Fabio Andina: Tage mit Felice (OA 2018)

Nein, hier wird keine „Hymne auf das einfache Leben“ gesungen, auch wenn der Klappentext das behauptet. Ändert allerdings nichts daran, dass der Roman des Tessiners Fabio Andina – von Karin Diemerling ins Deutsche übersetzt – unbedingt lesenswert ist und Ein ganzes Leben von Seethaler um Lichtjahre hinter sich lässt.

2019 war Andina (*1972) mit diesem Buch einer der Preisträger des Terra-Nova-Preises der Schweizerischen Schillerstiftung und Theres Roth-Hunkeler hat den Roman gar eine „Komposition der Stille genannt“. Doch um was geht es überhaupt?

Der Ich-Erzähler, ein jüngerer Mann, hat in Lenontica, einem Bergdorf im Tessiner Bleniotal, als Kind immer die Ferien verbracht und ist nun nach längerem Stadtaufenthalt ins Dorf zurückgekehrt, wo er im ehemaligen Ferienhaus seiner Eltern wohnt.

Er hat den 90-jährigen Felice gebeten, ihn einige Zeit bei seinen alltäglichen Verrichtungen begleiten zu dürfen. Und genau das tut er nun acht Tage lang. Er isst und schweigt mit ihm, geht mit ihm in die Dorfbar und Pizzeria, stromert mit ihm durchs Dorf oder fährt mit dem alten Mann in dessen Suzuki hinab ins Tal. Meist müssen sie das Auto aber erst anschieben, denn die Batterie ist defekt.

Der alte Felice, der früher als Maurer gearbeitet hat, wohnt immer noch in dem Haus, in dem er geboren wurde. Jeder Morgen beginnt damit, dass der jüngere Mann irgendwann zwischen fünf und halb sechs hinüber zu Felices Haus geht.

Ich betrete den Garten, und da taucht er auf. Eingerahmt vom offenen Fenster steht er da, ein Brustbild, das Hemd offen, zwei Gläser Joghurt in der Hand und weitere auf dem Fenstersims. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Es ist ein Augenblick, der sich mir wie ein Gemälde einprägt. (S. 45)

Sie frühstücken und anschließend steigen sie eine Stunde den Berg hoch, denn schon seit Jahrzehnten, seit seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem es ihn bis nach Moskau verschlagen hatte, nimmt Felice ein kurzes Bad in einer Gumpe. Ein Ritual sommers wie winters, auch bei minus 6 Grad. Da bleibt dem jungen Mann nichts anderes übrig als mitzutun.

Jeder und jede im Dorf kennt alle anderen; man weiß, wer mit wem verwandt ist und wo und wie das Schicksal schon zugeschlagen hat. Der unausstehliche Wilderer Brenno beispielsweise, der viel zu viel säuft, hat seine Seele verloren, als vor zehn Jahren seine zwei kleinen Töchter an einer Lungenentzündung gestorben sind.

Im Dorf kennt man sich, hilft einander, wenn es darauf ankommt, und geht sich auch mal kräftig auf die Nerven, akzeptiert aber auch, dass nicht jeder sein Leben nach gängigen Vorstellungen „optimieren“ kann oder will.

Hinten in der Gasse, bei der Kurve vor meinem Haus, taucht Floro auf. Fast ein Meter neunzig, Bart und Haare blond, lang und ungepflegt. Spindeldürr und ganz in Schwarz gekleidet, wie immer alles zwei oder drei Nummern zu klein. […] Gelegenheitsarbeiter, wenn es ihm passt, denn mir reicht das bisschen, was ich zum Essen und für meine Zigaretten brauche, erwidert er denen, die ihn einen Faulpelz nennen. […] Einzelkind und mit zehn Jahren Waise geworden. Seine Eltern sind bei einem Autounfall zwei Serpentinen unterhalb des Dorfes gestorben, im späten November von der vereisten Straße abgekommen. Er ist von den Großeltern und seinen Onkeln und Tanten aufgezogen worden. Junggeselle, vielseitiger Musiker, blind wie ein Maulwurf. Trägt aber keine Brille, weil er sowieso nicht gern Bücher liest, wie er sagt. (S. 35)

Ein anderes wiederkehrendes Element der Tage ist der Tauschhandel, der im Dorf betrieben wird. Man bringt der Nachbarin Pilze, tauscht ihre Gasflasche aus und bekommt dafür von ihr frische Eier. Jeder hat etwas, das einem anderen von Nutzen sein kann. Man schaut, dass man der alten Frau nebenan den Schnee schippt und Salz für sie streut, damit sie sich nicht noch einmal das Handgelenk bricht.

Das Ganze passiert oft still, manchmal bringt man etwas vorbei, isst sogar zusammen und hat hinterher kaum drei Worte miteinander gewechselt. Lauter und redseliger wird es nur in der Bar, wo auch reichlich dem Alkohol zugesprochen wird. Über die Wirtin Candida, 27, heißt es:

Eine attraktive, natürliche junge Frau mit kurz angebundener Art. Tolle Kurven und standfest wie ein Nussbaum. Anschauen aber nicht anfassen, denn sie kann mit einem Fausthieb mal eben ein Kalb niederstrecken. (S. 66)

Die Moderne mit Handys, Fitnessstudios und Einkaufsrummel liegt weiter unten im Tal oder meldet sich höchstens schon mal in Iron Maiden-Sweatshirts, die die Jugendlichen tragen, damit hat der alte Felice nichts zu schaffen. Er benötigt weder Telefon, Radio noch Fernsehgerät.

Er hat noch nicht einmal einen Briefkasten. Die Postbotin Alfonsa bringt ihm seine wenigen Briefe persönlich oder legt sie mit einem Stein beschwert auf die Bank oder bei Regen drinnen auf den Tisch, denn die Tür ist immer offen. (S. 40)

Doch auch hier ändern sich die Zeiten, hatten früher fast alle Familien Landwirtschaft, gibt es heute nur noch einen Milchbauern im Dorf. Die Gletscher schmelzen, Arbeit für die jungen Leute gibt es eher unten im Tal.

Mit der Kirche hat Felice nichts am Hut, hat Gott doch seine kindlichen Gebete nicht erhört, als sein Vater von einem tollwütigen Hund gebissen wurde und daran zugrunde ging. Als der kleine Felice das dem Priester vorgehalten hat, wurde er für seine Unbotmäßigkeit noch geohrfeigt. Seine Moral ist einfach:

Die Leute achten und akzeptieren wie sie sind und basta. (S. 56)

Die Zurückgenommenheit, mit der die Geschichte erzählt wird, ist wunderbar. Kein Kitsch, keine Verklärung eines kargen und arbeitsamen Lebens, zu dem wir nicht einfach so zurückkehren könnten – und so ein Keller voller Spinnen wie in Felices Haus wäre mein Alptraum -, aber gerade in der Schlichtheit und Nüchternheit der Schilderung ist der Roman sehr eindrücklich. Selbst der fremdländische Brief, den er bekommt und der ihn zu merkwürdigen Anschaffungen veranlasst, bringt keinerlei Unruhe in Felices Alltag.

Felice ist mit sich im Reinen. Er ist so unzersplittert, genügsam und ganz bei sich, weiß, was jeweils zu tun ist, beruhigt den kläffenden Hund, der angeleint vor einem Kaufhaus wartet, und wird dafür von der Hundebesitzerin als potenzieller Hundedieb beschimpft. Sich da auf Erwiderungen einzulassen wären verschwendete Worte. Und mit denen ist er ohnehin sparsam.

Er vergeudet nichts und erntet die Feigen in einem Garten, um den sich niemand kümmert. Selbst die Apfelreste von einem Restaurantbesuch nimmt er mit nach Hause, um sie auf den Kompost zu tun. In seinem Haus gibt es nur die allernotwendigsten Möbel, keinerlei Zierrat, keine Decke auf dem Tisch und von der Decke hängen Glühlampen und doch hat er alles, was er braucht.

Felice, sagt Duska. Warum ist immer nie was in deinem Haus hier? Felice hört auf, die Pasta umzurühren, legt die  Gabel ab, denkt kurz nach und sagt dann, wisst ihr, warum? Weil ich schon so viele Jahre hier wohne. (S. 168)

Aber aus seinem wohlbestellten Garten und seiner Speisekammer kann Felice immer eine Tüte füllen, um sie jemandem mitzubringen.

Die Besprechung im Deutschlandfunk entlässt ihre Leser*innen mit den Fragen:

Was haben die Tage mit dem Erzähler gemacht? Wir erfahren es nicht. Und was mit uns? Was ist das Wesentliche? Genug zu essen, eine warme Stube, ein wenig Gesellschaft, ein Buch?

Hier gibt es einen Artikel über den für Touristen extra angelegten Wanderweg zu Felices Gumpe und hier den Spiegel-Artikel zu Autor und Dorf.

 

Grazia Deledda: Schilf im Wind (OA 1913)

Die italienische Insel Sardinien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Schauplatz des Romans Schilf im Wind von Deledda. Die sardische Schriftstellerin lebte von 1871 bis 1936 und blieb, auch wenn sie 1900 mit ihrem Mann schließlich nach Rom zog, ihrer Heimatinsel immer verbunden. 1926 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. In der Rede zur Verleihung des Preises heißt es:

In this town, so little influenced by the Italian mainland, Grazia Deledda grew up surrounded by a savagely beautiful natural setting and by people who possessed a certain primitive grandeur, in a house that had a sort of biblical simplicity about it. «We girls», Grazia Deledda writes, «were never allowed to go out except to go to Mass or to take an occasional walk in the countryside.» She had no chance to get an advanced education, and like the other middle-class children in the area, she went only to the local school. Later she took a few private lessons in French and Italian because her family spoke only the Sardinian dialect at home. Her education, then, was not extensive. However, she was thoroughly acquainted with and delighted in the folk songs of her town with its hymns to the saints, its ballads, and its lullabies. She was also familiar with the legends and traditions of Nuoro. Furthermore, she had an opportunity at home to read a few works of Italian literature and a few novels in translation, since by Sardinian standards her family was relatively well-to-do. But this was all. Yet the young girl took a great liking to her studies, and at only thirteen she wrote a whimsical but tragic short story, (…) which she succeeded in publishing in a Roman newspaper. The people at Nuoro did not at all like this display of audacity, since women were not supposed to concern themselves with anything but domestic duties. But Grazia Deledda did not conform; instead she devoted herself to writing novels (…) with which she made a name for herself. She came to be recognized as one of the best young female writers in Italy. 

Und wenn man den Roman, z. B. in der Neuedition des Manesse Verlags, liest, spürt man auf jeder Seite die Verbundenheit der Autorin mit der Heimat ihrer Jugend. Die Schönheit der Natur, der Wechsel der Jahreszeiten, das Wetter, die Pflanzen, alles wird liebevoll wahrgenommen und besungen. 

Da öffnet sich mit einem Mal das Tal, und hoch oben auf der Kuppe eines Hügels taucht wie ein gewaltiger Trümmerhaufen die Burgruine auf. Aus dem schwarzen Mauerwerk blickt eine leere blaue Fensterhöhle wie das Auge der Vergangenheit selbst auf die melancholische, von der aufgehenden Sonne in rosiges Licht getauchte Landschaft hinaus, auf die geschwungene Ebene mit den grauen Sandtupfern und den blassgelben Binsenflecken, auf die grünliche Ader des Flusslaufs, die weißen Dörfer, aus deren Mitte die Glockentürme emporragen wie die Blütenstempel aus den Blumen, auf die Hügel oberhalb der kleinen Ortschaften und auf die malven- und goldfarbene Wolke der Nuoreser Berge im Hintergrund. (S. 26)

Die Vorgeschichte der Handlung wird auf den ersten Seiten abgehandelt:

Donna Lia, seine dritte Tochter, verschwand eines Tages aus dem väterlichen Haus, und lange Zeit hörte man nichts mehr von ihr. Der Schatten des Todes lastete auf dem Haus. Niemals hatte es in der Gegend einen derartigen Skandal gegeben, niemals zuvor war ein adliges und wohlerzogenes Mädchen wie Lia auf eine solche Weise geflohen. Don Zame schien den Verstand zu verlieren. Auf der Suche nach Lia irrte er in der ganzen Gegend umher und durchkämmte die Küste. Doch niemand konnte ihm Auskunft über sie geben. Endlich schrieb sie ihren Schwestern, dass sie sich an einem sicheren Ort befände und glücklich sei, ihre Ketten gesprengt zu haben. Die Schwestern aber verziehen ihr dies nicht und gaben ihr keine Antwort. (S. 19)

Unterdessen schrieb Lia den Schwestern, die durch ihre Flucht entehrt worden waren und daher keine Ehemänner fanden, einen Brief, in dem sie ihre Heirat ankündigte. Der Ehemann war ein Viehhändler (…) Die Schwestern konnten ihr diesen neuerlichen Fehltritt – die Ehe mit einem Mann aus dem Volk, den sie unter so beschämenden Umständen kennengelernt hatte – nicht verzeihen und gaben ihr keine Antwort. (S. 20)

Jahrzehnte später kommt nun Giacinto, der Sohn der verstorbenen Lia, zu seinen drei Tanten und deren einzigem Knecht Efix. Das herrschaftliche Gut ist nach dem Tod des Vaters so heruntergewirtschaftet und die drei Schwestern so verarmt, dass Efix schon seit Jahren keinen Lohn mehr bekommen hat. Dennoch hängt er mit unverbrüchlicher, man möchte sagen, naiver und zunächst auch unverständlicher Treue an seinen drei „Herrinnen“ und hofft, dass die Ankunft Giacintos den Beginn besserer Zeiten für alle bedeutet. Doch zunächst verursacht der junge Mann im Dorf nur Chaos, Schulden und verstörte Frauenherzen. 

Heidentum vermischt sich mit Aberglauben und tiefer Frömmigkeit. Ein wenig Abwechslung in den kargen und eintönigen Alltag mit seiner Armut und der harten Arbeit bringen die christlichen Feste und Pilgerfahrten. Malaria, Banditentum, die künstliche Kluft zwischen einfachem Volk und dem Adel, die Rolle der Frau; all das wird hingenommen, nicht hinterfragt, und unter Schicksal – das menschliche Leben als Schilf im Wind – wird verbucht, was vielleicht doch einfach Folge menschlicher Irrtümer und zu enger geistiger und menschlicher Horizonte ist.

Der Erzählstrom fließt entspannt dahin. Das Lesen entschleunigt. Die Psychologie der Figuren ist nicht so entscheidend. Die Menschen sind eingeschrieben in die Landschaft, ihre Erinnerungen und ihre archaischen Traditionen, die nur sehr sehr allmählich in Frage gestellt werden. Und deshalb bleiben mir die Figuren allesamt fremd; die Distanz ist für mich als Leserin nicht ohne Weiteres zu überbrücken, auch wenn der melancholische Grundton durchaus reizvoll ist.

Doch darüber wunderte er sich nicht mehr; weit weg gehen, man musste weit weg gehen, in andere Gefilde, wo es größere Dinge gab als die unsrigen. (S. 387)

Elena Ferrante: My Brilliant Friend (OA 2011; engl. Ausgabe 2012)

This morning Rino telephoned. I thought he wanted money again and I was ready to say no. But that was not the reason for the phone call: his mother was gone.
‚Since when?‘
‚Since two weeks ago.‘
‚And you’re calling me now?‘
‚My tone must have seemed hostile, even though I wasn’t angry or offended; there was just a touch of sarcasm.

So beginnt der erste Band der im englischsprachigen Ausland sehr erfolgreichen vierbändigen Reihe der 1943 geborenen italienischen Schriftstellerin Elena Ferrante. Das italienische Original erschien 2011 und wurde von Ann Goldstein ins Englische übersetzt.

Natürlich will ich nach den Anfangszeilen nun wissen, wohin Lila verschwunden ist. Die über sechzigjährige Neapolitanerin ist wie vom Erdboden verschluckt, sie hat zu Hause alle persönliche Habe vernichtet, sogar ihr Bild aus Familienfotos ausgeschnitten.

Ihre Freundin reagiert auf den Telefonanruf von Lilas Sohn aber keineswegs besorgt, wie man das vielleicht erwarten würde, sondern eher verärgert. Sie kennt Lila vermutlich so gut wie niemand sonst, denn ihre Freundschaft reicht zurück bis in die fünfziger Jahre, als sie als Nachbarskinder in einer armen Arbeitergegend in Neapel aufwuchsen und gemeinsam die Grundschule besuchten.

It’s been at least three decades since she told me that she wanted to disappear without leaving a trace, and I’m the only one who knows what she means. She never had in mind any sort of flight, a change of identity, the dream of making an new life somewhere else. And she never thought of suicide, repulsed by the idea that Rino would have anything to do with her body and be forced to attend to the details. She meant something different: she wanted to vanish; she wanted every one of her cells to disappear, nothing of her ever to be found. And since I know her so well, or at least I think I know her, I take it for granted that she has found a way to disappear, to leave not so much as a hair anywhere in the world. (S. 21)

Elena setzt der Absicht ihrer Freundin zu verschwinden, ihren eigenen Willen entgegen:

We’ll see who wins this time, I said to myself. I turned on the computer and began to write – all the details of our story, everything that still remained in my memory. (S. 23)

Und so liest man in diesem ersten Band Elenas Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, in der ihre Freundin Lila eine wichtige Bezugsperson für sie war. Beide Mädchen leben mit ihren Familien in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel, in dem die Lebensbedingungen für alle hart sind. Doch die Frauen müssen vielleicht den höchsten Preis zahlen. Sie müssen mit zu wenig Geld große Familien durchbringen und sind von der nie endenden Arbeit erschöpft und verbittert. Wer seinen Mann verliert, muss auch die Kinder zur Arbeit schicken und putzen gehen, sich vielleicht bei dem unauffällig das ganze Viertel kontrollierenden Geldverleiher in Schulden stürzen, der vermutlich mit der Mafia in Verbindung steht.

Gewalt ist hier alltäglich und nichts Bemerkenswertes: Der Kneipenwirt prügelt mit einem schweren Stock diejenigen, die die Zeche nicht zahlen wollen oder ihren Kredit nicht zum vereinbarten Termin zurückzahlen.

Men returned home embittered by their losses, by alcohol, by debts, by deadlines, by beatings, and at the first inopportune word they beat their families, a chain of wrongs that generated wrongs. (S. 82)

Frauen und Kinder finden es normal, wenn Väter, Ehemänner und Brüder zuschlagen. Vor allem, wenn sie mit Situationen überfordert sind, wenn die Lehrerin sagt, man solle die begabte Tochter weiterhin zur Schule schicken, wenn der Nachbarjunge die Schwester berührt hat, wenn die Nachbarn ein größeres Feuerwerk an Silvester abbrennen, wenn die Schwester nicht das macht, was der Bruder will. Konfliktregelung funktioniert sowohl auf der Straße als auch in den Familien entweder mit Gewalt oder mit der Macht des Geldes.

I feel no nostalgia for our childhood: it was full of violence. Every sort of thing happened, at home and outside, every day, but I don’t recall having ever thought that the life we had there was particularly bad. Life was like that, that’s all, we grew up with the duty to make it difficult for others before they made it difficult for us. Of course, I would have liked the nice manners that the teacher and the priest preached, but I felt that those ways were not suited to our neighbourhood, even if you were a girl. (S. 37)

Dabei – und das ist das Bewegende und Faszinierende an der Geschichte – geht es hier gar nicht um den Aufguss des alten Themas „Freudlose Kindheit in  sozial benachteiligtem Milieu“, sondern um eine tiefe Freundschaft zwischen zwei Mädchen, die dennoch nicht vor Neid und Rivalitäten gefeit ist.

Lila appeared in my life in first grade and immediately impressed me because she was very bad. (S. 31)

Nachdem sich die beiden Mädchen vorsichtig einander angenähert haben, ist das erste, was Lila tut, den wertvollsten Besitz Elenas, ihre Puppe, in einen Kellerschacht zu werfen. Doch Lila reagiert instinktiv richtig. Sie wirft Lilas Puppe hinterher und anschließend krabbeln beide in den Keller, um die Puppen zu suchen.

Lila ist also von Anfang an ganz anders als ihre brave Freundin Elena, die es liebt, von den Lehrern gelobt zu werden und die die Schule als einen sicheren Hafen empfindet. Nach einigen Wochen erlebt Elena dann den ersten Schock: Sie erfährt, dass die wilde und zügellose Lila bereits lesen kann und ihr in allen schulischen Dingen so weit voraus ist, dass sich das erst Jahre später ändern wird.

Die Geschichten der zwei Kinder sind verwoben mit den Geschichten der anderen Familienmitglieder und der übrigen Nachbarschaft. Wir lernen auch deren Träume von sozialem Aufstieg, ihre dunklen Seiten und ihre Resignation kennen. Schließlich werden die Mädchen älter und auf einem Ausflug, begleitet von den Brüdern, erkennen sie, dass es jenseits ihres Viertels noch ganz andere Stadtteile gibt.

It was like crossing a border. I remember a dense crowd and a sort of humiliating difference. I looked not at the boys but at the girls, the women: they were absolutely different from us. They seemed to have breathed another air, to have eaten other food, to have dressed on some other planet, to have learned to walk on wisps of wind. I was astonished. All the more so that, while I would have paused to examine at leisure dresses, shoes, the style of glasses if they wore glasses, they passed by without seeming to see me. They didn’t see any of the five of us. We were not perceptible. Or not interesting. (S. 192)

Junge Männer fangen an, eine Rolle zu spielen, was besonders für die charismatische Lila von Anfang an mit Problemen verbunden ist.

Fazit: Eine anschauliche, detailreiche und fein beobachtete Geschichte, die mich – nach leichten Startschwierigkeiten – nicht mehr losließ. Trotz oder wegen der schlichten Sprache wirkt alles sehr eindringlich, sehr lebendig.

Das Buch bietet einen interessanten, aber gleichzeitig verstörenden Blick auf die fünfziger Jahre in einem Arbeitervierteil Neapels und eine Kindheit und Jugend, wobei ein Frauen- und Männerbild herrscht, von dem ich froh bin, nur darüber zu lesen, statt damit leben zu müssen.

Gleichzeitig nötigt es mir Respekt ab, wenn jemand wie Elena ihren Weg geht, obwohl ihr dauernd Hindernisse in den Weg geworfen werden. Und bei allen Widrigkeiten: Es ist kein bedrückender Roman, sondern ein kraftvolles, lebensbejahendes Buch, bei dem ich mir auch eine Verfilmung gut vorstellen könnte.

Besonders eindrücklich fand ich die Stelle, in der auf den Titel des Buches Bezug genommen wurde. Und wer nun wissen will, was es mit Lilas Verschwinden als ältere Frau auf sich hat, muss wohl auch die drei weiteren Bände lesen …

Anmerkungen

Elena Ferrante entzieht sich übrigens konsequent jeglicher Publicity. Interviews führt sie, wenn überhaupt, nur schriftlich. Mehr dazu und zu ihren bisherigen Büchern findet man in dem lesenswerten Artikel von James Wood – erschienen im New Yorker.

Nachtrag

Anlässlich der deutschen Übersetzung kommt der Roman nun auch ins deutsche Feuilleton. Eine Zusammenfassung dessen, was bisher passierte, liefert Stefan Mesch auf Spiegel Online. Die Spiegel-Ausgabe vom  20. August 2016 bringt ein sechsseitiges Interview mit der Autorin.

Thomas Steinfeld kommt in der Süddeutschen Zeitung zu dem merkwürdigen Ergebnis, dass wenn man nur gründlich genug hinschaue, doch erkennen müsse, dass es sich dabei bloß um Trivialliteratur handele. Sandra Kegel in der FAZ sieht das anders.

Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Gattopardo (OA 1957; deutsche Erstausgabe 1959)

‚Nunc et in hora mortis nostrae. Amen.‘
Der tägliche Rosenkranz war zu Ende. Eine halbe Stunde lang hatte die ruhige Stimme des Fürsten an die schmerzlichen Mysterien erinnert; eine halbe Stunde lang hatten sich andere Stimmen zu einem wogenden Gemurmel verwoben, auf dem sich die goldenen Blumen ungewohnter Worte abhoben: Liebe, Jungfräulichkeit, Tod; und solange das Gemurmel andauerte, schien es, als hätte der Rokokosalon sein Aussehen verändert; sogar die auf den Seidentapeten ihre schillernden Flügel ausbreitenden Papageien wirkten eingeschüchtert; selbst die Magdalena zwischen den zwei Fenstern erschien wie eine Büßerin und nicht wie eine traumverlorene, üppige blonde Schöne, als die man sie sonst immer sah.

So beginnt einer der Klassiker der italienischen Literatur, der im Original 1957 – nach dem Tod des Autors – erschien und manchen vielleicht eher unter dem Titel Der Leopard bekannt ist.

2002 erschien eine Neuübersetzung von Giò Waeckerlin Induni, die sich auch für den geänderten Titel entschieden hat.

Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Gattopardo (2002)

Einleitung

Die Geschichte beginnt 1860 und endet 1910. Der Autor, der aus einer der ältesten Adelsfamilien Siziliens stammt, bat vor seinem Tod einen befreundeten Baron, für die Veröffentlichung Sorge zu tragen, denn:

Mir scheint, daß der Text von gewissem Interesse ist, denn er zeigt einen adeligen Sizilianer an einem historischen Wendepunkt […], wie er darauf reagiert und wie sich der Niedergang der Familie bis zum fast gänzlichen Verfall zuspitzt; dies alles jedoch von innen gesehen, mit einer gewissen Mitbeteiligung des Autors und […] ohne jeglichen Haß. Überflüssig, besonders darauf hinzuweisen, daß es sich bei ‚Fürst Salina‘ um Fürst Lampedusa handelt, um meinen Urgroßvater Giulio Fabrizio…

Zum Inhalt

Die titelgebende Gestalt, Fürst Fabrizio Salina, ist klug, reflektiert, sinnlich und dabei passiv bis ins Mark.

Einerseits vom mütterlichen Ehrgeiz und verstandesmäßigem Denken getrieben, andererseits von der Sinnlichkeit und Leichtfertigkeit des Vaters, lebte der arme Fürst Fabrizio selbst unter Zeus‘ finsterem Blick in ständiger Unzufriedenheit und ließ den Niedergang seines Standes und seines Vermögens geschehen, ohne irgendwelcher Tätigkeit nachzugehen und noch viel weniger Lust verspürend, dem Abhilfe zu schaffen. (S. 15)

Salina mag seinen adoptierten Neffen Tancredi viel mehr als seine eigenen Söhne und bewundert ihn für dessen Fähigkeit zu erkennen, woher der politische Wind weht. Und so schließt sich Tancredi den Truppen um den italienischen Freiheitskämpfer Garibaldi an, um für ein vereintes, unabhängiges Italien zu kämpfen. Die Kampfhandlungen bilden jedoch nur eine Art Hintergrundmusik zur Geschichte.

Tancredi, der zunächst Concetta, der Tochter des Fürsten, Hoffnungen gemacht hat, entscheidet sich dann aber, mit voller Billigung Salinas, für Angelica, die wunderschöne junge Tochter des Bürgermeisters, die als einziges Kind eine beträchtliche Mitgift zu erwarten hat.

Wir lesen von Jagdausflügen, Bällen und den dort angebotenen Speisen – das kann schon mal zwei Seiten in Anspruch nehmen – oder vom riesigen Sommerpalast der Salinas, der so groß ist, dass selbst der Fürst nicht alle Zimmer kennt. Würde er sie alle kennen, wäre er keine angemessene Behausung. In diesem Sommerpalast tändeln Tancredi und Angelica glücklich und erwartungsfroh durch die Flure und Zimmer.

Tancredi wollte Angelica den ganzen Palast zeigen, in seinem unentwirrbaren Ganzen aus alten Gästeflügeln und neuen Gästeflügeln, aus Repräsentationsräumen, Küchen, Kapellen, Theatern, nach Leder duftenden Remisen, Stallungen, schwülen Treibhäusern, Durchgängen, Fluren, Wendeltreppen, Balkonen und Arkaden, und vor allem aus einer ganzen Reihe nicht mehr genutzter, seit Jahrzehnten nicht mehr betretener Appartements, die ein geheimnisvolles labyrinthisches Gewirr bildeten. (S. 203)

Die Armut im Dorf gehört zur von Gott gegebenen Ordnung, der man sich durch reichliche Almosen verpflichtet weiß. Doch die Zeichen der Zeit stehen auf Veränderung, der Einfluss des Bürgertums nimmt zu. Der Fürst sieht das skeptisch, nicht nur, weil die Macht seiner eigenen Schicht schwindet, sondern auch weil er nicht glaubt, dass das Neue irgendetwas verbessern wird. Gelder und geplante Maßnahmen wie neue Rohrleitungen für das Dorf werden in Korruption und Bürokratie versickern. Als es bei der Volksabstimmung im Dorf zur Unterschlagung der Neinstimmen kommt, ist dem Fürsten klar, dass schon jetzt, zu Beginn der ’neuen‘ Zeit, das junge Pflänzchen Vertrauen mit Füßen getreten wird. Kurzum: Ändern wird sich nichts. Das entspräche auch gar nicht der sizilianischen Mentalität.

Doch nicht nur der Einfluss solcher Familien wie der Salinas schwindet, sondern auch deren ehemals unvorstellbarer Reichtum. Man speist zwar noch von edelstem Geschirr,

die Teller jedoch, jeder mit einer berühmten Signatur versehen, waren bloß Überlebende der von den Spüljungen angerichteten Verheerungen und stammten aus verschiedenen Gedecken. (S. 26)

Man kann auch Concetta, der eigenen Tochter, keine Mitgift mitgeben, die Tancredi überzeugt hätte.

Selbst die Liebe zwischen Tancredi und Angelica, die von Anfang an nicht völlig uneigennützig ist, wird vom allwissenden Erzähler schon an ihrem ersten gemeinsamen Ball, auf dem Angelica in die gehobenen Kreise eingeführt wird, unter das Motiv der Vergänglichkeit gestellt:

Sie boten das ergreifendste Bild überhaupt, das von zwei sehr jungen verliebten Menschen, die zusammen tanzen, blind für die gegenseitigen Fehler, taub für die Warnungen des Schicksals, arme Träumer, die glauben, ihre künftiger Lebensweg sei wie der spiegelglatte Fliesenboden des Ballsaals, ahnungslose Darsteller, die der Regisseur die Rollen Julias und Romeos spielen läßt, jedoch die Gruft und das Gift vergißt, die im Drehbuch bereits vorgesehen sind. (S. 294)

Doch eines kann der Adel: Seine verfeinerten Sitten, wie sie sich z. B. in der Ess- und Gesprächskultur zeigen, dienen den nach oben strebenden Bürgern als Vorbild. So wird dem ungepflegten und ungehobelten Bürgermeister, dem Vater Angelicas, bewusst:

wie angenehm ein guterzogener Mensch sein kann, weil dieser im Grunde genommen nichts anderes ist als ein Mensch, der die immer störenden Elemente eines wesentlichen Teils des menschlichen Daseins beseitigt hat […]. Nach und nach begriff don Calogero, daß ein gemeinsames Essen nicht zwingend ein Orkan aus Kaugeräuschen und Fettflecken sein muss; daß ein Gespräch sich nicht wie das Gebelle raufender Hunde anhören muß; daß einer Frau den Vortritt zu gewähren ein Zeichen von Stärke ist und nicht, wie er geglaubt hatte, von Schwäche; daß man bei einem Gesprächspartner mehr erreicht, wenn man ‚Ich habe mich nicht klar ausgedrückt‘ sagt, anstatt ‚Du hast einen Dreck verstanden‘; und daß für den, der geschickt mit solchen Taktiken umzugehen versteht, Speisen, Frauen, Argumente und Gesprächspartner beträchtliche Zinsen abwerfen können. (S. 180)

Fazit

Hilfreich für das Verständnis des Romans ist es, wenn man sich ein wenig Hintergrundwissen über die Zeit des Risorgimento anliest.

Mein Leseeindruck ist zwiespältig: Sowohl Thematik als auch Sprache des Romans waren eines Klassikers würdig, viele detailverliebte Schilderungen, die wunderbare wogende Sprache und eine Reihe von Szenen werden mir in Erinnerung bleiben.

Eine Stunde später erwachte er [Fürst Salina] ausgeruht und munter und ging in den Garten hinunter. Die Sonne stand bereits tief am Horizont, und da nun ihre Strahlen die Anmaßung abgelegt hatten, tauchten sie die Araukarien, die Pinien, die kräftigen Steineichen, die den Ruhm des Ortes ausmachten, in liebliches Licht. Die Hauptallee führte zwischen den anonymen Büsten nasenloser Göttinnen einrahmenden hohen Lorbeerhecken leicht abwärts; von zuhinterst hörte man den sanften Regen der Wasserfontänen, die in das Becken von Amphitrites Brunnen rieselten. Er lenkte den Schritt dorthin, eilig, begierig auf das Wiedersehen. Aus den Konchen der Tritonen, aus den Muscheln der Nereiden, aus den Nüstern der Meeresungeheuer ausgespien, schossen die Wasser in dünnen Fäden hervor, tüpfelten mit stechendem Plätschern die grünliche Oberfläche des Beckens, verursachten Aufspritzen, Blasen, Wellen, Erschauern, anmutige Wirbel; den lauen Wassern, den mit samtenen Moos überzogenenen Steinen, dem ganzen Brunnen entströmte die Verheißung einer Lust, die sich nie in Schmerz wandeln würde.

Interessant war die Person des Hausgeistlichen Pater Pirrone, eines Jesuiten, der ständig seine Rollen als Geistlicher, als Beichtvater, und gleichzeitig als komplett Abhängiger von seinem Fürsten ausbalancieren muss. Er kommt, wenig überraschend, zu dem Ergebnis:

Die vornehmen Herren waren zurückhaltend und unergründlich, die Bauern deutlich und klar; doch der Dämon wickelte sie um den kleinen Finger, die einen wie die anderen. (S. 274)

Und doch krankte das Buch – für mich – an einem großen Makel: Die Personen bleiben mir gleichgültig. Das lag nicht nur daran, dass hier einem Lebensstil, der auf der jahrhundertelangen Ausbeutung und Unterdrückung von anderen beruht, ein wehmütiger Abgesang gesungen wird. Letztlich wird angedeutet, dass auch die neue Gesellschaftsform nicht besser sein wird. Die Hauptfiguren blieben einem fern, so als habe der Fürst Salina eines seiner Instrumente in seinem Observatorium falsch herum gehalten. Ich habe das Schicksal der Fürstenfamilie ungefähr mit der Anteilnahme verfolgt, mit der ich die Gebrauchsanweisung für eine neue Spülmaschine lesen würde.

Was aber seltsamerweise dem Gedanken, das Buch irgendwann noch einmal zu lesen, keinen Abbruch tut…

Anmerkungen

Auf Deutschlandfunk gibt es einen längeren Artikel.

In diesem Fall empfehle ich bei Interesse auch den Wikipedia-Artikel zum Roman, der u. a. auf die wichtige Bedeutungsverschiebung in der Neuübersetzung des Titels eingeht.

1963 wurde der Roman von Visconti mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon verfilmt. Toskana 2004 (53)