am 26. April 1944)

Im September 1944 entdeckt die Gestapo ein „Geheimarchiv der Verschwörer im Amt Canaris“, deren Kreis ja auch Bonhoeffer angehörte (S. 205), sodass die Hoffnungen, das Kriegsende noch zu erleben,  immer weiter schwinden. Am 9. Oktober wird Bonhoeffer ins Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts überführt. Dort entstehen dann im Dezember die berühmten Verse des später vertonten Gedichts „Von guten Mächten treu und still umgeben“.

Am 3. Februar 1945 erlebt Berlin den schwersten Luftangriff, so kommt „es am 7. Februar zum Transport, der Bonhoeffer mit 19 anderen prominenten Häftlingen in ein Kellergefängnis am Rande des KZ Buchenwald verbrachte. […] Am 3. April erfolgte die Weiterfahrt dieser Truppe gen Süden über Regensburg nach Schönberg im Bayrischen Wald, wo sie in einer Schule untergebracht wurden.“ (S. 212)

Am 8. April fand im KZ Flossenbürg das Standgericht statt „und am nächsten frühen Morgen die Hinrichtung am Galgen, zusammen mit Wilhelm Canaris, Ludwig Gehre, Hans Oster, Karl Sack und Theodor Strünck. Wohl zur gleichen Zeit erlitt Hans von Dohnanyi im KZ Sachsenhausen den Tod.“ (S. 213)

Maria von Wedemeyer hat vom Tod ihres Verlobten erst im Juni 1945 erfahren.

Ein gesondertes Fazit zu diesem Buch möchte ich gar nicht ziehen, zu sehr hat es mich bewegt und mitgenommen, wie hier zwei Menschen um ihre Liebe und ihre Zukunft ringen.

Ich konnte gut verstehen, dass Maria diesen Briefwechsel erst auf ihrem Sterbebett ihrer älteren Schwester überlassen hat. So persönlich, so zart, so intim sind diese Texte. Erst 1992 konnten die Briefe veröffentlicht werden, versehen mit einem umfangreichen und informativen Anhang, der u. a. die Lebenswege und die gesellschaftliche Stellung der Protagonisten noch einmal nachzeichnet.

Eine große und wunderbare Liebesgeschichte, ein Fremdkörper in einer Zeit der Freizügigkeit, der Selfies, Pornos und der scheinbar völligen Tabulosigkeit, die doch die Zeit überdauern wird und mich verstört und bewegt hat wie lange kein Buch mehr und die en passant auch den Irrsinn des Nationalsozialismus zeigt.

Am 8. Oktober 1945 schreibt Karl Bonhoeffer, der Vater Dietrichs, an seinen Kollegen Professor Joßmann in Boston:

… Daß wir viel Schlimmes erlebt und zwei Söhne (Dietrich, der Theologe, und Klaus, Chefsyndikus der Lufthansa) und zwei Schwiegersöhne (Prof. Schleicher und Dohnanyi) durch die Gestapo verloren haben, haben Sie, wie ich höre, erfahren. Sie können sich denken, daß das an uns alten Leuten nicht ohne Spuren vorübergegangen ist. […] Da wir alle aber über die Notwendigkeit zu handeln einig waren und meine Söhne auch sich im Klaren waren, was ihnen bevorstand im Falle des Mißlingens des Komplotts und mit dem Leben abgeschlossen hatten, sind wir wohl traurig, aber auch stolz über ihre geradlinige Haltung. (zitiert nach: E. Bethge, R. Bethge, C. Gremmels: Dietrich Bonhoeffer, Bilder aus seinem Leben, 1986, S. 234)

Anmerkungen

Aus der gleichen Zeit stammen die Briefe von Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, die von Thomas Hartnagel veröffentlicht wurden, siehe dazu den Beitrag auf Annes Lesetagebuch.

Wer auf der Suche nach weiteren Liebesbriefen ist, sollte auf Leselebenszeichen vorbeischauen. Ulrike bespricht Die Liebesbriefe von Dylan Thomas.

Andreas Montag: Lothar König (2012)

Lothar König? Natürlich hatte ich den Namen schon gehört. Er stand ja in allen Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten über ihn. Der Mann aus Jena war im Februar des Jahres 2011 als evangelischer Pfarrer bei einer Demonstration gegen Rechtsextremismus in Dresden mit der sächsischen Polizei  zusammengeraten. Oder die Staatsmacht mit ihm?

So beginnt die leider sehr dürftige Biografie von Andreas Montag zu einem spannenden Leben Lothar König: Eine rebellische Seele (2012). Vorsichtshalber schreibt Montag, der vom Kreuz Verlag angefragt worden war, ob er nicht Lust habe, über den evangelischen Pfarrer König zu schreiben, gleich in der Einleitung:

Die hier vorliegenden Anmerkungen zur Person wird man als eine Annäherung an Lothar König verstehen müssen, eine umfassende Biografie ist es nicht, schon gar keine letztgültige. (S. 10)

Ich habe mich über dieses Büchlein von 160 Seiten vor allem geärgert. Lothar König ist aus mancherlei Gründen ein interessanter Mensch, über den ich gern etwas erfahren hätte. Ein Glaubender, der sich einmischt, der nicht wegguckt, wenn die Rechten aufmarschieren, der nun wegen Landfriedensbruch angeklagt ist, einer, der immer wieder auf das Problem der „Mittelextremisten“ aufmerksam macht, die durch ihr Schweigen das Tun der Randalierer und Rechtsextremen gutheißen und in der Mitte der Gesellschaft salonfähig machen, einer, der schon so rein äußerlich weder in konservative noch evangelikale Schubladen passt und der die Junge Gemeinde in Jena leitet.

(Quelle: Wikipedia; Fotograf: Ingo Jürgensmann,  CC-BY-3.0)

Doch das ist eben das Dilemma des Buches. Man liest Heldenverehrung. Allgemeinplätze und nebulöse Andeutungen. Wenn Lothar König keine Lust hat, über sein Privatleben zu sprechen, dann ist für Herrn Montag das Thema sofort vom Tisch.

Montag bescheinigt ihm tiefe Spiritualität. Doch woran soll die der Leser festmachen? Belege und Beispiele: Fehlanzeige. Auch falls der Leser etwa wissen möchte, was nun genau auf dieser verhängnisvollen Demo passiert ist, Montag wird es ihm nicht verraten. Das muss man sich dann schon selbst im Internet zusammensuchen, hingewiesen sei hier beispielsweise auf die Reportage bei Frontal 21.

Spannend und konkret wurde es dort, wo nicht Herr Montag schreibt, sondern Originalquellen zitiert werden, z. B. der Brief des Jenaer Oberbürgermeisters an den Ministerpräsidenten von Sachsen und die Antwort des sächsischen Generalstaatsanwaltes, nachdem die Durchsuchung der Wohnung des Stadtjugendpfarrers König durch die Dresdener Staatsanwaltschaft im August 2011 große öffentliche Empörung ausgelöst hatte.

Ich wünschte, Montag hätte sich die Worte Königs zu Herzen genommen:

Du musst schärfer fragen, ermahnt er seinen Gesprächspartner gern. (S. 31)

Außer seiner Tochter wurde niemand sonst von Montag zu König befragt. Sinnvollerweise hätte man die Interviews aufzeichnen sollen oder König hätte das Buch selbst schreiben müssen, stattdessen muss der Leser nun seitenweise indirekte Rede und salbungsvolle Interpretationen des Autors lesen. Schade, denn es könnte stimmen:

Christen, Gläubige überhaupt, können sich in ihrem Gottvertrauen als äußerst harte Nüsse erweisen. Und sie müssen deshalb keine Fundamentalisten sein. Fundamentalismus ist antiaufklärerisch, borniert und engstirnig. Auf Lothar König trifft nichts von alledem zu, im Gegenteil. Denn er hat ein großes Herz und so viel Liebe darin, wie man es jedem Zeitgenossen wünschen sollte. (S. 9)

Selbst der Wikipedia-Artikel zu König ist aussagekräftiger als dieses Büchlein. Schade. Chance verschenkt.

Jeanette Winterson: Oranges are not the Only Fruit (1985)

Zugegeben, ich hatte noch nie etwas von Winterson gelesen, auch nicht ihr Erstlingswerk, für das sie 1985 mit dem Whitbread Award (dem heutigen Costa Book Award) ausgezeichnet wurde. Doch das Interview, das sie Jennifer Byrne am 31. Juli 2012 gegeben hat, machte mich neugierig.

Like most people I lived for a long time with my mother and father. My father liked to watch the wrestling, my mother liked to wrestle; it didn’t matter what. She was in the white corner and that was that.

So beginnt Jeanette Wintersons stark autobiografisch gefärbter Rückblick Oranges are not the Only Fruit  (1985) auf ihre Kindheit und Jugend. Auf Deutsch erschien das Werk unter dem Titel Orangen sind nicht die einzige Frucht.

Die kleine Jeanette, die nur zufällig irgendwann erfährt, dass sie adoptiert wurde, wächst bei einem strenggläubigen Freikirchler-Ehepaar in Lancashire, England, auf.

Von ihrer lieblosen Adoptivmutter dazu bestimmt, später Missionarin zu werden, lernt das Mädchen zunächst nur die Welt der Gemeinde kennen. Alles ist übersichtlich, klar in Gut und Böse (not holy) eingeteilt. Hier ist ihre Familie, hier findet sie Geborgenheit, Freude an der Musik und ihre Aufgaben. Sie kennt die Tiere aus der Bibel früher als die Tiere, die auf dem Bauernhof leben.

Dass andere Kinder ganz anders aufwachsen, muss sie mühsam in der Schule lernen. Sie wird rasch zur Außenseiterin, da sie auf alle kreativen Aufgaben Antworten gibt, die einen engen Bezug zur Bibel und zur Gemeinde aufweisen. Sie möchte die anderen Kinder vor der Hölle bewahren und andere Eltern beschweren sich über sie, weil sie ihren Kindern Angst mache. Gleichzeitig scheint es keine Lehrerin zu geben, die ihr bei dem Versuch, die Welt um sie herum zu verstehen, zur Seite steht.

Einmal kann sie über Wochen hin nichts hören. Ihre Mutter und die Gemeinde deuten das als ein Erfülltsein vom Heiligen Geist. Nur durch Zufall stellt sich dann heraus, dass ihre krankhaft vergrößerten Rachenmandeln, die für die Taubheit verantwortlich sind, operativ entfernt werden müssen.

Dennoch stellt Jeanette über viele Jahre das System, in dem sie aufwächst, nicht grundsätzlich in Frage, ist es doch die einzige Art Zuhause, die sie kennt, die sie für normal hält und in der sie anerkannt ist. Später unterstützt sie die evangelistischen Aktionen der Kirche und beginnt auch selbst erfolgreich zu predigen.

Doch immer wieder blitzt etwas auf, ein Lebenswille, eine Bodenständigkeit, Ehrlichkeit, Neugier und der Wille, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen, die schon früh andeuten, dass Jeanette auf Dauer keinen Platz in dieser engen und oft genug unbarmherzigen Welt finden wird. Als sie sich in ein anderes Mädchen verliebt und im Grunde gar nicht weiß, was da mit ihr geschieht, muss sie sich entscheiden, denn eine gleichgeschlechtliche Liebe kann nach Ansicht der Mutter und des Pfarrers nur direkt aus der Hölle kommen.

Um sich und ihre Geschichte zu verstehen, baut die Ich-Erzählerin immer wieder märchenhafte Szenen ein, die Schlüsselszenen ihres Lebens nachstellen und mit deren Hilfe sie ihre Ängste ausdrückt und weiß, welche Schritte sie als nächstes gehen muss.

Fazit

Das ist ein schmerzhaftes, witziges, trauriges Buch und gleichzeitig ein unpathetischer Lobgesang auf das Leben. Dabei ist unerheblich, wie das genaue Mischungsverhältnis zwischen Realität und Fikion aussieht. So kann man nur über die Dinge schreiben, die man zu einem großen Teil selbst erlebt und erlitten hat.

Was mich an diesem Buch so beeindruckt hat, ist zum einen die Kraft, die Unverstelltheit, mit der hier gesprochen wird. Zwischendurch war es, als ob die Erzählerin in meinem Wohnzimmer sitzt und ihre Geschichte erzählt. Zum anderen das große Herz der Ich-Erzählerin; es handelt sich hier um keine verbitterte Anklage, die oft genug ja nahe gelegen hätte, keine Verurteilung und kein Hass den Klassenkameradinnen, Lehrerinnen oder Gemeindemitgliedern gegenüber (unter denen es durchaus auch wirkliche Freunde gibt, die zu ihr stehen).

What could I do? My needlework teacher suffered from a problem of vision. She recognized things according to expectation and environment. If you were in a particular  place, you expected to see particular things. Sheep and hills, sea and fish; if there was an elephant in the supermarket, she’d either not see it at all, or call it Mrs Jones and talk about fishcakes. But most likely, she’d do what most people do when confronted with something they don’t understand: Panic. (p. 58)

Auch den so schrecklich „strenggläubigen“ Frauen – die Männer spielen in dem Buch so gut wie keine Rolle, man fragt sich öfter, wo verflixt noch mal der Vater steckt – möchte man am liebsten helfen, weil sie wirklich von Herzen davon überzeugt sind, das Richtige zu tun. Und weil sie so grauenhaft blind gegenüber ihren eigenen Ängsten und Sehnsüchten sind. Sie benutzen Religion als Krücke für ihr verkrüppeltes Ich-Bewusstsein, als Opium, als Scheinwelt und Gegenwelt, als Mantel für ihre Ängste, als Machtmittel, als Schild gegen unangenehme Fragen, als Entschuldigung für Härte und Lieblosigkeit. Aber sie können und können es nicht sehen. Eher spüre ich so etwas wie Erschöpfung bei der Erzählerin, letztlich doch den Fängen dieser Prägung entronnen zu sein.

Man ahnt: Wer nach dieser Kindheit nicht gebrochen und zerbrochen ist, wird Stärke gewonnen haben. Sie sagt selbst in dem Interview mit Jennifer Byrne, dass – so seltsam das auch klingt – wahrscheinlich ihre Stiefmutter der Grund ist, weshalb sie Schriftstellerin geworden sei. Sie sei, um nicht kaputtzugehen, gezwungen gewesen, der Dominanz und den Worten dieser Frau etwas Eigenens entgegenzusetzen.

Und die Leser haben keinen Grund, sich selbstgefällig zurückzulehnen, die Frage gilt: Woher wissen wir, dass wahr ist, was wir für unumstößlich wahr halten?

Also sicherlich nicht das letzte Buch, das ich von Jeanette Winterson gelesen habe.

Die beste Interpretation des Buches stammt von der Autorin selbst, veröffentlicht im Vorwort zu der Vintage-Ausgabe von 2001:

Oranges is a threatening novel. It exposes the sanctity of family life as something of a sham; it illustrates by example that what the church calls love is actually psychosis and it dares to suggest that what makes life difficult for homosexuals is not their perversity but other people’s. Worse, it does these things with such humour and lightness that those disposed not to agree find that they do. […] Oranges is a comforting novel. Its heroine is someone on the outside of life. She’s poor, she’s working class but she has to deal with the big questions that cut across class, culture and colour. Everyone, at some time in their life, must choose whether to stay with a ready-made world that may be safe but which is also limiting, or to push forward, often past the frontiers of commonsense, into a personal place, unknown and untried. In Oranges this quest is one of sexuality as well as individuality. Superficially, it seems specific: an evangelical household and a young girl whose world is overturned because she falls in love with another young girl. In fact, Oranges deals absolutely with emotions and confrontations that none of us can avoid. First love, grief, rage, and above all courage, these are the engines that drive the narrative through the peculiar confines of the story. Fiction needs its specifics, its anchors. It needs also to pass beyond them. It needs to be weighed down with characters we can touch and know, it needs also to fly right through them into a larger, universal space. Oranges is comforting not because it offers any easy answers but because it tackles difficult questions. Once you can talk about what troubles you, you are some way towards handling it.

Is Oranges an autobiographical novel? No not at all and yes of course.