Nein, hier wird keine „Hymne auf das einfache Leben“ gesungen, auch wenn der Klappentext das behauptet. Ändert allerdings nichts daran, dass der Roman des Tessiners Fabio Andina – von Karin Diemerling ins Deutsche übersetzt – unbedingt lesenswert ist und Ein ganzes Leben von Seethaler um Lichtjahre hinter sich lässt.
2019 war Andina (*1972) mit diesem Buch einer der Preisträger des Terra-Nova-Preises der Schweizerischen Schillerstiftung und Theres Roth-Hunkeler hat den Roman gar eine „Komposition der Stille genannt“. Doch um was geht es überhaupt?
Der Ich-Erzähler, ein jüngerer Mann, hat in Lenontica, einem Bergdorf im Tessiner Bleniotal, als Kind immer die Ferien verbracht und ist nun nach längerem Stadtaufenthalt ins Dorf zurückgekehrt, wo er im ehemaligen Ferienhaus seiner Eltern wohnt.
Er hat den 90-jährigen Felice gebeten, ihn einige Zeit bei seinen alltäglichen Verrichtungen begleiten zu dürfen. Und genau das tut er nun acht Tage lang. Er isst und schweigt mit ihm, geht mit ihm in die Dorfbar und Pizzeria, stromert mit ihm durchs Dorf oder fährt mit dem alten Mann in dessen Suzuki hinab ins Tal. Meist müssen sie das Auto aber erst anschieben, denn die Batterie ist defekt.
Der alte Felice, der früher als Maurer gearbeitet hat, wohnt immer noch in dem Haus, in dem er geboren wurde. Jeder Morgen beginnt damit, dass der jüngere Mann irgendwann zwischen fünf und halb sechs hinüber zu Felices Haus geht.
Ich betrete den Garten, und da taucht er auf. Eingerahmt vom offenen Fenster steht er da, ein Brustbild, das Hemd offen, zwei Gläser Joghurt in der Hand und weitere auf dem Fenstersims. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Es ist ein Augenblick, der sich mir wie ein Gemälde einprägt. (S. 45)
Sie frühstücken und anschließend steigen sie eine Stunde den Berg hoch, denn schon seit Jahrzehnten, seit seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem es ihn bis nach Moskau verschlagen hatte, nimmt Felice ein kurzes Bad in einer Gumpe. Ein Ritual sommers wie winters, auch bei minus 6 Grad. Da bleibt dem jungen Mann nichts anderes übrig als mitzutun.
Jeder und jede im Dorf kennt alle anderen; man weiß, wer mit wem verwandt ist und wo und wie das Schicksal schon zugeschlagen hat. Der unausstehliche Wilderer Brenno beispielsweise, der viel zu viel säuft, hat seine Seele verloren, als vor zehn Jahren seine zwei kleinen Töchter an einer Lungenentzündung gestorben sind.
Im Dorf kennt man sich, hilft einander, wenn es darauf ankommt, und geht sich auch mal kräftig auf die Nerven, akzeptiert aber auch, dass nicht jeder sein Leben nach gängigen Vorstellungen „optimieren“ kann oder will.
Hinten in der Gasse, bei der Kurve vor meinem Haus, taucht Floro auf. Fast ein Meter neunzig, Bart und Haare blond, lang und ungepflegt. Spindeldürr und ganz in Schwarz gekleidet, wie immer alles zwei oder drei Nummern zu klein. […] Gelegenheitsarbeiter, wenn es ihm passt, denn mir reicht das bisschen, was ich zum Essen und für meine Zigaretten brauche, erwidert er denen, die ihn einen Faulpelz nennen. […] Einzelkind und mit zehn Jahren Waise geworden. Seine Eltern sind bei einem Autounfall zwei Serpentinen unterhalb des Dorfes gestorben, im späten November von der vereisten Straße abgekommen. Er ist von den Großeltern und seinen Onkeln und Tanten aufgezogen worden. Junggeselle, vielseitiger Musiker, blind wie ein Maulwurf. Trägt aber keine Brille, weil er sowieso nicht gern Bücher liest, wie er sagt. (S. 35)
Ein anderes wiederkehrendes Element der Tage ist der Tauschhandel, der im Dorf betrieben wird. Man bringt der Nachbarin Pilze, tauscht ihre Gasflasche aus und bekommt dafür von ihr frische Eier. Jeder hat etwas, das einem anderen von Nutzen sein kann. Man schaut, dass man der alten Frau nebenan den Schnee schippt und Salz für sie streut, damit sie sich nicht noch einmal das Handgelenk bricht.
Das Ganze passiert oft still, manchmal bringt man etwas vorbei, isst sogar zusammen und hat hinterher kaum drei Worte miteinander gewechselt. Lauter und redseliger wird es nur in der Bar, wo auch reichlich dem Alkohol zugesprochen wird. Über die Wirtin Candida, 27, heißt es:
Eine attraktive, natürliche junge Frau mit kurz angebundener Art. Tolle Kurven und standfest wie ein Nussbaum. Anschauen aber nicht anfassen, denn sie kann mit einem Fausthieb mal eben ein Kalb niederstrecken. (S. 66)
Die Moderne mit Handys, Fitnessstudios und Einkaufsrummel liegt weiter unten im Tal oder meldet sich höchstens schon mal in Iron Maiden-Sweatshirts, die die Jugendlichen tragen, damit hat der alte Felice nichts zu schaffen. Er benötigt weder Telefon, Radio noch Fernsehgerät.
Er hat noch nicht einmal einen Briefkasten. Die Postbotin Alfonsa bringt ihm seine wenigen Briefe persönlich oder legt sie mit einem Stein beschwert auf die Bank oder bei Regen drinnen auf den Tisch, denn die Tür ist immer offen. (S. 40)
Doch auch hier ändern sich die Zeiten, hatten früher fast alle Familien Landwirtschaft, gibt es heute nur noch einen Milchbauern im Dorf. Die Gletscher schmelzen, Arbeit für die jungen Leute gibt es eher unten im Tal.
Mit der Kirche hat Felice nichts am Hut, hat Gott doch seine kindlichen Gebete nicht erhört, als sein Vater von einem tollwütigen Hund gebissen wurde und daran zugrunde ging. Als der kleine Felice das dem Priester vorgehalten hat, wurde er für seine Unbotmäßigkeit noch geohrfeigt. Seine Moral ist einfach:
Die Leute achten und akzeptieren wie sie sind und basta. (S. 56)
Die Zurückgenommenheit, mit der die Geschichte erzählt wird, ist wunderbar. Kein Kitsch, keine Verklärung eines kargen und arbeitsamen Lebens, zu dem wir nicht einfach so zurückkehren könnten – und so ein Keller voller Spinnen wie in Felices Haus wäre mein Alptraum -, aber gerade in der Schlichtheit und Nüchternheit der Schilderung ist der Roman sehr eindrücklich. Selbst der fremdländische Brief, den er bekommt und der ihn zu merkwürdigen Anschaffungen veranlasst, bringt keinerlei Unruhe in Felices Alltag.
Felice ist mit sich im Reinen. Er ist so unzersplittert, genügsam und ganz bei sich, weiß, was jeweils zu tun ist, beruhigt den kläffenden Hund, der angeleint vor einem Kaufhaus wartet, und wird dafür von der Hundebesitzerin als potenzieller Hundedieb beschimpft. Sich da auf Erwiderungen einzulassen wären verschwendete Worte. Und mit denen ist er ohnehin sparsam.
Er vergeudet nichts und erntet die Feigen in einem Garten, um den sich niemand kümmert. Selbst die Apfelreste von einem Restaurantbesuch nimmt er mit nach Hause, um sie auf den Kompost zu tun. In seinem Haus gibt es nur die allernotwendigsten Möbel, keinerlei Zierrat, keine Decke auf dem Tisch und von der Decke hängen Glühlampen und doch hat er alles, was er braucht.
Felice, sagt Duska. Warum ist immer nie was in deinem Haus hier? Felice hört auf, die Pasta umzurühren, legt die Gabel ab, denkt kurz nach und sagt dann, wisst ihr, warum? Weil ich schon so viele Jahre hier wohne. (S. 168)
Aber aus seinem wohlbestellten Garten und seiner Speisekammer kann Felice immer eine Tüte füllen, um sie jemandem mitzubringen.
Die Besprechung im Deutschlandfunk entlässt ihre Leser*innen mit den Fragen:
Was haben die Tage mit dem Erzähler gemacht? Wir erfahren es nicht. Und was mit uns? Was ist das Wesentliche? Genug zu essen, eine warme Stube, ein wenig Gesellschaft, ein Buch?
Hier gibt es einen Artikel über den für Touristen extra angelegten Wanderweg zu Felices Gumpe und hier den Spiegel-Artikel zu Autor und Dorf.
