Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day (1989)

The Remains of the Day – ein Buch, über das sich ein Blogeintrag eigentlich gleich aus zwei Gründen verbietet: Zum einen wünschte ich mir vor dem Schreiben einer Besprechung dringend, mich zumindest kurzzeitig zurück ins Studium zu beamen zu können, um mich einige Wochen lang nur mit diesem Buch zu befassen. Zum anderen werden die meisten ohnehin den Roman oder zumindest die kongeniale Verfilmung mit Anthony Hopkins und Emma Thompson (1993) kennen. Hilft aber alles nichts, wenn der Blog u. a. auch eine Gedächtnisstütze meiner gelesenen Bücher sein soll, müsst ihr da jetzt mit mir durch.

Kazuo Ishiguro (*1954), der als fünfjähriger Junge mit seinen Eltern von Japan nach Großbritannien zog und Japan erst ca. 30 Jahre später wieder besuchte, ist einer der ganz großen Namen der britischen Literatur im 20. Jahrhundert. Für The Remains of the Day – auf Deutsch erschienen unter dem Titel Was vom Tage übrigblieb – bekam er den Booker Prize und 2017 dann – er hielt die Nachricht zunächst für einen Scherz – die größte denkbare Ehrung:

The Nobel Prize in Literature for 2017 is awarded to the English author Kazuo Ishiguro “who, in novels of great emotional force, has uncovered the abyss beneath our illusory sense of connection with the world”.

Doch zurück zum Buch: Stevens, der Jahrzehnte als Butler für den inzwischen verstorbenen Lord Darlington gearbeitet hat, steht nun – Mitte der fünfziger Jahre – in Diensten des reichen Amerikaners Mr Farraday, der Darlington Hall gekauft hat. Dieser schlägt ihm eines Tages vor, einen kurzen Urlaub zu nehmen. Zögernd nimmt Stevens das Angebot an und während seiner kleinen Reise, auf der er sogar die ehemalige Haushälterin Miss Kenton besuchen will, hat er einige aufschlussreiche Begegnungen mit zufälligen Reisebekanntschaften. Doch es ist auch eine Zeit der intensiven Erinnerungen an seine Arbeit auf Darlington Hall während der zwanziger und dreißiger Jahre. 

Er entsinnt sich der Scharmützel mit der aufgeweckten Miss Kenton, die vergebens versucht, Stevens, der sich völlig hinter dem Panzer seiner Berufstätigkeit verkrochen hat, zu einem wärmeren, individuelleren und mutigeren Ausdruck seiner Persönlichkeit zu animieren.

Stevens denkt auch an seinen stocksteifen Vater zurück, der nach dem Ende seiner eigenen Butlerkarriere seine letzten Jahre auf Darlington Hall verbringt.  Geradezu zärtlich beschreibt Miss Kenton in einem Brief an Stevens ihre Erinnerung an den Moment, als der alte Mann wenige Tage nach einem Sturz vor dem Gartenhaus, der im Grunde das Ende seines Arbeitslebens bedeutet hat, im Garten hin und her wandert:

If this is a painful memory, forgive me. But I will never forget that time we both watched your father walking back and forth in front of the summerhouse, looking down at the ground as though he hoped to find some precious jewel he had dropped there. (S. 50)

Vor allem aber erinnert sich Stevens an seine Arbeit, er macht sich ausführliche Gedanken darüber, wer sich ein herausragender Butler nennen dürfe, welche Charakteristika ein solcher aufweisen müsse. Dabei spielt der Begriff der dignity, der Würde, eine Schlüsselrolle. Würde wird von Stevens als ein berufliches Ethos definiert, bei das einem keinerlei persönliche Meinungen erlaubt. Man habe so vollständig in Loyalität, exzellenter Dienstausübung und Vertrauen zu seinem verehrten Arbeitgeber aufzugehen, dass Gefühle, eigene Sorgen oder Ansichten gänzlich unterdrückt werden – und vielleicht irgendwann gar nicht mehr wahrgenommen werden können. Privatheit dürfe sich ein guter Butler grundsätzlich nur erlauben, wenn er ganz allein sei.

The great butlers are great by virtue of their ability to inhabit their professional role and inhabit it to the utmost; they will not be shaken out by external events, however surprising, alarming or vexing. They wear their professionalism as a decent gentleman will wear his suit: he will not let ruffians or circumstances tear it off him in the public gaze; he will discard it when, and only when, he wills to do so, and this will invariably be when he is entirely alone. (S. 43)

Das Problem, das Stevens erst allmählich und zögerlich auf seiner Reise bewusst wird, ist, dass ihn seine Ansprüche und Verblendungen vermutlich um sein Lebens- und Liebesglück gebracht haben. Entsprechend sagt Ishiguro in einem Interview über seine Hauptfigur:

He’s articulate and intelligent enough to do quite a good self-deception job.

Auch in Bezug auf seinen Dienstherrn Lord Darlington, der sich den Nazis angedient und immer wieder Darlington Hall für konspirative Treffen zur Verfügung gestellt hat, hat Stevens die Wahrheit nicht sehen und wahrhaben wollen. Selbst die von Lord Darlington angeordnete Entlassung zweier jüdischer Hausmädchen wird von Stevens vielleicht nicht gutgeheißen, aber keinesfalls offen in Frage gestellt.

Warum nun liest sich das nun so aufregend? So faszinierend?

Weil man Stevens so nahe kommt. Ishiguro schreibt so überzeugend, als könne er sich in dem Kopf seines Ich-Erzählers umschauen. Man mag kaum glauben, dass es nicht irgendwo einen Stevens gibt, gegeben hat, einfach weil wir förmlich in seine verschrobenen, rührenden und auch liebenswürdigen Gedanken hineinschauen können. Und wer wäre nicht konsterniert, wenn er liest, dass Stevens nie einen Tag frei genommen und abends stundenlang in der Halle gestanden hat, um zu warten, ob Lord Darlington oder seine Gäste noch Wünsche haben. Und dann gar der Moment, als Stevens bei einer wichtigen Gesellschaft die Tränen beim Portwein-Einschenken übers Gesicht laufen. Ich verrate hier nicht, warum er weint. Selbst diese Tränen leugnet er noch ab.

Ishiguro schafft es – keine Ahnung, wie er das macht – Stevens dabei nicht lächerlich zu machen. Im Gegenteil: Stevens Überlegungen, mit denen er in seiner Tätigkeit als Butler einen größeren Sinn geben wollte, und sein Anspruch, seine Arbeit bestmöglich zu verrichten, die Größe seiner Verblendung und seines Selbstbetruges haben auch etwas Tragisches. Genauso wie sein Bestehen darauf, dass er nur dort privat sein wolle, wo er ganz allein ist. Was für ein Gegensatz zu dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Trend, per Social Media möglichst viele Grenzen zwischen ‚privat’ und ‚öffentlich’ einzureißen. Wozu natürlich auch das Bloggen über die von uns gelesenen Bücher gehört … 

Gleichzeitig wird neben den Klassenschranken der britischen Gesellschaft die Gefahr der blinden Loyalität, des Nicht-selbst-denken-Wollens und des Verantwortung-Abgebens verhandelt. Doch wie in einem Spiegelkabinett vermeidet Ishiguro alle platten Eindeutigkeiten, wozu sein unzuverlässiger Ich-Erzähler beiträgt, der uns zwar vieles wahrheitsgemäß berichtet, sich aber zum Schutz seines Selbstbildes sehr eigenwillige Interpretationen der Geschehnisse zurechtlegt.

Zwischendurch ist das Buch aber auch witzig, berührend und dann wieder zum Haareraufen und sprachlich natürlich sowieso ein Genuss und am Ende ist man froh, dass Mr Farraday seinen Butler Stevens, der sicherlich eine der einsamsten literarischen Figuren ist, wenigstens auf diese Reise geschickt hat, an deren Ende Stevens vermutlich abgeklärter, mit weniger Verdrängtem und Unterdrücktem und mit einer neuen, ehrlicheren „Würde“ zurückkehrt.

Peter Beech verneigt sich vor diesem Roman mit dem Fazit:

We get a picture of a man trying desperately to keep a lid on his emotions – and what a complete picture it is. The Remains of the Day does that most wonderful thing a work of literature can do: it makes you feel you hold a human life in your hands. When you reach the end, it really does seem as if you’ve lost a friend – a laughably pompous, party-hat-refusing, stick-in-the-mud friend, but a good friend nonetheless. You want to give him a hug, except he’d be outraged.

Hier noch eine Würdigung des Werks von Salman Rushdie.

Des Weiteren ist ein Interview mit Graham Swift im BOMB Magazine erhellend; darin erläutert Ishiguro u. a., warum er einen Butler, diesen quasi englischen Mythos, zu seiner Hauptfigur gemacht hat. Der Autor erklärt außerdem, was ihm thematisch am Herzen liegt:

I’m interested in this business of values and ideals being tested, and people having to face up to the notion that their ideals weren’t quite what they thought they were before the test came.

Zum Weiterstöbern: Hier geht es lang zur Besprechung seines vierten Romans The Unconsoled (1995). Ganz anders und doch genauso faszinierend.

Nachtrag: Ich schmökere mich gerade durch den schmalen Band Imagining Mr Stevens: Approaches to Ishiguro‘s The Remains of the Day (2022) von Peter Freienstein und Paul W. Maloney. In neun knackigen Aufsätzen auf insgesamt 115 Seiten wird der Roman unter verschiedenen inhaltlichen und stilistischen Gesichtspunkten interpretiert und analysiert. Man entdeckt dabei definitiv weitere Feinheiten des Romans und weiß die Kunstfertigkeit des Autors noch mehr zu schätzen. Gefällt mir sehr.

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Charles Dickens: David Copperfield (1850)

Unruhige Zeiten, Bedrückung ob des Angriffskrieges und der unverhohlenen Propagandalügen, dazu viel zu tun, fehlende Konzentration, insgesamt also wenig Ruhe und Muße zum Bloggen. Doch damit mir nicht völlig aus dem Gedächtnis rutscht, was ich gelesen oder auch nur angelesen habe, hier wenigstens ein kurzer und deshalb sicherlich auch unausgewogener Blick auf den über 800 Seiten dicken  Schmöker David Copperfield von Charles Dickens, der 1850 das erste Mal in Buchform erschien und der den Lebensweg Copperfields von der Kindheit bis zu seinen ersten erfolgreichen Gehversuchen als Schriftsteller nachzeichnet. Ähnlichkeiten zu der Biografie des Autors sind dabei kein Zufall und Dickens hat diesen Roman immer das liebste seiner fiktiven Kinder genannt.

Was für ein berührender Anfang, Kinderfiguren sind wirklich eine Stärke des Autors. Die Leiden des jungen David, nachdem seine naive Mutter einen gar gräßlichen Stiefvater ins Haus geholt hat, sind fein beobachtet und erzürnen noch nach 170 Jahren die Leserin. Auch die zunächst fürchterlichen Internatserfahrungen Davids geben einen guten Einblick in mancherlei Untiefen des viktorianischen Schulsystems.

Doch dann wird der Ich-Erzähler immer blasser und nichtssagender, alle anderen Figuren in diesem gesellschaftlichen Panoptikum, die David bei seinem allmählichen sozialen Aufstieg begleiten, sind interessanter. Schließlich verliebt er sich in die süße, leider etwas unerwachsene, dafür aber sehr lebendige Dora. Hier finden sich tatsächlich einige wenige selbstironische Stellen:

If I may so express it, I was steeped in Dora. I was not merely over head and ears in love with her, but I was saturated through and through. Enough love might have been wrung out of me, metaphorically speaking, to drown anybody in; and yet there would have remained enough within in, and all over me, to pervade my entire existence. (S. 474 der Ausgabe der Everyman‘s Library)

Er heiratet Dora und muss nun schmerzhaft erkennen, dass sie niemals seine Seelengefährtin oder wenigstens eine tüchtige Hausfrau werden wird. So wird sie kurzerhand vom Erzähler zu einer tödlichen Krankheit verdonnert, damit David nach angemessener Frist die überirdisch langweilige und unrealistisch brave Agnes, die schon als Zehnjährige den Haushalt des Papas so entzückend im Griff hatte, zum Traualtar führen kann.

Und diese Doppelmoral: Dem schönen und charismatischen Jugendfreund Steerforth, der systematisch eine junge Frau verführt und anschließend an seinen Dienstboten verschachern wollte, trauert Copperfield hinterher, doch die junge Emily muss ihr Leben lang für ihren „Fehltritt“ büßen und emigriert, nachdem ihr Vater sie gerade noch rechtzeitig aus dem Moloch London retten konnte, zusammen mit ihrem Vater nach Australien. Die Frauengestalten bei Dickens sind wirklich nur zum Haareraufen, klischeehaft und von eindimensionalem Wunschdenken geprägt: die schöne Sünderin, die edle Gattin und Hausfrau, die Kindfrau, die treue Dienstbotin, die skurrile Tante.

Letztendlich gab es mir hier von allem ein bisschen zu viel: zu viel Melodramatik, zu viel Sentimentalität und Überzeichnung – man denke nur an Uriah Heep – und zu billige Lösungen: Nachdem Copperfield mit seiner Agnes glücklich der häuslichen Ruhe frönen kann, verschifft der Erzähler, das hat schon Chesterton zu Recht bemängelt, kurzerhand alle, die jetzt noch den ruhigen Lebensgang der Hauptfigur stören könnten, nach Australien.

Iwan Gontscharow: Eine gewöhnliche Geschichte (OA 1847)

Iwan Gontscharows Debütroman Eine gewöhnliche Geschichte, 1847 zunächst in einer Literaturzeitschrift und 1848 als Buch veröffentlicht, nahm mich während der Lektüre durch seinen Stil immer stärker für sich ein, auch wenn mir Oblomow – in bloglosen Zeiten gelesen – doch wesentlich besser gefallen hat.

Der Roman beginnt mit den folgenden Sätzen:

Eines Sommertags war im Dörfchen Gratschi bei der kleinen Gutsbesitzerin Anna Pawlowna Adujewa schon im Morgengrauen alles auf den Beinen, angefangen von der Hausherrin bis zum Kettenhund Barbos.

Nur Anna Pawlownas einziger Sohn, Alexander Fjodorytsch, schlief noch tief und fest, wie es sich für einen zwanzigjährigen jungen Mann gehört; im Haus aber hastete alles umher und war geschäftig am Werk. Das Gesinde ging allerdings auf Zehenspitzen und sprach im Flüsterton, um den jungen Herrn nicht zu wecken. Kaum polterte jemand oder redete laut drauflos, erschien sofort, wie eine gereizte Löwin, Anna Pawowna und erteilte dem Störenfried eine strenge Rüge, bedachte ihn mit einem kränkenden Spitznamen, bisweilen aber auch mit einem Stoß, je nachdem, wie groß ihr Zorn war und es ihre Kräfte zuließen. (Ausgabe des Carl Hanser Verlages, übersetzt von Vera Bischitzky, München 2021, S. 7)

Grund der häuslichen Unruhe ist die bevorstehende Abreise des verwöhnten, verzärtelten Alexander in das über 1000 Kilometer entfernte Petersburg. Dort, so ist er sich sicher, wird er aufsteigen, Karriere machen, alle mit seinen Kenntnissen und seiner tiefen Seele beindrucken, und literarisch wird er der neue Stern am Himmel werden. Wer würde dort seinen Gedichten widerstehen?

Dabei hat er keine besonderen Befähigungen oder gar Veröffentlichungen vorzuweisen, doch die 20 Jahre, in denen seine Mutter ihm zum Mittelpunkt des Universums gehätschelt hat, haben dafür gesorgt, dass er sich ausgestattet mit sentimentalen Flausen, einer gehörigen Portion Egoismus und kolossaler Selbstüberschätzung auf den Weg macht.

Kummer, Tränen und Nöte kannte er nur vom Hörensagen, wie man eine Krankheit kennt, die sich nicht fassen lässt, im Verborgenen aber ihr Unwesen unter den Menschen treibt. So kam es, dass ihm die Zukunft in rosigen Farben erschien. Etwas zog ihn in die Ferne, was genau es aber war, das wusste er nicht. Verlockende Schemen huschten über den Horizont, doch er konnte sie nicht erkennen; er hörte allerlei Töne – bald die Stimme des Ruhmes, bald die der Liebe: all dies ließ ihn wonnig erbeben. (S. 18)

Besonders was die Liebe angeht,

träumte er von einer kolossalen Leidenschaft, die keinerlei Hindernisse kennt und unglaubliche Heldentaten vollbringt. (S. 18)

In Petersburg nimmt ihn ein Onkel unter seine Fittiche, der den Bildungsweg, den Alexander noch durchlaufen muss, bereits hinter sich hat und sich ausschließlich seiner erfolgreichen Karriere als Fabrikant widmet. Der Onkel bringt Alexander im Staatsdienst unter und findet die Ambitionen des Neffen, ein großer Dichter zu sein, einfach lächerlich. Ein Großteil des Romans nehmen die Streitgespräche zwischen Neffen und abgeklärtem Onkel ein.

Die verlaufen mir manchmal arg schematisch und obwohl sie sich ausdauernd streiten über den Sinn und Unsinn des Lebens, erstaunt es, dass sie dies ohne jegliche Bezugnahme auf Religion oder andere philosophische Systeme tun. Nach was soll man streben, nach der idealen Liebe (die einen so in Beschlag nimmt, dass man sich gar nicht mehr um so profane Dinge wie den Lebensunterhalt kümmern kann) oder der Erfüllung rein eigennütziger Erwägungen? Das erscheint mir schon in der Fragestellung etwas eng geführt. Überhaupt, das Liebeskonzept der Männer dient bei näherer Betrachtung wohl oft eher der eigenen Selbstbespiegelung.

Am Ende und viele Jahre später ist – wie könnte es anders sein – Alexander nach einigen Irrungen und Wirrungen ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft geworden, die jugendlichen Flausen, die jugendliche Unbedingtheit gehören der Vergangenheit an. Man hat sich eingerichtet. Die Sinnfrage hat sich erledigt. Als LeserIn seufzt man ein wenig, denn man weiß, weder Onkel noch Neffe haben überzeugende Antworten gefunden.

Fazit: Ich mag dieses üppige und ausschweifende Erzählen, das Eintauchen in eine ganz andere Welt, eine andere Gesellschaft, aber die Figuren dieses Romans bleiben mir genau wie ihre Kümmernisse fern. Also Notiz an mich selbst: unbedingt Oblomow wiederlesen.

Peter Hunt: Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann (OA 2020)

Schon 1932, als sich der Geburtstag des Erfinders der Alice-Bücher zum hundertsten Male jährte, stöhnte Gilbert K. Chesterton, dass die Alice-Bücher von Lewis Carroll, inzwischen von Kritikern und Gelehrten übernommen, vereinnahmt, befragt, gedeutet und auseindergenommen wurden.

Poor, poor, little Alice […] she has not only been caught and made to do lessons; she has been forced to inflict lessons on others. Alice is now not only a schoolgirl but a schoolmistress. The holiday is over and Dodgson is again a don. There will be lots and lots of examination papers, with questions like: (1) What do you know of the following; mimsy, gimble, haddocks‘ eyes, treacle-wells, beautiful soup? (2) Record all the moves in the chess game in Through the Looking-Glass, and give diagram. […] Distinguish between Tweedledum and Tweededee. (The Annotated Alice; hrsg. von Martin Gardner, erweiterte Ausgabe von Mark Burstein, 2015, W. W. Norton & Company, New York, S. xiii)

Das hat Peter Hunt (*1945), emeritierter Professor für Kinderliteratur, nicht davon abgehalten, der inzwischen unüberschaubaren Menge an Büchern und Artikeln ein weiteres unterhaltsames und informatives Werk hinzufügen. Es wurde – übersetzt von Gisella M. Vorderobermeier – 2021 von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft unter dem Titel Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann veröffentlicht.

An dieser Stelle meinen herzlichen Dank für die Bereitstellung eines Besprechungsexemplars!

Die Bücher Charles Lutwidge Dodgsons (1832 – 1898) werden hier sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt.

Im Dezember 1865 brachte der Londoner Verleger Macmillan das Buch eines 33-jährigen Mathematikdozenten aus Oxford, Charles Dodgson, heraus. Es war zu einer gewissen Verzögerung gekommen, da die Qualität seines ersten Drucks, für den Dodgson selbst aufgekommen war – was ihn fast ein Jahresgehalt gekostet hatte -, nicht seinen peniblen Ansprüchen genügte. Es war ein Kinderbuch, aber ein eher eigenartiges, denn es war vom seinerzeit berühmtesten Illustrator und Satiriker, John Tenniel, illustriert, und seltsamer noch: Es unterschied sich von fast jedem bisher erschienenen Kinderbuch darin, dass dahinter keine moralische Aussage zu stehen schien. (S. 9)

Hunt unternimmt hier den Versuch, uns wesentliche Erkenntnisse der über hundertfünfzigjährigen Auseinandersetzung mit Carrolls Werk in knapp über 100 kurzweiligen und dennoch randvoll mit Informationen gespackten Seiten nahezubringen. Davon nimmt die großzügige Bebilderung ungefähr die Hälfte der Seiten ein.

Der Autor möchte die „verschiedenen Schichten von Ideen“ untersuchen, die bei der Entstehung der Bücher eine Rolle spielten: Das ist für Hunt zum einen die Welt Oxfords, die seine jungen Leserinnen wiedererkannt haben werden, samt vieler Bezugnahmen auf die familiäre Konstellation der realen Alice Liddell.

Des Weiteren fließen die Welt der Politik und der Wissenschaft samt ihrer damaligen Scharmützel (z. B. zur Evolutionstheorie) ein. Und schließlich wäre da noch die „private Welt in Charles Dodgsons Kopf“, die sich u. a. aus Freude an Schach, Theaterleidenschaft, Büchern, Besuchen in London, Lust an Symbolen, purem Nonsens und mathematischen Zahlenspielen zusammensetzt.

Daneben geht es aber auch um die Stellung, die die Alice-Bücher in der Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur haben, waren sie doch – ganz im Gegensatz zur sonstigen zeitgenössischen Literatur für Kinder – frei von jeglichem Moralisieren und einem erhobenem Zeigefinger. Zudem widmet sich Hunt den kulturellen, musikalischen und literarischen Anspielungen und Persiflagen, die die (erwachsenen) Zeitgenossen Carrolls sofort erkennen und entschlüsseln konnten.

In einem weiteren Kapitel wird nachgezeichnet, wie aus den handschriftlichen Notizen eines Sommertages ein weltweit gelesener Klassiker wurde.

Das ist auf so knapp bemessenem Raum nur möglich, weil Hunt alle vier Alice-Bücher nicht chronologisch, sondern aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig betrachtet.

Doch noch einmal zurück zum Urknall dieses literarischen Universums:  Am 4. Juli 1862 unternahmen zwei junge Dozenten, Charles Dodgson (29) und sein Freund Robinson Duckworth (27)

mit dreien der Töchter des Dekans von Christ Church, Henry Liddell, – Lorina (13), Alice (10) und Edith (8) – einen Bootsausflug. Daran ist nichts Ungewöhnliches: Tatsächlich ist es eine Art Mode – und taktisch vermutlich nicht unklug –  unter jungen Dozenten, die Töchter ihrer älteren Kollegen zu solchen Ausflügen mitzunehmen. (S. 17)

Um der kleinen Gesellschaft die Zeit zu vertreiben, erzählt Carroll eine Geschichte, die sich Alice im Nachhinein als Abschrift erbittet. So entsteht die handschriftliche Version Alice’s Adventures Under Ground, die Carroll „seiner kindlichen Freundin Alice Liddell“, der Tochter des Dekans, zueignete.

In den Erinnerungen der Beteiligten Jahre und Jahrzehnte später hat der Ausflug an einem paradiesisch schönen Sommertag stattgefunden. Allerdings war – das kann man überprüfen – das Wetter an diesem Tage regnerisch und eher ungemütlich.

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Von der handschriftlichen Version ausgehend entstand die dann publizierte Version Alice’s Adventures in Wonderland (1865). Es ist anzunehmen, dass in Wonderland mehrere bereits bei anderen Gelegenheiten erzählte Geschichten einflossen. Sechs Jahre später erschien Through the Looking Glass (1871). Und zu guter Letzt gab es die gekürzte Version für jüngere Kinder The Nursery Alice (1889/1890).

Ein wichtiger Aspekt ist Carrolls Freude am Spott, an Ironie. Ständig werden in seinen Werken die Texte zeitgenössischer Lieder, Gedichte und moralisierender Kinderbücher veralbert, umgetextet und persifliert. Auch Zeitgenossen und Kollegen waren nicht davor gefeit, sich plötzlich verfremdet in den Alice-Büchern wiederzufinden. Man mutmaßt sogar, dass Tenniels Zeichnung des großen Welpen aus Alice in Wonderland eine Anpielung auf Charles Darwin sein sollte.

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Nicht vergessen werden darf dabei natürlich Carrolls Liebe zum neuen Medium der Fotografie. Seine Ausrüstung wurde zunehmend professioneller und in seinem Portfolio befanden sich viele Aufnahmen berühmter Zeitgenossen.

Er hatte viele weitere ‚kindliche Freundinnen‘, gab es aber 1880 auf, sie  – oder jemanden sonst – zu fotografieren, teilweise wegen unziemlicher Gerüchte. (S. 110)

Was Hunt nicht explizit nennt, es handelte sich dabei häufig um Nacktaufnahmen junger Mädchen, gern im Alter von ca. sechs Jahren (siehe dazu auch die Abschnitte in Wikipedia unter dem Stichwort Der Fotograf und die Mädchen bzw. Sexual Preferences). Sie verkörperten für ihn Unschuld und vollkommene Schönheit. Carroll war immer darauf aus, die Bekanntschaft junger Mädchen zu machen, und auf Bahnfahrten beispielsweise hatte er immer Spiele dabei, um einen Anknüpfungspunkt zu haben. Jungen hingegen verabscheute er.

Abschließend lässt sich sagen, dass Peter Hunts Streifzug durch die Alice-Bücher informativ und unterhaltsam ist. Dazu ist sein Buch ein Augenschmaus, mit 20 Illustrationen von Tenniel, vielen weiteren Bildern und zeitgenössischen Fotografien. Eine Einladung für alle, die sich auf Spurensuche zu zweien der bekanntesten Kinderbücher der Welt begeben wollen, ohne sich dabei in allzu langen Bibliotheksgängen zu verlaufen.

Gleichwohl eignet sich das Buch nicht unbedingt als Parallellektüre zu den Werken, da Hunt ständig zwischen den Zeiten und den einzelnen Alice-Büchern hin und her springt. Muss es für die Zeitgenossen faszinierend gewesen sein, all die Anspielungen auf reale Orte, Lieder und Texte zu entschlüsseln, ist dieses Vergnügen für die heutige Leserschaft nur noch second-hand über die Erklärungen bewanderter Literaturexperten nachzuvollziehen. Und da wäre es für die LeserInnen möglicherweise hilfreicher, wenn diese Erklärungen dem jeweiligen Alice-Buch zugeordnet worden wären.

Dem leidigen Thema, wie denn nun die „Freundschaft“ eines erwachsenen Mannes zu einer Zehnjährigen oder überhaupt zu kleinen Mädchen zu bewerten sei,  geht Hunt weiträumig aus dem Weg. Er wolle eben nicht „gefährlich nahe an halbseidenen Spekulationen über Dodgsons Privatleben entlangsegeln“. (S. 93) Wer wissen möchte, was dazu bekannt ist, sei beispielsweise auf Martin Gardner (siehe unten) hingewiesen.

Was ich vermisst habe, waren Hinweise darauf, wie sehr einzelne Figuren und sprachliche Wendungen aus den Alice-Büchern in die englische Kultur eingegangen sind. Wie selbstverständlich wird davon gesprochen, dass jemand „mad as a hatter“ sei oder sich im „rabbit hole“ der gerade angesagten Verschwörungstheorien verlaufen habe.

Interessant ist Hunts Lesweise der Bücher, deren Rezeption immer auch vom Leser abhänge, aber allemal: Dieses nach-darwin’sche gottlose Universum sei

eine Welt, in der nur der Stärkste überlebt: Alles ist instabil und bedrohlich; fromme Verse erhalten eine grausame Wendung und Alice überlebt nicht durch Verstand oder Souveränität, sondern durch ihr passiv-aggessives Verhalten. Was vielen als ein liberales, befreiendes Bild der Kindheit erschienen ist (und noch erscheint), ist in Wirklichkeit ein Alptraum aus der Zeit nach Darwin. Möglicherweise ist die Tatsache, dass letztlich alles nur ein Traum ist, kein Mangel an feministischer Courage auf Seiten von Dodgson und kein Eingeständnis der Realitäten in Bezug auf die Stellung eines Mädchens in der Gesellschaft, sondern Ausdruck einer verzweifelten Hoffnung, dass sich die Dinge n i c h t ändern mögen. (S. 82)

Wer sich hingegen eine konkrete Lesebegleitung, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel wünscht, dem würde ich doch eher zu dem Ziegelstein von Martin Gardner raten, The Annotated Alice, 150th Anniversary Deluxe Edition (2015). Füchterlich unhandlich und schwer, wie all diese wunderbaren kommentierten und illustrierten Ausgaben der W. W. Norton & Company. Aber da bleibt dann wirklich keine Frage offen.

 

Arnold Bennett: The Old Wives‘ Tale (1908)

Ursprünglich hatte ich The Old Wives‘ Tale von Arnold Bennett, veröffentlicht im Jahr 1908, nur rasch anlesen wollen, in der Hoffnung, mich zügig von einem miserabel gedruckten Taschenbuch mit zu kleiner Schrift zu verabschieden. Dumm gelaufen. Auch wenn die ersten Seiten gewöhnungsbedürftig waren und die Perspektive mir manchmal zu unorganisch zwischen distanziert-ironisch-allwissend und dann wieder psychologisch-feinfühlig wechselte, hatte mich Bennett (1867 – 1931) doch rasch am Haken mit seiner Geschichte um zwei Schwestern, die wir auf ihren Lebenswegen vom jungen Mädchen bis zur alten Frau begleiten. Dabei spielt die Handlung ungefähr zwischen den 1860ern und 1907.

Constance und Sophia Baines wachsen in der schmutzigen und rußigen Provinzstadt Bursley auf, unschwer erkennbar als das heutige Burslem im Pottery District (Staffordshire). Ihre Eltern betreiben ein gut gehendes  Textilwarengeschäft. Dem Wunsch Sophias, eine Lehrerinnenausbildung zu absolvieren und  sich damit aus der Enge des Ladens zu emanzipieren, stehen die Eltern verständnislos und ablehnend gegenüber, während Constance sich in dem engen Milieu wohlfühlt und ihr ganzes Leben in der Stadt und sogar im selben Haus wohnen wird. Gleichwohl hat Constance eine wache Auffassungsgabe und betrachtet sich und ihre Umwelt durchaus liebevoll kritisch, auch wenn ihr die religiösen und gesellschaftlichen Konventionen zeitlebens eine Stütze sind.

Unfortunately one might as well argue with a mule as with one’s soul. (S. 310)

Sophia hingegen wird ausbrechen, naiv und voller Selbstüberschätzung auf einen albernen Schuft hereinfallen, und doch nicht unter die Räder kommen. Den Großteil ihres Lebens wird sie in Paris verbringen, in dem auch Bennett mehrere Jahre lebte, und dort ihren Weg gehen.

Im letzten und vielleicht aufregendsten Teil des Buches begegnen sich die Schwestern wieder. Sie sind inzwischen alt und der Leser/die Leserin zieht mit ihnen Bilanz über ihr Glück, ihr Unglück, ihre Ehen und vor allem über die unbarmherzig voranschreitende Zeit, die letztendlich alle vermeintlichen Unterschiede in ihren Lebenswegen einebnet.

Dass Bennett dabei sowohl die Geschichten der Nachbarn als auch die gesellschaftlichen Bedingungen und Veränderungen miteinbezieht, sei hier nur am Rande erwähnt, ist aber sicherlich einer der Aspekte, die dazu beigetragen haben dürften, dass das Buch heute von vielen als einer der Meilensteine des englischen Realismus angesehen wird.

Ewald Standop und Edgar Mertner schreiben in ihrer Englischen Literaturgeschichte (1983), nachdem sie einen kurzen Abriss des Inhalts gegeben haben:

Diese dürren Fakten lassen freilich das Wichtigste außer acht: das gewaltige Panorama des Lebens, das Bennett einzufangen versteht, die kleinen und großen Wechselfälle des Lebens, die Nichtigkeiten, die plötzlich Bedeutung gewinnen, aber auch außergewöhnliche Dinge wie die Beschießung von Paris. (S. 569)

Für John Wain ist die Qualität des Werkes, das Bennett trotz vielerlei anderer Verpflichtungen in nur 11 Monaten fertigstellte, ebenfalls unstrittig. In seiner Einleitung zur Taschenbuchausgabe von 1983 nennt er drei Gründe, aus denen das Buch Anspruch auf Ruhm erheben könne:

It is one of the most successful attempts, if not the most successful, to rival in English the achievement of the French realistic novel […] It is one of the most complete and satisfying novels of English provincial life. And it is a standing proof that a writer of the male sex can write with real perception about the imaginative  and emotional lives of women.

In Tim Heads Vorwort der schönen Folio Society-Ausgabe von 2004 klingt das schon abgeklärter. Head ist sich bewusst, dass Bennett zur Zeit nicht besonders angesagt ist.  Doch auch er ist sich sicher:

The book is a life enhancer, and it would be a poor spirit which is not the better for reading it. (S. X)

In Englische Literaturgeschichte (2004) hingegen, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber, taucht Bennett dann gar nicht mehr auf. Vom Markstein des englischen Realismus hin zum völligen Vergessenwerden. So schnell kann’s gehen…

Zum Abschluss noch eine kleine Lebensweisheit des Arztes, der Constance zu mehr Unternehmungslust überreden will:

I’m deeply attached to my bed in the morning, but I have to leave it. (S. 531)

Was mich grummelig macht und irritiert, ist der Umstand, dass es anscheinend zurzeit keine deutsche lieferbare Ausgabe dieses Romans  mehr gibt. Jeder Blödsinn wird veröffentlicht, aber ein Klassiker über eine Zeit im Umbruch mit einer Fülle an unvergesslichen Charakteren wird nicht mehr verlegt? Und nur nach längerem Herumsuchen habe ich eine gebrauchte englische Ausgabe der Folio Society gefunden, die dann hoffentlich mein billiges Taschenbuch von 1990 ersetzen kann.

Charles Dickens: Great Expectations (1861)

Ich hoffe sehr, dass ihr alle wohl und behütet ins neue Jahr gekommen seid!

Beginnen wir das Blogjahr mal nicht mit dem eigentlich obligatorischen Rückblick, sondern mit etwas anderem. Mir war mal wieder klassisch zumute, also tat ich, was man viel öfter tun sollte, und griff beherzt zum 13. Roman von Charles Dickens (1812 – 1870), der zunächst als Fortsetzungsroman in Dickens eigener Zeitschrift erschien, bevor er dann 1861 als Buch veröffentlicht wurde.

Die Geschichte wird uns von Pip selbst erzählt und beginnt, als er ein ca. siebenjähriger Waisenjunge ist, der bei seiner ständig prügelnden Schwester und deren herzensgutem, aber wenig durchsetzungsfähigen Mann Joe Gargery, einem Schmied aufwächst. Eine Familienkonstellation, deren Wurzeln wie bei so vielen der Dickens‘schen Protagonisten in der katastrophalen Kindheit Dickens liegen.

Mrs. Joe was a very clean housekeeper, but had an exquisite art of making her cleanliness more uncomfortable and unacceptable than dirt itself. Cleanliness is next to Godliness, and some people do the same by their religion. (S. 20, Ausgabe der Everyman’s Library)

Eines Abends, als er auf dem Kirchhof die Gräber seiner Eltern und verstorbenen Geschwister besucht, wird er fast zu Tode erschreckt von einem Sträfling, der von einem der an der Küste liegenden Gefängnisschiffe geflohen ist. Der namenlose Gefangene bringt den verängstigten Jungen dazu, ihn nicht zu verraten und ihm Nahrung und eine Feile aus der Schmiede zu bringen, sodass er sich von den Ketten befreien kann.

Später wird Pip als eine Art Unterhaltungsspielzeug von der durchgeknallten Miss Havisham in ihr Haus eingeladen, die das Verschwinden ihres treulosen Bräutigams am Tag der geplanten Hochzeit nie verwunden hat. Dort lernt er die junge und hinreißend schöne Estella, die Adoptivtochter Miss Havishams, kennen. Er verliebt sich unsterblich in sie, obwohl ihm bewusst ist, dass sie seine Gefühle nicht erwidert und überhaupt seltsam gefühltskalt ist.

I never  had one hour’s happiness in her society, and yet my mind all round the four-and-twenty hours was harping on the happiness of having her with me unto death. (S. 287)

Irgendwann erfährt Pip, dass ihm ein anonymer Gönner  finanziell dazu verhelfen will, ein Gentleman zu werden. Da sein ganzes Trachten danach ausgerichtet ist, Estella für sich zu gewinnen und er sich seiner ärmlichen und ungebildeten Herkunft schämt, nimmt er das Angebot, nach London zu ziehen und dort zum Gentleman zu werden (ohne sich bewusst zu machen, was genau das sein soll), mit Freude an. Er weiß, solange er grobe Arbeitsschuhe trägt und seine Hände von körperlicher Arbeit zeugen, wird Estella ihn niemals ernsthaft als Ehemann in Erwägung ziehen.

Wie er dann in London an echte und falsche Freunde gerät, ein Snob wird, der seinen besten Freund noch fast mit in den Abgrund reißt und trotz allem im Laufe der spannenden Handlung, bei der sich die vielen Fäden allmählich entwirren, doch zu einem verantwortlich handelnden Erwachsenen wird, das ist alles ganz großes Kino. (Über den mehrdeutigen Schluss mit seinem Anklang von Kitsch, den Dickens eigentlich gar nicht geplant hatte, gehen wir jetzt mal großzügig hinweg.)

Also: Trotz aller Übertreibungen und Überspitzungen und mancher Schwarzweißmalerei ist der Roman, der heute als einer der besten Romane Dickens und als ein Meilenstein der englischen Literatur gilt, ein pralles Sittengemälde mit unvergesslichen Charakteren und Szenen, ein Beweis, dass Dickens ein großartiger und oft genug spöttischer Erzähler ist. Wer könnte sich den ersten Seiten und des kindlichen Schreckens erwehren und nicht wissen wollen, wie die Geschichte weitergeht?

Was mich beim Wiederlesen beeindruckte, war die Feinfühligkeit, mit der Dickens hier seine Hauptfigur gezeichnet hat. Wie Pip sich seiner Herkunft schämt, seinen liebevollen Stiefvater verleugnet, obwohl dieser ihm immer nur Gutes getan hat, wie er vor sich selbst immer wieder Ausreden und Beschönigungen für sein Verhalten findet und zum unsicheren Snob wird, der sich zunächst maßlos verschuldet und nur über einen sehr wackligen inneren Kompass verfügt. Sowohl bei den Schauplätzen als auch bei zahlreichen Nebencharakteren hat man oft schon nach wenigen Sätzen ein Bild vor Augen, da Dickens so bildhaft erzählt:

Bentley Drummle, who was so sulky a fellow that he even took up a book as if its writer had done him an injury, did not take up an acquaintance in a more agreeable spirit. S. 192)

Die bitteren Seitenhiebe auf die gesellschaftlichen Bedingungen sind ebenfalls beeindruckend; mir gefiel zum Beispiel sehr, wie Dickens anhand der Figur des John Wemmick, der für den Anwalt Jaggers arbeitet, zeigt, wie sehr die Arbeitswelt einen zwingt, eine Rolle zu spielen, die mit der Person, die man privat ist, überhaupt nichts mehr zu tun hat.

Daneben geht es aber auch um die Leichtigkeit, mit der man das Recht beugen kann, wenn man die entsprechenden finanziellen Mittel hat, die Unmöglichkeit, als Kind aus einer armen Familie auch nur eine halbwegs vernünftige Bildung zu bekommen, die Heuchelei und Speichelleckerei derjenigen, die Pip, als er als vermögend gilt, hofieren, sich zu seinen besten Freunden erklären und ihn im nächsten Moment, ohne mit der Wimper zu zucken, fallen lassen würden. Und vor allem die Aussichtslosigkeit, sich auf redliche Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn man nie die Chance dazu bekommen hat, sowie die Lässigkeit, mit der England unliebsame Menschen – manchmal reichte schon ein gestohlener Brotlaib – nach Australien deportiert hat, sind mit einer Wucht geschildert, die die Leser damals sicherlich auch emotionalisieren und politisieren sollte.

Eine Facette gibt es allerdings, die an Dickens immer wieder irritiert, seine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, glaubhafte Frauengestalten zu entwerfen. Sie sind entweder so überirdisch gut, dass sie als engelhafte und unkörperliche  Wesen den Weg des Mannes erhellen sollen und sind dementsprechend zum Gähnen, oder sie sind ausschließlich rabiate Wüteriche wie Pips Schwester. Eine weitere Variante ist die untüchtige und verwöhnte Ehefrau, die dem wackeren Ehemann nur ein Klotz am Bein ist. Übrigens nur einer der Aspekte, bei denen die Hintergrundinformationen aus Fred Kaplans Biografie von 1988 ganz erhellend sind.

Be that as it may, he [Mrs. Pockets Vater] had directed Mrs. Pocket to be brought up from cradle as one who in the nature of things must marry a title, and who was to be guarded from the aquisition of plebeian domestic knowledge. So successful a watch and ward had been established over the young lady by this judicious parent, that she had grown up highly ornamental, but perfectly helpless and useless. (S. 178)

Edward Abbey: Die Einsamkeit der Wüste (OA 1968)

1968 erschien Désert solitaire des Amerikaners Edward Abbey. Was für ein grandioses, größenwahnsinniges, oft genug auch machohaftes Buch. Was für eine elegische und gleichzeitig weitsichtige Liebeserklärung an eine ganz besondere Gegend in Amerika, die man grob mit dem heutigen Arches National Park gleichsetzen kann.

Edward Paul Abbey (1927-1989), Englisch- und Philosophiestudium, fünfmal verheiratet, aufmüpfig, atheistisch, anachistisch, immer auf dem Radar des FBI, arbeitete 1956 und 1957 als Park Ranger im Arches National Monument, dem „schönsten Ort auf Erden“ (S. 15). Als Unterkunft dient ihm ein Wohnwagen.

Der Ort liegt in der Nähe von Moab, einer Kleinstadt im Südosten Utahs. Weshalb ich dort hingegangen bin, spielt keine Rolle mehr; was ich dort vorgefunden habe, ist das Thema dieses Buches. Mein Job begann mit dem ersten April und endete mit dem letzten Septembertag. Mir gefiel die Arbeit und das Canyonland und so kehrte ich im darauffolgenden Jahr für eine weitere Saison zurück. (S. 7)

Einige Jahre später bleibt er für eine dritte Saison.

Es waren schöne Zeiten damals, besonders in den ersten beiden Saisons. Der Tourismus war noch kaum entwickelt, und die Zeit verstrich äußerst langsam, so wie Zeit eben verstreichen sollte, in trägen und langen Tagen, die so weiträumig und frei wie die Sommer der Kindheit waren. Zeit genug also, nichts oder fast nichts zu tun, und das Meiste in diesem Buch habe ich ich, manchmal direkt und unverändert, den Seiten meines Tagebuchs entnommen, das ich in den nahtlos ineinander übergehenden Tagen jener großartigen Sommer führte und füllte. (S. 7)

Sein Job lässt ihm viel Zeit, denn vor allem soll er mit einem Pickup

die Straßen patrouillieren, Touristen aus der Patsche helfen, Feuerholz auf die Campingplätze bringen und den dort anfallenden Müll entsorgen. (S. 23)

Eigentlich wäre es schade, zu viel zum Inhalt zu verraten, denn dieses wilde Potpourri wartet auf beinahe jeder Seite mit Überraschungen auf.

Er will die Mäuse, die sich im Wohnwagen eingenistet haben, zwar nicht töten, holt sich aber eine Schlange in den Wagen, die dem Problem Abhilfe schaffen soll, listet seitenlang Blumen und Pflanzen auf. Kennt anscheinend jede Schlucht, jeden Berg mit Vornamen.

Er spottet über die Möchtegern-Cowboys und Cowgirls mit ihren schicken Cowboystiefeln, die sich – je weniger echten Viehtrieb es noch gibt – vermehren wie die Fliegen auf der Torte. Er philosophiert, z. B. über Naturschutz und die Frage, welche Musik eigentlich der Wüste gemäß sei, und polemisiert gegen die Anstrengungen der Parkverwaltungen, immer mehr Menschen in diese Wildnis zu bringen, koste es, was es wolle. Was wiederum genau das zerstöre, was man jetzt noch dort finden könne. Freiheit. Das Gefühl, Wege selbst zu entdecken. Abends allein am Lagerfeuer zu sein.

… bevor die Nacht aufzieht: Jeder Felsen, jeder Strauch und Baum, jede Blume, jeder Grashalm steht für sich, aufs Lebendigste vereinzelt, doch einander in einer Einheit verbunden, deren Großzügigkeit auch mich und meine Einsamkeit umfasst. (S. 131)

Leider sei der Amerikaner als solches ja nur noch fähig, sich in seinem Auto zu bewegen. Jeder Weg müsse asphaltiert werden und jeder Übergewichtige bis an den Rand des Grand Canyon fahren können. Traumhafte Canyons müssten geflutet werden, damit noch mehr Strom erzeugt werden könne. Irgendwann überall Müll, Leichtsinn und Touristen, die nach dem nächsten Cola-Automaten fragen.

Wie hellsichtig Abbey war, erkennt man daran, dass heute viele seiner Ideen (geführte Ranger-Touren und Shuttle Services statt überallhin mit dem eigenen PKW zu fahren) aufgegriffen werden, um der Touristenhorden einigermaßen Herr zu werden.

Es gibt lyrische Beschreibungen von Gewittern, Stürmen und Tagen, an denen er einem befreundeten Rancher hilft, dessen Vieh aus den Canyons zusammenzutreiben.

Er wandert, mal allein, mal mit einem Kumpel – Frauen spielen auf diesem unendlichen Abenteuerspielplatz nicht mit. Eindrücklich auch das Kapitel zu einer einwöchigen Bootstour, zusammen mit einem Freund, durch den Glen Canyon, der kurze Zeit später für immer und unwiederbringlich unter einem Stausee verschwunden sein wird.

Abbey klettert und kraxelt umher, auch mal ohne Karte oder mit nur ungenügend Wasservorräten ausgestattet. Gehört aber alles dazu, wenn man ein echter Kerl ist. Dennoch ein großer Respekt vor den Kräften der Wüste, die den Menschen in seine Grenzen weist. Wer das nicht versteht, endet wie der Tourist, den der Suchtrupp zwei Tage, nachdem man sein Auto gefunden hat, nur noch tot und aufgedunsen bergen kann.

Dazu Kapitel, die unglaublich plastisch und spannend eine Geschichte erzählen, sei es vom Goldrausch und maßlosen Profiteuren oder sei es von einem alten Pferd, das lieber in der Wüste hungert, als sich wieder von den Menschen einfangen zu lassen.

Die anarchistische Seite des Autors, die ihn immer wieder in Konflikte mit der Obrigkeit gebracht hat, schimmert durch, wenn er beispielsweise auch deshalb die Wildnis schützen möchte, damit die Unangepassten, die Revolutionäre immer einen Rückzugsort haben.

Nein, die Wildnis ist kein Luxus, sie ist eine Notwendigkeit für den menschlichen Geist und so unerlässlich für unser Leben wie Wasser und gutes Brot. Eine Zivilisation, die das Wenige, das noch von der Wildnis übrig ist, die Reserve, das Ursprüngliche, zerstört, schneidet sich von ihren Wurzeln ab und verrät das Prinzip der Zivilisation selbst. (S. 214)

Sein unbändiges tiefes Glück, einfach an diesem für ihn schönsten Ort der Welt sein zu können, sowie seine Trauer, dass der Mensch bereits im Begriff ist, vieles davon zu zerstören, teilen sich dem Leser mit. Als ich zwischendurch mal nach Fotos googelte, um mir von einzelnen Orten ein besseres Bild machen zu können, stellte sich das als überflüssig heraus. Seine Schilderungen waren so präzise, dass ich beim Anschauen der Bilder dachte, ja, genau, so hat er das beschrieben, so habe ich mir das vorgestellt.

Ob Sandsturm oder Sonnenschein, ich bin mit allem zufrieden, so lange ich bei guter Gesundheit bin, zu essen habe, die Erde, um darauf zu stehen, und Augenlicht, um zu sehen. (S. 48)

Das Buch setzt zwar einer Landschaft ein Denkmal. Es aber einfach als „nature writing“ einzusortieren, griffe zu kurz. Es ist großartige Literatur.

Mit einer Einschränkung: Das, was er in einem Kapitel über die Navajo schreibt, ist streckenweise unerträglich herablassend. Zwar möchte er den Ureinwohnern gern das Recht auf eigene Traditionen und Kultur einräumen, doch sobald er da von Geburtenkontrolle schwadroniert, klingt das, als müsse eine Kaninchenplage unter Kontrolle gebracht werden. Er selbst hatte übrigens fünf Kinder. Und kein Wort der Einsicht, dass für die Entstehung der sozialen misslichen Lage vieler Indiander ja der „weiße Mann“ verantwortlich ist.

… ein Mann an einem Tisch neben einem blinkenden Lagerfeuer, inmitten einer hügeligen Einöde aus Steinen und Dünen und Sandsteinmonumenten, die Einöde umgeben von dunklen Canyons und Flussläufen und Bergketten auf einem weiten Plateau, das sich über Colorado, Utah, New Mexico und Arizona erstreckt, und jenseits dieses Plateaus noch mehr Wüsten und größere Gebirge, die Rockies in der Abenddämmerung, die Sierra Nevadas, die in ihrem späten Nachmittag leuchten und weiter und noch weiter der abgedunkelte Osten, der funkelnde Pazifik, die gekrümmten Konturen der großen Erde selbst, und jenseits der Erde das Weltall mit Sonne und Sternen, dessen Grenzen für uns unerkundbar sind. (S. 271)

2016 brachte Matthes & Seitz die Übersetzung von Dirk Höfer unter dem Titel Die Einsamkeit der WüsteEine Zeit in der Wildnis auf den Markt. Herausgekommen ist dabei ein leinengebundenes Schmuckstück, bei dem ich mir allerdings gehaltvollere Informationen zum Autor, auch zu seinen rassistischen Ansichten, und zur Rezeption des Werkes gewünscht hätte.

Hier noch ein passender Artikel von John O’Connor aus der New York Times (2018).

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Nathaniel Hawthorne: Das Haus mit den sieben Giebeln (OA 1851)

Es missfällt einem Autor sehr, der sich bemüht, die Natur in all ihren Erscheinungsformen und Umständen mit realistischem Strich und in den echten Farben darzustellen, dass die reinste Erhabenheit, die sich im Leben finden lässt, hoffnungslos mit so viel Gewöhnlichem und Lächerlichem vermischt ist. Wie können wir etwa einer solchen Szene tragische Würde verleihen! Wie bringen wir es fertig, unserer Geschichte von der Sühne für einstige Sünde Größe zu verleihen, wenn wir gezwungen sind, als eine der Hauptfiguren nicht etwa eine junge, hübsche Frau – ja nicht einmal eine einstige Schönheit, würdevoll gramgebeugt – zu präsentieren, sondern eine hagere Jungfer mit fahlem Taint und knarrenden Gelenken, im Seidenkleid mit hoher Taille und einem monströsen Turban auf dem Kopf. […] Und ist es wirklich die Tragik ihres Lebens, wenn sie nach sechzig Jahren Untätigkeit mit der Eröffnung eines Kramladens ein besseres Auskommen sucht? Doch wenn wir die Heldengeschichten der Menschheit anschauen, finden wir überall diese Vermischung des Gewöhnlichen und Banalen mit den edelsten Gefühlen der Freude oder des Leids. Das Leben besteht aus Marmor und aus Dreck. Und wäre unser Vertrauen in ein allumfassendes Erbarmen über uns nicht stärker, würden wir wohl mit gutem Grund ein beleidigend höhnisches Grinsen und eine grimmige Fratze im ehernen Antlitz des Schicksals vermuten. Die Gabe des Dichters besteht darin, in diesem Reich der sonderbar verworrenen Elemente Schönheit und Erhabenheit zu entdecken, die ein so schäbiges Kleid tragen müssen. (zitiert nach der Irma Wehrli übersetzten Ausgabe des Manesse Verlages, 2004/2014, S. 62 – 63)

So weit zu der bedauernswerten Hepzibah, der ärmlichen Bewohnerin des uralten Hauses, und einigen poetologischen Gedanken, mit denen Nathaniel Hawthorne in seinem amerikanischen Klassiker Das Haus mit den sieben Giebeln die Leser traktiert. Die Originalausgabe erschien 1851.

Auf Sätze & Schätze erschien unlängst eine informative und lesenswerte Besprechung zu diesem Werk, sodass ich mich hier zu meiner und eurer Freude kurz fassen kann.

Mir ging es ganz anders als Birgit: Dieses Buch und ich sind keine Freunde geworden. Statt mich gepflegt zu gruseln, die Geister des Hauses zu spüren oder wenigstens in irgendeiner Weise Anteil am Schicksal der Protagonisten zu nehmen, beschlich mich eine Düsternis ganz anderer Art: Ich habe mich entsetzlich gelangweilt, die Seiten blätterten sich immer langsamer um, bis ich mich völlig ermattet dabei ertappte, nur noch querzulesen.

Der Erzähler musste sich immer wieder in den Vordergrund drängen und mir viel zu viel erklären anstatt es anschaulich zu machen, und die Handlung schlurfte so unentschlossen zwischen Motiven der Gothic Literature, feineren Pinselstrichen und aufdringlichen Erzählerkommentaren dahin, dass ich schließlich nicht anders konnte, als das Buch zur Seite zu legen.

Fundstück von Sei Shōnagon

Unausstehliches

Ein Besucher, der genau dann kommt, wenn ich dringende Dinge zu erledigen habe, und dann endlos daherschwatzt. …

Langweiler, die unter widerwärtigem Lachen viel leeres Geplapper von sich geben. …

Unausstehlich sind Leute, die immerzu auf andere neidisch sind und sich über ihre eigene Lage beklagen, die über andere tratschen, jede noch so winzige Neuigkeit begierig aufsaugen und alles in Erfahrung bringen wollen, die jedem grollen, der sie nicht mit neuem Klatsch versorgt, und das Wenige, das sie aus zweiter Hand gehört haben, gleich aufblasen und wildfremden Leuten weitererzählen.

Säuglinge, die losplärren, wenn ich mich mit jemandem unterhalten möchte.

Eine Ansammlung von Krähen, die unentwegt hin- und herflattern und dabei laut krächzen.

Hunde, die laut losbellen, wenn der Geliebte nachts heimlich zu Besuch kommt. …

Ich bin todmüde und habe mich gerade zum Schlafen niedergelegt. Da meldet sich mit feinem Sirren eine einsame Schnake und summt mir immer wieder ums Gesicht herum. …

Jemand, der mir ins Wort fällt, wenn ich etwas erzähle, und dann dreist den Schluss vorwegnimmt. Jegliches Dreinreden, ob von Kindern oder von Erwachsenen, ist unausstehlich. …

Hunde, die im Verein mit anderen endlos heulen. …

Unausstehlich sind Leute, die beim Hereinkommen die Tür zwar öffnen, sie aber nicht wieder schließen.

(aus dem Kopfkissenbuch der japanischen Hofdame Sei Shōnagon, entstanden um 1000, zitiert nach der erstmals vollständig von Michael Stein aus dem Japanischen übersetzten Fassung, Manesse Verlag 2015, S. 33 – 36)

 

Sam Selvon: The Lonely Londoners (1956)

Einundsechzig Jahre hat es gedauert, bis nun endlich The Lonely Londoners – der britische Klassiker um Immigranten in London, erschienen 1956 – ins Deutsche übersetzt wurde.  Das englische Original von nur 139 Seiten beginnt mit den Worten:

One grim winter evening, when it had a kind of unrealness about London, with a fog sleeping restlessly over the city and the lights showing in the blur as if is not London at all but some strange place on another planet, Moses Aloetta hop on a number 46 bus at the corner of Chepstow Road and Westbourne Grove to go to Waterloo to meet a fellar who was coming from Trinidad on the boat-train.

Selvon (1923 – 1994) verarbeitet darin eigene Erfahrungen, auch er wanderte in den 1950er Jahren aus Trinidad nach Großbritannien ein, als es für die Einwohner der ehemaligen Kolonien des Empire noch keine Einwanderungsbeschränkungen gab.

Zusammengehalten wird das Werk durch die Figur des Moses Aleotta, ebenfalls aus Trinidad, der schon seit zehn Jahren in London lebt und sich als widerwillig-hilfsbereiter Genosse zeigt, wenn es darum geht, den immer zahlreicher werdenden Neuankömmlingen mit Informationen zur Seite zu stehen. So begleitet er auch Henry, den er am Bahnhof abgeholt hat, zum Ministry of Labour.

It ain’t have no place in the world that exactly like a place where a lot of men get together to look for work and draw money from the Welfare State while they ain’t working. Is a kind of place where hate and disgust and avarice and malice and sympathy and sorrow and pity all mix up. Is a place where everyone is your enemy and your friend. (S. 27)

Jeden Sonntagmorgen treffen sich in Moses‘ kleinem schäbigen Zimmer – zu mehr hat er es in all den Jahren nicht gebracht – seine Freunde und Bekannten und tauschen Neuigkeiten über Arbeit, Zimmersuche, Frauen und die Heimat aus.

Moses ist auch derjenige, der sich keinen Illusionen mehr hingibt, er weiß um den Rassismus, der ihnen unvermutet überall entgegenspringen kann, auch wenn er sich höflicher tarnt als der in Amerika. Er weiß, welche Probleme es gibt, wenn ein Einwanderer ein weißes Mädchen heiraten will: Entweder wird er vom Vater des Mädchens aus dem Haus geworfen oder, wenn das Mädchen standhaft ist, werden die Kinder des Paares später als Darkies beschimpft.

Moses ist ein interessanter Charakter, der seine Situation in ihrer Widersprüchlichkeit reflektiert, z. B. wenn er versucht, sich darüber Rechenschaft zu geben, warum er nie zurückgegangen ist, obwohl sich die Träume auf Wohlstand und Anerkennung nicht erfüllt haben.

‚Sometimes I look back on all the years I spend in Brit’n,‘ Moses say, ‚and I surprise that so many years gone by. Looking at things in general life really hard for the boys in London. This is a lonely miserable city, if it was that we didn’t get together now and then to talk about things back home, we would suffer like hell. Here is not like home where you have friends all about. … (S. 126)

Er fungiert gleichsam als Klammer für viele andere Geschichten und Schicksale, von denen er hört, die er miterlebt und kommentiert. Dabei nimmt er geradezu stoisch zur Kenntnis, dass einzelne kiffende Faulpelze und Sozialleistungen-Schnorrer die Vorurteile gegenüber allen Farbigen befördern und dass harte Arbeit kein Garant fürs Vorwärtskommen ist.

Oft genug ist Moses die Stimme der Vernunft, doch er hat sich damit abgefunden, dass kaum jemand auf ihn hört. Und Henry Oliver, den er am Bahnhof abholen soll, wird von ihm nur „Galahad“ genannt, weil der sich weigert, die Dinge so nüchtern-abgeklärt wie Moses zu sehen.

Things does have a way of fixing themselves, whether you worry or not. If you hustle, it will happen, if you don’t hustle, it will still happen. Everybody living to dead, no matter what they doing while they living, in the end everybody dead. (S. 52)

Wir erfahren nicht nur von Lewis, der seine Frau so lange verprügelt, bis sie ihn verlässt, sondern auch von der hinreißenden Tanty, die zu stolz ist, zuzugeben, wie viel Angst ihr U-Bahn und Busfahren machen. Wir erfahren von Einwanderern, die so hungrig sind, dass sie eine Taube im Park fangen und dann als Monster beschimpft werden.

Und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit eröffnen Einwanderer die ersten Geschäfte, z. B. mit bestimmten Lebensmitteln, und tragen so zu einer bunteren britischen Gesellschaft bei. Das liest sich unglaublich spannend, so als säße jemand bei uns im Zimmer und würde uns erzählen, wie das damals war, auch wenn zwischenzeitlich mal der rote Faden ein bisschen verloren geht und man von einer Episode zur nächsten hüpft.

The Lonely Londoners handelt aber nicht nur von Tristesse, Armut und Problemen, es ist auch eine Liebeserklärung an London, eine Stadt, die auf viele Einwanderer wie ein Zauber, ein Versprechen wirkt, dem sie sich selbst nach Jahren nicht entziehen können. Irgendwann wird die Fremde quasi notgedrungen zur – wenn auch nicht unbedingt geliebten – Heimat.

The changing of the seasons, the cold slicing winds, the falling leaves, sunlight on green grass, snow on the land, London particular. Oh what it is and where it is and why it is, no one knows, but to have said: ‚I walked on Waterloo Bridge,‘ ‚I rendezvoused at Charing Cross,‘ ‚Piccadilly Circus is my playground,‘ to say these things, to have lived these things, to have lived in the great city of London, centre of the world. […] Why is it, that although they grumble about it all the time, curse the people, curse the government, say all kind of thing about this and that, why is it, that in the end, everyone cagey about saying outright that if the chance come they will go back to them green islands in the sun? (S. 133 – 134)

Und das Buch zeigt eine unbändige Lebensfreude, der kleinste Anlass wird genutzt, um zu feiern, zu trinken, zu tanzen, sich schöne Anzüge schneidern zu lassen, hübsche Frauen abzuschleppen, sich wie verrückt auf den Sommer zu freuen, wenn man wieder in die Parks geht und sich mit seiner Freundin verabredet, zu einer Party, einem Theater- oder Kinobesuch. Doch manchmal schimmert hinter all den Vergnügungen auch die Verzweiflung auf, nicht wirklich zur englischen Gesellschaft zu gehören.

Am Ende öffnet der Autor in den Überlegungen Moses das Buch sogar auf eine ganz andere Dimension hin:

Under the kiff-kaff laughter, behind the ballad and the episode, the what-happening, the summer-is-hearts, he could see a great aimlessness, a great restless, swaying movement that leaving you standing in the same spot. (S. 139)

Zur literaturgeschichtlichen Bedeutung und Sprache des Romans

Das Buch ist in zweierlei Hinsicht etwas Besonderes:

Its publication marked the first literary work focusing on poor, working-class blacks in the beat writer tradition following the enactment of the British Nationality Act 1948. (Wikipedia)

Zum anderen hat Selvon hier eine Sprache gefunden, die seinen Protagonisten entspricht: ein Dialekt, der den Redegewohnheiten der Einwanderer abgelauscht ist und damit authentisch und ganz lebendig klingt. Selvon hat dazu in einem Interview Folgendes gesagt:

When I wrote the novel that became The Lonely Londoners, I tried to recapture a certain quality in West Indian everyday life. I had in store a number of wonderful anecdotes and could put them into focus, but I had difficulty starting the novel in straight English. The people I wanted to describe were entertaining people indeed, but I could not really move. At that stage, I had written the narrative in English and most of the dialogues in dialect. Then I started both narrative and dialogue in dialect and the novel just shot along. (Michel Fabre, „Samuel Selvon: Interviews and Conversations“, in Susheila Nasta, ed., Critical Perspectives on Sam Selvon, Washington, Three Continents Press, 1988; p. 66, zitiert nach der englischen Wikipedia)

Für den deutschen Leser erschließen sich unbekannte Ausdrücke aber fast immer durch den Kontext. Allerdings gibt es auch eine Stelle, da geht ein Satz über mehrere (!) Seiten, und zwar ohne ein einziges Komma. Das ist beim Lesen schon reichlich mühsam, fängt aber möglicherweise das Gefühl des traumartigen, ungeordneten und manchmal haltlosen Lebens ganz gut ein.

Das Buch ist nun über 60 Jahre alt und doch zeitlos, denn für Einwanderer, Flüchtlinge und Asylsuchende gilt – egal wo – sicherlich noch immer:

When Moses did arrive fresh in London, he look around for a place where he wouldn’t have to spend much money, where he could get plenty food, and where he could meet the boys and coast a old talk to pass the time away – for this city powerfully lonely when you on your own. (S. 29)

Wer ein paar kurze Informationen zum geschichtlichen Hintergrund sucht, wird hier fündig und hier geht’s lang zu einer treffenden Rezension von Helon Habila aus dem Guardian vom 17. März 2007. Die Folgebände heißen Moses Ascending (1975) und Moses Migrating (1983).

Und hier noch ein Gespräch mit der Übersetzerin Miriam Mandelkow.

Ungelöst bleibt allerdings noch die Frage, wie und warum aus den „lonely Londoners“ des Originaltitels plötzlich die harmlosen oder nichtsnutzigen „Taugenichtse“ wurden …

Nellie Bly: Ten Days in a Mad-House (1887)

On the 22nd of September I was asked by the World [Zeitschrift, für die sie arbeitete] if I could have myself committed to one of the asylums for the insane in New York, with a view to writing a plain and unvarnished narrative of the treatment of the patients therein and the methods of management, etc. 

So beginnt die Reportage Ten Days in a Mad-House (1887) von Nellie Bly, die im Deutschen unter dem Titel Zehn Tage im Irrenhaus: Undercover in der Psychiatrie erschien.

Diese nur knapp 90 Seiten über die Zustände in der damaligen Psychiatrie gehen einem ans Herz.

Nellie Bly (1864 – 1922), mit bürgerlichem Namen Elizabeth Jane Cochrane, war eine der Pionierinnen des investigativen Journalismus. Sie war u. a. diejenige, die später allein eine Reise um die Welt unternahm.

Trotz diverser anspruchsvollerer Reportagen wurde Bly von ihrem Arbeitgeber zunächst auf „typische Frauenthemen“ wie Theater und Gärtnerei festgelegt. Als sie das endgültig satt hatte, ging sie nach New York und ergatterte einen Auftrag für die New York World von Joseph Pulitzer: Sie sollte eine Geisteskranke spielen, sich einweisen lassen und so aus erster Hand über die Zustände im Women’s Lunatic Asylum auf Blackwell’s Island berichten.

Ihr Plan gelingt. Erschreckend einfach und schnell wird sie eingewiesen. Nach zehn Tagen wird sie – wie vereinbart – befreit. In ihrer Reportage erzählt sie von dem vergammelten Essen, den z. T. gleichgültigen oder sadistischen Wärterinnen, den katastrophalen Unterkünften, der unzureichenden Kleidung und der fehlenden Hygiene. Die Insassen werden entweder sich selbst überlassen oder gefesselt und bei „Fehlverhalten“ bestraft, geschlagen oder in eiskaltes Wasser getaucht und dann ohne Decke zum Schlafen geschickt.

Bly deckt aber nicht nur die grausamen und inhumanen Zustände auf Blackwell’s Island auf, sondern erzählt auch von ihren Begegnungen mit den anderen Frauen, manchmal reichen schon ein paar Sätze und ein ganzes Schicksal taucht vor dem Leser auf.

Erschütternd auch die Tatsache, dass einige der Frauen dort überhaupt nicht krank waren, jedoch keinerlei Möglichkeiten fanden, aus diesem Gefängnis wieder herauszukommen. Es hat einfach niemanden interessiert und eine gründliche Untersuchung war wohl oft gar nicht im Interesse der Angehörigen. Auch Bly selbst hatte sich nach ihrer erfolgreichen Einweisung wieder völlig normal und vernünftig verhalten und entsprechend kommuniziert, aber genau das wurde dann wieder als Beleg für ihr „Irresein“ gewertet.

The insane asylum on Blackwell’s Island is a human rat-trap. It is easy to get in, but once there it is impossible to get out. (S. 85 der Taschenbuchausgabe)

Vermutlich gehen diverse – auch finanzielle – Verbesserungen in den psychiatrischen Kliniken in New York tatsächlich auf ihr Konto.

Bin beim Nachlesen ihrer Biografie noch auf die Experimente von David Rosenhan gestoßen, deren Ergebnisse er 1973 veröffentlichte. Was soll man da noch zu sagen?

Benjamin Maack hat zu der erst 2011 ins Deutsche übersetzten Reportage auf Spiegel Online einen Artikel veröffentlicht und auch der Neuen Zürcher Zeitung war das einen Artikel wert.

Weitere Besprechungen gibt es bei:

Einen weiteren Buchtipp zu diesem Thema findet ihr in der Netten Bücherkiste, nämlich: Women of the Asylum – Voices from behind the Walls, 1840-1945.

 

Emily Brontë: Wuthering Heights (1847)

Mit einem Grinsen im Gesicht und großer Genugtuung lese ich, was Mithu Sanyal in ihrem Buch Über Emily Brontë schreibt:

Wuthering Heights war der erste echte Roman, den ich gelesen habe, […] Und das war ein Glücksgefühl, ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis. Und ein Problem. Hängte er doch die Latte für weitere Romane extrem hoch, sodass ich später oft dachte: Das ist ja alles schön und gut, aber wann kommt endlich das Moor? (S. 14)

Vor einigen Jahren rief Birgit Böllinger auf ihrem ehemaligen Blog Sätze & Schätze dazu auf, unsere ganz persönlichen Klassiker zu entstauben und vorzustellen:

Im Gegensatz zum Feuilleton sind Literaturblogger nicht dem ständigen Aktualitätszwang verpflichtet – darin liegt auch eine Chance, immer einmal wieder einen Klassiker aus dem Regal hervorzuholen, sie den Lesern – so sie ihn noch nicht kennen – näherzubringen. Ich habe daher einige lesende und schreibende Menschen (Blogger, Schriftsteller, Verleger, Literaturschaffende und Literaturliebhaber) gebeten, mir von ihrem persönlichen Favoriten zu erzählen und über Bücher zu schreiben, die sie seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten begleiten, denen sie eine besondere Bedeutung zuschreiben, die sie als Klassiker bezeichnen würden.

Ich musste nicht lange überlegen. Mein Klassiker ist Wuthering Heights von Emily Brontë, einigen vielleicht eher unter dem deutschen Titel Sturmhöhe bekannt.

Die wilde Geschichte von den zwei unterschiedlichen Familien, die irgendwo im einsamen und rauhen Yorkshire wie Naturgewalten aufeinandertreffen, wurde erstmals 1847 veröffentlicht. Da wären zum einen die Earnshaws, deren Vater eines Tages aus Liverpool, dem damaligen Zentrum des Sklavenhandels, das so auffällig dunkle Findelkind Heathcliff mitbringt. Insgesamt sind die Earnshaws mit Tochter Catherine und Sohn Hindley eine Familie, die mit dysfunktional noch sehr freundlich umschrieben wäre. Auf der anderen Seite gibt es die gesitteten Lintons. Es kommt zu unglückseligen Eheschließungen, Geburten, Liebesleid, einem jahrzehntelangen Rachefeldzug, Tod und schließlich zu einer milden, aber geisterhaften Ruhe nach all dem stürmischen Gebaren.

Hab’s schon als Teenager gelesen, ohne die geringste Ahnung, dass das ein echter Klassiker ist. Später die Schwarzweiß-Verfilmung gesehen. Weitere Verfilmungen gingen spurlos an mir vorbei. Das Buch reicht mir völlig.

Im Studium habe ich mich monatelang mit dem Buch beschäftigt und es aus allen möglichen und unmöglichen feministischen, marxistischen oder psychoanalytischen Richtungen analysiert, interpretiert und dabei fast auswendig gelernt. Doch das Werk hat all dem standgehalten und begeistert mich heute noch genauso wie beim allerersten Mal.

Es bleibt bewunderndes Staunen oder staunende Bewunderung, denn bei jedem Lesen entdecke ich etwas Neues; man wird mit diesem Buch einfach nicht fertig. Da gibt es z. B. eine große psychologische Feinheit, mit der die Autorin zeigt, welche Verheerungen eine miese und brutale Erziehung anrichten kann.

Dann die Modernität der Perspektivengestaltung: Wie in einem Spiegellabyrinth muss man überlegen, wem man glauben kann. Die Erzählerfiguren, der Städter Lockwood und die Haushälterin Nelly Dean, die oft genug selbst ihre Finger im Spiel hatte, wollen uns von Anfang an ihre Sicht der Dinge unterjubeln.

Und erst die Hauptfiguren: Catherine, ihr ekelhafter Bruder Hindley, Heathcliff und dann Edgar und Isabelle Linton. In den zwei Häusern tobt ein archaischer Sturm, scheinbar meilenweit vom nächsten Ort entfernt, die Rache- und Liebeshandlung drängt vorwärts; am Ende sind fast alle tot und die Leser*innen völlig fertig. Und dann die großen Fragen nach Schuld, nach Liebe. Schließlich tragen hier alle ihren Teil, gewollt oder ungewollt, zu Chaos und Herzeleid bei.

Und überhaupt, was ist eigentlich Liebe? Ist es Liebe oder eine schier unfassbare Selbsttäuschung, wenn Catherine beteuert:

If all else perished, and he [Heathcliff] remained, I should still continue to be; and if all else remained, and he were annihilated, the Universe would turn to a mighty stranger. I should not seem a part of it. (…) my love for Heathcliff resembles the eternal rocks beneath – a source of little visible delight, but necessary. Nelly, I am Heathcliff – he’s always, always in my mind – not as a pleasure, any more than I am always a pleasure to myself – but, as my own being….

Und im Anschluss lese man das coole und ausgesprochen informative Buch Über Emily Brontë (2022) von Mithu Sanyal, die auch noch weiteren im Buch angelegten Spuren nachgeht, denen man erst seit wenigen Jahrzehnten überhaupt Aufmerksamkeit widmet, wie beispielsweise der Kritik an den unüberwindlichen Klassenschranken, der Hautfarbe Heathcliffs und den Spuren des Sklavenhandels.

Abschließend kann man dann noch die ARTE-Dokumentation anschauen, in der die Literaturwissenschaftlerin Lucasta Miller eine weitere Interpretationsmöglichkeit ins Spiel bringt: Der Roman könne als eine Warnung an die viktorianische koloniale Gesellschaft verstanden werden: „Die Ausgestoßenen werden sich letztendlich erheben.“

Elena Ferrante beschreibt in einem Interview, was ein gutes Buch ihrer Meinung nach leistet. Nicht nur nach dieser Definition ist Wuthering Heights ein phänomenal gutes Buch.

Good books are stunning charges of vital energy. They have no need of fathers, mothers, godfathers and godmothers. They are a happy event within the tradition and the community that guards the tradition. They express a force capable of expanding autonomously in space and time.

(aus: Elena Ferrante in einem Interview mit Sheila Heti, zitiert nach: ‘Be Silent, Recover My Strength, Start Again’: In Conversation with Elena Ferrante)

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Was ist ein Klassiker?

Als ich auf diesem Blog die Kategorie „Klassiker“ einfügen wollte, schien mir das ein guter Moment, um noch einmal zu überdenken, welche Merkmale ein literarischer Klassiker für mich erfüllen sollte. Beim Stöbern fand ich das folgende Zitat von Charles Augustin Sainte-Beuve (1850):

A true classic, as I should like to hear it defined, is an author who has enriched the human mind, increased its treasure, and caused it to advance a step;

who has discovered some moral and not equivocal truth, or revealed some eternal passion in that heart where all seemed known and discovered;

who has expressed his thought, observation, or invention, in no matter what form, only provided it be broad and great, refined and sensible, sane and beautiful in itself;

who has spoken to all in his own peculiar style, a style which is found to be also that of the whole world, a style new without neologism, new and old, easily contemporary with all time.

(aus: Literary and Philosophical Essays. 1909-14, Vol. 32. The Harvard Classics)

Ein bisschen trockener formuliert: Ein Klassiker der Literatur widmet sich zeitlosen Themen wie Kindheit, Abenteuer, Sinnsuche, Identität und Liebe oder dem Kampf zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht oder der Auseinandersetzung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Dabei sollte das Werk:

  • über Generationen und oft genug auch über Ländergrenzen hinweg Menschen ansprechen, unabhängig von Moden und Zeitgeist
  • etwas Allgemeingültiges in neuer, so bisher noch nicht da gewesener Weise darstellen
  • Qualitätsmaßstäbe für kommende Generationen setzen
  • der Leserin, dem Leser die Augen öffnen und ihr oder ihm einen tieferen Blick auf die Natur des Menschen und die ihn umgebende Welt ermöglichen
  • unaufdringlich und ohne erhobenen Zeigefinger die Welt menschlicher machen

Mark Twain hat in einer Rede am 20. November 1900 das daraus entstehende Dilemma für den Leser auf den Punkt gebracht: A classic is

something that everyone wants to have read but no one wants to read.

Nun, wir wollen bestimmte Bücher gelesen haben, weil sie Teil eines wie auch immer entstandenen und von wem auch immer aufgestellten Kanons sind, weil wir wissen, sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Kultur und Geschichte.

Auf der anderen Seite haben heutzutage die wenigsten die Zeit oder den Anspruch, solche Klassikerlisten (siehe die Kanondiskussion) abzuarbeiten. Und Italo Calvino tröstet die, die sich schämen, ein bestimmtes Werk noch nicht gelesen zu haben:

Um sie zu beruhigen, reicht es anzumerken, daß, so umfangreich die ‚Bildungslektüre‘ eines Individuums auch sein mag, immer eine riesige Anzahl grundlegender Werke übrigbleibt, die man nicht gelesen hat. (Calvino: „Warum Klassiker lesen?“)

Der heutige Leser ist selbstbewusst und weiß, dass das persönliche Interesse, die persönliche Betroffenheit ohnehin dazukommen müssen. Chris Cox  hat im Guardian vom 8. Dezember 2009 in Anspielung auf Mark Twain noch einmal klargestellt:

There are two kinds of classic novel. The first are those we know we should have read, but probably haven’t. These are generally the books that make us burn with shame when they come up in conversation: from Crime and Punishment to Jane Eyre, we know they would do us good if only we could get around to reading them. For me, embarrassingly, this category includes not just individual books, but entire oeuvres: I’ve yet to pick up a single Dickens novel, for example, and when someone mentions Proust, I actually have to make an excuse and leave the room. The second kind, meanwhile, are those books that we’ve read five times, can quote from on any occasion, and annoyingly push on to other people with the words: ‚You have to read this. It’s a classic.‘

Trotzdem sollte man das Kind nicht gleich mit dem Bade ausschütten und die Diskussion um Klassiker nicht einfach für obsolet erklären, trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten. Wer zum Beispiel legt fest, was als Klassiker zu werten ist, wenn sich doch schon die Fachleute – meist weiße, ältere Herren, westlich geprägt – keineswegs immer einig sind.

Auch Calvino geht in seinem Essay „Warum Klassiker lesen?“ (zuerst 1981 veröffentlicht) in immer wieder neuen Definitionsversuchen der Frage nach, was denn nun einen Klassiker ausmache. Er hat dabei die folgenden Formulierungen gefunden, die die Balance zwischen der überindividuellen Bedeutung eines Werkes und der Notwendigkeit des persönlichen Zugangs veranschaulichen:

Ein Klassiker ist ein Buch, das nie aufhört, das zu sagen, was es zu sagen hat.

Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen: die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe.

Und so nehme ich also die Bücher in meine Kategorie der Klassiker auf, die eine nachweisbare, Jahrzehnte überdauernde überindividuelle Bedeutung haben und zu denen ich gleichzeitig einen persönlichen Zugang gefunden habe. Wenn der Funke übergesprungen ist.

Wer sich noch ein wenig mit der Entstehung des Klassikerkanons beschäftigen möchte, sei auf den Beitrag Vergangen und gegenwärtig – Was ist ein literarischer Klassiker? hingewiesen.

Ach, und natürlich wird diese Frage immer wieder neu verhandelt, hier begründet Denis Scheck, warum er einen neuen Kanon der Meisterwerke aufstellen möchte.

Auch Michael Sommer, ja, der mit den Playmobilfiguren, hat sich an einer Definition von Weltliteratur versucht.

Jane Austen: Pride and Prejudice (1813)

It is a truth universally acknowledged, that a single man in possession of a good fortune must be in want of a wife. However little known the feelings or views of such a man may be on his first entering a neighbourhood, this truth is so well fixed in the minds of the surrounding families, that he is considered as the rightful property of some one or other of their daughters.

Mit diesem weithin bekannten Einstieg beginnt der englische Klassiker Pride and Prejudice (1813) von Jane Austen, der auf Deutsch unter dem Titel Stolz und Vorurteil erschienen ist.

Wie schon den ersten Sätzen zu entnehmen ist, muss die Ankunft des wohlhabenden Mr Bingley, des neuen Mieters des nachbarschaftlichen Herrenhauses, die Aufmerksamkeit der Familie Bennet erregen, schließlich haben Bennets haben gleich fünf Töchter, die ja irgendwann unter die Haube sollen. Das ist schon deshalb wichtig, weil aufgrund der damaligen Erbregelung das Anwesen nach dem Tode Mr Bennets nur einem männlichen Verwandten zufallen darf. Das wäre in diesem Fall Mr Collins, ein entfernter Cousin der Mädchen und ein schier unerträglicher Esel. Ohne Ehemann würden die Töchter nach dem Tod des Vaters im Grunde mittellos sein.

Hier wird nun von Austen ein etwas größerer Ausschnitt der Gesellschaft ins Auge gefasst, als das in den früheren Romanen der Fall war. Allerdings ändert diese Ausweitung nichts an den grundlegenden Themen, die auch diesen Roman durchziehen: die Rolle des Geldes, die Bedeutung von Erziehung, die Frage nach dem, was den richtigen Ehepartner ausmacht, die Überwindung von Vorurteilen. Und welche charakterlichen Reifungsprozesse müssen vollzogen werden, bevor man glücklich in den Hafen der Ehe einlaufen kann?

Die verschiedenen Möglichkeiten werden nun anhand der Familie Bennet durchgespielt. Da wären zum einen die Eltern: Mr Bennet ist eine interessante, weil durchaus zwiespältige Figur. Er ist intelligent und integer und sich im Klaren darüber, dass er er bei der Wahl seiner Ehegefährtin kräftig danebengegriffen hat, dennoch ist er nicht bereit, dem moralischen Verfall seiner Familie Einhalt zu gebieten. Stattdessen flüchtet er sich in Spott und in seine Bibliothek, in der ihn niemand stören darf.

Her mind was less difficult to develope. She was a woman of mean understanding, little information, and uncertain temper. When she was discontented, she fancied herself nervous. The business of her life was to get her daughters married; its solace was visiting and news. (S. 3 der in gebundenen Ausgabe der Everyman’s Library)

Jane, die älteste und tugendsame Tochter, verliebt sich in Mr Bingley. Die Liebe wird erwidert. Doch da Jane nicht als „gute Partie“ gilt und ihre Mutter und ihre jüngeren Schwestern ungebildet, ja fast schon ordinär sind, nimmt der zaudernde Bingley wenn auch schweren Herzens zunächst Abstand von Jane.

Ihre attraktive und lebhafte Schwester Elizabeth, die Hauptfigur, betrachtet das Treiben um sich herum mit gemischten Gefühlen. Sie nimmt ihrer Freundin Charlotte übel, dass diese, um lebenslang abgesichert zu sein, den Heiratsantrag von Mr Collins angenommen hat. Für sich selbst lehnt sie eine Heirat, die nicht auf gegenseitiger Achtung und Liebe beruht, grundsätzlich ab.

Elizabeth erkennt, wie berechnend und dümmlich sich ihre Mutter verhält. Sie ist empört, weil Bingley mit den Gefühlen ihrer Schwester zu spielen scheint, und kultiviert eine innige Abneigung gegen Bingleys Freund, den reichen, gut aussehenden, aber versnobten und stolzen Mr Darcy.

Der wiederum ist das Objekt der Begierde von Bingleys Schwester. Schonungslos legt der Erzähler deren Absichten offen, doch wer hätte nicht auch ein wenig Mitleid mit Miss Bingley?

Miss Bingley’s attention was quite as much engaged in watching Mr Darcy’s progress through his book, as in reading her own; and she was perpetually either making some inquiry, or looking at his page. She could not win him, however, to any conversation; he merely answered her question, and read on. At length, quite exhausted by the attempt to be amused with her own book, which she had only chosen because it was the second volume of his, she gave a great yawn and said: „How pleasant it is to spend an evening in this way! I declare after all there is no enjoyment like reading! How much sooner one tires of anything than of a book! – When I have a house of my own, I shall be miserable if I have not an excellent library.“ (S. 50/51)

Die mittlere Tochter der Bennets, Mary, ein unattraktives Mädchen, das von niemandem so richtig wahrgenommen wird, fällt allen anderen mit ihren Büchern, Klavierspielen und moralischen Sentenzen auf die Nerven.

Blieben noch die beiden jüngsten, Lydia und Kitty. An der fünfzehnjährigen Lydia, die wenig im Kopf hat außer ihrem Interesse für schöne Kleider und die im Ort stationierten Soldaten, sehen wir, wie gefährlich es ist, wenn eine dumme Mutter ihre Kinder verwöhnt und ihnen weder Werte noch Fähigkeiten vermittelt. Lydia brennt schließlich mit einem Tunichtgut durch.

Fazit

Anna Marie Quindlen, die einflussreiche amerikanische Autorin, Journalistin und Kritikerin, schrieb in ihrer Einleitung der Ausgabe der Modern Library voller Begeisterung:

Pride and Prejudice is also about that thing that all great novels consider, the search for self. And it is the first great novel to teach us that that search is as surely undertaken in the drawing room making small talk as in the pursuit of a great white whale or the public punishment of adultery.

Dennoch hat mich dieser Roman längst nicht so angesprochen wie Emma. Zwar führt Austen ihre Erzählfäden auch hier souverän zusammen und ihr Englisch ist wie immer ein Genuss. Austen ermöglicht dem Leser, der Leserin, nahezu mühelos die Distanz von 200 Jahren zu überbrücken. Wie in ihren anderen Werken betont sie auch hier, wie wichtig eine vernünftige Erziehung und die intellektuelle Ebenbürtigkeit in einer Ehe sind. Das sah damals bestimmt nicht jeder so.

Doch diesmal war mir die Handlung über weite Strecken zu sehr „Versuchsanordnung“, was zur Folge hatte, dass manche der Protagonisten wie Schachfiguren hin und hergeschoben wurden, ohne wirklich zu leben. Oft erschienen mir die Personen eher als Verkörperung bestimmter Tugenden bzw. Untugenden. Jane, die Arglose, ist so dermaßen fehlerlos, gut und immer darauf erpicht, nur das Beste von allen Menschen zu denken, dass sie mich extrem ermüdet hat. Auch ihre große Liebe Bingley war so fad und farblos.

Ihre Schwester Elizabeth kommt längst nicht an den Charme einer Emma Woodhouse heran und Lydia, ein dummes, verzogenes Ding, das in seiner Ehe garantiert nicht lange glücklich sein wird, erschien mir lebendiger als viele der anderen Romanfiguren.

Und doch lohnt sich die Lektüre allemal, nicht nur, um einen Klassiker der englischen Literaturgeschichte kennenzulernen, sondern auch um das Werk von Jo Baker zu verstehen, die in ihrem Roman Longbourn die gleiche Geschichte erzählt, und doch ganz anders, nämlich aus der Sicht der Hausangestellten. Unbedingt lesenswert.

Anmerkungen

Zum Abschluss hier die berühmten Worte aus Sir Walter Scotts Tagebuch vom 14. März 1826:

Also read again, and for the third time at least, Miss Austen’s very finely written novel of Pride and Prejudice. That young lady had a talent for describing the involvements and feelings and characters of ordinary life, which is to me the most wonderful I ever met with. The Big Bow-wow strain I can do myself like any now going; but the eyquisite touch, which renders ordinary commonplace things and characters interesting from the truth of the description and the sentiment, is denied to me. What a pity such a gifted creature died so early!

Janeites

Als Janeites  werden übrigens Austens Verehrer und Fans bezeichnet. Mit diesem Begriff wollten sich die ursprünglich eher akademisch geprägten Austen-Fans vom trivialen Literaturgeschmack der Massen abheben. Geprägt wurde der Begriff von George Saintsbury, einem britischen Literaturkritiker und Weinkenner: „He coined the term ‚Janeite‘ for a fan of Jane Austen in his introduction to a 1894 edition of Pride and Prejudice.

Der englischsprachigen Ausgabe der Wikipedia verdanke ich außerdem den verblüffenden  Hinweis, dass die Begeisterung für Jane Austen zunächst eine eher männlich-elitäre Angelegenheit war. Rudyard Kipling hat sogar eine Erzählung mit dem Titel The Janeites geschrieben, die im Ersten Weltkrieg spielt und die man hier nachlesen kann.

Doch als auch die „Massen“ begannen, Jane Austen und ihre Romane zu entdecken, und eine regelrechte Fan-Kultur entstand, deren Ende längst nicht abzusehen ist (inzwischen gibt es Jane Austen und Zombie-Kombinationen), entwickelte sich der Begriff Janeite fast hin zu einem Schimpfwort für jemanden, der die Romane Austens sozusagen aus den falschen Gründen liebe und die literarischen Feinheiten gar nicht zu würdigen wisse.

Wer möchte, kann sich hier den Roman in Englisch vorlesen lassen.

P. D. James (*1920) lässt ihren – nicht zu empfehlenden – Kriminalroman Death comes to Pemberley (2011) sechs Jahre nach der Hochzeit zwischen Elisabeth und Darcy einsetzen.

Harper Lee: To Kill a Mockingbird (1960)

When he was nearly thirteen my brother Jem got his arm badly broken at the elbow. When it healed, and Jem’s fears of never being able to play football were assuaged, he was seldom self-conscious about his injury. His left arm was somewhat shorter than his right; when he stood or walked, the back of his hand was at right-angles to his body, his thumb parallel to his thigh. He couldn’t have cared less, so long as he could pass and punt.

When enough years had gone by to enable us to look back on them, we sometimes discussed the events leading to his accident. I maintain that the Ewells started it all, but Jem, who was four years my senior, said it started long before that. He said it began the summer Dill came to us, when Dill first gave us the idea of making Boo Radley come out.

Mit diesen Zeilen beginnt eines der bekanntesten amerikanischen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts:

Nelle Harper Lee: To Kill a Mockingbird (1960); auf Deutsch: Wer die Nachtigall stört

Ein Erfolg sondergleichen

Von Anfang an war das Buch ein phänomenaler Erfolg. Sowohl Reader’s Digest als auch der 1927 gegründete Buchclub „Literary Guild“ nahmen Lee’s Buch in ihre Programme auf und 1961 gewann sie den renommierten Pulitzer Prize for Fiction. Doch der Erfolg fühlte sich für Harper Lee zunächst überhaupt nicht gut an, wie eines der letzten Interviews zeigt, die sie gegeben hat, bevor sie sich aus der Öffentlichkeit zurückzog:

It was like being hit over the head and knocked cold. You see, I never expected any sort of success with Mockingbird. I didn’t expect the book to sell in the first place. I was hoping for a quick and merciful death at the hands of reviewers, but at the same time I sort of hoped that maybe someone would like it enough to give me encouragement. Public encouragement. I hoped for a little, as I said, but I got rather a whole lot, and in some ways this was just about as frightening as the quick, merciful death I’d expected. (hier das Interview zum Nachhören)

Und noch 2006 wählten britische Bibliothekare das Buch auf Platz eins, als es um die Frage ging, welches Buch jeder Erwachsene in seinem Leben gelesen haben sollte.

Zum Inhalt

Der Roman, der vielen – zumindest durch die Verfilmung mit Gregory Peck in der Hauptrolle (1962) – bekannt sein dürfte, spielt in den dreißiger Jahren zur Zeit der Weltwirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts in der fiktiven Kleinstadt Maycomb in Alabama. Jean Louise, die Tochter des Anwalts Atticus Finch, die von allen nur Scout genannt wird, erzählt uns im Rückblick ihre Kindheit und im weitesten Sinne, wie es zu dem gebrochenen Arm ihres Bruders kam. Zu Beginn der Handlung ist sie knapp sechs Jahre alt und lebt mit ihrem Bruder Jem, ihrem Vater und der schwarzen Hausangestellten Calpurnia in einer scheinbar unbeschwerten Kindheitsidylle.

Sie genießt viele Freiheiten, tobt (und prügelt sich) wie ein Junge durch Schule und Nachbarschaft, wird von ihrem Bruder beschützt und muss sich mit einer verständnislosen Lehrerin herumärgern, die nicht akzeptieren will, dass Scout schon bei ihrer Einschulung lesen kann. Daraufhin verkündet sie ihrem Vater, dass sie gedenkt, den Schulbesuch sofort wieder einzustellen.

Die Sommerferien sind der Höhepunkt des Jahres, denn dann reist Dill, der Neffe der Nachbarin, zu Besuch an und zu dritt machen die Kinder die Gegend unsicher oder versuchen, den geheimnisumwitterten, nie gesehenen Nachbarn Arthur Radley aus dem Haus zu locken. Doch irgendwann bekommt Scouts Vater den Auftrag, den Schwarzen Tom Robinson vor Gericht zu verteidigen, der angeklagt ist, eine Weiße vergewaltigt zu haben. Atticus wird daraufhin von vielen als „nigger lover“ beschimpft und er befürchtet zu Recht, dass auch seine Kinder die Vorurteile zu spüren bekommen:

I hope and pray I can get Jem and Scout through it without bitterness, and most of all, without catching Maycomb’s usual disease. Why reasonable people go stark raving mad when anything involving a Negro comes up, is something I don’t pretend to understand. (S. 98 der hässlichen Ausgabe der Mandarin Paperbacks)

Fazit

Das Buch entwickelt eine ganz außergewöhnliche Wucht.

Es ist nicht nur eine bissige Anklage gegen die christlich verbrämte Heuchelei in einem rassistischen System: Bei den Damenkränzchen werden irgendwelche Missionare in Afrika verehrt und gleichzeitig drohen sie ihren schwarzen Hausangestellten mit Rauswurf, als diese nach dem Prozess nur bedrückt und mürrisch ihre Arbeiten verrichten.

‚Gertrude, I tell you, there’s nothing more distracting than a sulky darky. Their mouths go down to here. Just ruins your day to have one of ‚em in the kitchen. You know what I said to my Sophy, Gertrude? I said, ‚Sophy,‘ I said, ‚you simply are not being Christian today. Jesus Christ never went around grumbling and complaining.‘ And you know it did her good […] I tell you, Gertrude, you never ought to let an opportunity go by to witness for the Lord.‘ (S. 256)

Auch der Spannungsaufbau ist gelungen, und zwar nicht nur, weil man wissen will, wie der Prozess ausgeht. Darüber hinaus hat Lee auch eine so überzeugende Erzählerstimme für Scout gefunden, dass die Distanz zwischen Leser und Erzählerin fast verschwindet.

Atticus was feeble: he was nearly fifty. When Jem and I asked him why he was so old, he said he got started late, which we felt reflected upon his abilities and manliness. […] Our father didn’t do anything. He worked in an office, not in a drug-store. Atticus did not drive a dump-truck for the county, he was not the sheriff, he did not farm, work in a garage, or do anything that could possibly arouse the admiration of anyone. (S. 99)

Selbst wenn Kritiker gern darauf hinweisen, dass bei den ironischen Brechungen und dem Wortschatz immer wieder mal in die Perspektive der Erwachsenen gewechselt wird:

It might be that Lee floundered when she was trying to settle on a point of view. She rewrote the novel three times: the original draft was in the third person, then she changed to the first person and later rewrote the final draft, which blended the two narrators, Janus-like, looking forward and back at the same time. (Charles J. Shields, S. 128)

Zwar ist Lee die Vaterfigur unrealistisch ideal geraten, doch stört das kaum. Atticus erzieht seine Kinder zu Menschen, denen Äußerlichkeiten nicht sehr wichtig sind, die selber denken, die Verantwortung für ihr Tun und ihre Fehler übernehmen müssen und die die humanen Werte ihres Vaters wie Anstand und den Glauben an Gerechtigkeit vor dem Gesetz übernehmen. Sie werden letztendlich zu Hoffnungsträgern, dass Rassismus und nahezu grenzenlose Heuchelei nicht das letzte Wort haben werden.

Der Titel

Die Übersetzung des Titels ins Deutsche ist in seiner Süßlichkeit irreführend. Ein ‚mockingbird‘ ist eine amerikanische Spottdrossel. Als Atticus seinen Kindern Luftgewehre schenkt, stellt er ihnen nur eine einzige Bedingung:

‚Shoot all the bluejays you want, if you can hit ‚em, but remember it’s a sin to kill a mockingbird.‘ (S. 99).

Die Nachbarin Miss Maudie erklärt den Kindern, weshalb:

‚Mockingbirds don’t do one thing but make music for us to enjoy. They don’t eat up people’s gardens, don’t nest in corncribs, they don’t do one thing but sing their hearts out for us. That’s why it’s a sin to kill a mockingbird.‘

Die Humanität des Einzelnen und der Gesellschaft erweist sich auch im Umgang mit den menschlichen „Mockingbirds“, auf die im Buch noch mehrmals angespielt wird.

Die Biografie von Shields

Charles J. Shields hat in seiner überaus sorgfältig und bis ins kleinste Detail recherchierten Biografie Mockingbird: A Portrait of Harper Lee (2006), bei der er keinerlei Unterstützung von Harper Lee oder ihren Familienangehörigen bekam, viele der autobiografischen Bezüge und Anverwandlungen nachgewiesen. Im Buch heißt es beispielsweise: „Our mother died when I was two, so I never felt her absence“ (S. 6). Shields erklärt die Tatsache, dass Scout und Jem ohne Mutter aufwachsen müssen, damit, dass Lees Mutter psychisch krank war und emotional gar keine Beziehung zu ihren Kindern aufbauen konnte.

Die Figur des Nachbarjungen Dill geht auf das reale Vorbild von Truman Streckfus Persons zurück, der tatsächlich die Ferien im Nachbarhaus verbracht hat und der später unter dem Namen seines Stiefvaters Capote ebenfalls Weltruhm erlangen sollte. Auch den geheimnisvollen Nachbarn hat es gegeben und ihr Vater hat 1919 zwei Schwarze verteidigt. Als diese trotzdem zum Tode verurteilt wurden, hat er seine Arbeit als Anwalt aufgegeben.

Allerdings war Amasa Coleman Lee, ganz im Gegensatz zu Atticus,  zunächst alles andere als ein Gegner der Rassentrennung. Er war federführend bei der Entlassung des methodistischen Reverend Ray Whatley, der seiner Meinung nach zu viel über ’social justice‘ und zu wenig über das Evangelium sprach. Whatley wurde dann später enger Mitarbeiter von Martin Luther King. Doch spätestens ab den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich Lees Vater für die Rechte der Schwarzen und für ein gerechteres Wahlsystem ein. Zur Frage, welche Gerichtsprozesse als Vorlage und Inspiration für den Prozess gegen Tom Robinson dienten, siehe den als exzellent bewerteten Artikel in der englischen Wikipedia.

Kritik an Lees Buch

Aus heutiger Sicht wirkt der Verriss von Phoebe Lou Adams im Atlantic Magazine vom August 1960 eher komisch, man fragt sich, welches Buch Adams da wohl gelesen hat.

Lees Buch ist inzwischen eines der erfolgreichsten Werke der Literatur (über 30 Millionen verkaufte Exemplare weltweit) und erst 2010 erschien Scout, Atticus, and Boo: A Celebration of ‚To Kill a Mockingbird‘ von Mary McDonagh-Murphy, in dem Künstler, Weggefährten und namhafte Schriftsteller der Gegenwart ihre Begeisterung für To Kill a Mockingbird erklären.

Lees Anteil an der Überwindung der Rassentrennung wird allerdings als eher gering eingeschätzt. Spektakuläre Aktionen wie die der Freedom Riders hat sie abgelehnt, da diese nur die Gewalt beförderten.

Doch überholt war und ist ihr Roman keineswegs – trotz seiner Verankerung in der Vergangenheit. Anfang der Sechziger riskierten schwarze Studentinnen und Studenten wie z. B. James Meredith ihr Leben, wenn sie ihr seit 1954 verbrieftes Recht auf ungehinderten Zugang zu ehemals nur Weißen vorbehaltenen öffentlichen Bildungseinrichtungen wahrnehmen wollten (siehe den Prozess Brown versus Board of Education).

Und die Einstellung der Menschen ändert sich nur langsam – wenn überhaupt. Senator E. O. Eddins hat 1959 massiven Druck auf die Bibliothekarin Emily Wheelock Reed ausgeübt, als die sich weigerte, das Kinderbuch The Rabbits‘ Wedding von Garth Williams aus dem Verkehr zu ziehen. Im Buch heiraten ein schwarzes und ein weißes Kaninchen.

Jener Senator wollte auch eine Ehrung Harper Lees verhindern, hat dann seinen Protest aber zurückgezogen, um zu verhindern, dass man sie als Märtyrer verkläre. Und eine regionale Schulbehörde in Virginia wollte noch 1966 ihren Roman komplett aus den Schulbüchereien verbannen, weil das Buch so unmoralisch sei. Lee antwortete mit einem sehr hübschen Brief:

Recently I have received echoes down this way of the Hanover County School Board’s activities, and what I’ve heard makes me wonder if any of its members can read. Surely it is plain to the simplest intelligence that “To Kill a Mockingbird” spells out in words of seldom more than two syllables a code of honor and conduct, Christian in its ethic, that is the heritage of all Southerners. To hear that the novel is „immoral“ has made me count the years between now and 1984, for I have yet to come across a better example of doublethink. I feel, however, that the problem is one of illiteracy, not Marxism.

Deshalb schließt sie den Brief mit der Ankündigung einer Spende, die doch bitte dafür verwendet werden möge, „to enroll the Hanover County School Board in any first grade of its choice.“

In Cold Blood

Harper Lee hat übrigens noch an einem weiteren Klassiker der amerikanischen Literatur mitgewirkt. Auch wenn Truman Capote das nie öffentlich honoriert hat: Sie war nicht nur als sein „assistant researchist“ über Monate bei den Vorarbeiten und Interviews zu In Cold Blood wesentlich beteiligt – meist fertigte sie die Mitschriften an und bahnte Kontakte zu wichtigen Interviewpartnern an, die Truman Capote zunächst äußerst misstrauisch beäugten -, sondern war auch immer wieder zur Stelle, wenn Capote weitere Lokaltermine anberaumte oder sie bat, sein Manuskript zu begutachten.

Capote sagte selbst:

Without her deep probing of the people of that little town, I could never have done the job I did with it.“ (zitiert nach Shields, S. 253).

Doch als es darum ging, Lees Beitrag auch öffentlich anzuerkennen, spielte er ihre Rolle so weit herunter, dass ihre Jahrzehnte dauernde Freundschaft einen ernsthaften Riss bekam.

So when, in January 1966, she opened the first edition of In Cold Blood, she was shocked to find the book dedicated to her, a patronizing gesture in light of her contribution – „With Love and Gratitude,“ it said. And, out of the blue, she found she had to share Capote’s thanks with his longtime lover, Jack Dunphy. (Shields, S. 253)

Das lange Schweigen der Autorin

To Kill a Mockingbird ist geradezu durchtränkt von Anleihen aus der Kindheit Harper Lees und das ist möglicherweise einer der Gründe, weshalb Lee danach – außer vier Artikeln und einem Brief an Oprah Winfrey – nie wieder etwas veröffentlicht hat. Sie hat aus persönlichem Erleben ein Stück Weltliteratur geformt. Was sollte dem noch hinzugefügt werden? Dieser stark autobiografische Bezug erklärt vielleicht auch, dass sie – auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung – die Zeit um ca. 30 Jahre zurückdreht und Schwarze in ihrem Buch ausschließlich als arme Feldarbeiter oder als Angestellte in weißen Haushalten vorkommen. Die meisten Mitglieder der schwarzen Gemeinde im Buch sind Analphabeten.

Ein zweiter Grund, weshalb Lee danach nie wieder etwas veröffentlicht hat, könnte sein, dass die Arbeit an dem Roman nur sehr mühsam vonstatten ging. In dreieinhalb Jahren wurde das Manuskript dreimal grundlegend überarbeitet und umgestellt. Ohne die Geduld und die Hinweise ihrer Verlegerin Hohoff, die überhaupt erst dafür sorgte, dass das Ganze zu einem Roman mit einem klaren Handlungsaufbau statt zu einer unausgewogenen Anekdotensammlung wurde, wäre das Buch nie veröffentlicht worden.

Das ist auch der Grund, weshalb an mir die medial inszenierte Aufregung an dem 2015 veröffentlichen Go Set a Watchman komplett vorbeiging, das inzwischen ohnehin als erster Entwurf für To Kill a Mockingbird gilt (siehe hierzu den aufschlussreichen Artikel The Invisible Hand Behind Harper Lee’s ‘To Kill a Mockingbird’ von Jonathan Mahler aus der New York Times, Juli 2015)

Shields weist außerdem darauf hin, dass die Zeitschrift Esquire 1961 die Veröffentlichung eines Textes von Lee ablehnte. Sie hatte zugesagt, einen Sachtext über den Süden einzureichen, doch was sie stattdessen ablieferte, war To Kill a Mockingbird im Miniaturformat:

The fact that she had submitted a piece of fiction with To Kill a Mockingbird overtones again, when a nonfiction piece was requested suggests a certain lack of versatility. (Shields, S. 217)

In einem Gespräch mit Harper Lee hat ein enger Vertrauter, Dr. Butts, einmal folgende Theorie zu ihrem Jahrzehnte langen Schweigen aufgestellt:

I espoused two or three ideas. I said maybe you didn’t want to compete with yourself. She said, ‚Bullshit. Two reasons: one, I wouldn’t go through the pressure and publicity I went through with To Kill A Mockingbird for any amount of money. Second, I have said what I wanted to say and I will not say it again‘. (zitiert nach dem unaufgeregt-lesenswerten Artikel von Paul Toohey: Miss Nelle in Monroeville, im australischen Sunday Telegraph vom 31. Juli 2010)

Andrew Gumbel hat 2006 ebenfalls Shields Biografie gelesen auf der Suche nach der Antwort, weshalb Lee nach ihrem Welterfolg nie wieder etwas veröffentlicht hat.

Don Lee Keith, dem sie eines der letzten Interviews gewährte, das dann im Frühjahr 1966 in der Zeitschrift Delta Review unter dem Titel „An Afternoon with Harper Lee“ erschien, war übrigens derjenige, der sie als erster – wenn auch unabsichtlich – in Zusammenhang mit dem Etikett „recluse“ (Einsiedler) brachte:

Harper Lee is no recluse. She is no McCullers or Salinger whose veneer of notoriety cannot be punctured to reveal, after all, another individual. She is real and down-to-earth as is the woman next door who puts up fig preserves in the spring and covers her chrysanthemums in winter. (zitiert nach Shields, S. 248)

Wenn man bedenkt, welchen schier unglaublichen Presserummel die Autorin, die einfach nur ihre Ruhe haben wollte, über sich ergehen lassen musste und dass sie selbst bis ins hohe Alter nicht vor Journalisten sicher war, die oft genug rücksichtslos einfach an ihre Tür klopften und Einlass begehrten, ist ihr Schweigen vielleicht gar nicht so unverständlich.

In einer Zeit allerdings, in der so viele – egal, wie unbegabt, dämlich oder belanglos – ein „Star“ sein möchten und andere glauben, ein Recht auf Einblick in das Privatleben anderer zu haben, ist Lees Schweigen auch eine Provokation.

It takes a kind of courage that almost nobody has in this country, where celebrity has replaced religion for a lot of people, to turn away from the church of publicity and say, ‘I’m not going to pray there, I’m not going to appear there’ (Mark Childress, in Scout, Atticus, and Boo: A Celebration of ‚To Kill a Mockingbird‘ )

Und dabei es ist doch mehr als genug, wenn man über eine Autorin die schönen Worte sagen kann:

Sometimes novels are considered ‚important‘ in the way medicine is – they taste terrible and are difficult to get down your throat, but are good for you. The best novels are those that are important without being like medicine; they have something to say, are expansive and intelligent but never forget to be entertaining and to have character and emotion at their centre. Harper Lee’s triumph is one of those. (Chimamanda Ngozi Adichie, 10. Juli 2010 im Guardian)

Sabine von Binge Reading & More verdanke ich den Hinweis auf einen Artikel im The Economist, der leider mehr als deutlich macht, dass die beste Medizin nichts nützt, wenn man sie nicht wirken lässt.

Schließen möchte ich mit zwei Zitaten von Atticus:

You never really understand a person until you consider things from his point of view – until you climb into his skin and walk around in it.

… but before I can live with other folks I’ve got to live with myself. The one thing that doesn’t abide by majority rule is a person’s conscience.

b-nz 189

H. D. Thoreau: Walden oder Leben in den Wäldern (OA 1854)

Wer kennt sie nicht, die Sätze, die zum Motto des Clubs der toten Dichter werden sollten? Doch das überbordend großartige Walden oder Leben in den Wäldern (1854) mit seinen fast 500 Seiten, aus dem das Zitat stammt, habe ich erst jetzt für mich entdeckt. 

Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. […] Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde. (S. 141)

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Walden, or, Life in the Woods. Die Ausgabe des Diogenes Verlages wurde von Emma Emmerich und Tatjana Fischer übersetzt.

Lesen wir zunächst, was Thoreau selbst auf den ersten Seiten zu seinem Werk sagt:

Als ich die folgenden Seiten, oder jedenfalls den größten Teil davon schrieb, wohnte ich eine Meile weit von meinem nächsten Nachbarn entfernt in einem Haus, das ich mir selbst am Ufer des Waldenteiches in Concord, Massachusetts, gebaut hatte, allein im Walde und verdiente meinen Lebensunterhalt einzig mit meiner Hände Arbeit. Dort lebte ich zwei Jahre und zwei Monate lang. Jetzt bin ich wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.
Ich würde meine Angelegenheiten der Aufmerksamkeit meiner Leser nicht aufdrängen, wenn nicht von meinen Mitbürgern über meine Lebensweise die genauesten Erkundigungen eingezogen worden wären, Erkundigungen so eingehender Art, daß man sie fast als unverschämt bezeichnen könnte, wenn nicht die Verhältnisse sie natürlich und angemessen erscheinen ließen. […]
Ich würde nicht soviel über mich reden, wenn ich irgend jemand anderen ebenso gut kennte. Leider bin ich durch die Beschränkung meiner Erfahrung auf dieses Thema angewiesen. […]
Ich möchte gern mancherlei sagen, weniger über die Sandwichinsulaner oder die Chinesen als über euch, die ihr diese Zeilen lest, die Bewohner von Neuengland; allerhand über eure Verhältnisse, besonders über eure äußeren Verhältnisse in dieser Welt, dieser Stadt; welcher Art sie sind, ob es notwendig ist, daß sie so schlecht sind, wie sie sind, und ob sie nicht ebenso leicht verbessert werden könnten.

Im März 1845 beginnt Thoreau sein Blockhaus im Wald zu zimmern, wo er für über zwei Jahre leben wird. Zwar macht er keinen Hehl daraus, dass er keineswegs zum Eremiten geworden ist: Fast täglich geht er ins ca. zwei Kilometer entfernte Örtchen, er erhält Besuch, die Eisenbahnlinie verläuft ganz in der Nähe und immer wieder kommt er mit Arbeitern, Baumfällern und Anglern ins Gespräch.

Und dass das Waldgrundstück, auf dem er da so vergnügt als Selbstversorger herumwerkelt, seinem Freund und Mentor Emerson gehört und dass er seine Wäsche im Ort waschen lässt, das verschweigt er den LeserInnen dann einfach. Im September 1847 verlässt er schließlich seine Waldeinsamkeit.

Ja, und so nimmt ein Buch seinen Anfang, das sich in seiner Collage- und Assoziationstechnik schwerlich zusammenfassen lässt. Die mehr als zwei Jahre Aufenthalt im Wald werden im Buch zu einem Jahr zusammengefasst. Überhaupt dauerte es mehrere Jahre und diverse Überarbeitungen, bis das Werk zu seiner endgültigen Gestalt gefunden hatte. Thoreaus Zeitgenossen waren von diesem gesellschafts- und konsumkritischen Buch, das zur Selbsterkenntnis aufrief, wenig begeistert. Seinen Siegeszug als amerikanischer Klassiker trat es erst nach dem Tod seines Autors an.

Eine herausfordernde, mäandernde, mal ausufernde, mal faszinierende Mischung, bestehend aus philosophischen Gedankenflügen, herablassender Weltverachtung, Einkaufslisten, kluger Gesellschafts- und Konsumkritik, Überheblichkeiten, Absurditäten, naturwissenschaftlichen Experimenten, Pathos, lyrischen Landschafts- und Tierschilderungen, Anleitungen zum Bohnenanbau oder zum Bau einer eigenen Blockhütte. Kaum ein Thema ist vor ihm sicher.

Dann wieder gibt es Ernährungs- und Lektürehinweise – ganz einfach nur das Beste lesen -, wir erfahren, wer ihn in seiner Einsiedelei besucht und wie wenig er materiell benötige, um zufrieden zu sein. Der Autor macht sich so seine Gedanken zur Bedeutung der Natur, zum Wohnen, zur Kleidung, zum richtigen Abstand zwischen zwei Gesprächspartnern, zur Einsamkeit und zum Erwachen am Morgen. Er kritisiert unsere Gier nach „Neuigkeiten“, misst den See aus (später wird Thoreau als Landvermesser arbeiten), sinniert über das Wesen der  Gastfreundschaft und überlegt, wie ein sinnvolles Studium aussehen könnte.

… ich meine, sie sollten nicht bloß Leben spielen oder dieses bloß studieren, während der Staat sie bei diesem kostspieligen Spiel unterstützt, sondern es im Ernst leben vom Anfang bis zum Ende. Wie sollen junge Leute besser das Leben erlernen können, als indem sie sich sofort am Experiment des Lebens versuchen? […] Wenn ich zum Beispiel wünschte, daß ein Junge etwas von Kunst und Wissenschaft verstehen lernte, so würde ich nicht das allgemeine Verfahren einschlagen, welches darin besteht, ihn in die Nähe eines Professors zu schicken, wo alles mögliche doziert und geübt wird, nur keine Lebenskunst. Er lernt dort, die Welt durch ein Fernrohr oder durch ein Mikroskop, aber nie mit den natürlichen Augen zu betrachten; er studiert dort Chemie, ohne zu wissen, wie Brot gemacht wird, oder Mechanik, ohne zu wissen, wie man es verdient; er entdeckt neue Trabanten des Neptun, aber nicht den Schmutz in seinen eigenen Augen oder den Taugenichts, dessen Trabant er selber ist. (S. 87/88)

Wilde Metaphorik, Anklänge an die Bibel, Gedichtzeilen, Widersprüchlichkeiten und Zitate aus der von ihm verehrten indischen Literatur, dazu schwelgerisch ausgeführte Gedanken und Naturschilderungen gehen eine sprachmächtige Mischung ein, deren Sog man sich kaum entziehen kann.

Ein See ist der schönste und ausdrucksvollste Zug einer Landschaft. Er ist das Auge der Erde. Wer hineinblickt, ermißt an ihm die Tiefe seiner eigenen Natur. Die Bäume dicht am Ufer, welche sein Wasser saugen und in ihm zerfließen, sind die schlanken Wimpern, die es umsäumen, und die waldigen Hügel und Felsen die Augenbrauen, die es überschatten. (S. 273)

Manchmal verliere ich den Faden, manchmal langweile ich mich, manchmal widerspreche ich, doch alles in allem: einzigartig, lesenswert, nachdenkenswert. Dabei trifft einen die jugendlich anmutende Arroganz, genau zu wissen, was denn richtiges Leben sei und was in der Gesellschaft falsch läuft, manchmal ganz ohne Vorwarnung und fröhlich zwingt Thoreau einen zur Selbstbefragung, wie man denn nun selbst das „Experiment“ des eigenen Lebens anzugehen gedenke.

Noch immer leben wir niedrig wie Ameisen, obgleich die Sage erzählt, wir seien schon vor langer Zeit in Menschen verwandelt worden. Wie Pygmäen kämpfen wir mit Kranichen; Irrtum häuft sich auf Irrtum und Flickwerk auf Flickwerk, und unsere besten Kräfte verwenden wir zu überflüssigen, vermeidbaren Jämmerlichkeiten. Unser Leben zersplittert sich in Kleinigkeiten. […] Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Laß deine Geschäfte zwei oder drei sein, sage ich dir, und nicht hundert oder tausend… (S. 142)

Hier geht’s lang zu einem lesenswerten Artikel von Gisa Funck auf der Seite des Deutschlandfunk. Denis Scheck hat Walden in seine Klassikerliste aufgenommen.

Einen wesentlich kritischeren Blick auf den misanthropischen Querdenker Thoreau wirft der längere Artikel von Kathryn Schulz im New Yorker.

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Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – letzter Teil

Nachdem der junge Pilger nun die ihm bekannte Welt durchreist hat und überall an der Unvollkommenheit der menschlichen Einrichtungen schier verzweifelt ist, kommt er zu dem ernüchternden Fazit, dass er trotz aller Versuche, fröhlich zu sein, nicht in der Lage ist, sich mit dem äußeren Schein der Dinge zu begnügen. Er schaffe es nicht, ein zufälliges und nichtssagendes Lachen für wahre Freude und die Lektüre von ein paar alten Scharteken für echte Weisheit und ein Stückchen zufälligen Glücks schon für den Gipfel der Befriedigung zu halten (siehe S. 136).

Ihr habt mir Reichtum, Seelenruhe und Erkenntnis versprochen, aber was besitze ich von alledem? Nichts! Und was kann ich? Nichts! Wo bin ich? Ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß ich nach so vielen Verirrungen, so vielen Mühen, so vielen überstandenen Gefahren und innerlich völlig ermattet und erschöpft nichts anderes gefunden habe als den Schmerz in meiner eigenen Brust, dazu den Haß der andern gegen mich. (S. 136)

Er weigert sich,

verblendet wie die andern in einem Wahn zu leben, haltlos umherzuschwanken, unter dem Joch des Lebens zu seufzen und zu stöhnen und schon krank, ja halbtot noch guten Mutes zu sein. Ich aber habe gesehen und erkannt, daß ich ebenso wie die andern nichts bin, nichts kann, nichts habe, sondern daß dies alles nur ein Schein ist. Wir alle haschen nach bloßen Schatten, während die Wahrheit uns überall entweicht. (S. 136 f)

Nach einem längeren Aufenthalt in der Burg der Weisheit, bei dem er auch Salomo begegnet, sieht der Pilger keinen anderen Ausweg mehr, als Gott um Erbarmen anzuflehen, und tatsächlich, da lässt sich eine Stimme vernehmen:

Kehre dahin zurück, von wo du ausgegangen bist, in deines Herzens Kämmerlein und schließe hinter dir die Tür zu. (S. 167)

Und der Pilger befolgt diesen Rat.

Ich sammelte also, so gut ich konnte, meine Gedanken, schloß Augen, Ohren, Mund und Nase und alle sonstigen Zugänge der Seele und hielt nun Einkehr in mein Herz; doch siehe! da war es finster.

Ein Licht kommt jedoch von oben herab und in tiefer Verzückung begegnet er nun Jesus Christus, der ihn freundlich als Bruder willkommen heißt.

Wo weiltest du, mein Sohn? Wo bliebst du denn so lange? Auf welchen Wegen wandeltest, was suchtest du? Trost in der Welt? Wo konntest du ihn finden außer in Gott? Und Gott wo anders als in seinem Tempel? Und in welchem außer dem lebendigen, den er sich selbst erwählet hat, in deinem Herzen? Ich sah dich, als du irrtest; doch ich wollte, mein lieber Sohn, nicht länger warten; darum habe ich dich zu dir selbst gebracht und in dein eigenes Herz geführt; denn dieses habe ich zu meiner Wohnstätte erkoren. Wenn du mit mir dort wohnen willst, dann wirst du finden, was du in der Welt vergeblich suchtest, Frieden, Trost, den wahren Ruhm und volle Sättigung. (S. 171)

Mit Anklängen an Augustinus, die Mystiker und die Bibel – man merkt, wie sehr Comenius auch Prediger war – gibt ihm der Gottessohn noch weitere Hinweise für ein weises und gottgefälliges Leben. Dabei werden auch viele der Bereiche gestreift, die der Pilger auf seiner Weltenreise vorher durchwandert hatte. Doch nun wird ihm gezeigt, wie Ehe, Kirche, weltliche Herrschaft, Arbeit und Gelehrsamkeit aussehen, wenn sie tatsächlich unter der Herrschaft Gottes stehen. Ein stilles, friedvolles und maßvolles Himmelreich auf Erden.

Du siehst auch, mit wieviel Gepränge und wie vielen Zwistigkeiten bei den Menschen die Ausübung der Religion verbunden ist. Laß du deinen Gottesdienst darin bestehen, in aller Stille mir zu dienen, ohne dich dabei um äußere Gebräuche zu kümmern: ich entbinde dich davon. Und wenn du mich, wie ich es wünsche, im Geist und in der Wahrheit anbetest, rechte mit niemand, ob man dich auch einen Heuchler, Ketzer oder wie immer nennen mag, sondern halte dich im stillen nur an mich und diene mir allein. (S. 174)

Fazit

Zwar war das Wandern mit dem Pilger durch das Jammertal der Erde manchmal ein wenig freudlos und das eher schematische Absolvieren der verschiedenen Etappen ermüdend, doch war diese Abtönung ins Dunkle und Unvollkommene aller menschlichen Einrichtungen für Comenius aus didaktischen Gründen wohl notwendig. Nur wenn sein Pilger sich nicht mit irdischen Genüssen abspeisen lässt, sucht er weiter nach dem, was ihm wirklich Frieden und Freude bringt.

Trotzdem habe ich das Buch sehr gern gelesen. Auch wenn man nicht überall zustimmen mag: Viele zeitlose Wahrheiten, der kluge Blick auf viele Bereiche der Gesellschaft und die wuchtige und dann wieder ganz zarte und innige Sprache gefielen mir ausnehmend gut.

Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – Teil 3

Heute also der dritte Teil der Pilgerreise auf dem Weg zu einem erfüllten und gottgefälligen Leben. Diesmal untersucht der Reisende die Wissenschaften, verschiedene Weltreligionen, weltliche Herrschaft und das Streben nach Glück.

Als der Pilger bei den Gelehrten und Philosophen ankommt, ist er entsetzt, ja angewidert, da auch hier alle nur aufeinander einprügeln und Händel mit ihresgleichen anfangen. Man streitet sogar über die Frage, ob der Schnee weiß oder schwarz, das Feuer heiß oder kalt sei, und niemand ist in der Lage, die Streitigkeiten friedlich beizulegen. Auch die übrigen Wissenschaftszweige können ihn nicht überzeugen, genauso wenig wie die Rhetorik, die gern dazu benutzt werde, „dem Gehirn des Zuhörers eine bestimmte Färbung zu verleihen“ (S. 60).

Nach den Wissenschaften wendet sich der Reisende dem großen Thema der Religionen zu. Am verträglichsten erscheinen ihm noch die Heiden, von denen

ein jeder seine Andacht in seiner Weise übte und auch die anderen frei gewähren ließ. Indes verschlug mir hier ein unerträglicher Gestank den Atem… (S. 90)

Die Juden kommen – aufgrund einer ziemlich kruden Begründung – nicht gut bei ihm weg und die Muslime, die ihm auf den ersten Blick so reinlich und still ihre Andacht zu verrichten scheinen, seien diejenigen, die nur mit dem Schwerte ihre Religion verteidigten und geradezu im Blute wateten.

Umso mehr freut er sich über die christliche Lehre, der er auf Schritt und Tritt begegnet, doch muss er rasch erkennen, dass gerade die Christen sich

in Saufgelage und Händel stürzen, Unzucht treiben, Diebstahl und Raub verüben. Ich traute meinen eigenen Augen nicht, sah nochmals hin und fand nun, daß sie wirklich fraßen und soffen, haderten und rauften, einander mit Gewalt und List beraubten und schunden, vor lauter Übermut krähten und wieherten, lärmten und tobten, hurten und die Ehe brachen, ärger als ich es sonst irgendwo gesehen, kurz, daß sie gerade das Gegenteil davon taten, wozu  man sie ermahnt und was zu tun sie auch versprochen hatten. (S. 93)

Und bei den Geistlichen sieht es eher noch schlimmer aus:

hier wälzten sie sich schnarchend in ihren Betten, dort schwelgten sie an einer reich besetzten Tafel und stopften sich mit Speisen und Getränken voll, bis sie bewußtlos liegenblieben, oder vollführten allerhand ausgelassene Sprünge; einige füllten ihre Beutel, Truhen und Kammern mit Gold, andere frönten der Buhlerei und trieben Unzucht; die einen hantierten mit Sporen, Degen und Flinten, die anderen tummelten sich mit einer Koppel Hunde auf der Hasenjagd, so daß sie den geringsten Teil der Zeit bei der Bibel zubrachten oder sie überhaupt kaum jemals zur Hand nahmen, sich aber trotzdem Schriftgelehrte nannten. (S. 95)

Die Spaltung in verschiedene Glaubensrichtungen und die Heuchelei der Prediger findet er abscheulich:

… über dem Chorrock einen Panzer, auf dem Barett einen Helm, in der Linken das Gesetz, in der Rechten das Schwert, vorn die Schlüssel Petri und hinten den Judasbeutel zu tragen, in der Bibel wohlbeschlagen zu sein und indes das Herz voller Listen zu haben, den Mund von Andacht überfließen zu lassen, während die Wollust einem aus den Augen sieht. (S. 95)

Zwar begegnet der Pilger auch einigen Christen, die mit diesen ganzen Zwistigkeiten nichts zu tun haben wollen und gegen jedermann freundlich sind, doch sie sind eher unansehnlich und gesellschaftlich so unbedeutend, dass er an ihnen achtlos vorübergeht. Erst später wird er verstehen, dass genau diese ihm den Weg zeigen können, der aus den „Wirrsalen des Labyrinths der Welt“ herausführt.

Der nächste große Lebensbereich, mit dem sich der Pilger befasst, die weltliche Herrschaft, krankt auf allen Hierarchiestufen an einem Übel:

Da machte ich die seltsame Entdeckung, daß nämlich selten einer von ihnen [den jeweiligen Machthabern] alle Glieder hatte und fast einem jeden irgendein notwendiger Teil des Körpers fehlte, entweder die Ohren, um die Klagen der Untertanen zu vernehmen, oder die Augen, um allerhand Mißbräuche wahrzunehmen, oder die Nase, um damit die listigen Ränke der Spitzbuben zu wittern, oder die Zunge, um für Unterdrückte, die sich nicht wehren können, Fürsprache einzulegen, oder die Hände, um damit das richterliche Urteil zu vollstrecken, oder schließlich das Herz, das auszuführen, was die Gerechtigkeit erfordert. Doch diejenigen, welchen keines dieser Glieder fehlte, waren geplagte Leute; denn man überlief sie förmlich mit Bitten, so daß sie weder Zeit zum Essen noch zum Schlafen hatten, während die anderen zumeist ein untätiges Leben führten. (S. 102)

Auch das Problem, das wir neudeutsch Lobbyismus nennen, ist dem Erzähler bewusst.

In der Nähe des Thrones sah ich viele Leute, die dem Fürsten etwas unmittelbar in die Ohren bliesen oder ihm verschiedenfarbige Gläser aufsetzten; unter die Nase räucherten, ihm Hände und Füße banden und wieder lösten, seinen Thron ausbesserten und befestigten usw. ‚Was sind denn das für Leute‘, fragte ich, ‚und was tun sie da?‘ Die Antwort lautete: ‚Das sind Geheimräte, welche die Könige und großen Herren beraten.‘ (S. 105)

Und überhaupt schaffe es die weltliche Herrschaft nicht, wirklich Gesetz, Gerechtigkeit und Ordnung walten zu lassen.

Recht und Unrecht, Haß und Liebe hielten sich doch stets die Waage, und überall war die Gerechtigkeit mit Ungerechtigkeit, das Recht mit der Gewalt gepaart, die Rathäuser, Gerichtshöfe und Kanzleien waren ebenso Stätten des Rechtes wie des Unrechts, und diejenigen, welche sich Beschützer der Gesetze nannten, waren ebensooft vielleicht noch öfter, die Beschützer der Ungesetzlichkeit. Ich wunderte mich, wieviel eitler Schein und glänzendes Elend in diesem Stande zu finden seien… (S. 107)

Dass den Pilger der Soldatenstand besonders erschreckt, verwundert nicht. Habe dieser ja gerade das Ziel, möglichst viele Menschenleben sowie den menschlichen Wohlstand überhaupt zu vernichten, und dazu benötige er eben möglichst viele grausame Waffen, die ihre Opfer sowohl in der Ferne als auch in der Nähe augenblicklich erreichen können.

Er ist traurig, als er sieht,

wie man viele mit abgehauenen Händen, Füßen, Köpfen, Nasen, zerschossenem Körper, zerfetzter Haut und blutbesudelt vom Schlachtfeld brachte. (S. 110)

Als nächstes führen ihn seine Begleiter in das Schloss Fortunas, wo er mitansieht, wie viele Menschen ihr Leben lang darauf warten, dass das große Glücksrad sie mit in die Höhe nimmt. Frau Fortuna verteilt hier ihre Gaben wie

Kronen, Zepter, Reiche, Ketten, Ehrenzeichen, Geldbörsen, Titel, Namen und Marzipan. (S. 118)

Doch das Glück ist unberechenbar, manche warten ihr Leben lang umsonst, während andere, die gar nicht damit gerechnet hatten, unversehens emporgetragen werden. Als der Pilger sich die Gaben der Frau Fortuna allerdings näher anschaut, stellt er fest, dass diese oft nichts anderes als schwere Ketten sind, die man nicht mehr loswird. Doch die dummen Menschen freuen sich an diesen Lasten:

Bisweilen traten mehrere zusammen und maßen und wogen gegenseitig ihre Ketten. Wenn einer nun die seine leichter fand als die des andern, betrübte er sich und beneidete ihn drum. Doch wer die größte und die schwerste hatte, ging hin, trug sie zur Schau, prahlte damit und blähte sich gewaltig. Es gab freilich auch solche unter ihnen, welche ruhig in ihrem Winkel sitzen blieben, sich heimlich an der Größe und Schwere ihrer Ketten ergötzten und nicht um die Bewunderung der andern buhlten, weil sie, wie ich vermute, sich vor dem Neid der Menschen und vor Diebstahl fürchteten. Andere wieder hatten mit Erdschollen und Steinen angefüllte Truhen, welche sie unaufhörlich öffneten und schlossen und von einem Ort zum andern schleppten; sie entfernten sich auch nicht einen Augenblick von ihnen, ja verzichteten sogar auf den Schlaf, damit sie ihnen nicht gestohlen würden. (S. 120)

 Und hier geht es zum letzten Teil der Reise, in dem der Pilger sein Ziel erreicht.P1090791

Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – Teil 2

Nachdem ich im ersten Teil meiner Buchvorstellung aufgezeigt habe, was dem jungen Pilger am Wesen des Menschen missfällt, sollen heute der Ehestand, einzelne Berufe und das Wirtschaftsleben im Mittelpunkt stehen, die der Reisende näher kennenlernt und auf ihren Nutzen hin überprüft.

Zunächst ruft uns der barocke Erzähler aber noch einmal das Vanitas-Motiv, die Vergänglichkeit des Lebens, ins Bewusstsein:

Es war für mich ein wehmütiger Anblick, zu sehen, wie ein zur Unsterblichkeit berufenes Geschöpf so kläglich, so unerwartet und auf so mannigfache Art dem Tod verfiel; zumal als ich bemerkte, daß fast immer dann, wenn einer sich gerade anschickte, so recht sein Leben zu genießen, wenn er Freunde sich erworben, seine Angelegenheiten wohlgeordnet, sein Haus bestellt, Geld zusammengescharrt, kurz, alle Anstalten und Vorbereitungen getroffen hatte, der Tod ihn überraschte und allem ein jähes Ende bereitete, und wer sich auf dieser Welt aufs beste gebettet zu haben glaubte, plötzlich aus seinem Traum gerissen ward und sah, daß alle seine Pläne zunichte wurden; wenn aber nun ein andrer an seine Stelle trat, da widerfuhr ihm ganz genau dasselbe Schicksal, dem dritten ebensogut wie dem zehnten und hundertsten. (S. 33)

Als erstens wird die Ehe auf den Prüfstand gestellt. Allerdings wird von nun an alles einer didaktischen Schwarzmalerei unterzogen. Die Ehepartner würden eher nach dem Geldbeutel und der Mitgift ausgesucht. Es gäbe Konkurrenz und Rangeleien.

Wenn einer einen andern auszustechen suchte, da gab es Zank und Streit; auch Morde kamen vor. (S. 35)

Die Eheschließung ist für den Pilger nichts andres als das Anlegen schwerer und schrecklicher Ketten. Diese hatte man

heiß zusammengeschmiedet, geschweißt und fest verlötet […], so daß sie während ihres ganzes irdischen Lebens dieselben weder lösen noch sprengen konnten. (S. 37)

Die ehelichen Zärtlichkeiten wiegen für den Pilger nicht schwer genug, um ihn mit dem Verlust der Freiheit zu versöhnen. Außerdem müsse man sich dann noch mit missratenen Kindern herumärgern. Und am Ende, wenn die Eheleute, was selten genug vorkäme, einander tatsächlich liebhaben, hätten sie noch das Herzeleid, wenn einer von ihnen stürbe. So

weiß ich wahrlich nicht, […] ob in der Ehe, wenn sie gerät […], mehr Freude oder Leid zu finden sei. Doch so viel ist gewiß, daß sowohl das Leben an der Seite eines Weibes als auch ohne Weib trübselig ist und daß, auch wenn sie noch so gut gerät, der süße Kelch viel Bitterkeit enthält. (S. 41)

Als nächstes schaut sich unser Reisender im Handwerk um und überall findet er Gefahr, Neid, Hindernisse und mangelhafte Produkte.

Zunächst bemerkte ich, daß alle menschlichen Geschäfte nur eitel Mühe und Plage sind und daß ein jegliches von ihnen seine Unbequemlichkeit besitzt und mit Gefahr verbunden ist. So sah ich, daß die Menschen, welche mit dem Feuer sich zu schaffen machten, vom Rauch berußt und schwarz wie Mohren waren, daß ihnen stets das Pochen der Hämmer in den Ohren dröhnte und […] daß stets der Widerschein des Feuers ihnen in den Augen glänzte und ihre Haut, davon versengt, zersprungen war. Diejenigen dagegen, welche ihr Handwerk unter der Erde trieben, hatten mit Finsternis und Schrecknissen zu tun, und es geschah nicht selten, daß sie verschüttet wurden. Die, welche auf dem Wasser arbeiteten, waren naß wie begossene Pudel, zitterten vor Kälte wie Espenlaub, und ein nicht geringer Teil fand den Tod in den Wellen. Die, welche in Holz, Stein oder einem andern Material arbeiteten, hatten den Körper mit Schwielen bedeckt, stöhnten bei ihrer Arbeit und erschöpften ihre Kräfte. (S. 42)

Das wirtschaftliche Bemühen des Menschen erschöpft sich für ihn darin,

daß Geld aus einer Tasche in die andere wandere. (S. 42)

Nicht nur die modernen Verfechter eines minimalistischen Lebensstils könnten sich auf den Pilger berufen:

Siebtentens erkannte ich mit voller Klarheit, daß viele Dinge unnütz und überflüssig und die meisten menschlichen Beschäftigungen eitle Mühe und zwecklose Torheit sind. Denn da offenbar eine ganz einfache und schlichte Kost hinreicht, den Leib des Menschen zu ernähren, ein einfaches und schlichtes Gewand, ihn zu bekleiden, ein einfaches und schlichtes Obdach, ihn zu schützen, so folgt daraus, daß nur ein kleiner und bescheidener Aufwand von Mühe hiezu nötig ist […] Nun aber fand ich, daß die Menschen diese Wahrheit entweder nicht begreifen können oder nicht wollen, da sie gewöhnt sind, sich den Bauch mit so vielen ungewöhnlichen Dingen vollzustopfen und zu füllen, so daß allein, um sie herbeizuschaffen, schon ein großer Teil der Menschheit zu Wasser und zu Lande sich plagen muß. […] So sah ich viele Werkleute, deren ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet war, kindischen Tand und anderes Spielzeug zu Belustigung und Zeitvertreib hervorzubringen. Andere verschwendeten ihre Mühe darauf, Werkzeuge der Grausamkeit, wie Schwerte, Dolche, Morgensterne und Gewehre, in möglichst großer Anzahl herzustellen. Wie nun Menschen mit ruhigem Gewissen und sogar mit Lust diese Geschäfte treiben können, ist mir unbegreiflich; doch das eine ist gewiß, daß, wenn man alles unnütze, zwecklose und sündhafte Tun aus ihrer Arbeit ausscheiden wollte, der größte Teil der menschlichen Gewerbe eingehen müßte. (S. 44)

Alsdann betrachtet der Reisende die „Gefahren des Seemannslebens“ und begibt sich unter die Gelehrten. Doch auch die können ihn nicht von ihrem Stand überzeugen, da viele von ihnen sich zwar mit Büchern den Bauch vollstopfen, doch dabei keineswegs einen gesunden Eindruck machen. Im Gegenteil, die unverdaute geistige Nahrung verursacht schlimmste Übelkeit, ja manche verfallen sogar dem Wahnsinn oder „siechten hin und starben.“ (S. 53)

Hier geht es lang zum dritten Teil. P1090703

Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens (1631) – Teil 1

Der vollständige Titel des Werkes, das 1908 von Zdenko Baudnik ins Deutsche übersetzt wurde, zeigt uns bereits, wohin diese Reise führen wird:

Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, das ist eine klare Beschreibung, wie in dieser Welt und allen ihren Dingen nichts herrscht als Irrung und Verwirrung, Unsicherheit und Bedrängnis, Lug und Trug, Angst und Elend, und zuletzt Ekel an allem und Verzweiflung; und wie nur der, welcher zu Hause in seinem Herzen wohnet und sich mit Gott allein darin verschließet, zum wahren und vollen Frieden seiner Seele und zur Freude gelangt.

Der große Pädagoge des 17. Jahrhunderts, Johann Amos Comenius (1592 – 1670) verfasst während der Wirrnisse und des Elends des Dreißigjährigen Krieges eine fulminante Kritik der menschlichen Natur und der Gesellschaft, die keinen Stand, keine Religion und keine weltliche Macht ausnimmt. Dieser Kritik stellt er im dritten Teil eine große mystisch-fromme Utopie entgegen, bei der man, egal, wie man religiös oder weltanschaulich orientiert ist, zumindest ahnt, welche Wucht und Kraft in einem tatsächlich christlichen Leben liegen könnte.

Heute soll es aber erst einmal um den Einstieg in Comenius‘ Werk gehen. Und da die altertümlich-bildhafte Sprache entscheidend zum Reiz des Buches beiträgt, soll der Autor heute über große Strecken selbst zu Worte kommen.

Comenius wählt für seine Geschichte die Form der Pilgerreise: Als ein junger Mann erkennt,

dass es verschiedene Stände, Rangstufen, Berufszweige, Beschäftigungen und Ziele gebe, die sich die Menschen stecken, da schien es mir ein dringendes Bedürfnis, zu erwägen, zu welcher Gruppe von Menschen ich mich gesellen und mit was für Dingen ich mein Leben hinbringen sollte. (S. 13)

Um nun herauszufinden, welche Lebensweise ihm „möglichst wenig Mühen und Sorgen und möglichst viel Bequemlichkeit und frohe[n] Mut“ garantieren könne, will er zunächst „alle Dinge, die unter der Sonne sind“ in Augenschein nehmen, um dann in kluger Abwägung seinen Beruf zu wählen. Also begibt er sich auf eine große Reise, auf der er zwei Gefährten als Führer hat: zum einen den Überalldabei, der ihm – wie der Name schon sagt -, ermöglicht, in alle Schichten, Stände und Häuser Einblick zu nehmen, und zum anderen die Verblendung, die ihm eine Brille aufzwingt, sodass er leider das Meiste verzerrt wahrnimmt. Glücklicherweise sitzt die Brille ein bisschen schief, sodass er doch den ein oder anderen Blick auf die Realität, wie sie wirklich ist, riskieren kann.

Die Reise beginnt damit, dass der junge Pilger Zeuge dessen wird, wie jeder Mensch aus einem großen Kupfertopf, der von einem grimmigen Alten bewacht wird, ein Los ziehen muss; darauf ist sein zukünftiges Schicksal vermerkt. Es legt fest, ob man in seinem Leben herrschen, dienen, befehlen, gehorchen, das Feld bestellen, lernen, kämpfen, richten oder beten wird.

Im Trubel des menschlichen Durcheinanders stellt der junge Reisende zunächst einige Betrachtungen über die Natur des Menschen an und ihm wird rasch klar, wie

ein jeder, solang er in der Schar der anderen wandelte, eine Maske vor dem Gesichte trug, diese aber, sobald er allein war oder unter seinesgleichen sich befand, abwarf und, wenn er sich der Menge wieder zugesellen wollte, abermals anlegte. […]

Die menschliche Verständigung sei unvollkommen und vom gegenseitigen Nicht-Verstehen geprägt:

Ich bemerkte […], daß sie in verschiedenen Sprachen miteinander redeten, so daß sie zum größten Teile einander nicht verstanden, auch gar nicht antworteten oder aber über einen andern Gegenstand, als wovon die Rede war, Auskunft erteilten, jeder in anderer Art. Hie und da standen sie in großen Haufen beisammen und alle sprachen zugleich, jeder brachte das Seine vor, aber keiner wollte auf den anderen hören, wiewohl die einen an den anderen zerrten, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen; doch das geschah nicht, eher kam es zu Zank und Streit. (S. 28)

Doch nicht nur die Kommunikation, auch die Einsicht der Menschen sei mangelhaft.

Ich nahm auch einen anderen Mißstand wahr, nämlich die Verblendung und Torheit der Menschen. Denn auf dem Ringplatz  […] gab es eine Menge Gruben, Löcher und Vertiefungen sowie auch Steine und Balken, welche kreuz und quer durcheinander lagen, und viele andere Hindernisse. Doch niemand dachte auch nur entfernt daran, sie wegzuräumen, auszubessern und die Ordnung wiederherzustellen. Es wich auch niemand einem solchen Hindernisse aus, noch nahm man sich auch nur die Mühe, es zu umgehen. Man ging wie blind darauf los, so daß bald dieser, bald jener anstieß, stürzte und entweder den Hals brach oder übel zugerichtet wurde […] Doch keiner kümmerte sich um den andern, nur wenn jemand zu Falle kam, lachte man ihn tüchtig aus. (S. 30)

Und wie bekannt kommt uns das Folgende vor?

Auch hatten sie, wie ich bemerken konnte, große Lust zu Neuerungen und Veränderungen, in Kleidung, Bauart, Sprache, Gang und anderen Dingen. So fand ich einige unter ihnen, die sonst nichts taten, als sich beständig umzukleiden und ein Kleid nach dem andern anzulegen; andere wieder sannen über eine neue Bauart nach, um dann nach einer Weile wieder abzubrechen, was sie soeben erst mit Mühe aufgerichtet hatten. Sie griffen bald zu dieser, bald zu jener Arbeit und ließen dann in ihrer Unbeständigkeit bald alles wieder liegen.

Wenn einer sich mit seiner Last zu Tode geschleppt oder sie auch im Stich gelassen hatte, fanden sich gleich andere, die sich, so unglaublich das klingen mag, um seine Bürde rissen, stritten und balgten. Indessen gab es keinen unter ihnen, der irgendetwas gesagt, getan, errichtet hätte, daß nicht gleich andere gekommen wären, die ihn verlästerten und sein Werk zerstörten. So manche hat mit großer Mühe und schweren Kosten ein Werk vollbracht, woran er seine Freude hatte, als andere des Weges kamen und es zerstörten und verdarben, so daß es auf der ganzen Welt wohl keinen Menschen gab, der irgendetwas schuf, das nicht von andern wieder vernichtet worden wäre. (S. 31)

Doch es gibt noch eine weitere menschliche Eigenschaft, die der Pilger tadelt, nämlich die maßlose Selbstgefälligkeit.

Ferner fand ich viele, welche einen Spiegel trugen und, während sie mit anderen sprachen, stritten oder sich prügelten oder während sie Steine wälzten, ja selbst wenn sie auf ihren Stelzen gingen, sich wohlgefällig drin von vorn und hinten und von beiden Seiten besahen, Worte der Bewunderung flüsterten, die ihrer eigenen Schönheit, ihrem Wuchs und Gang und ihren Taten galten, und ihren Spiegel auch anderen darreichten, mit der Bitte, sie gleichfalls zu betrachten. (S. 32)

Auch das folgende Zitat lässt sich – fast vier Jahrhunderte später – mühelos auf diverse Bereiche unserer Gesellschaft übertragen: Fassungslos beobachtet der Pilger das unnütze und alberne Treiben der Menschen, „das mit ihrer hohen Abstammung in grellem Widerspruche steht“:

Müßiggänger gab es nun allerdings wenige unter ihnen: fast jeder hatte irgendeine Beschäftigung. Aber es waren entweder kindische Spielereien oder fruchtlose Anstrengungen. So sammelten einige Kehricht und verteilten ihn untereinander; einige wälzten Balken und Steinblöcke heran, zogen sie mittels einer Winde irgendwohin in die Höhe und ließen sie dann wieder hinabgleiten; andere hoben das Erdreich aus und trugen oder schafften es von einem Ort zum andern; der Rest hantierte mit Schellen, Spiegeln, Bälgen, Schnarren und anderem Spielzeug; einige belustigten sich sogar mit ihrem eigenen Schatten, indem sie ihn maßen, von sich stießen und ihm nachjagten. Das alles taten sie mit solchem Eifer, daß sie bei ihrer Arbeit stöhnten und schwitzten, oft sogar zusammenbrachen. Fast überall gab es Beamte, die ihnen solche Dinge auferlegten und die, die Arbeit wacker unter sie verteilten, während es keineswegs an solchen fehlte, die ebenso wacker ihre Befehle ausführten. (S. 29)

Der letzte Punkt, den der Pilger den Menschen vorwirft, ist, dass sie „sich so gebärdeten, als ob sie ihrer Unsterblichkeit sicher wären“ (S. 34):

Zuletzt sah ich den Tod in ihren Reihen wandeln, der, mit einer scharfen Sense und mit Pfeil und Bogen ausgerüstet, sie mit lauter Stimme mahnte, nicht zu vergessen, daß ein jeder sterben müsse. Doch niemand achtete auf seinen Ruf, ein jeder blieb bei seiner Torheit und trieb unbekümmert seinen Unfug weiter. (S. 32)

Hier geht es zum zweiten Teil.

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Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden (1906)

Manchmal ist es ja auch von Vorteil, wenn man Klassiker erst im vorgerückten Alter für sich entdeckt. Dann kann man gleich davon profitieren, dass die erste vollständige Ausgabe dieses als Schulbuch gedachten Werkes erst jetzt auf Deutsch vorliegt.

Es war einmal ein Junge. Er war vielleicht vierzehn Jahre alt, lang und schlaksig und flachshaarig. Viel taugte er nicht: Am liebsten schlief oder aß er, und am zweitliebsten trieb er Unfug. Jetzt war es Sonntagmorgen, und die Eltern des Jungen waren dabei, sich zurechtzumachen, um zur Kirche zu gehen. Der Junge aber saß im Hemd auf der Tischkante und dachte, wie gut es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen. So könne er ein paar Stunden machen, was er wollte. ‚Dann kann ich Vaters Gewehr herunterholen und ein bißchen schießen, und es redet mir keiner hinein‘, sagte er zu sich selbst.

So beginnt also die vollständige deutsche Fassung des schwedischen Nationalklassikers von Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden (OA 1906; neu übersetzt von Thomas Steinfeld 2014; Sonderausgabe der Anderen Bibliothek) von Selma Lagerlöf.

Zum Inhalt

Der Inhalt dürfte den meisten bekannt sein: Der faule, widerborstige und grobe vierzehnjährige Gänsehirte, der den Eltern nur Verdruss bereitet und die Tiere auf dem heimischen Hof in Südschweden quält, wird zur Strafe von einem Wichtel auf Wichtelgröße geschrumpft. Immerhin kann Nils sich ab sofort mit jedem Tier unterhalten.

Just als er den zahmen Gänserich Marten daran hindern will, sich den in den Norden ziehenden Wildgänsen anzuschließen, und ihn versucht festzuhalten, fliegt Marten los. Und so beginnt das große Abenteuer, das die Gänseschar und ihren kleinen, zunächst unfreiwilligen Begleiter durch ganz Schweden und in eine Reihe gefährlicher Situationen bringt, in denen sie sich in mancherlei Hinsicht bewähren müssen.

Da gibt es Smirre, den Fuchs, der den Gänsen tödliche Rache geschworen  hat, oder den erbarmungslosen Kampf der Grauratten gegen die Schwarzratten, in dem ihre Hilfe benötigt wird. Dann wieder haben sie Nils verloren oder einer der ihren muss von Nils gerettet werden.

Die Reisegefährten erfahren, wie die Riesen verschiedene Landschaften geformt haben, schlichten Händel, retten bedrohte Wesen und nehmen Teil am jährlich stattfindenden Tanz der Kraniche auf dem Kullaberg.

Und dann kamen die grauen Vögel, in die Farben der Abenddämmerung gekleidet, mit Federbüschen an den Flügeln und rotem Federschmuck im Nacken. Die großen Vögel […] kamen den Hügel hinuntergeglitten in geheimnisvollen Schwindel. Während sie vorwärtsglitten, drehten sie sich, halb fliegend, halb tanzend. […] Es war etwas Wunderbares und Fremdes an ihrem Tanz. Es war, als ob graue Schatten ein Spiel darboten, dem das Auge kaum zu folgen vermochte. Es war, als ob sie es von den Nebeln gelernt hätten, die über den einsamen Mooren schweben. Es lag ein Zauber darin. […] Es lag Wildheit darin, und trotzdem war das Gefühl, das er weckte, eine milde Sehnsucht. Niemand dachte mehr ans Kämpfen. Statt dessen wollten alle, die Geflügelten und die, die keine Flügel hatten, sich ins Unendliche erheben, über die Wolken hinaufsteigen, herausfinden, was jenseits davon lag, den Körper verlassen, der sie beschwerte und zur Erde hinabzog, und fortschweben, dem Überirdischen entgegen. (S. 95)

Nils durchläuft dabei wesentliche Stationen auf dem Weg in ein verantwortliches Erwachsenenleben. Er lernt, was Freundschaft, Treue und Hilfsbereitschaft bedeuten, und häufig kommt er in Situationen, in denen er zusammen mit dem Leser, z. B. durch belauschte Gespräche, unendlich viel über sein Heimatland, dessen Geographie und wirtschaftliche Grundlagen, dessen Bräuche,  Feste und Landschaften erfährt. Wir beobachten die Arbeiten in Holzfällerlagern, in Bergwerken, auf den Feldern und gehen mit Fischern auf See. Wir fliegen über Moore, Felder, Wälder und ruhen abends in niedrigen Wassern aus, in sicherer Entfernung zu den Feinden.

Und immer wieder werden uns Sagen und Legenden erzählt, die zu bestimmten Gegenden gehören.

Schließlich steht Nils vor der größten Herausforderung der langen Reise: Der Wichtel, der ihn verzaubert hatte, hat verfügt, dass er nur dann in einen Menschen zurückverwandelt werde, wenn er Marten wohlbehalten zurück auf den elterlichen Hof bringt. Doch das ist leider nur ein Teil der Bedingung.

Fazit

1901 fragte der Lehrerverband bei Lagerlöf an, ob sie sich vorstellen könne, auf ca. 200 Seiten ein „an die veränderten Vorstellungen von Pädagogik angepasstes Lesebuch für Geografie und Naturkunde“ (S. 680) zu schreiben.

Doch erst 1906 erschien der erste Band, denn zunächst fand Lagerlöf keine Möglichkeit, all die Geschichten, Themen und Märchen zu einem zusammenhängendem Text zu verbinden. Erst mit der Idee, Nils mit den Wildgänsen durch und über Schweden fliegen zu lassen, fügte sich alles zu einem organischen und wunderbar anschaulichen Ganzen zusammen.

Ich war überrascht über die deutlichen Aufforderungen zu Tier- und Umweltschutz:

Doch es ist ungewiß, wie lange sie (die Vögel) die Herrschaft über Rohrdickicht und morastige Ufer behalten können, denn die Menschen können nicht vergessen, daß der See sich über eine große Fläche guter und fruchtbarer Erde ausbreitet, und immer wieder kommen unter ihnen Vorschläge auf, daß man ihn trockenlegen sollte. Würden diese Vorschläge verwirklicht, wären viele Tausende von Wasservögeln gezwungen, die Gegend zu verlassen. (S. 223)

Und so begannen sie (die Menschen), Bauholz und Bretter aus dem Wals zu holen und an die Bewohner des flachen Landes zu verkaufen, die ihren eigenen Wald schon aufgebraucht hatten. Sie merkten bald, daß sie ihr Brot mit dem Wald verdienen konnten, wie sie es zuvor mit dem Acker und der Grube getan hatten, nur daß sie vernünftig damit umgehen mußten. Und da fingen sie an, den Wald auf eine andere Weise zu betrachten als früher. Sie lernten, ihn zu pflegen und zu lieben. (S. 254)

Überrascht hat mich auch, dass Tod, Auswanderung, Krankheit und Armut so ganz en passant und doch in aller Deutlichkeit geschildert werden. Nichts wird in Frage gestellt, das Gemeinwesen ist geordnet, die wichtigen Momente im Leben werden von der Kirche begleitet und alles wird von einem Grundton positiver Fortschrittserwartung getragen, deshalb wird auch immer wieder das Loblied der Bildung gesungen.

Es gab vieles, was einem verlorenging, wenn man für immer mit den Tieren leben sollte. Menschen waren doch ganz außerordentliche und tüchtige Wesen. (S. 100)

Doch das hat meiner Freude am Buch keinen Abbruch getan und die 699 Seiten (einschließlich vieler Illustrationen und eines höchst informativen Nachworts) vergingen „wie im Flug“. Ja, das Ende kam fast ein wenig abrupt. Hätte ich als Kind so ein Buch gelesen, wären meine Geografiekenntnisse vielleicht auch nicht so kümmerlich… Und was für eine schöne Idee, ein Land sozusagen von oben, mit dem ganz weiten Blick, zu entdecken, und das Anfang des 20. Jahrhunderts.

Letztlich war es wie ein an allen Ecken und Enden überbordendes Märchen, bei dem man tiefe Charakterschilderungen vergeblich sucht, das aber nie seinen roten Faden verloren hat.

Dass sich schon bald Lehrer darüber beklagten, dass sie das Buch nicht in der vorgesehenen Unterrichtszeit bewältigen würden, wundert mich allerdings nicht.

Hier geht es lang zu einer begeisterten Besprechung in der ZEIT und das sagt die WELT.

Und auf HERLAND gibt es einen superinformativen Beitrag der renommierten Übersetzerin Gabriele Haefs zur Autorin und ihrer Rolle als Frau in einer Männerwelt.

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Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude (1921)

Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und Figuren zu bewegen, will ich mir – gedrängt von innerer Not der Zeit – Rechenschaft ablegen über den problematischsten Teil meines Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft, nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe, die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Mißverständnissen, Tragik, Widersprüchen, Hader und Leiden eröffnen.

Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.

So beginnt das aufschlussreiche und beeindruckende Buch des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann, das 1921 erschien. Wassermann beschränkt sich in diesem Lebensrückblick, wie der Titel schon sagt, tatsächlich auf das Thema seiner deutsch-jüdischen Identität. Andere wichtige Bereiche seines Lebens, wie beispielsweise seine desaströse Ehe mit Julie Speyer, werden ausgeklammert und stattdessen in anderen Werken verarbeitet (siehe die Besprechung zu My first Wife auf dem Blog A Common Reader).

Wassermann, 1873 in Fürth geboren und 1934 in Altaussee (Österreich) gestorben, beginnt seine Bestandsaufnahme mit der Schilderung seiner freudlosen Kindheit: Die Mutter stirbt, als er neun Jahre alt ist; der Vater, ein erfolgloser Kaufmann, versucht die Familie mehr schlecht als recht als Versicherungsagent durchzubringen.

Der Junge lernt schon früh antisemitische Hänseleien kennen, die ihm aber zunächst nicht so sehr zu schaffen machen, da er spürt, dass sie weniger ihm als Individuum gelten, sondern eher der jüdischen Gemeinschaft. Es ist beklemmend zu lesen, wie klar Wassermann schon 1921 die Dämlichkeiten der Antisemiten entlarvt:

Aber ich merkte, daß meine Person, sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewußt wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv Nichtjuden in der der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, daß der Rassenhaß, den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten Äußerlichkeiten genährt wird, und daß sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren darin die Stumpfesten. (S. 12 – 13)

Der aufmerksame Junge nimmt von Anfang an die Ambivalenz seiner jüdischen Existenz wahr. Auf der einen Seite gehen er und seine Geschwister in den kleinen christlichen Handwerkerbetrieben der Nachbarschaft ein und aus und selbst Heiligabend dürfen sie dort zu Gast sein und werden ebenfalls beschenkt.

Aber Wachsamkeit und Fremdheit blieben. Ich war Gast, und sie feierten Feste, an denen ich keinen Teil hatte. (S. 18)

Damit ist sein Grundproblem umrissen:

Nun war aber das Bestreben meiner Natur gerade darauf gerichtet, nicht Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht, als aus Mitleid und Gutmütigkeit geduldeter noch weniger, als einer, der aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren sich entschließt, erst recht nicht. Angeboren war mir das Verlangen, in einer gewissen Fülle des mich umgebenden Menschlichen aufzugehen. (S. 19)

Da genau dieses Verlangen nicht gestillt werden konnte, sieht Wassermann in Literatur und Landschaft seine Retter, die ihn vor dem Verlust der eigenen Identität bewahrt haben. Schon als Elfjähriger lernt er die Macht des Wortes kennen, als er, um seinen fünf Jahre jüngeren Bruder am Petzen zu hindern, diesem jeden Abend eine verwickelte Fortsetzungsgeschichte erzählt, die aber nur bei Wohlverhalten des Bruders weitergeführt wird. Es dauert nicht lange, bis er diese Geschichten nachts heimlich aufzuschreiben versucht, immer bedroht von der unfreundlichen Stiefmutter, die alles Geschriebene, was ihr in die Hände fällt, erbarmungslos vernichtet.

Seine Hoffnung, in dieser Richtung auch beruflich tätig werden zu können, scheitert an der Kleinbürgerlichkeit der Familie. Der Vater spekuliert darauf, dass Jakob als Lehrling bei einem reichen Onkel in Wien zur Sanierung der prekären finanziellen Lage beiträgt. Doch dort macht er alles andere als eine gute Figur. Er schlägt sich die Nächte mit Schreiben um die Ohren und ist am Tage zu nichts zu gebrauchen. Schließlich hält er es nicht mehr aus, reist zu einem Freund nach München und beginnt ein Studium, doch schon nach kurzer Zeit wird ihm die ohnehin zu knapp bemessene Unterhaltshilfe des Onkels gestrichen. Er nimmt seinen Militärdienst auf und trifft dort – vor allem unter seinen Kameraden – auf unverhohlenen Antisemitismus:

Zum erstenmal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Haß, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Haß hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne der Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Haß. (S. 39)

Wassermann seziert nicht nur die Bestandteile der Vorurteile und Benachteiligungen, denen er ausgesetzt ist, er ist sich auch im Klaren darüber, dass dies nicht ohne Folgen auf die eigene Psyche bleiben kann, gerade auch, weil selbst Freunde ihn nicht als das anerkennen können, was er ist, ein Deutscher und ein Jude. Er will schon gar nicht von ihnen als löbliche Ausnahme anerkannt werden, da er auch darin tiefverwurzelte Vorurteile am Werke sieht.

Nach kurzen und unerquicklichen Aufenthalten in Nürnberg und Freiburg zieht er – bettelarm – zu einem Freund nach Zürich. Dieser, selbst gerade arbeitslos, nimmt ihn zunächst voller Herzlichkeit auf, doch schon bald geht auch durch diese enge Freundschaft ein Riss. Sie diskutieren sein Deutschtum, sein Judentum, sie kommen dabei zu keinem gemeinsamen Ergebnis, denn der Freund ist nur gewillt, ihn als eine Ausnahmeerscheinung innerhalb des eigentlich verachtenswerten jüdischen Volkes zu sehen. Die Verbindungslinien von solcherlei Einstellung und Verdrehungen zu den späteren Beschwörungen der Nazis sind schon hier mühelos zu ziehen: Die Juden hätten sich nie vollständig mit den Interessen der „Wirtsvölker“ identifiziert, sie seien weder willens noch fähig, sich aus ihrer Isolierung zu lösen.

Es steckt in ihnen ein ungesunder Hochmut der Tradition noch heute. Noch heute pochen sie auf die nur ihnen allein offenbarte Lehre […] Namentlich gegen das Christentum mußte sich ihr unauslöschlicher Haß richten, denn ihm gegenüber empfanden sie wie eine Mutter, die aus ihrem Schoß den Verräter geboren hat, Verräter des Volkes, Verräter der Menschheit, Verräter Gottes. Was kann solchem Haß gleichen? Wodurch könnte er gemildert werden? […] Rache für das Erlittene zu üben, keimt wahrscheinlich als Beschluß seit Geschlechtergedenken in ihrer Seele, wuchert in ihrem Zellgewebe sozusagen; was vermag dagegen der andersgeartete Einzelne? Dergleichen Instinkte wirken unterirdisch fort und sind durch keine Übereinkunft gutmeinender Aufklärer […] aus der Welt zu schaffen. (S. 49)

Der Freund vertritt damit weit vor 1900 eine Auffassung, die – einmal zum Programm erhoben – ein Leben als jüdischer Deutscher im Grunde zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt:

Doch nachdem ihnen die Wege zur Gemeinschaft mit uns geebnet waren, veränderte sich wohl ihr geistiges Antlitz, ihre Spiritualität mit erstaunlicher Schnelligkeit; mit erstaunlicher Schwung- und Spannkraft machten sie unsere Notwendigkeiten zu den ihren, ihre zu den unseren, schmiegten sich den Forderungen des Staatswohls an, der öffentlichen Meinung, der Mode, widmeten ihre wunderbaren Talente der Kunst, der Wissenschaft, der sozialen Entwicklung, aber in ihrem Grund blieben sie Juden. (S. 52)

Selbst eine Konvertierung zum Christentum sei nur im oberflächlichen Sinne möglich, im tiefsten Inneren bleibe ein Jude ein Jude. Auch wenn Wassermann diese Argumentation nicht akzeptieren kann, zwingt ihn sein Freund zu unerbittlicher Selbstanalyse. Er selbst sieht die Tragik im Dasein des Juden darin, dass

er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung. In dem beständigen Anprall, in der Reibung dieser beiden Empfindungsströme muß er leben und sich zurecht finden. […] Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß man Jude ist.“ (S. 54)

Als er dem Freund anfängt, zur Last zu fallen, fährt er – selbst die Fahrkarte müssen ihm Freunde bezahlen – zurück nach München, wo sein Vater inzwischen lebt. Es kommt dort zum Zerwürfnis, und es folgen Monate bitterster Armut und Perspektivlosigkgeit. Als ein befreundeter Schriftsteller ihm ein selbstverfasstes Buch mit freundschaftlicher Widmung schenkt, bringt er dies ohne zu zögern zum Antiquar, um davon seinen Lebensunterhalt für die nächsten Tage zu bestreiten.

Mit 23 Jahren veröffentlicht er den Roman Die Juden von Zirndorf.

Danach überspringt Wassermann elf Jahre seines Lebens und geht direkt zu seinem Werk Caspar Hauser über, dessen Thematik ihn über Jahre beschäftigt hat. Doch auch dieses Werk verschafft ihm nicht die Anerkennung als deutscher Schriftsteller, auf die er gehofft hatte. Wie gegen Glaswände stößt er überall gegen antisemitische Vorbehalte, Vorurteile und Abwiegelei.

Man denke sich einen Arbeiter, der, wenn er seinen Lohn begehrt, niemals voll ausgezahlt wird, obgleich seine Leistung in nichts hinter der der übrigen Arbeiter zurücksteht, und den man auf die Frage nach dem Grund solcher Unbill mit den Worten bescheidet: du kannst den vollen Lohn nicht beanspruchen, weil du blatternarbig bist. Er schaut in den Spiegel: Sein Gesicht ist durchaus ohne Blatternarben; er geht hin: Was wollt ihr? Ich bin ja gar nicht blatternarbig. Man zuckt die Achseln, man erwidert: Du bist als blatternarbig gemeldet, also bist du blatternarbig. In dem Gehirn des Menschen entsteht eine sonderbare Verwirrung: Das Recht wird ihm verkürzt unter dem Vorwand eines äußeres Makels, und in der Beunruhigung, die es ihm erregt, unterläßt er es, mit dem Aufgebot aller Kraft sein Recht durchzusetzen. Eine raffiniert ausgedachte Qual. (S. 84)

1898 zieht er nach Wien und ist überrascht, wie sehr das öffentliche Leben dort von Juden geprägt ist. Doch auch er ist nicht gefeit davor, in Schablonen und Verallgemeinerungen zu denken.

Mein Verhältnis zu ihnen, innerlich wie äußerlich, war von Anfang an ein höchst zwiespältiges. […] Ich schämte mich ihrer Manieren, ich schämte mich ihrer Haltung. Die Scham für den anderen ist ein ungemein quälendes Gefühl, am quälendsten natürlich, wo Blut- und Rasseverwandtschaft im Spiel ist […] Diese Scham steigerte sich manchmal bis zur Verzweiflung und bis zum Ekel. […] Es ging ein Zug von Rationalismus durch all diese Juden, der jede innigere Beziehung trübte. Bei den Niedrigen äußerte es sich und wirkte im Niedrigen, Anbetung des Erfolgs und des Reichtums, Vorteils- und Gewinnsucht, Machtgier und gesellschaftlichem Opportunismus; bei den Höheren war es das Unvermögen zur Idee und Intuition. Die Wissenschaft war ein Götze … (S. 103 – 104)

Wieder überspringt er mehrere Jahre, sagt nichts darüber, wie er seinen Lebensunterhalt bestreitet, wie er lebt, sondern geht gleich zur Veröffentlichung des Buchs Das Gänsemännchen (1915) über, das „sogleich ein herzliches und weittragendes Echo fand.“ (S. 87)

Mit dem aufkommenden Zionismus kann er sich nicht identifizieren, obwohl „der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes.“ (S. 118) Schon seit Jahrhunderten seien sie die bequemen Sündenböcke, der Kanal, in den man Hass, Verbitterung und Ressentiments leiten konnte. Hellsichtig und nahezu hoffnungslos konstatiert er:

Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. […] Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. (S. 122)

Und mit dem Wissen darum, was nur wenige Jahre später in Deutschland passiert, lesen sich seine Schlussworte erschütternd, die an die Worte Bonhoeffers erinnern, mit denen er den Tyrannenmord rechtfertigte:

Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig, Herumstehenden: was soll geschehen? so sage ich ihm: reißt dem Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand. Erwidert mir dann einer: der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh geladen, so sage ich ihm: das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand. Mehr kann Deutschland nach meiner Ansicht gewiß nicht tun. Aber es wäre viel. Es wäre genug. (S. 125)

Fazit

Mein Weg als Deutscher und Jude beeindruckt in seiner psychologischen Klarheit. Es ermöglicht uns trotz so mancher sprachlich verquasten Stelle einen Einblick in das Wesen des Antisemitismus, in rassistische Vorurteile überhaupt und in deren Auswirkungen auf die Psyche des Schriftstellers und zeigt uns Wassermanns Ringen um eine deutsche Identität.

Interessant auch sein Brief an Hedwig und Samuel Fischer aus dem Jahr 1925, in dem er die mangelnde öffentliche Anerkennung und die Zurückhaltung seines Verlegers ebenfalls mit antijüdischen Ressentiments begründet.

Marcel Reich-Ranicki schrieb in der FAZ:

Dieses Buch ist ein erschütterndes Zeitdokument, es ist Bekenntnis und Darstellung, Klage und Anklage in einem. Wassermann bekannte sich zu einer Bahn mit zwei Mittelpunkten: Er sei Deutscher und Jude zugleich – eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen. Damit ist schon gesagt, was Wassermann meinte, als er mehrfach, zumal gegen Ende seines Lebens, erklärte, er sei gescheitert.

Yaşar Kemal: Memed mein Falke (OA 1955; deutsche Erstausgabe 1965)

Die Hänge des Taurusgebirges steigen von der weiß schäumenden Mittelmeerküste ganz allmählich bis zu den Höhen der Taurusgipfel an. Über dem Mittelmeer kann man immer weiße Wolken sehen, die aufeinandergetürmt, dahintreiben. Das Küstenland ist so glatt und ebenmäßig, daß man glauben könnte, es sei mit einer Glanzschicht überzogen. Sein Lehmboden läßt einen an Fleisch denken. Auf Stunden ins Landesinnere hinein riecht es hier nach Meer, nach der Schärfe des Salzes. Hinter den flachen Äckern mit ihrem von Furchen durchzogenen Lehm beginnt das Röhricht der Cukurova, bedeckt mit unentrinnbar ineinander verfilztem Gestrüpp, mit Brombeeren, Wildreben und Schilf – eine dunkelgrüne Hölle, ohne Anfang und Ende, dunkler und wilder noch als Urwald.

Mit diesen Sätzen nähern wir uns behutsam der Landschaft im Süden der Türkei, wo am Fuße des Taurusgebirge die Geschichte Memed mein Falke von Yaşar Kemal ihren Ausgang nimmt, eine Erzählung, die mich nicht mehr losgelassen hat.

Das Original erschien 1955. Die Übersetzung von Horst Wilfrid Brands ins Deutsche erschien im Unionsverlag.

Memed, ein elfjähriger magerer Bauernsohn und Halbwaise, läuft von zu Hause fort, um den Demütigungen und der grausamen Arbeit auf den Feldern des Großgrundbesitzers Abdi Aga zu entgehen. Doch er wird aufgespürt und Abdi Aga lässt ihn und seine Mutter für diesen Fluchtversuch büßen. Sie müssen in Zukunft drei Viertel ihrer Ernte abgeben, die anderen Dorfbewohner „nur“ zwei Drittel. In den Wintern steht das halbe Dorf kurz vor dem Hungertod, und so sind die geschundenen, einfachen Menschen noch gezwungen dankbar zu sein, wenn der große Aga, der Besitzer von fünf Dörfern, ihnen Almosen gibt, um sie dann bei der nächsten Ernte um so stärker zu besteuern.

So zieht sich Abdi Aga einen unversöhnlichen Feind heran, der auch nicht gewillt ist, auf seine große Liebe zugunsten eines Neffen von Abdi Aga zu verzichten. Ein Kampf beginnt, bei dem keine der beiden Parteien gewinnen kann. Memed wird zum Rächer, zum Rebell, zum vogelfreien Bandit, aber auch zum Anstoß eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandels.

Das ist ein Buch von einer Wucht, die sich schwerlich in einer Besprechung einfangen lässt.

Ein kraftvolles Abenteuer, das man gar nicht aus der Hand legen mag. Und das Ganze wird erzählt mit einer so feinen Beobachtungsgabe, mit der nicht nur Memed, ein Held wider Willen, sondern auch der feige, brutale und skrupellose Despot geschildert wird. Dieser presst seinen Untertanen alles ab, bis sie vor Sorgen ums Überleben nicht mehr klar denken können und zum willfährigen Spielball des Tyrannen werden.

Darüber hinaus eine unvergessliche Liebesgeschichte. Und all die vielen Nebenfiguren, die mit ihren Stärken und menschlichen Schwächen so anrührend und dann wieder humorvoll gezeichnet werden, dass man meint, man sähe sie direkt vor sich.

Dazu Schilderungen der harschen, unzugänglichen und einzigartigen Berg- und Hügellandschaft. Man möchte sofort hinreisen und dort zusehen, wie die Sonne untergeht.

Es war Abend geworden. In den Strahlen der sinkenden Sonne glänzte die weite Ebene wie eine ungeheure Kupferplatte. Die Wolken leuchteten. Die Sonnenscheibe schien am anderen Ende des Flachlands unmittelbar über dem Boden zu schweben. (S. 214)

Geschrieben in einer malenden und musikalischen Sprache, wie aus den Tiefen der Jahrhunderte entstiegen. Angereichert mit Geschichten und Legenden, zu denen schließlich auch Memed in den Dörfern verklärt wird.

Mein Bild der Welt ist größer geworden durch dieses Buch.

Zum Autor

Yaşar Kemal (1923 – 2015) war kurdischer Abstammung und einer der wichtigsten Schriftsteller der Türkei. Sein Memed der Falke machte ihn international berühmt.

Durch die scharfe Sozialkritik machte das Buch auf die armseligen Verhältnisse in Anatolien aufmerksam und beeinflusste die oppositionellen Strömungen, die den Umsturz von 1960 in der Türkei auslösten. (Harenberg: Das Buch der 1000 Bücher, hrsg. von Joachim Kaiser, Harenberg 2002, S. 1174)

Insgesamt gibt es vier Memed-Bände:

  • Memed mein Falke
  • Die Disteln brennen
  • Das Reich der Vierzig Augen
  • Der letzte Flug des Falken

Auf der Seite des Unionsverlages gibt es einen aufschlussreichen Text von Kemal über die Entstehung seines berühmten Romans.

Und in einem Interview mit dem Guardian aus dem Jahr 2008 äußerte er sich zu seiner grundsätzlichen Intention:

Yes, there is rebellion in my novels, but it’s rebellion against mortality. As long as man goes from one darkness to another, he will create myths for himself. The only difference between me and others is that I write mine down.

Henri Alain-Fournier: Der große Meaulnes (OA 1913)

Er kam an einem Sonntag im November 189… in unser Haus. Ich sage noch immer ‚unser Haus‘, obwohl es uns nicht mehr gehört. Vor fast fünfzehn Jahren sind wir aus der Gegend fortgezogen und werden sicher niemals dorthin zurückkehren.

Mit diesen Sätzen beginnt der unglaubliche Roman von Der große Meaulnes (1913) von Henri Alain-Fournier, neu ins Deutsche übersetzt von Cornelia Hasting und Otfried Schulze. Der Autor, der eigentlich Henri Alban-Fournier hieß, wurde 1986 geboren, war also bei Veröffentlichung seines einzigen fertiggestellten Romans gerade einmal 27 Jahre alt und starb 1914 nahe Verdun.

Zum Inhalt

Im Rückblick erzählt der Lehrer François Seurel von seinen Jugenderinnerungen, die im Wesentlichen um seinen früheren Kameraden Augustin Meaulnes kreisen. Dieser wurde als 17-jähriger Pensionsschüler in die Familie Seurel aufgenommen, um von Monsieur Seurel unterrichtet zu werden. Der lebhafte, immer in die Ferne schweifende und furchtlose Augustin wird das Vorbild und der Held des zwei Jahre jüngeren Francois. Francois selbst ist ruhig und zurückhaltend und durch ein steifes Knie etwas gehandicapt.

Eines Tages verirrt sich Augustin bei dem Versuch, die Großeltern von Francois vom Bahnhof abzuholen, samt dem Pferd, das er sich unerlaubt vom Nachbarhof ausgeliehen hat.  Während er schon völlig orientierungslos durch die Gegend irrt, stößt er auf ein Landgut, auf dem ein geheimnisvolles und märchenhaftes Kostümfest gefeiert wird.

Arm und Reich, Alt und Jung feiern für mehrere Tage die bevorstehende Hochzeit des jungen Herrn Frantz, der mit seiner Braut auf dem Hof erwartet wird. Während der Vergnügungen und Lustbarkeiten trifft Augustin auf Yvonne, die Schwester des Bräutigams, und verliebt sich in sie mit jugendlicher Unbedingtheit. Doch das Fest geht traurig zu Ende. Frantz kehrt ohne Braut zurück und verlässt bald darauf den Hof, ohne jemandem zu sagen, wohin er mit seinem Kummer fliehen möchte. Die Gäste verlassen das Anwesen.

Auch Augustin kehrt nach mehreren Tagen in seinen Alltag als Schüler zurück. Doch seit diesem Ausflug ist er ein anderer. Sein ganzes Streben geht nun dahin, das geheimnisvolle Gut und vor allem Yvonne wiederzufinden. Später wird Augustin dieses Erlebnis zu einem nahezu mythischen Ereignis verklären, ohne dass ihm der Leser das übelnehmen könnte:

Sicher wollte ich Mademoiselle de Galais einmal wiedersehen, nur sie wiedersehen …  Aber jetzt bin ich davon überzeugt, daß ich, als ich das namenlose Gut entdeckte, auf einer Höhe, auf einer Stufe der Vollkommenheit und Reinheit war, die ich nie wieder erreichen werde. Im Tod erst, wie ich dir einmal schrieb, werde ich vielleicht die Schönheit jener Zeit wiederfinden. (S. 174)

Francois macht sich die Sehnsucht des Freundes ebenfalls zu eigen und schmiedet mit ihm Fluchtpläne. Als ständiger Beobachter scheint er vor allem durch die Freundschaft zu Francois zu leben und seine Erfüllung  zu finden. Doch gerade in seiner halsstarrigen Suche nach dem einmal gesehenen Glück wird Augustin schuldig.

Für den Erzähler Francois verkörpert die Jugendzeit mit Augustin die Unbedingtheit, den für immer verlorenen Zauber der Kindheit. So heißt es schon auf S. 8, nachdem Francois den Bauplan des elterlichen Hauses geschildert hat:

… das ist knapp der Plan des Hauses, in dem ich die stürmischsten und kostbarsten Tage meines Lebens verbrachte – des Hauses, von dem unsere Abenteuer ausgingen und wohin sie zurückkehrten, sich zu brechen wie Wellen an einem einsamen Felsen.

Eine tiefe Melancholie liegt also von Anfang an über allem.

Fazit

Was man jedem anderen Schriftsteller übelnehmen würde, äußert seltsame Zufälle in der Handlungsführung und unklare Charakterbeschreibungen – Yvonne erinnert ganz fürchterlich an die schlimmsten Frauenfiguren bei Charles Dickens – sowie Pathetik und Ich-Bezogenheit, kommt mir beim Lesen dieses kleinen Romans (247 Seiten) als pedantische Krittelei vor.

Das Buch ist im Laufe der Zeit auf die unterschiedlichsten Arten gedeutet worden, sei es, dass man darin die romantische Suche nach dem unerreichbaren Ideal verkörpert oder den Verlust der Kindheit betrauert sah. Andere wiederum legten die Betonung auf die Unabwendbarkeit des Erwachsenwerden-Müssens, dem man sich nicht ungestraft widersetzen dürfe.

Überhaupt ist erstaunlich, wie wenig hier die Erwachsenen die Handlung beeinflussen. Verblendet von einer merkwürdigen Liebe sehen sie nahezu tatenlos zu, selbst wenn sich ihre Kinder zugrunde richten.

Ich selbst finde gerade Francois, den Erzähler, interessant. Auch er, der seinem Freund, dem ‚großen Meaulnes‘ in schwärmerischer Zuneigung zugetan ist, hätte vielleicht den Gang der Dinge noch zum Guten beeinflussen können, hätte er sich nicht selbst mit der passiven Zuschauerrolle zufriedengegeben.

Für den, der noch etwas tiefer in die Interpretation einsteigen möchte: Auf Interesting Literature gibt es einen Beitrag mit dem Titel An Analysis of Nostalgia.

Alice Childress: Like one of the family (1956)

Diese Sammlung von 62 Geschichten, die meist nicht länger als zwei Seiten sind und allesamt im New York der fünfziger Jahre spielen, habe ich richtig gern gelesen. Sie werden uns von der schwarzen Haushaltshilfe Mildred erzählt.

Mildred arbeitet bei diversen weißen Mittelstandsfamilien. Abends erzählt sie ihrer ebenfalls schwarzen Freundin Marge von den alltäglichen Vorkommnissen an ihrer Arbeit. Freundin Marge wird uns in der Geschichte All about my job im typischen Stil der Storys näher vorgestellt:

Marge, I sure am glad that you are my friend. … No, I do not want to borrow anything or ask any favors and I wish you’d stop bein‘ suspicious everytime somebody pays you a compliment It’s a sure sign of a distrustful nature.

I’m glad that you are my friend because everybody needs a friend but I guess I need one more than most people … Well, in the first place I’m colored and in the second place I do housework for a livin‘ and so you can see that I don’t need a third place because the first two ought to be enough reason for anybody to need a friend.

You are not only a good friend but you are also a convenient friend and fill the bill in every other way. … Well, we are both thirty-two years old; both live in the same building; we each have a three room apartment for which we pay too devilish much, but at the same time we got better sense than to try and live together. And there are other things, too. We both come from the South and we also do the same kinda work: housework.

Marge selbst kommt dabei gar nicht zu Wort, doch können wir uns ihre Kommentare anhand der Reaktionen Mildreds lebhaft vorstellen.

Mildred erzählt ganz offensichtlich mit Witz und unbestechlicher Menschenkenntnis. Da wäre z. B. die Geschichte zu nennen, die der ganzen Kurzgeschichtensammlung den Namen gegeben  hat: Like one of the family. Als eine ihrer weißen Arbeitgeberinnen, Mrs. C,  Besuch hat, lobt Mrs. C. Mildred über den grünen Klee und betont dabei, wie sehr doch die ganze Familie die Haushaltshilfe Mildred zu schätzen wisse:

We just love her! She’s like one of the family and she just adores our little Carol! We don’t know what we’d do without her! We don’t think of her as a servant!

Doch Mildred entlarvt die scheinbar netten Worte als das, was sie sind, als gedankenlose Herablassung.

Höflich, aber unmissverständlich bittet sie ihre Arbeitgeberin zu einem Gespräch und öffnet ihr die Augen dafür, was es bedeuten würde, wäre sie tatsächlich ein Teil der Familie:

Mrs.C …, you are a pretty nice person to work for, but I wish you would please stop talkin‘ about me like I was a cocker spaniel or a poll parrot or a kitten …. Now you just sit there and hear me out. In the first place, you do not love me; you may be fond of me, but that is all. … In the second place, I am not just like one of the family at all! The family eats in the dining room and I eat in the kitchen. Your mama borrows your lace tablecloth for her company and your son entertains his friends in your parlour, your daughter takes her afternoon nap on the living room couch and the puppy sleeps on your satin spread …

Sie würde sich weder die Unverschämtheiten des Kindes gefallen lassen noch so hart arbeiten müssen und außerdem anständig bezahlt werden.

Am Ende der Geschichte triumphieren – utopisch und wünschenswert – Einsicht und Menschlichkeit:

Marge! She was almost speechless but she apologized and said she’d talk to her husband about the raise….

Dabei wird der Ton nie sentimental. Schließlich rügt sie Marge, weil die vor lauter Zuhören ein Knopfloch ganz unordentlich genäht hat.

Alice Childress (1916 – 1994) ist in diesen Geschichten viel mehr als „nur“ die Chronistin der Rassendiskriminierung in den fünfziger Jahren in New York. Obwohl auch das ihr schon beeindruckend gelingt.

Sie löst ihren eigenen literarischen Anspruch ein:

I attempt to write about characters without condescension, without making them into an image which some may deem more useful, inspirational, profitable, or suitable.

Die Hauptfigur Mildred tritt für ihre Würde ein. Dies tut sie klug, witzig, ironisch, lebhaft, anschaulich, direkt und zutiefst menschlich, sodass die meisten Geschichten ein gutes Ende nehmen, was in der damaligen Zeit vermutlich entweder utopisch oder aber mutmachend gewirkt haben muss.

Die Herausgeberin dieser Sammlung schreibt zwar einschränkend:

In all her adventures with her white employers, Mildred the maid is a combination of lady in shining armor charging off to attack insensitive racist infidels and the black woman of flesh and blood who knows that a direct confrontation with her white employers could lead to physical violence against her as quickly as it could lead to her dismissal.

Doch genau solche Menschen muss es ja gegeben haben, wie sonst wären die Fortschritte durch die Bürgerrechtsbewegung möglich gewesen?

Ich freue mich sehr, diese Autorin kennengelernt zu haben, die hier eine Erzählerin geschaffen hat, die sich weigert, durch die Umstände korrumpieren und beschädigen zu lassen.  Die Geschichten sind – trotz der Verankerung in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Umfeld – zeitlos gültig und befragen uns auch heute – nach unseren Fassaden, Hochnäsigkeiten und den alltäglichen, vor allem unbewussten rassistischen Vorurteilen.

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Jane Austen: Emma (1815)

Emma Woodhouse, handsome, clever, and rich, with a comfortable home and happy disposition, seemed to unite some of the best blessings of existence, and had lived nearly twenty-one years in the world with very little to distress or vex her.

So beginnt Emma, einer der bekanntesten Romane der englischen Literaturgeschichte.

Mit der für Austen typischen spitzen Zunge wird uns die Hauptperson gleich zu Beginn als eine junge Frau vorgestellt, die von zwei Gefahren bedroht sei:

The real evils indeed of Emma’s situation were the power of having rather too much her own way, and a disposition to think a little too well of herself; these were the disadvantages which threatened alloy to her many enjoyments. (S. 2 der schönen, in dunkelgrünem Leinen gebundenen Ausgabe der Everyman’s Library)

Emma, eine attraktive junge Frau, von ihrem verwitweten und wohlhabenden Vater verwöhnt, von einer intelligenten, aber vermutlich zu nachgiebigen Gouvernante erzogen, findet es selbstverständlich, bewundert zu werden und stets ihren Willen zu bekommen. In dünkelhafter Überheblichkeit weiß sie genau, was für alle anderen richtig ist. Sie macht nun die Bekanntschaft der 17-jährigen Harriet.

Harriet ist – ein enormer Makel in der damaligen Gesellschaft – unehelich geboren und niemand weiß, wer ihre Eltern sind. Sie ist ein wenig naiv und ihre Schulbildung und ihr Intellekt lassen zu wünschen übrig. Doch sie ist gutherzig, bescheiden und von Herzen dankbar für die Aufmerksamkeit, mit der sie von Emma bedacht wird.

Für Emma ist sonnenklar, dass ihre junge Freundin von einem „gentleman“ abstamme und viel zu gut für den jungen Farmer Robert Martin ist, zu dem sich Harriet hingezogen fühlt. Emma nimmt kein Blatt vor den Mund:

It would be a degradation. (S. 60)

Emma hat keine Skrupel, ihren Einfluss auf Harriet geltend zu machen, und erreicht tatsächlich, dass Harriet den Heiratsantrag Martins ablehnt und sich allmählich Hoffnungen auf den gesellschaftlich höher stehenden Pfarrer Mr. Elton macht. Und so nehmen die Verwicklungen ihren Lauf.

Emma muss dabei erkennen, dass sie – die sich so viel auf ihre Menschenkenntnis eingebildet hatte – nahezu alle ihre Freunde missverstanden und Motive und Verhaltensweisen falsch gedeutet hat. Und besonders Harriet ist die Leidtragende dieser Selbstüberschätzung und der daraus resultierenden Ratschläge.

With insufferable vanity had she believed herself in the secret of everybody’s feelings; with unpardonable arrogance proposed to arrange everybody’s destiny. She was proved to have been universally mistaken; and she had not quite done nothing – for she had done mischief. (S. 423)

Emma durchläuft einen charakterlichen Bildungsprozess, an deren Ende auch sie reif genug ist, zu erkennen, wer der richtige Partner für sie sein wird. Bei der damaligen Rolle der Frau war eine Eheschließung sicherlich von ganz anderer Bedeutung als heute, auch wenn Emma als wohlhabende Erbin unter keinem existenziellem Druck stand, unbedingt heiraten zu müssen.

Fazit: Unbedingt lesenswert

Austen wäre allerdings nicht Austen, wenn wir hier „nur“ einen gut konstruierten Liebesroman mit diversen Verwicklungen und Happy End-Garantie vor uns hätten.

Die Autorin ist eine Meisterin der Figurenzeichnung. Zwei Seiten genügen und man hat den Eindruck, mit den Figuren im selben Raum zu sitzen. Jede der Personen hat ihre eigene unverwechselbare Stimme. Man denke nur an die freundliche, aber einfältig-geschwätzige Miss Bates oder die snobistisch-plumpe Mrs Hawkins. Austens Dialoge, die wie mit einem Rekorder aufgezeichnet wirken, veranschaulichen nicht nur die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern helfen dem Leser die Distanz von 200 Jahren nahezu mühelos zu überspringen.

Austen ist darüber hinaus auch die erste englischsprachige Autorin, die das Mittel der erlebten Rede unglaublich effektvoll einzusetzen verstand. Man hört ihren Protagonistinnen förmlich beim Denken zu.

Außerdem ist Austens Blick auf die menschliche Natur klar, unbestechlich und von manchmal beißender Ironie, auch wenn die grundlegenden Werte der damaligen Gesellschaft, wie die ungleiche Besitzverteilung, im Wesentlichen nicht in Frage gestellt werden. Als sich herausstellt, dass Harriets Vater „nur“ ein Kaufmann ist, muss Emma sich eingestehen:

The stain of illegitimacy, unbleached by nobility or wealth, would have been a stain indeed. (S. 493)

Dann wieder ist Austen überraschend modern: Die „Moral“, dass nur intellektuell ebenbürtige Partner eine glückliche Ehe führen können, war damals sicherlich noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Und in einem Punkt finde ich Austen nicht nur modern, sondern geradezu zeitlos: Ihre Protagonisten plädieren für so etwas wie „elegance of mind“, einen taktvollen, höflichen Umgangston, der von Respekt geprägt ist und sich jeder Distanzlosigkeit verweigert.  Man spielt sich nicht auf und vermeidet alles Prahlen und Protzen. Man stellt einen anderen nicht bloß und macht sich nicht lustig über die, die weniger Geld oder weniger Geist haben. Und da wo es möglich ist, bietet man nachbarschaftliche Hilfe an und unterstützt die Armen, ohne sie zu beschämen.

Anmerkungen

Wer möchte, kann sich hier den Roman vorlesen lassen.

Und die passende Sekundärliteratur gibt es auch: die Biografie von Christian Grawe mit dem hübschen Titel Darling Jane.

Alexandre Dumas: Die Kameliendame (OA 1848)

Ich bin der Ansicht, daß man Gestalten erst dann zu erschaffen vermag, wenn man die Menschen eingehend erforscht hat, wie man ja auch eine Sprache erst beherrscht, nachdem man sie von Grund auf erlernt hat. Da ich selbst noch nicht in dem Alter bin, in dem man frei erfinden kann, will ich hier nichts als Tatsachen berichten. Der Leser darf also getrost der Überzeugung sein, daß diese Geschichte sich tatsächlich zugetragen hat und alle Personen, mit Ausnahme der Heldin, noch am Leben sind. Zumal es ein Leichtes wäre, für die meisten der hier geschilderten Begebenheiten in Paris Zeugen zu finden, sollte man mir nicht genug vertrauen.

Mit dieser Herausgeberfiktion beginnt der Roman Die Kameliendame (1848) von Alexandre Dumas, den er in nur vier Wochen schrieb. Ins Deutsche wurde das Buch von Michaela Meßner übersetzt. Die erste deutsche Ausgabe erschien erst 1907.

Ein namenloser junger Mann wird zufällig Zeuge einer Versteigerung, bei der die Einrichtungsgegenstände und Kleider der kürzlich verstorbenen Kurtisane Marguerite Gautier unter den Hammer kommen. Dabei erwirbt er das Buch Manon Lescaut, da eine handschriftliche Eintragung seine Neugier geweckt hat.

Kurz darauf sucht ihn eben jener Armand Duval auf, von dem die Widmung im Buch stammt, und bittet ihn unter Tränen um das Buch. Die beiden jungen Männer freunden sich an und Armand ist irgendwann bereit, dem neugewonnenen Freund die tragische Geschichte seiner Beziehung zu Marguerite zu erzählen.

Armand hatte sich in die überaus schöne Kurtisane Marguerite verliebt und sie aus der Ferne verehrt.

In einem Oval von unbeschreiblicher Anmut stelle man sich zwei schwarze Augen vor, überwölbt von Brauen, deren geschwungener Bogen so rein ist, daß sie wie gemalt erscheinen; die Augen überschleiere man mit langen Wimpern, die beim Senken den rosigen Teint der Wangen überschatten; die Nase zeichne man fein, gerade, geistreich, mit leicht geöffneten Nasenflügeln, die ein heftiges Verlangen nach dem sinnlichen Leben verraten; dann entwerfe man einen regelmäßigen Mund, dessen anmutige Lippen milchweiße Zähne sehen lassen; die Haut koloriere man nach Art samtschimmernder Pfirsiche, die noch von keiner Hand berührt wurden, und das Ganze ergibt dann diesen berückenden Kopf. (S. 14)

Die beiden lernen sich kennen und Armand bringt eine unvermutete Seite in der jungen Frau zum Klingen, denn er will ihre Gesellschaft und ihren Körper nicht – wie sonst all die anderen Männer – kaufen. Er war derjenige, der sich jeden Tag nach ihrem Befinden erkundigt hatte, ohne dabei seinen Namen zu hinterlassen, als sie krank war. Und er hat als einziger Mitleid mit ihr, als sie nach einem Abendessen Blut hustet. Armand erkennt, dass sich die erfolgreiche Kokotte noch „so etwas wie Arglosigkeit“ bewahrt hat.

Man merkte ihr an, daß das Laster bei ihr noch etwas ganz Jungfräuliches war. (S. 77)

Sie verlieben sich ineinander und das Unheil nimmt seinen Lauf, denn eine Frau wie Marguerite führt einen Lebenswandel mit Pferden, Kutsche und teuren Kleidern, Blumen und Theaterbesuchen, den ihr Armand noch nicht einmal ansatzweise finanzieren könnte.

Sie ist trotz ihrer Jugend lebenserfahren, klug und sich über ihre Stellung völlig im Klaren:

Wenn all die Frauen, die unser schändliches Gewerbe ergreifen, von Anbeginn wüßten, was da auf sie zukommt, dann würden sie lieber Dienstmädchen werden. Aber nein! Uns verlockt die Eitelkeit, Kleider, Diamanten und Equipagen zu besitzen […] und dann verschleißt man nach und nach sein Herz, seinen Körper und seine Schönheit. Man wird gefürchtet wie ein wildes Tier, verachtet wie ein Paria und ist von lauter Menschen umgeben, die stets mehr nehmen als sie selbst geben, und eines Tages verreckt man wie ein Hund, nachdem man seine Freunde und auch sich selbst verloren hat. (S. 102)

Freunde haben wir natürlich keine. Wir haben selbstsüchtige Verehrer, die ihr Vermögen nicht für uns vergeuden, wie sie immer behaupten, sondern für die eigene Eitelkeit. Für diese Leute, die selbst an gar nichts glauben, müssen wir fröhlich sein, wenn sie guter Laune sind, Appetit haben, wenn sie essen gehen wollen. Aber Herz dürfen wir auf keinen Fall zeigen, sonst werden wir zur Strafe verhöhnt und verlieren unser Ansehen Wir können nicht mehr frei über unser Leben verfügen. Wir sind keine Menschen mehr, sondern Dinge. (S. 142)

Marguerite ist diejenige, die die Unmöglichkeit ihrer Liebe sieht, denn selbst wenn sie für Armand ihren Lebenswandel ändern würde, wovon sollten sie leben und wie wäre sie abgesichert, wenn Armand, wie zu erwarten ist, in einigen Jahren nichts mehr von ihr wissen will und sie dann keine reichen Gönner mehr hätte? Doch für kurze Zeit verdrängen sie alle Sorgen um die Zukunft. Marguerite prostituiert sich weiterhin, um sich mit dem Geld ihrer Liebhaber ein kleines Haus auf dem Land mieten zu können. Dort verleben die beiden einen glücklichen Sommer, ausschließlich ihrer Liebe lebend.

Aus heutiger Sicht ist es putzig, dass Armand auch nicht ein einziges Mal auf die Idee kommt, sich eine Stellung zu suchen. Seine einzige Idee diesbezüglich ist der Spieltisch.

Doch die Familie Armands will nicht zulassen, dass der Lebenswandel des Sohnes die Familie zu kompromittieren droht. Zwar war das Kurtisanentum ein akzeptierter Teil des gesellschaftlichen Lebens in Paris, und eine attraktive und kostspielige Geliebte war nichts anderes als ein Statussymbol, doch Armand nimmt nach Ansicht des Vaters diese Liebschaft viel zu ernst und bedenkt nicht, dass sie sein weiteres Fortkommen behindern, ja unmöglich machen würde.

Das Buch ist so voller Verve und mitreißendem Pathos und interessantem Zeitkolorit, dass man den beiden Liebenden gerne durch ihre Verirrungen und Seelenqualen folgt, auch wenn die Selbstlosigkeit Marguerites, mit der sie schließlich alles für ihren Liebhaber opfert, schon ein wenig übermenschlich wirkt. Doch sie verkörpert – im Gegensatz zur verlogenen feinen Gesellschaft – einen Liebesbegriff, der wirklich das Wohl des Geliebten im Blick hat.

Armand hingegen ist ein alberner und rührseliger Wicht. Er behauptet, sie schon nach 24 Stunden unendlich und unwiderruflich zu lieben, redet dabei gern davon, dass er sie die folgende Nacht wieder besitzen werde und philosophiert darüber, dass es doch eine ganz andere Heldentat sei, das Herz einer erfolgreichen Kurtisane zu erobern als das eines einfachen und keuschen Mädchens.

Er kümmert sich keinen Deut darum, was später aus Marguerite werden soll, wenn sie mit ihren reichen Liebhabern bricht. Eine Eheschließung kommt ihm nicht einmal in den Sinn. Das würde die Gesellschaft nicht verzeihen. Doch solange er in Marguerite verliebt ist, würde er gern von seiner Umwelt in Ruhe gelassen werden. Selbst auf die Briefe seines Vaters antwortet er nicht mehr.

Er weint gern und viel, ist eifersüchtig und trotz angeblich unsterblicher Liebe sofort bereit, das Schlimmste von seiner Geliebten zu denken. Eigentlich geht es ihm immer nur um sich selbst. Als er – das erfährt der Leser schon ganz früh – kurz nach der Beerdigung Marguerites nach Paris zurückkommt, lässt er sie exhumieren:

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß diese Frau, die so jung und so schön war, als ich wegfuhr, nun tot sein soll. Davon muß ich mich mit eigenen Augen überzeugen. Ich muß sehen, was Gott aus diesem Wesen gemacht hat, das ich so sehr liebte, vielleicht wird mir dann der Ekel vor diesem Anblick die Verzweiflung über die Erinnerung nehmen … (S. 46)

Vielleicht war es gerade dieses Pathos, das die Bühnenfassung des Buches zu einem der erfolgreichsten Theaterstücke des 19. Jahrhunderts machte, die wiederum als Inspiration für die Oper „La Traviata“ gilt.

Interessant ist es auch, sich Armands Vorstellung von Liebe ein bisschen genauer anzuschauen. Ist es wirklich Liebe, wenn Armand eine heiße Liebesnacht mit Marguerite verbringt, obwohl sie hohes Fieber hat?

Ach, was war das für eine seltsame Nacht! Ihr ganzes Leben schien in die Küsse zu strömen, mit denen sie mich bedeckte, und ich liebte sie so sehr, daß ich mir inmitten des fieberhaftes Rausches meiner Liebe die Frage stellte, ob ich sie nicht töten solle, damit sie nie wieder einem anderen gehören könnte. (S. 222)

Der Roman ist auch ein Plädoyer für Barmherzigkeit gegenüber denjenigen, die durch das Raster der Wohlanständigkeit fallen. Aus heutiger Sicht fällt allerdings auf, dass der Erzähler zwar Mitgefühl, Nachsicht und Vergebung für die Prostituierten fordert.

Es genügt nicht, beim Eintritt ins Leben zwei Pfähle aufzustellen, deren einer die Inschrift Weg des Guten und der andere die Warnung: Weg des Bösen trägt, und dann denen, die davorstehen, zu sagen: ‚Trefft eure Wahl!‘; vielmehr muß man wie Christus denen, die sich auf Abwege leiten ließen, die Pfade weisen, die vom zweiten zum ersten hinführen; und vor allem dürfen die ersten Schritte auf diesen Wegen weder allzu schmerzhaft sein noch allzu ungangbar erscheinen. […] Weshalb sollten wir strenger sein wollen als Christus? Weshalb sollten wir, indem wir uns halsstarrig an die Ansichten einer Welt klammern, die sich hart gibt, damit man sie für stark hält, jene blutenden Seelen zurückstoßen, deren Wunden das Übel ihrer Vergangenheit entströmt wie schlechtes Blut einem Kranken und die doch nur warten, daß eine Freundeshand sie pflege und ihrem Herzen Genesung bringe? (S. 25)

Doch die Liebhaber, die dieses System der Ausbeutung erst ermöglichen, scheinen sich dabei nicht mit Schuld zu beladen. Die Doppelmoral und die Regeln der damaligen Gesellschaft werden als gegeben akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, mit dem Tod der Heldin ist die kurzzeitig gefährdete Ordnung wieder gesichert.

… der junge Duval ist auf den Pfad seiner gesellschaftlichen Pflichten zurückgebracht, und es wird keine Mühe gescheut, den schwer Getroffenen in den Schoß der Familie zurückzuholen. Nachdem die Kurtisane dem jungen Herrn von Stand geopfert wurde, endet die Anklage an die Gesellschaft in einem Loblied auf Familie und Rechtschaffenheit. (Michaela Meßner in ihrem Nachwort zur dtv-Ausgabe, S. 258)

Anmerkungen

Beim Autor dieses Werkes handelt es sich übrigens nicht um den Schöpfer von Der Graf von Monte Christo oder des Romans Die drei Musketiere, sondern um dessen unehelichen Sohn, der deshalb auch Dumas der Jüngere genannt wird.

1844 lernt Dumas der Jüngere die ebenfalls zwanzigjährige Marie Duplessis kennen, eine berühmte Kurtisane, mit der er elf Monate liiert war und „deren tragische Lebensgeschichte ihm zu seinem literarischen Durchbruch verhalf“. (Meßner, S. 253)

Viele Handlungsdetails hat Dumas fast unverändert der Realität entnommen. Duplessis stirbt 1847. „Am 10. Februar kehrte er [Alexandre Dumas] nach Paris zurück, genau an dem Tag, an dem ihre Habe versteigert wurde. Dumas selbst erstand Maries goldene Halskette. Den Erlös der Versteigerung, die auch Charles Dickens miterlebte, hatte Marie Duplessis einer Nichte unter der Bedingung vermacht, daß das junge Mädchen nie nach Paris gehen dürfe.“ (Meßner, S. 256)

Mary Chase: Harvey (1944)

Diejenigen, denen der Name James Stewart noch etwas sagt, kennen das Theaterstück um den großen weißen Hasen Harvey wohl vor allem durch die Verfilmung (1950) mit Stewart, der mit weltverlorenem Charme den stets liebenswürdigen, möglicherweise verrückten Elwood P. Dowd verkörpert. Zu verdanken haben wir den Hasen Mary McDonough Coyle Chase. Die deutsche Fassung erschien unter dem Titel Mein Freund Harvey.

Für das Stück Harvey hat die Autorin 1945 den Pulitzer-Preis für Theater bekommen. Die Geschichte selbst ist rasch erzählt:

Veta Louise Simmons möchte ihren Bruder Elwood P. Dowd in ‚Chumley’s Rest‘, einem Sanatorium für Geisteskranke, einweisen lassen. Zwar lebt sie mit ihrer Tochter Myrtle May bei ihm, da er das elterliche Haus geerbt hat, aber die Tatsache, dass der 47-jährige Elwood konsequent behauptet, sein bester Freund sei ein fast zwei Meter großer weißer Hase namens Harvey, sorgt ständig für peinliche Situationen und macht soziale Kontakte schwierig.

Veta und die geldgierige Myrtle befürchten, dass Myrtle mit einem ‚verrückten‘ Onkel niemals einen Ehemann finden wird. Also soll er mit Hilfe des Anwalts der Familie ins Heim abgeschoben werden, obwohl Elwood herzensgut ist und sich im Laufe der Handlung die Hinweise mehren, dass Harvey womöglich doch existiert. Elwood bezeichnet ihn als Pooka, was im Stück erklärt wird:

From old Celtic mythology. A fairy spirit in animal form. Always very large. The pooka appears here and there, now and then, to this one and that one, at his own caprice. A wise but mis-chie-vi-ous creature. Very fond of rum-pots…

Martin Schulze bezeichnet in seiner Geschichte der amerikanischen Literatur von 1999 das Stück als unterhaltsame Komödie um einen gutmütigen, aber verrückten Trunkenbold. Das greift meines Erachtens aber zu kurz, und auch die Verwechslung innerhalb des Sanatoriums, bei der für kurze Zeit Veta für die Geisteskranke gehalten wird und gegen ihren Willen den ersten Wasseranwendungen unterzogen wird, hat durchaus auch dunkle Untertöne. Rabiat wird sie von einem Pfleger entkleidet, denn gilt man erst einmal als verrückt, hat man das Recht auf Würde und Selbstbestimmung verspielt.

Veta will zwar das Beste für ihre Tochter, aber aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung will sie jemanden einweisen lassen, der niemandem etwas zu Leide tut und im Gegenteil seinen Mitmenschen ausnahmslos freundlich und wohlwollend begegnet. Er freut sich wie ein Kind, Menschen kennenzulernen (am liebsten im Pub), bietet ihnen seine und Harveys Freundschaft an und er nimmt sich die Zeit, ihnen zuzuhören und ihnen Komplimente zu machen. Ein einziges Mal ist er ungehalten, und zwar, als er von Mr Wilson, einem Pfleger in Chumley’s Rest, körperlich bedroht wird:

Mr Wilson – haven’t you some old friends you can go and play with?

Als Krankenschwester Kelly Mr Dowd fragt, ob Doktor Sanderson das Fenster öffnen soll, weil es so warm sei, gibt Elwood die bezeichnende Antwort:

Well, that’s up to him, isn’t it? I wouldn’t presume to live his life for him.

Er ist von entwaffnender Unschuld und kann nur Gutes in seinen Mitmenschen sehen. Als er erfährt, dass seine eigene Schwester innerhalb eines Nachmittages alles getan und geregelt hat, um ihn einweisen zu lassen, ist er voll des Staunens:

And Veta did all that in one afternoon? My, she certainly is a whirlwind!

Dem leitenden Arzt verrät er sein Lebensmotto:

Doctor, when I was a little boy, my mother used to say to me, „Elwood“ – she always called me „Elwood“ – „as you go through life you must be either ‚oh, so smart,‘ or ‚oh, so pleasant.'“  For years – I was smart. I recommend pleasant. You may quote me.

Für mich ist das Stück (und die kongeniale Verfilmung) keineswegs eine triviale Komödie, die den braven Geschmack der fünfziger Jahre bedient, sondern vielmehr ein Märchen über unsere Sehnsucht nach grundloser Menschenfreundlichkeit, die selbst Argwohn, Missgunst und Eigennutz überwindet.

Heinrich Böll: Irisches Tagebuch (1957)

Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte […] hier auf dem Dampfer war England zu Ende: hier roch es schon nach Torf, klang kehliges Keltisch aus Zwischendeck und Bar, hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an: Armut war nicht nur „keine Schande“ mehr, sondern weder Ehre noch Schande: sie war – als Moment gesellschaftlichen Selbstbewußtseins – so belanglos wie Reichtum…

Mit diesem Absatz beginnt das nach wie vor lesenswerte Buch Irisches Tagebuch (1957) von Heinrich Böll.

Zur Entstehung

Böll, der eine besondere Beziehung zu Irland hatte und gemeinsam mit seiner Frau mehrere irische Autoren ins Deutsche übersetzte, hielt sich 1954 mehrere Monate in Irland auf und die daraus resultierenden „Irland-Impressionen“ wurden zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Daraus entstand 1957 das literarisch durchgestaltete „Tagebuch“.

Zum Inhalt

In 18 Kapiteln umkreist Böll verschiedene Themen und Wahrnehmungen, die ihn auf seiner Reise beschäftigen: die Trinkfreudigkeit der Iren, die Armut (viele Kinder laufen auch im Herbst barfuß zur Schule) sowie die damit eng verknüpfte seit jeher enorm hohe Auswanderungszahl. Aber auch die Frömmigkeit (sichtbar z. B. an den Neon-Heiligenscheinen in den vielen Kirchen), den Regen, ein verlassenes Dorf, den Smalltalk und die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen.

Dann wieder geht es um die herbschöne Landschaft, das Prasseln der Torffeuer oder das Warten einer jungen Arztgattin, deren Mann auf halsbrecherischen Küstenstraßen zu einer Hochschwangereren fährt, um ihr bei der Geburt beizustehen. Der werdende Vater wird auch diese Geburt nicht miterleben, da er nur in England genügend Geld für seine Familie verdienen kann. Als Dankeschön wird der Arzt entlohnt wie ein König, und zwar mit dem uralten Kupferkessel der Familie, der angeblich noch von einem Schiff der Armada stammen soll.

Die Grenze zwischen Reisebericht und Fiktion ist also nicht streng gezogen; aber gerade in der fiktiven, bisweilen phantastischen Verlängerung des Tatsächlichen […] erweist sich der Blick des Dichters für die Eigenart des Landes. (Jochen Vogt: Heinrich Böll, Beck, München 1987, S. 59)

Fazit

Das Motto, das Böll dem Buch vorangestellt hat, gilt über 50 Jahre später natürlich erst recht, wenn auch anders als damals:

Es gibt dieses Irland; wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.

Irland hat in den letzten Jahrzehnten rasante und tiefgreifende Veränderungen erlebt, so dass das Buch schon fast dokumentarischen Charakter hat. Aber darüber hinaus ist es wunderschön zu lesen, nur ganz ganz selten rutscht Böll in die sprachliche Kitschkiste, so wenn er z. B. schreibt:

Entjungfert, ihres Siegels beraubt waren die Milchflaschen; grau, leer, schmutzig standen sie vor Türen und auf Fensterbänken, warteten traurig auf den Morgen, an dem sie durch ihre frischen, strahlenden Schwestern ersetzt werden würden, und die Möwen waren nicht weiß genug, das engelhafte Strahlen der unschuldigen Milchflaschen zu ersetzen… (S. 62)

Was so schön ist, das Buch strahlt eine Ruhe, eine Beruhigung aus, die vielleicht daher kommt, dass Böll so genau hingesehen und sich den Menschen und Eindrücken geöffnet hat, die ihm unterwegs begegnet sind. Diese Augen und Ohren und diese Nachdenklichkeit wünscht man sich als Reisender. Und natürlich liest man es unterschwellig als Vergleich und Kommentar zum Nachkriegsdeutschland.

Nach wie vor gilt:

‚Als Gott die Zeit machte‘, sagen die Iren, ‚hat er genug davon gemacht.‘ Zweifellos ist dieses Wort so zutreffend wie des Nachdenkens wert: stellt man sich die Zeit als einen Stoff vor, der uns zur Verfügung steht, um unsere Angelegenheiten dieser Erde zu erledigen, so steht uns zweifellos genug davon zur Verfügung, denn immer ist ‚Zeit gelassen‘. Wer keine Zeit hat, ist ein Ungeheuer, eine Mißgeburt… (S. 70/71)

Schade nur, dass über die konkreten Hintergründe und Gastgeber der Reise so wenig gesagt wird.

Anmerkung

Abschließend sei Zuckmayer zitiert, der ebenfalls dem Charme dieses Buches erlegen war:

Das Irische Tagebuch – da ist alles locker und frei, auch das Beiläufige und nebenher Erzählte groß angelegt und wunderbar gesagt, Landschaft, Verhältnisse, Menschen, wenn auch nur wie mit einer Fahrradlampe kurz angeschnitten, gewinnen Kontur, prägen sich ein, nie wird eine verstimmende Absicht fühlbar, so stark und eindringlich auch das Denken und Empfinden des Mannes hervortritt, der hier seine Notizen poetisch zusammenfaßt und damit eine Welt und seine Persönlichkeit projiziert, man wird in diese Welt mitgenommen, man war weit weg, von Deutschland, von Europa, von der Aufdringlichkeit unserer Gegenwart, man hat eine lange, wunderliche Reise getan und merkt am Ende, daß man – heimlich geleitet – genau bei sich selbst angekommen ist, bei dem, was man ist oder sein sollte, was man am Leben liebt, worum man bangt und fürchtet, worauf man hofft, woran man glauben darf. Ich halte dieses Buch für eines der schönsten und wertvollsten, die in den letzten fünfzig Jahren geschrieben worden sind. (Carl Zuckmayer: Gerechtigkeit durch Liebe, in: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): In Sachen Böll: Ansichten und Einsichten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1968, S. 52)

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein (1947, ungekürzte Neuausgabe 2011)

Die Briefträgerin Eva Kluge steigt langsam die Stufen im Treppenhaus Jablonskistraße 55 hoch. Sie ist nicht etwa deshalb so langsam, weil sie ihr Bestellgang so sehr ermüdet hat, sondern weil einer jener Briefe in ihrer Tasche steckt, die abzugeben sie hasst, und jetzt gleich, zwei Treppen höher, muss sie ihn bei Quangels abgeben. Die Frau lauert sicher schon auf sie, seit über zwei Wochen schon lauert sie der Bestellerin auf, ob denn kein Feldpostbrief für sie dabei sei.

So beginnt

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein (1947; ungekürzte Neuausgabe 2011)

Vorbemerkung

Fallada hieß eigentlich Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen und lebte von 1893 bis 1947. Was würde er wohl sagen, wenn er wüsste, dass dieser Roman erst 2009 ins Englische übersetzt und dann im englischsprachigen Raum zu einem phänomenalen Erfolg wurde? Dabei hatte schon Primo Levi das Buch als „the greatest book ever written about the German resistance to the Nazis“ bezeichnet.

Daraufhin kramte der Aufbau-Verlag mal etwas genauer in seinen Archiven und entdeckte das ursprüngliche Manuskript. So kam es 2011 zu einer Neuausgabe, diesmal ohne all die Veränderungen, die Falladas damaliger DDR-Lektor für angemessen hielt und gegen die der Autor ja nicht mehr hatte vorgehen können.

Zum Inhalt

Erzählt wird die Geschichte des Arbeiterehepaares Anna und Otto Quangel. Nachdem die beiden die Nachricht vom „Heldentod“ ihres Sohnes erhalten haben, kommen sie zu der Überzeugung, etwas gegen das herrschende Hitler-Regime tun zu müssen. Sie beschließen, Postkarten zu schreiben, in denen sie in einfachen Worten zum Protest aufrufen und die sie heimlich in öffentlich zugänglichen Geschäfts- und Wohnhäusern verteilen. Um sie herum gruppiert Fallada noch die Geschichten vieler anderer; von Mitläufern, Spitzeln, überzeugten Gestapo-Halunken, Kommissaren, Aufrechten, Gaunern, Opfern, Kommunisten oder Mitgliedern der Hitlerjugend.

Zur Entstehungsgeschichte

Das Buch ist oft genug bedrückend, wie Fallada selbst geradezu warnend in seinem Vorwort betont:

Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. […] Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.

Ja, Fallada war wirklich nicht begeistert, als Johannes R. Becher, Mitbegründer des „Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und späterer Kulturminister der DDR, ihm vorschlug, die Geschichte des Berliner Ehepaares Hampel als Grundlage für einen Roman zu verwenden. Der Kulturbund hatte nämlich Prozessakten von Widerstandskämpfern erhalten und suchte nun Autoren, die darüber schreiben konnten. Hampels hatten von 1940 bis 1942 auf Karten und in Briefen gegen das Regime aufbegehrt. „Aber Fallada lehnte ab: Er selbst habe sich im großen Strom mittreiben lassen und wolle nicht besser erscheinen, als er gewesen war.“ (Nachwort von Almut Giesecke, S. 689 der Taschenbuchausgabe)

Jürgen Kaube schreibt am 18.03.2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Dann aber nimmt ihn ‚die völlige Trostlosigkeit des Stoffes‘, dem jede Aussicht auf die Zukunft fehle, doch gefangen: Soeben erst aus einer Entziehungskur und einem Nervenzusammenbruch wieder auftauchend, schreibt er gut achthundertfünfzig Manuskriptseiten in kaum vier Wochen, nach dem vorliegenden Druck sind das mehr als zwanzig Buchseiten pro Tag. Man fasst diese Leistung gar nicht, zumal der Roman gut erzählt ist. Keine drei Monate später stirbt Fallada, durch Morphium, Alkohol und Arbeit physisch ruiniert, an Herzversagen.“

Fazit

Das Buch ist in weiten Teilen sowohl bedrückend als auch schmerzhaft. Wenn mir schon als Leserin der fiktive Selbstmord einer zu Tode gehetzten Jüdin so nahegeht, dann bekommt man zumindest eine winzigkleine Ahnung von dem damals alltäglichen Leiden. Das finde ich für Literatur sehr, sehr viel. Das Buch lässt einen manchmal geradezu vergessen, dass es in großen Teilen eine literarische Fiktion ist.

Manchmal ist es aber sogar witzig, vor allem auch spannend, ein ganz kleines bisschen hoffnungsvoll und so unglaublich lebensnah. Man kann die Figuren sehen und förmlich mit Händen greifen. Es lässt einen vor allem auch besser verstehen und nachvollziehen, wie sich das ganz alltägliche Leben unter einer Terrorherrschaft verändert, wie übelste Triebe wie Machtgier, Grausamkeit und Habgier sich nun ungehindert austoben dürfen. Und wie das Denunziantentum wie ein Krebsgeschwür um sich greift, das daraus resultierende Misstrauen und das Emporheben und Ehren des Primitiven, des Brutalen und Dummen.

„Alle haben sie Angst!“, entschied das Braunhemd verächtlich. „Warum eigentlich? Es ist ihnen doch so leicht gemacht, sie brauchen nur zu tun, was wir ihnen sagen.“

„Das ist, weil die Leute das Denken nicht lassen können. Sie glauben immer, mit Denken kommen sie weiter.“

„Sie sollen bloß gehorchen. Das Denken besorgt der Führer.“ (S. 210)

Und so ist es kein Zufall, dass die Quangels auch folgende Karte schreiben:

Führer, befiehl, wir folgen! Ja, wir sind eine Herde Schafe geworden, die unser Führer auf jede Schlachtbank treiben darf. Wir haben das Denken aufgegeben… (S. 491)

Das Buch zeigt die Umwertung aller Werte, wenn unklar zu werden droht, was eigentlich falsch, was eigentlich richtig und recht ist:  Der Anwalt setzt noch ein Gnadengesuch auf, in dem er auf „Irrsinn“ plädieren will:

Das Gnadengesuch wurde aufgesetzt, Irrsinn war der Anlass, der den Führer zur Gnade bestimmen sollte, aber der Anwalt wusste gut, dass sein Mandant nicht irrsinnig war. (S. 631)

Und es geht auch um die Frage, ob und wem der kleine private Widerstand überhaupt nutzt. Letztlich geht es um die Frage des Gewissens. Woher wissen wir, was gut und recht ist, und sind wir bereit, danach zu leben?

Helen Dunmore schreibt im Guardian am 7. Januar 2011: „Alone in Berlin, with its emphasis on the solitude in which moral choices are made, and the human loneliness of those who are persecuted, forces the reader back on very difficult questions. What, inside such a solitude and in such a society, would we do ourselves? Would we resemble the Quangels, or would we resemble those who type out their interrogation records? Fallada shows very clearly how terror, used as a matter of routine, rapidly corrupts individuals, neighbourhoods, cities and a whole nation.“

Carson McCullers: Clock without Hands (1961)

Death is always the same, but each man dies in his own way. For J. T. Malone it began in such a simple ordinary way that for a time he confused the end of life with the beginning of a new season. The winter of his fortieth year was an unusually cold one for the Southern towns – with icy, pastel days and radiant nights.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Clock without Hands (1961) von Carson McCullers.

Der Roman spielt in einer Kleinstadt in den amerikanischen Südstaaten in den fünfziger Jahren, wo viele noch immer die aberwitzige Konstruktion der Rassentrennung mit Zähnen und Klauen verteidigen.

Vier Männer, deren Lebenswege miteinander verwoben sind, müssen sich in ihren eigenen kleinen Privatleben zu den großen Fragen der Zeit verhalten und jeder, egal ob er der unterdrückten Bevölkerungsgruppe angehört oder der der herrschenden, jeder ist beschädigt durch das System.

Die Hoffnung der Autorin ist, dass Liebe, Verzeihen und Verständnis schließlich ein neues Fundament in die armselige Situation des Einzelnen legen.

Gerade der Apotheker, der zu Beginn seiner Leukämieerkrankung nicht weiß, wie er sterben soll, da er noch gar nicht das Gefühl hat, je wirklich gelebt zu haben, und der sich verzweifelt fragt, wie ihm sein banales Leben so gänzlich abhanden kommen konnte, ist am Ende derjenige, der sich trotz aller Ängste klar gegen den Mob stellt und den geplanten Mord an einem Schwarzen ablehnt. Dieser hatte die „Frechheit“ besessen, ein Haus in einer „weißen“ Straße gemietet zu haben.

Er ist derjenige, der am Ende in Frieden sterben kann.

cnz 122

Ernest J. Gaines: A long day in November (1964)

Somebody is shaking me but I don’t want to get up, because I’m tired and I’m sleepy and I don’t want to get up now. It’s warm under the cover here, but it’s cold up there and I don’t want to get up now.

So beginnt

Ernest J. Gaines: A long day in November (1964)

Die Geschichte erschien in der von Langston Hughes herausgegebenen Sammlung The Best Short Stories by Black Writers 1899 – 1967.

Zum Inhalt

In der Geschichte, die in den 30er oder 40er Jahren des letzten Jahrhunderts spielt, werden aus der Sicht eines kleinen schwarzen Jungen die Geschehnisse eines einzigen Tages erzählt.

Der kleine Sonny nässt – wohl aufgrund der Streitereien seiner Eltern – noch ein. Nach einem entsprechend demütigenden Vormittag in der Schule kommt er nach Hause.

Die Mutter hat jedoch eigene Sorgen und beschließt, mit Sonny zu ihrer Mutter zu ziehen, da die Konflikte mit ihrem Mann anscheinend nicht mehr zu lösen sind. Dieser hat nämlich nur noch sein Auto im Kopf und vernachlässigt darüber die Familie. Die Großmutter begrüßt den Schritt der Tochter, da sie sich noch nie für ihren Schwiegersohn erwärmen konnte.

Der Vater, ein schwacher Mann, will jedoch unbedingt seine Frau zurückgewinnen und holt sich den Rat einer Wahrsagerin ein. Deren Empfehlung ist eindeutig: Verbrenne dein Auto. Der Vater versucht der Wahrsagerin eine harmlosere Lösung abzuringen, vielleicht könne er das Auto wenigstens verkaufen, dann würde sich zumindest der finanzielle Verlust in Grenzen halten.

Doch schließlich wirft ihn die Wahrsagerin raus, sie habe ihm alles gesagt, ein Verkauf des Wagens reiche keinesfalls aus.

Der verzweifelte Mann ist hin und hergerissen, doch schließlich holt er alle zu dem Spektakel hinzu und verbrennt tatsächlich seinen heiß geliebten Wagen. Selbst die Schwiegermutter muss zugegeben, dass sie ihm diese männliche Tat nicht zugetraut hat.

Zusammen kehrt die kleine Familie nach Hause zurück. Der kleine Junge fühlt sich wieder geborgen und mit den Geräuschen des knarrenden Ehebetts im Hintergrund kann er endlich einschlafen.

Fazit

Hier wird auf beeindruckende Weise die Falkennovelle ins Leben geholt, in ein anderes Jahrhundert und auf einen anderen Kontinent, in einen anderen Kulturkreis transportiert: Die Geschichte schildert den Konflikt des Liebenden und seinen unbedingten Willen, sich für die Liebe zum Partner tatsächlich von dem zu trennen, was diese Liebe hinderlich ist. Egal, wie schmerzhaft das ist.

Eine nur scheinbar einfache und dabei sehr anrührende Geschichte.

Aus dieser Sammlung hat mir auch Richard Wright „Almos‘ a man“ gut gefallen.