Yoko Ogawa: The Memory Police (OA 1994)

Nach kurzen Anlaufproblemen war es schwierig, sich dem dystopischen Roman von Yoko Ogawa (*1962) zu entziehen, obwohl man auf den ersten Blick gar nicht genau sagen kann, woran das liegt, weil er so ruhig und unaufgeregt daherkommt. Ein Kritiker verglich seine Leseerfahrung des Werks, das bereits 1994 erschien, es aber erst 2020 in der englischen Übersetzung auf die Shortlist des International Booker Prizes schaffte, mit dem Fallen in eine Schneewehe. Das trifft es ganz nett. Die deutsche Übersetzung Insel der verlorenen Erinnerung (2020) stammt von Sabine Mangold.

Auf einer namentlich nicht genannten Insel herrscht eine Diktatur, auf deren Ideologie und oberste Machthaber nicht weiter eingegangen wird. Die Bevölkerung bekommt nur die Gedächtnispolizei zu Gesicht, die in ihrem Gehabe, ihren warmen Mänteln an die Gestapo erinnert. Zunächst agiert sie nur in der Nacht, eher unauffällig, wenn sie Wohnungen und Häuser durchsuchen und Dissidenten abholen, doch im Laufe der Zeit tritt die Gedächtnispolizei immer öffentlicher, immer brutaler auf. Ihr besonderes Augenmerk gilt jenen, die nicht vergessen können, was vom Regime als vergessenswert deklariert wurde. Auch die Mutter der Ich-Erzählerin wurde von der Gedächtnispolizei unter einem Vorwand abgeholt.

Die Bewohner haben sich daran gewöhnt, dass sie an manchen Morgen aufwachen und spüren, dass wieder etwas dem Vergessen überantwortet wurde. Als die Ich-Erzählerin, eine junge Schriftstellerin, die bereits beide Eltern verloren hat, noch ein Kind war, hat ihre Mutter erklärt:

It doesn’t hurt, and you won’t even be particularly sad. One morning you’ll simply wake up and it will be over, before you’ve even realized. Lying still, eyes closed, ears pricked, trying to sense the flow of the morning air, you’ll feel that something has changed from the night before, and you’ll know, that something has been disappeared from the island. (S. 3)

Nach einem solchen Verschwinden betrauern die Bewohner kurz den Verlust, versuchen einander zu trösten und verbrennen oder vernichten auf Geheiß der Gedächtnispolizei alle eventuell noch verbliebenen Gegenstände, die es ab sofort nicht mehr geben wird.

But no one makes much of a fuss, and it’s over in a few days. Soon enough, things are back to normal, as though nothing has happened, and no one can even recall what it was that disappeared. (S. 4)

Wie in jeder Dikatatur fängt das Elend mit kleineren Einschränkungen an, zunächst verschwinden Dinge wie Parfüm oder Edelsteine, doch dann werden die Verluste größer, das Leben ärmer. Und mehr und mehr Menschen sind auf der Flucht vor der Polizei, verstecken sich im Untergrund. Vor allem diejenigen, bei denen der verordnete Gedächtnisverlust nicht funktioniert.

Als der Verleger ihrer kleinen Romane plötzlich in Gefahr steht, verhaftet zu werden, nimmt die Schriftstellerin ihn zu sich und versteckt ihn in einem Zwischenraum in ihrem Haus, den man gut tarnen kann und den sie zuvor mit ihrem einzigen Vertrauten, dem ehemaligen Fährmann, entsprechend technisch hergerichtet hat.

Im weiteren Verlauf wird geradezu gemächlich, manchmal auch mit der ein oder anderen Länge, das Schicksal dieser kleinen Gemeinschaft, ihre Gefährdungen und ihre kleinen Triumphe, erzählt. Doch vor allem schreiten die Verluste fort; eines Tages fehlen die Vögel, die Nachbarn werden verhaftet, die Rosen sind eines Morgens weg. Die Welt, aber auch die Erinnerungen der Menschen werden stetig ärmer, stiller, grauer und enger. Die Bücher verschwinden. Und das ist längst noch nicht das Ende des staatlich verordneten Verschwindens. Der Aufstand bleibt aus. Die Menschen im Untergrund haben keine Möglichkeit, sich zu vernetzen. Die Wege nach draußen, fort von der Insel, sind versperrt.

People – and I’m no exception – seem capable of forgetting almost anything, much as if our island were unable to float in anything but an expanse of totally empty sea. (S. 11)

Wem kann man noch vertrauen? Was macht das mit den Menschen, auch mit dem Verleger, der seine Frau und ein kleines Kind zurückgelassen hat?

Mir hat gefallen, wie hier vom Wesen einer Diktatur, der um sich greifenden Vereinsamung, der Angst und Hilflosigkeit, den Beschwichtigungen und der fehlenden Wachheit, bereits den Anfängen zu wehren, parabelhaft erzählt wurde. Und eine hat zumindest heimlich Zeugnis abgelegt, die junge Ich-Erzählerin.

Interessant fand ich die Kritik von Lea Schneider aus der Süddeutschen Zeitung. Ich würde ihr recht geben, dass an manchen Stellen arg dick aufgetragen wurde. Und natürlich wäre es illusorisch zu glauben, dass man – selbst im Versteck – ungeschoren davonkommt oder dass es ausreicht, eine Diktatur auszusitzen. Doch ihr verärgerter Vorwurf, die Parabel sei in ihrem vorhersehbaren „Rückzug in die Nostalgie für eine aggressiv verniedlichte Version der ‚guten, alten Zeit’“ – Computer und Handys fehlten ja gänzlich – ungeeignet als Kommentar zur Gegenwart, erschließt sich mir nur bedingt.

Sabine von Binge Reading hat den Roman ebenfalls gelesen.

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Natsume Sōseki: The Gate (OA 1910)

Nun habe ich bestimmt eine halbe Stunde lang das Internet nach einer deutschen Übersetzung dieses erstmals 1910 erschienenen japanischen Klassikers von Natsume Sōseki durchsucht. Unglaublich, gibt es nicht! Ins Englische wurde der Roman von William F. Sibley übersetzt. Die Ausgabe der New York Times Classics enthält außerdem ein hilfreiches Vorwort von Pico Iyer.

Nicht immer finde ich einen Zugang zu japanischer Literatur. Doch hier baute mir der Autor, der nur 49 Jahre alt wurde (1867 – 1916), Brücken, über die ich zwischen der mir fremden Welt der Romanfiguren und meiner eigenen Erfahrungswelt hin und her gehen bzw. lesen konnte. Schon in den ersten Zeilen zeigt sich der ruhige Blick auf die Details, den Verlauf der Jahreszeiten, die kleinen Momente des Alltags.

Sōsuke had been relaxing for some time on the veranda, legs comfortably crossed on a cushion he had sat down in a warm, sunny spot. After a while, however, he let drop the magazine he had been holding and lay down on his side. It was a truly fine autumn day, the sun bright, the air crisp, and the clatter of wooden clogs passing through the quiet neighbourhood echoed in his ears with a heightened clarity.

Ein junges Ehepaar lebt in bescheidenen, finanziell immer etwas angespannten Verhältnissen am Stadtrand von Tokio. Von dort fährt Sōsuke täglich zu seinem Arbeitsplatz in einem nicht näher bezeichneten Regierungsbüro. Seine Frau Oyone hält derweil zusammen mit einem Dienstmädchen die Wohnung in Ordnung, bereitet die Mahlzeiten zu und nimmt ihm bei seiner Rückkehr seine Jacke ab. Sie unterhalten sich, z. B. darüber, dass Sōsukes Schuhe vermutlich keinen weiteren Regenguss überstehen werden.

Unruhe in diesen ritualisierten, gänzlich unaufregenden Tagesablauf bringt die unerwartete Ankunft von Sōsukes 10 Jahre jüngerem Bruder, der – die Eltern der Brüder sind längst verstorben – von der Tante überraschenderweise nicht länger finanziell unterstützt wird, was seine Aussicht, die Universität zu besuchen, in Frage stellt. So nehmen Oyone und ihr Mann den jungen Mann auf, obwohl das nicht nur räumlich und finanziell, sondern auch seelisch eine große Belastung für sie bedeutet.

Spätestens jetzt wird deutlich, dass Sōsuke ein Zauderer ist; klare Worte, Klärungen und Entscheidungen überhaupt sind seine Sache nicht. So wie er andere nicht belästigt, so möchte er in Ruhe gelassen werden. An dieser Eigenschaft dürfte es auch liegen, dass er es damals, beim Tod des durchaus vermögenden Vaters, nicht geschafft hat, sich selbst um das Erbe zu kümmen, mit dem Ergebnis, dass Onkel und Tante sich das Meiste davon in die eigenen Taschen gewirtschaftet haben.

Wir erfahren nun, wie Sōsuke und Oyone in den folgenden Wochen und Monaten mit den Veränderungen umgehen. In Rückblenden, die sich ausbreiten wie Kreise um ins Wasser geworfene Steine, erfahren wir, dass ihre so mühsam erkämpfte Ruhe und ihr unglaublich isoliertes Leben auf Geschehnisse in der Vergangenheit zurückzuführen sind. Auch Sōsuke war einmal Student, doch sein Verhalten machte einen Verbleib an der Universität unmöglich. Es bleibt offen, ob das Paar von nun an von der Gesellschaft und den beiden Familien radikal geschnitten wurde oder ob sich die beiden quasi freiwillig in die gesellschaftliche Isolation begeben haben.

Inzwischen leben die beiden in der Großstadt nur für sich, keineswegs unzufrieden. Miteinander glücklich. Auch wenn der Schmerz über ihre Kinderlosigkeit, die Vergangenheit und die Scham unter der nahezu unbewegten Oberfläche gegenwärtig sind.

Sōsuke and Oyone were without question a loving couple. In the six long years they had been together they had not spent so much as half a day feeling strained by the other’s presence, and they had never once engaged in a truly acrimonious quarrel. They went to the draper to buy cloth for their kimonos and to the rice dealer for their rice, but they had very few expectations of the wider world beyond that. Indeed, apart from provisioning their household with everyday necessities, they did little else that acknowledged the existence of society at large. The only absolute need to be fulfilled for each of them was the need for each other; this was not only a necessary but also a sufficient condition for life. They dwelled in the city as though living deep in the mountains. (S. 132)

Als sich für Sōsuke die Verhältnisse so zuspitzen, dass er sich gar keinen Ausweg mehr weiß, erzählt er seiner Frau nicht, welche Nachrichten ihres Vermieters ihn so tief beunruhigen, stattdessen nimmt er sich, der nie auch nur einen Tag an der Arbeit gefehlt hat, 10 Tage frei, um zum ersten Mal in seinem Leben zu meditieren. Doch auch der Aufenthalt im Kloster, der eher wie eine Flucht vor sehr konkreten Fragen wirkt, bringt ihm nicht die erhoffte Klarheit und Seelenruhe.

Ein wahrlich entschleunigendes Buch, unglaublich reizvoll, keineswegs langweilig, selbst wenn meine Anmerkungen zum Inhalt diesen Eindruck erwecken könnten. Melancholisch, leise, manchmal resignativ, zurückgenommen, doch nicht ohne Humor.

Watching the people all around him intent on making the short winter days even busier with their frantic activity, as if driven by the ebbing year to fill every moment, Sōsuke felt all the more weighed down by this nameless dread of things to come. It even popped into his head that, were it possible, he would choose to linger amid the shadows of the nearly spent year. His turn at a chair [at the hairdresser’s] having come at last, he caught sight of his reflection in the cold mirror, whereupon he asked himself: Who is this person staring out at me? […] When Sōsuke emerged onto the street, his head fragantly anointed and his ears ringing with the barber’s hearty farewell, he felt utterly refreshed. Feeling the cold air against his skin, he had to admit that, as Oyone had claimed, a haircut can go a long way towards improving one’s mood. (S. 118)

Am Ende hat man die beiden ins LeserInnenherz geschlossen, Einblick in eine andere Zeit und in eine Kultur im Umbruch gewonnen und überdies eine zart-diskrete Liebesgeschichte gelesen.

Even when in distress, Oyone generally did not neglect to smile for Sōsuke. (S. 111)

In der NZZ gibt es einen Beitrag zum Autor.

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Fundstück von Sei Shōnagon

Unausstehliches

Ein Besucher, der genau dann kommt, wenn ich dringende Dinge zu erledigen habe, und dann endlos daherschwatzt. …

Langweiler, die unter widerwärtigem Lachen viel leeres Geplapper von sich geben. …

Unausstehlich sind Leute, die immerzu auf andere neidisch sind und sich über ihre eigene Lage beklagen, die über andere tratschen, jede noch so winzige Neuigkeit begierig aufsaugen und alles in Erfahrung bringen wollen, die jedem grollen, der sie nicht mit neuem Klatsch versorgt, und das Wenige, das sie aus zweiter Hand gehört haben, gleich aufblasen und wildfremden Leuten weitererzählen.

Säuglinge, die losplärren, wenn ich mich mit jemandem unterhalten möchte.

Eine Ansammlung von Krähen, die unentwegt hin- und herflattern und dabei laut krächzen.

Hunde, die laut losbellen, wenn der Geliebte nachts heimlich zu Besuch kommt. …

Ich bin todmüde und habe mich gerade zum Schlafen niedergelegt. Da meldet sich mit feinem Sirren eine einsame Schnake und summt mir immer wieder ums Gesicht herum. …

Jemand, der mir ins Wort fällt, wenn ich etwas erzähle, und dann dreist den Schluss vorwegnimmt. Jegliches Dreinreden, ob von Kindern oder von Erwachsenen, ist unausstehlich. …

Hunde, die im Verein mit anderen endlos heulen. …

Unausstehlich sind Leute, die beim Hereinkommen die Tür zwar öffnen, sie aber nicht wieder schließen.

(aus dem Kopfkissenbuch der japanischen Hofdame Sei Shōnagon, entstanden um 1000, zitiert nach der erstmals vollständig von Michael Stein aus dem Japanischen übersetzten Fassung, Manesse Verlag 2015, S. 33 – 36)

 

Fundstück von Sei Shōnagon

Was mein Herz anrührt

Spatzen, die ihre Jungen aufziehen.

Wenn ich an spielenden Kleinkindern vorbeigehe.

Wenn ich Räucherwerk entzünde, das angenehm duftet, und mich dann alleine zur Ruhe lege.

Wenn ich mich in einem Spiegel chinesischer Machart betrachte, der ein wenig Patina angesetzt hat.

Ein stattlicher junger Herr von Stand, der seinen Wage vor dem Tor halten und durch einen Bediensteten seinen Besuch anmelden oder nach etwas fragen lässt.

Ich wasche mir die Haare, schminke mich sorgfältig und lege wunderbar duftende Gewänder an. Auch ohne dass mich irgendjemand sieht, bin ich dann, nur für mich allein, im Herzen vollkommen glücklich.

In Nächten, in denen mein Liebster zu mir kommen soll, bereitet mir schon das Rauschen des Regens Herzklopfen, oder der Wind, der am Dach rüttelt.

(aus dem Kopfkissenbuch der japanischen Hofdame Sei Shōnagon, entstanden um 1000; zitiert nach der erstmals vollständig von Michael Stein aus dem Japanischen übersetzten Fassung, Manesse Verlag 2015, S. 37)

Überhaupt, eine wunderbar ansprechend gestaltete Ausgabe, mit sorgfältig erstellten Erläuterungen und weiteren Fußnoten im Text.

Es ist faszinierend, wie unglaublich frisch und nah die Aufzeichnungen dieser Hofdame klingen, die von uns doch 1000 Jahre entfernt ist, in ihrem Tratsch und Klatsch, ihren Gefühlen, ihrer Loyalität, ihrer manchmal scharfen und manchmal so poetischen Zunge sowie ihrer Selbstvergewisserung als Individuum.

Schlagfertigkeit, musikalische Fähigkeiten und Kenntnisse der japanischen und chinesischen Literatur waren dabei einige der Möglichkeiten, Anerkennung bei der Kaiserin zu finden – vornehme Abstammung wurde bei den Hofdamen natürlich  vorausgesetzt.

Darüber hinaus ist das Kopfkissenbuch ein historisch und literarisch wertvoller Einblick in die Sitten und komplizierten Gepflogenheiten am Hofe einer vergangenen Epoche.

Und trotzdem: Irgendwann fand ich die Beschreibungen, wer welche Gewänder und Farbkombinationen trug und was die Herren anstellten, um doch einmal die Damen, von denen sie oft nur die Kleidersäume oder die weißgeschminkten Gesichter sahen, etwas genauer in Augenschein nehmen zu können, ein wenig ermüdend.

Man vertrieb sich die Zeit mit allerlei Künsten, Stegreifgedichten und Ausflügen zu religiösen Stätten. Stolz war man dabei auf guten Geschmack und ästhetische Empfindsamkeit.

Und wie überall, wo mächtige Menschen vergessen, wessen Hände Arbeit eigentlich die Grundlage für ihren Reichtum legen und wer die kostbaren Stoffe, Teppiche und Gefäße herstellt, ihre Gärten und Paläste in Ordnung hält und die leckeren Speisen kocht, ist die Überheblichkeit gegenüber ärmeren Menschen nicht weit.

Eine Bettlerin in schmutziger Kleidung wird da schon mal mit einem Affen verglichen.

Unpassend ist es, wenn Schnee auf die Hütten des niederen Volkes fällt, und um das Mondlicht, das bei ihnen hineinscheint, ist es auch zu schade. (S. 59)

Stein bekam übrigens für seine Neuübersetzung dieses Werkes im Herbst 2016 den Japan Foundation Übersetzerpreis. Hier geht’s lang zu einem Interview mit Stein.

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