Bei uns im Kibbuz gab es einen Junggesellen von ungefähr fünfundfünfzig Jahren, Zvi Provisor. Er war ein kleiner, zum Blinzeln neigender Mann, der es liebte, schlechte Nachrichten zu verkünden: Erdbeben, Flugzeugabstürze, Gebäude, die über ihren Bewohnern zusammenbrachen, Brände und Überschwemmungen.
Mit diesen Sätzen beginnt die erste der acht Erzählungen in Unter Freunden von Amos Oz. Die hebräische Originalausgabe erschien 2012 und wurde von Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzt.
Oz trat 1954 – zwei Jahre nach dem Selbstmord seiner Mutter – in einen Kibbuz ein, in dem er bis 1986 lebte. Und im Mikrokosmos eines Kibbuz spielen auch diese acht Geschichten.
Der König von Norwegen, die erste Erzählung, wurde bereits 2011 im New Yorker veröffentlicht. Doch jede der Geschichten könnte für sich allein stehen, verbunden sind sie allein durch den namenlosen Wir-Erzähler und durch die Figuren, die wiederholt einen Auftritt haben: der pessimistische Gärtner, der Lehrer, der sich von keinem reinreden lässt. Der Spötter, der das Geschehen kommentiert.
In der ersten Geschichte geht es um Zvi Provisor, den Junggesellen und Gärtner des Kibbuz, der von allen für seinen Sinn für Schönheit geschätzt wird, doch als zwischen ihm und der verwitweten Lehrerin Luna ein zarter Kontakt aufkeimt, erträgt er diese Annäherung nicht und bricht die Beziehung ab.
In den weiteren Erzählungen geht es ebenfalls um das Ausloten menschlicher Beziehungen. In Unter Freunden zieht eine Sechzehnjährige bei ihrem ehemaligen Lehrer ein. Ihr Vater ist entsetzt, doch machtlos. Er hatte den Lehrer immer für seinen Freund gehalten. Doch der ist sich keiner Schuld bewusst. Alle wissen, dass die Affäre nicht von Dauer sein wird.
In Zwei Frauen verlässt ein Mann seine Frau, um bei einer anderen einzuziehen. Ihr Mann erklärt ihr:
‚… und du weißt, Osnat, solche Dinge passieren heute tagtäglich auf der ganzen Welt, auch bei uns im Kibbuz. Zum Glück haben wir keine Kinder. Das wäre bestimmt viel schwerer für uns.‘ Sein Fahrrad würde er mitnehmen, doch das Radio lasse er ihr hier. Er wolle, dass die Trennung im Guten verlaufe, so wie ihr gemeinsames Leben die ganzen Jahre lang im Guten verlaufen sei. Wenn sie wütend auf ihn wäre, würde er sie ganz und gar verstehen, obwohl sie eigentlich wenig Grund habe, wütend zu sein. ‚Schließlich ist die Beziehung zu Ariela nicht entstanden, um dir wehzutun. Solche Dinge passieren eben, das ist alles.‘ Er bitte sie jedenfalls um Verzeihung. Seine persönlichen Sachen würde er noch heute holen, und er überlasse ihr nicht nur das Radio, sondern auch alles andere, einschließlich der Fotoalben und der bestickten Sofakissen und das Kaffeeservices, das sie zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Osnat sagte: ‚Ja. In Ordnung.‘ (S. 31)
Die Betrogene geht – entgegen aller Erwartungen – ruhig ihrem Tagewerk nach und erfreut sich nach ungestörter Nachtruhe am Gesang der Vögel. Wir erfahren nicht, was sie denkt oder fühlt, doch ihre – scheinbar siegreiche – Konkurrentin kann nicht mehr schlafen und schreibt ihr sogar einen langen Brief, den sie jedoch nicht beantwortet.
Eigentlich ist keine der geschilderten Beziehungen glücklich oder unbeschwert. Neben der Einsamkeit, der nicht stattfindenden oder nicht zielführenden Kommunikation zieht sich ein weiteres Leitmotiv durch die Texte: Die Begeisterung für die sozialistischen Ideale bröckelt, man ist sich nicht länger einig, wie der „richtige“ Weg aussieht.
In zehn oder zwanzig Jahren […] wird sich der Kibbuz in einen Ort von größerer Ruhe und Gelassenheit verwandelt haben. Jetzt sind alle Sprungfedern noch bis zum Äußersten gespannt, und der ganze Apparat zittert vor Anstrengung. Die Veteranen aus der Gründergeneration sind eigentlich fromme Menschen, die die Religion verlassen und sich eine neue Religion geschaffen haben, voller Sünden und Vergehen, Verboten und Geboten. Sie haben im Grunde nie aufgehört, orthodox zu sein, sie haben nur die eine Frömmigkeit gegen eine andere getauscht. […] Aber die Zeiten werden sich nach und nach ändern, und statt der Orthodoxen werden Menschen wie du kommen, Joav, die gelassener sind als die Veteranen der Gründergeneration, Menschen, die Geduld und Zweifel und Erbarmen haben. (S. 174)
Die Frauen sind – zumindest theoretisch – gleichberechtigt:
Trotzdem musste er insgeheim zugeben, dass die Lebensform des Kibbuz Frauen gegenüber grundsätzlich ungerecht war und sie fast ausnahmslos zu Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich wie Kochen, Putzen, Kinderbetreuung, Waschen, Nähen und Bügeln zwang. Die Frauen waren bei uns angeblich vollkommen gleichgestellt, aber diese Gleichstellung wurde ihnen nur unter der Bedingung gewährt, dass sie sich den Männern anglichen, dass sie sich wie Männer gaben: Sie durften sich nicht schminken und mussten auch sonst alles vermeiden, was als weiblich galt. (S. 129/130)
Auch bei der Kindererziehung gehen die Meinungen inzwischen auseinander: Die Traditionalisten wollen, dass die Kinder im Kinderhaus übernachten, doch die Stimmen werden lauter, die sagen, dass die Kinder bei ihren Eltern übernachten sollten.
Zu Herzen geht die Geschichte Ein kleiner Junge. Der fünfjährige Juval, klein für sein Alter, ein Bettnässer, kränklich und immer mit seiner Gummiente unterwegs, wird ständig von den anderen Kindern drangsaliert. Eines Nachts eskaliert die Situation im Kinderhaus. Die anderen Kinder demütigen ihn, schlagen ihn, nehmen ihm die Ente weg und reißen ihr den Kopf ab. Sein Vater will daraufhin durchsetzen, dass der Junge in Zukunft zu Hause schlafen darf. Doch die Mutter besteht darauf, dass Juval am nächsten Tag zurück ins Kinderhaus geht. Nur die Nachtwache soll demnächst pflichtbewusster ihren Aufgaben nachgehen.
Ein weiterer Bereich, in dem sich unterschiedliche Sichtweisen abzeichnen, ist die Berufswahl. Begabte Schüler wollen u. U. nicht mehr jahrelang warten, bis sie die Erlaubnis haben, den Kibbuz für ein Studium zu verlassen, zumal immer gewährleistet sein muss, dass das Studienfach eines ist, das dem ganzen Kibbuz zugute kommt.
Osnat, die betrogene Ehefrau aus Zwei Frauen, zieht so etwas wie ein Resumee des Kibbuzlebens:
Barfuß stand sie am offenen Fenster und sagte sich, dass vermutlich die meisten Menschen mehr Wärme und Zuneigung brauchten, als die anderen ihnen geben konnten, und dass kein Kibbuzausschuss je dieses Defizit zwischen Bedürfnis und Erfüllung decken konnte. Der Kibbuz, dachte sie, verändert die Gesellschaftsordnung ein wenig, aber die menschliche Natur ändert sich nicht, und die ist alles andere als einfach. Neid und Kleinlichkeit und Engstirnigkeit kann man nicht ein für alle Mal mit einer Abstimmung oder einem Beschluss aus der Welt schaffen. (S. 195)
Fazit
Ich hatte ein bisschen Mühe mit dieser mir fremd bleibenden Welt der oft wortkargen Menschen, die versuchen, ein Ideal zu verwirklichen, das sich im Laufe der Zeit als immer widersprüchlicher und brüchiger erweist. Und vor der Gefahr einer dogmatischen Verhärtung sind nicht alle gefeit.
Die Menschen in diesen Geschichten geben ihr Geheimnis nicht preis, obwohl jeder alles von den anderen weiß, was man in einer so engen Gemeinschaft eben wissen kann. Doch Oz lässt ihnen ihren ganz eigenen Raum, sie stehen wie Bäume allein in einer weiten Landschaft.
Felicitas von Lovenberg schreibt in der FAZ:
Ohne die Gründungsideale der Kibbuz-Bewegung zu denunzieren, macht Oz ein ums andere Mal deutlich, dass es im Kibbuz-Kollektiv keine Privatheit und darum auch keine Geborgenheit geben kann.
Gleichzeitig war ich fasziniert von dem Respekt, den Oz seinen Figuren entgegenbringt. Ohne Wertung und mit Verständnis für jeden der Menschen und für die Grenzen, die dem jeweiligen durch sich selbst gesetzt sind. Mit einem Blick für die kleinen Gesten, die alles sagen, ohne dass viele Worte gemacht werden. Osnat, die betrogene Ehefrau aus Zwei Frauen, weist sogar noch die Geliebte ihres Mannes darauf hin, welche Medikamente der Mann nehmen muss.
Überhaupt war sie die für mich interessanteste Figur, obwohl oder gerade weil sie ganz bei sich bleibt, einsam wie eigentlich fast alle in Unter Freunden:
Ein Wind bläst so leicht, als wollte er eine Tasse Tee kühlen. Osnat entfernt sich vom Fenster und setzt sich aufrecht auf das Sofa, die Hände auf den Knien, die Augen geschlossen. Bald kommt der Abend, sie wird Radio hören, Unterhaltungsmusik, und dabei ein Buch lesen. Dann wird sie sich ausziehen, die Sachen sorgfältig zusammenlegen, die Arbeitskleidung für morgen neben dem Bett bereitlegen, sich waschen und schlafen gehen. Sie schläft in diesen Nächten traumlos und wacht auf, bevor der Wecker klingelt. Die Tauben wecken sie. (S. 40/41)