Miss Read: Village School (1955)

Mit großem Vergnügen schmökere ich mich gerade durch die Reihe um die Erlebnisse einer englischen Dorfschullehrerin, geschrieben von Dora Jessie Saint (1913 – 2013), deren Künstlername auf dem Geburtsnamen ihrer Mutter beruht. In den Neunzigern wurde diese charmante Reihe auch ins Deutsche übertragen. Der erste Band erschien unter dem Titel Dorfschule.

Saint hat selbst Jahrzehnte lang unterrichtet, was man den Büchern anmerkt. Sie bieten Entspannung, viel Idylle, eine sehr überschaubare und (fast) heile Welt, wobei das Unschöne und menschlich Verwerfliche allerdings nicht völlig ausgespart werden. Es gibt vernachlässigte Kinder, untreue Ehemänner und den Vater, der seine Familie verprügelt und dem Nachbarn die Hühner stiehlt.

Doch meist ist das Aufregendste, dass jemand neu ins Dorf zieht, der Kirchenchor einen Ausflug unternimmt oder sich ein Junge auf dem Schulhof verletzt und die anderen brüllen, er sei bestimmt tot, ganz bestimmt, sich die Verletzung aber glücklicherweise nur als oberflächlicher Kratzer herausstellt. Oder wenn die Katze eine Ratte mit ins Haus bringt, die im Gegensatz dazu leider doch noch nicht tot ist.

Gleichzeitig hat Miss Read aber einen klaren Blick auf eine Gesellschaft im Umbruch: Viele können sich die Reparaturen ihrer Strohdächer, bei denen die Städter immer ins ahnungslose Schwärmen geraten, nicht mehr leisten. Die ersten kleinen Dorfschulen werden bereits geschlossen, mehr und mehr Leute ziehen in die Stadt, wollen keine „schmutzige“ Arbeit mehr verrichten und verlieren so den Bezug zu ihrer Herkunft und ihrer Hände Arbeit.

Und es liest sich durchaus interessant, wie doch vor gar nicht langer Zeit der Unterricht in so einer Dorfschule aussah. Was für ein Rundumpaket die Lehrerinnen liefern mussten, um für ihre Klasse – die ja immer mehrere Jahrgänge umfasste – die Grundlagen im Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Religion, Musik und Sport zu legen, und zwar so ganz ohne mediale Unterstützung.

Dazu erledigten sie die komplette Bürokratie, teilten das angelieferte Mittagessen aus und schlugen sich mit Beamten der Schulaufsichtsbehörde herum, die nun ganz dem neuen Zeitgeist folgend der Meinung waren, dass es nicht gut sein könne, wenn einige Kinder schon mit fünf Jahren fließend lesen könnten. Und da erstaunt es dann doch, wie miserabel die Bezahlung und die spätere Höhe der Rente war. Zwischenduch war ich verblüfft, wie aktuell sich manches las.

There has been much discussion recently on the methods of marking compositions. Some hold that the child should be allowed to pour out its thoughts without bothering overmuch about spelling and puntctuation. Others are as vehement in their assurances that each word misspelt and incorrectly used should be put right immediately. (S. 117)

Las sich der erste Band streckenweise noch zu sehr nach sozialem Kommentar, hat sich die Autorin ab dem zweiten Band freigeschrieben. Es macht Spaß, ihre Kämpfe mit der grimmigen Putzfrau der Schule, ihrer dominanten Freundin oder mit der neuen Hilfslehrerin mitzuverfolgen, die sehr theoretische Ideen zur Kindererziehung mitbringt. Neben den Vorkommnissen in der Schule sind der Wechsel der Jahreszeiten, die Dorfgemeinschaft mit ihrem allgegenwärtigen Tratsch und Klatsch und das Eingebettetsein in Traditionen und Feste wichtige Themen.

Die Ich-Erzählerin zeichnet ein bodenständiger, liebevoller, oft auch ironischer und sehr genauer Blick auf sich, die ihr anvertrauten Kinder und ihre Mitmenschen aus, der viel Vergnügen macht. Ihre Bücher sind keine Axt für das angeblich gefrorene Meer in uns, sondern eher eine Einladung zum Innehalten, Teetrinken und Pausemachen. Zum gelasseneren und entspannteren Blick.

Miss Gray and I had spent a long singing lesson picking our choir. This was not an easy task, as all the children were bursting to take part, but Miss Gray, with considerable tact, managed to weed out the real growlers, with no tears shed.

‚A little louder,‘ she said to Eric, ’now once again,‘ and Eric would honk again, in his tuneless, timeless way, while Miss Gray listened solemnly and with the utmost attention. Then, ‚Yes,‘ she said in a considering way, ‚it’s certainly a strong voice, Eric dear, and you do try: but I’m afraid we must leave you out this time. We must have voices that blend well together.‘

‚He really is the Tuneless Wonder!‘ she said to me later, with awe in her voice. ‚I’ve never known a child quite so tone-deaf.‘ I told her that Eric was also quite incapable of keeping in step to music; the two things often going together. Miss Gray had not come across this before and was suitably impressed. (S. 109)

Und wenn die ersten warmen Sommertage kommen, dann ist es ausnahmsweise auch in Ordnung, wenn man den Kindern am Nachmittag The Wind in the Willows vorliest oder Schüler und Lehrerin mal viel mehr tagträumen, als ganz fürchterlich viel zu schaffen. Falls man nicht ohnehin gleich eine spontane Wanderung durch die Felder und Wälder der Umgebung unternimmt, bei der man so schon wieder Anschauungsmaterial für die nächste Naturkundestunde sammeln kann.

Wem das zu viel Schule ist: Die Autorin hat noch eine zweite Reihe um die Bewohner des fiktiven Dorfes Thrushcross Grange geschrieben. Auch die eher nostalgisch geprägt und ziemlich weit weg von den modernen Tendenzen der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber niemals süßlich, niemals platt, dafür konnte Miss Read viel zu gut, zu witzig und zu anschaulich schreiben. Die Leserinnen danken es ihr bis heute.

The book, of which I had read such glowing reports, I hurled from my bed of pain about 11 a.m., when the heroine – as unpleasant a nymphomaniac as it has been my misfortune to come across – hopped into the seventh man’s bed, under the delusion that this would finally make her (a) happy, (b) noble and altruistic, and (c) interesting to her readers. Could have told the wretched creature by page 6, that, spinster though I am, this is not the recipe for happiness. (Village Diary, S. 22)

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Fundstück von Janice Galloway

Work is not a problem. I work in a school. I teach children. I teach them:

  1. routine
  2. when to keep their mouths shut
  3. how to put up with boredom and unfairness
  4. how to sublimate anger politely
  5. not to go into teaching

That isn’t true. And then again, it is. I am never sure what it is I do.

aus: Janice Galloway: The Trick is to Keep Breathing (1989)

Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde: Die Praxis der Unbildung (2014)

Konrad Paul Liessmann, österreichischer Philosophieprofessor, Kulturpublizist und Österreichs „Wissenschaftler des Jahres 2006“, setzt sich in seiner Streitschrift Geisterstunde: Die Praxis der Unbildung  mit dem Begriff der Bildung auseinander, um anschließend darzulegen, dass wir gerade dabei sind, genau diese aufs Spiel zu setzen und sie in ihr Gegenteil zu verkehren.

Sein Ideal ist der Mensch, der im Sinne Kants selbstverantwortlich handelt und den Mut und die Fähigkeit hat, sich seines Verstandes zu bedienen.

Selbstverantwortung […] Die Verantwortung, die ich für mein Denken und Handeln nicht vor anderen, sondern vor mir selbst übernehme. Dies setzt voraus, dass ich mich selbst als eine Instanz begreife, die mich befragen und vor der ich mich auch verantworten kann. […] Selbstverantwortung, ernst genommen, ist eine Form der Selbstbegegnung. Es gibt allerdings ziemlich viele und vor allem gute Gründe, dieser Begegnung aus dem Weg zu gehen. (S. 117)

Das Buch dürfte vor allem für diejenigen interessant sein, die in irgendeiner Weise mit Schule, Ausbildung und Universität zu tun haben. Liessmann erklärt in seinem Vorwort:

Das aktuelle Glücksversprechen der Bildung ist ein falsches, weil es dabei weder um Bildung noch um Glück geht. Es geht, wenn überhaupt, um Abrichtung, Anpassung und Zufriedenheit durch Konsum. Was heute unter dem Titel Bildung firmiert […], ist deren Gegenteil und Karikatur, eine Phrase, eine Schimäre, eine einzige riesige Sprechblase, ein Gespenst, das nicht um Mitternacht, sondern zur besten Unterrichtszeit sein Unwesen treibt: Geisterstunde! (S. 10)

Unter anderem setzt er sich mit den gerade vom Zeitgeist angesagten heiligen Kühen der Bildungsdiskussion auseinander, den Pisa-Tests, dem Vergleichswahn und der Bologna-Reform. Alles Dinge, die seiner Meinung  nach einzig einem ideologisch aufgeheizten und unreflektierten Aktionismus entspringen und der Wirtschaft unkritische Arbeitnehmer und Konsumenten zuliefern sollen.

Er kritisiert, und wenn es nicht so traurig wäre, würde ich ihm auch hier applaudieren, die überall grassierende PowerPoint-Seuche, bei der noch die banalsten und schlichtesten Info-Häppchen per Copy-and-Paste medial ansprechend aufbereitet werden.

Auch die allgegenwärtige Kompetenzorientierung, übrigens ein Konzept, das ursprünglich aus der Wirtschaft stammt, pflückt er auseinander.

Der für die Schweiz vorgelegte „Lehrplan“ brachte es für die Grundschule auf annähernd 4000 Kompetenzen, die entwickelt, geübt, getestet und angewandt werden sollen. […] Kein Mensch mit Sprachgefühl kann solche Curricula lesen, ohne in eine tiefe Depression zu verfallen. Oder wie anders soll man auf Formulierungen dieser und ähnlicher Art reagieren? „Über Lesefähigkeiten verfügen – Lebendige Vorstellungen beim Lesen von Texten entwickeln – […] bei der Beschäftigung mit Texten Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen …“ (S. 49)

Das Schöne daran, solche Kompetenzen lassen sich kaum sinnvoll überprüfen und der Inhalt, an dem man derlei Kompetenzen entwickeln soll, wird zunehmend beliebig. Dabei liefe es doch eigentlich umgekehrt:

Noch nie hat sich ein Mensch in einem wirklichen Bildungsprozess etwa für eine bestimmte philosophische Lebensauffassung interessiert, bloß um daran seine eigene Argumentationskompetenz zu üben, sondern es läuft immer umgekehrt: Ein bestimmter Inhalt fasziniert, lässt nicht mehr los und erhält dadurch eine Verbindlichkeit, auf die der verstehenwollende Mensch gleichsam genötigt ist, durch die Ausbildung bestimmter Kompetenzen zu antworten, um dem Anspruch der Sache gerecht werden zu können. (Peter Gaitsch, zitiert nach S. 53)

Der sogenannte Bildungsexperte ist ebenfalls nicht vor Liessmanns Spott sicher:

Niemand weiß so genau, was ihn zum Experten macht, meistens handelt es sich um einen Absolventen eben jenes Bildungssystems, das er nun medienwirksam kritisiert, sein Hintergrund ist vielfältig, aber eines ist sicher: Er sorgt sich um die Bildung, und er weiß, was eigentlich zu tun wäre. (S. 30)

Liessmanns Verdienst ist es, den Schlagworten, die man in bestimmten Kreisen gar nicht mehr hinterfragen darf, mal auf den Zahn zu fühlen; dazu gehört auch der Begriff der digital natives, die zwar selbstverständlich mit den neuen Medien aufwachsen und Infoschnipsel googlen können, doch gleichzeitig oft überfordert sind, wenn es gilt, „Informationen in einen komplexeren Verstehenskontext“ (S. 91) einzubetten.

Die ständige Betonung, wie unsinnig es sei, die Köpfe junger Menschen mit „totem Wissen“ zu füllen, täuscht darüber hinweg, dass in den Köpfen kein Wissen mehr ist. (S. 90)

Er wehrt sich überhaupt gegen die Abwertung von angeblich totem Faktenwissen, denn es war schon immer entscheidend,

wie tief dieses Wissen geht, wie es die Persönlichkeit formt, wie man es kontextualisiert. Gerade dort, wo es um die vielzitierten Zusammenhänge und Transferleistungen, um den Prozess des Verstehens geht, wird man jedoch ohne Fakten nicht auskommen. Die Annahme, dass diese jederzeit zur Verfügung stehen, ist genauso irrig wie die Vorstellung, man könne sich ohne grundlegendes fachliches Wissen in einem Problemfeld orientieren. (S. 98)

Hohntriefend, aber leider nicht von der Hand zu weisen, ist auch das Kapitel, in dem sich Liessmann über den Zusammenhang von Pädagogik, der freiwilligen Infantilisierung, Unmündigkeit und Ahnungslosigkeit (deshalb das blühende Berater- und Coachinggedöns) und dem Herabsetzen jedweder Standards  und unserem Konsumverhalten auslässt.

Bildung erscheint längst nicht mehr als Ausdruck einer eigenen und zunehmend selbstverantwortlich organisierten Anstrengung, sondern als das Konsumieren eines Produkts, das von einem Konsortium von Pädagogen und ihren Beratern maßgeschneidert angeboten werden muss. […] Und wie bei den Nahrungs- und Genussmitteln verlangen wir auch hier, dass uns eine übergeordnete Instanz die Verantwortung für unser Tun abnimmt und vor möglichen Gefahren schützt, uns zumindest eindringlich warnt. Anders ist es wohl nicht zu erklären, dass Studenten der University of California in Santa Barbara gefordert haben, dass die Texte der literarischen Klassiker mit Warnhinweisen bezüglich expliziter Darstellungen von Sex und Gewalt versehen werden sollten, um mögliche traumatische Belastungsstörungen nicht zu  verschlimmern. […] Erwachsene Studenten wollen also auf keine intellektuellen Entdeckungsreisen mehr gehen, sondern sie verlangen, dass eine paternalistische Instanz die Verantwortung für ihr physisches und kognitives Konsumverhalten übernimmt. Mündigkeit sieht anders aus. (S. 115)

Fazit

Ich verstehe das Buch von Liessmann als einen engagierten, dringend notwendigen Zwischenruf in der Bildungsdebatte á la „Des Kaisers neue Kleider“, der dazu einlädt, innezuhalten und noch einmal darüber nachzudenken, was Bildung sein könnte und müsste – ohne dass der Autor dabei die Notwendigkeit beruflich nutzbringender Fähigkeiten und Qualifikationen in Abrede stellt.

Aber von den Qualitätsmanagern und Kompetenzentwicklern, die inzwischen von den Professoren sogar „Kompetenzorientierungskompetenz“ verlangen, wird das Buch wohl leider erst gar nicht gelesen werden.

Es ist bissig geschrieben und mit mancherlei Beispielen unterfüttert, bei denen man sich die Haare raufen möchte.

Man spürt seine Traurigkeit darüber, dass Bildung mehr und mehr auf das Nützliche reduziert wird und man nur noch das gelten lasse, das sich auch anwenden lasse.

… sieht man alles nur noch unter der Perspektive der Verwertbarkeit, geht jede Chance verloren, jungen Menschen in Schulen und Universitäten die Möglichkeit zu geben, sich einer Sache um ihrer selbst willen zu nähern, sich von einem Gegenstand faszinieren zu lassen, einer Frage auch dann neugierig zu folgen, wenn die Antwort ausbleibt oder keine Bedeutung für die Karriere hat. Nützlichkeit bedeutet immer: Sein für ein Anderes. Es verwehrt uns jedes Für-sich-Sein. (S. 179)

An dieser Stelle möchte ich auch auf die Festrede “Wie wäre es, gebildet zu sein?” von Prof. Dr. Peter Bieri hinweisen, auf die sich Liessmann mehrmals bezieht.

Und den Hinweis auf das Buch verdanke ich Claudia. Auf Dem Grauen Sofa gibt es auch eine Besprechung.

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Anne Brontë: Agnes Grey (1847)

All true histories contain instruction; though, in some, the treasure may be hard to find, and, when found, so trivial in quantity, that the dry, shrivelled kernel scarcely compensates for the trouble of cracking the nut. Whether this be the case with my history or not, I am hardly competent to judge. I sometimes think it might prove useful to some, and entertaining to others; but the world may judge for itself. Shielded by my own obscurity, and by the lapse of years, and a few fictitious names, I do not fear to venture; and will candidly lay before the public what I would not disclose to the most intimate friend.

Mit diesen Sätzen beginnt Agnes Grey (1847), der erste Roman der 1820 geborenen „kleinen Schwester“ von Charlotte und Emily; ins Deutsche übersetzt von Michaela Meßner.

Die achtzehnjährige Pfarrerstochter Agnes möchte Gouvernante werden. Zum einen hofft sie, dadurch ihre Familie finanziell zu unterstützen, die durch Spekulationen ihres Vaters beträchtliche Verluste erlitten hat, und zum anderen zieht es sie in die Welt, von der sie endlich etwas sehen und kennenlernen möchte.

Wirklich vorbereitet auf eine solche Aufgabe ist sie allerdings nicht. Sie und ihre Schwester Mary sind in ländlicher Abgeschiedenheit von der gebildeten Mutter und ihrem Vater unterrichtet worden, haben nie eine Schule von innen gesehen und keinen nennenswerten Kontakt zur Außenwelt, wenn man von einigen Verwandtenbesuchen im Jahr einmal absieht. Agnes selbst sieht das – vermutlich im Rückblick – ganz nüchtern:

I, being the younger by five or six years, was always regarded as the child, and the pet of the family: father, mother, and sister all combined to spoil me – not by foolish indulgence to render me fractious and ungovernable, but by ceaseless kindness to make me too helpless and dependent – too unfit for buffeting with the cares and turmoils of life.

Doch allen Unkenrufen der Familie und aller Unerfahrenheit zum Trotz freut sie sich auf die Arbeit als Gouvernante und malt sich diese in den schönsten Farben aus.

Whatever others said, I felt I was fully competent to the task: the clear remembrance of my own thoughts in early childhood would be a surer guide than the instructions of the most mature adviser. I had but to turn from my little pupils to myself at their age, and I should know, at once, how to win their confidence and affections: how to waken the contrition of the erring;  how to embolden the timid, and console the afflicted; how to make Virtue practicable, Instruction desirable, and Religion lovely and comprehensible.

Und so kommt, was kommen muss. Ihre erste Stelle bei der wohlhabenden Kaufmannsfamilie Bloomfield ist eine herbe Enttäuschung. Ihre Schützlinge, der siebenjährige Tom und die fast sechsjährige Mary Ann, sind verwöhnt und denken gar nicht daran, den Aufforderungen der neuen Gouvernante Folge zu leisten, zumal Agnes in der Hierarchie des Haushalts noch unter den Kindern steht. Statt der Gouvernante haben die Kinder das Sagen und es gibt wenig, was Agnes dem entgegenzusetzen hat. Sie nimmt es hin und ärgert sich nur im Stillen, wenn die Kinder sie herumkommandieren und sie weder Sanktions- noch Belohnungsmöglichkeiten hat.

Vergeblich bemüht sie sich, Tom seine Tierquälereien zu verbieten und ihm das Verwerfliche seines Tuns zu verdeutlichen, doch da der Junge nur dem Vorbild von Vater und Onkel folgt, die seine Grausamkeiten noch belächeln, hat Agnes natürlich keine Aussicht auf Erfolg. Selbst vor Handgreiflichkeiten gegenüber Agnes schreckt der kräftige Junge nicht zurück.

Agnes zeigt in den engen, ihr gesteckten Grenzen Geduld, Konsequenz und Prinzipien, doch auf nennenswerte Fortschritte bei ihren Bemühungen hofft sie vergeblich:

But either the children were so incorrigible, the parents so unreasonable, or myself so mistaken in my views, or so unable to carry them out, that my best intentions and strenuous efforts seemed productive of no better result than sport to the children, dissatisfaction to their parents, and torment to myself.

In Momenten, in denen Agnes so aufs Äußerste gereizt und provoziert wird, verliert sie die Beherrschung, und der dann eskalierende Machtkampf ist geradezu alptraumhaft.

Sometimes, exasperated to the utmost pitch, I would shake her violently by the shoulder, or pull her long hair, or put her in the corner; for which she punished me with loud, shrill, piercing screams, that went through my head like a knife. She knew I hated this, and when she had shrieked her utmost, would look into my face with an air of vindictive satisfaction, exclaiming – ‚Now, then! that’s for you!‘ And then shriek again and again, till I was forced to stop my ears.

Auch die vierjährige Fanny entpuppt sich als böse Überraschung:

I found her a mischievous, intractable little creature, given up to falsehood and deception, young as she was, and alarmingly fond of exercising her two favourite weapons of offence and defence; that of spitting in the faces of those who incurred her displeasure, and bellowing like a bull when her unreasonable desires were not gratified. As she, generally, was pretty quiet in her parents‘ presence, and they were impressed with the notion of her being a remarkably gentle child, her falsehoods were readily believed, and her loud uproars led them to suspect harsh and injudicious treatment on my part…

Agnes verliert die Freude an ihrem Tun, verbittert stellt sie fest, dass es kaum eine beklagenswertere Lage gebe als die ihre. Sie sieht genau, wo die Probleme liegen, darf dies jedoch nicht äußern, ohne ihre Stelle zu gefährden.

… my work – a more arduous task than any one can imagine, who has not felt something like the misery of being charged with the care and direction of a set of mischievous turbulent rebels, whom his utmost exertions cannot bind to their duty; while, at the same time, he is responsible for their conduct to a higher power, who exacts from him what cannot be achieved without the aid of the superior’s more potent authority: which, either from indolence, or the fear of becoming unpopular with the said rebellious gang, the latter refuses to give.

Dennoch lässt Agnes nicht ab von ihren Vorstellungen von Falsch und Richtig: Als sie Tom dabei erwischt, wie  er eine Handvoll Küken genüsslich zu Tode quälen will, überwindet sie sich und tötet die kleinen Vögel mit einem großen Stein. Anschließend wird sie von Mrs Bloomfield dafür gerügt, wie sie es habe wagen können, einem Kind ein harmloses Vergnügen zu verweigern.

Obwohl Agnes und ihre Arbeitgeber also offensichtlich nicht zusammenpassen, ist sie trotzdem verletzt, als man ihr kündigt. Sie empfindet es als Schmach, in ihren Bemühungen nicht anerkannt worden zu sein, und ist gekränkt, quasi als Gescheiterte nach Hause zurückzukehren. Dabei wird sie von ihrer Familie liebevoll empfangen und man möchte sie am liebsten gar nicht mehr fortlassen.

Aber ihre Hoffnungen, zum Unterhalt ihrer Familie beizutragen und mehr von der Welt zu sehen, sind ungebrochen und so tritt sie einige Monate später ihre zweite Stelle bei der Familie Murray auf Horton Lodge an, um dort die vier Kinder in Musik, Zeichnen, Französisch, Latein und Deutsch zu unterrichten. Ihre neue Wirkungsstätte ist 70 Meilen von ihrem Heimatdorf entfernt:

… a formidable distance to me, as I had never been above twenty miles from home in all the course of my twenty years‘ sojourn on earth; and as, moreover, every individual in that family and in the neighbourhood was utterly unknown to myself and all my acquaintances. But this rendered it only the more piquant to me.

Die dortige Begrüßung versetzt ihrem Optimismus allerdings sofort einen kräftigen Dämpfer. Von stundenlanger Kutschfahrt während eines Schneesturms völlig durchgefroren, bekommt sie gerade mal einen Tee und ein Butterbrot von gleichgültigen Bediensteten auf ihr kleines Zimmerchen gebracht. Anne Smith bestätigt das in ihrem Vorwort zu Agnes Grey und schreibt: „Governesses were seen as a life-form little higher than mice and birds.“

It was with a strange feeling of desolation, mingled with a strong sense of the novelty of my situation, and a joyless kind of curiosity concerning what was yet unknown, that I awoke the next morning; feeling like one whirled away by enchantment, and suddenly dropped from the clouds into a remote and unknown land, widely and completely isolated from all he had ever seen or known before; or like a thistle-seed borne on the wind to some strange nook of uncongenial soil, where it must lie long enough before it can take root and germinate, extracting nourishment from what appears so alien to its nature: if, indeed, it ever can.

In ihrer Position gehört sie weder zu den Hausbediensteten noch zur Schicht ihrer Arbeitgeber, sodass sie keine Gesprächspartner auf Augenhöhe hat. Kein Wunder, dass sie in dieser isolierten Lage besonders empfindlich auf die Gedankenlosigkeiten ihrer Arbeitgeberin reagiert, der ausschließlich das Wohlbefinden der Kinder am Herzen liegt. Diese haben mehr Freiheiten, als ihnen gut tut, und sie sind es auch, die den täglichen Unterrichtsbeginn festlegen, und nicht Agnes. Bissig beschreibt sie ihre Aufgaben in Bezug auf die zwei Töchter des Hauses, Rosalie (16) und Mathilda (13):

For the girls she (gemeint ist die Mutter) seemed anxious only to render them as superficially attractive and showily accomplished as they could possibly be made, without present trouble or discomfort to themselves; and I was to act accordingly – to study and strive to amuse and oblige, instruct, refine, and polish, with the least possible exertion on their part, and no exercise of authority on mine.

Diese oberflächliche Erziehung hat ganz handfeste Konsequenzen, den Mädchen fehlt jegliches Gespür für Takt, Anstand und Integrität. Was Agnes beispielsweise sehr unangenehm berührt, ist der Snobismus der Mädchen, nicht nur ihr, sondern auch den armen Dorfbewohnern und Tagelöhnern gegenüber. Rosalie und Mathilda

… chiefly owing to their defective education, comported themselves towards their inferiors in a manner that was highly disagreeable for me to witness. They never, in thought, exchanged places with them; and, consequently, had no consideration for their feelings, regarding them as an order of beings, entirely different from themselves. They would watch the poor creatures at their meals, making uncivil remarks about their food, and their manner of eating; they would laugh at their simple notions and provincial expressions, till some of them scarcely durst venture to speak…

Im Laufe der Monate wird die Situation der jungen Hauslehrerin angenehmer, da die beiden Jungen in ein Internat geschickt werden, und die Mädchen Agnes zwar immer noch seltsam finden, dennoch kann sich eine mehr oder weniger ehrliche, fast schon ironische Beziehung zwischen Schülerinnen und Lehrerin entwickeln.

Als die flirt- und vergnügungssüchtige Rosalie verkündet, erst dann heiraten zu wollen, wenn sie sämtliche Männerherzen gebrochen habe und die Gefahr bestehe, eine alte Jungfer zu werden, rät Agnes ihr ganz trocken, unbedingt ledig zu bleiben, solange sie solch unmoralischen Ansichten in Bezug auf die Ehe hege:

Well, as long as you entertain these views, keep single by all means, and never marry at all: not even to escape the infamy of old-maidenhood.

Doch dann beginnt ein weiterer Handlungsstrang. Agnes begleitet die Familie zu ihren sonntäglichen Gottesdiensten und sie stellt fest, dass der neue Vikar Mr Weston so ganz anders predigt als der kalte und eitle Pfarrer Mr Hatfield. Agnes beurteilt Mr Weston nach seinen Grundsätzen, nach seinem Glauben und nach der Frage, wie sich dieser Glaube im Umgang mit den Armen und Angefochtenen seiner Gemeinde manifestiert. Agnes gesteht sich ein, erste zarte Hoffnungen zu hegen. Und von fern fühlte ich mich an Austen erinnert: Über welche Eigenschaften muss das Individuum verfügen, um voraussichtlich eine glückliche Ehe führen zu können?

Fazit

Auf der einen Seite krankt der Roman an einer z. T. nervtötenden Schwarz-Weiß-Malerei fast aller Charaktere. Agnes‘ moralischer Kompass geht nie fehl; das Einzige, was sie selbstkritisch anmerkt, ist, dass sie sich bei ihren Arbeitgebern nie beschwert hat, wenn ihr etwas missfiel. Ihre Schüler sind immer moralisch unterentwickelt und deren Eltern legen – was die Erziehung ihrer Kinder angeht – grundsätzlich ein unverantwortliches Handeln an den Tag. Mr Weston hingegen ist immer den Menschen zugewandt und höchstens ein bisschen abrupt.

Außerdem trat das Buch in der ersten Hälfte – was die Handlung betraf – auf der Stelle. Die vielen Szenen aus Agnes‘ Alltag, in denen sie ihre Schützlinge und deren gedankenlose Eltern kritisiert, ähneln einander bis zur Ermüdung:

… she (gemeint ist Rosalie) had never been perfectly taught the distinction between right and wrong; she had like her brothers and sisters, been suffered, from infancy, to tyrannize over nurses, governesses, and servants; she had not been taught to moderate her desires, to control her temper or bridle her will, or to sacrifice her own pleasure for the good of others.

Der moralisch-kompromisslose Anspruch der Ich-Erzählerin mag auf manchen sogar sauertöpfisch wirken. Deshalb verleitet der Roman vielleicht dazu, ihn ein wenig voreilig für gar zu leicht zu befinden und ihn zur Seite zu legen.

Wer allerdings aufmerksam liest, entdeckt immer wieder Stellen, an denen sich der Roman über sein übriges Niveau erhebt. Der Kontrast zwischen Mr Hatfield, einem literarischen Nachfahren von Austens Mr Elton, und Mr Weston bringt beispielsweise zeitlose Kirchenkritik „in a nutshell“.  Und wie rasch ist eine Passage überlesen wie die, in der Agnes erzählt, dass nach dem Gottesdienst buchstäblich niemand mit ihr spricht und der eitle Pfarrer Mr Hatfield ihr sogar beinahe die Kutschtür vor der Nase zuschlägt, weil er sie gar nicht wahrnimmt. Agnes sagt selbst:

… I was lonely. Never, from month to month, from year to year, except during my brief intervals of rest at home, did I see one creature to whom I could open my heart, or freely speak my thoughts with any hope of sympathy, or even comprehension…

Vor allem aber war ich fasziniert von der Kompromisslosigkeit dieser Hauslehrerin. Agnes ist sicherlich einseitig, oft steif und unflexibel, ungerecht und anscheinend nicht in der Lage, die Sympathie ihrer Arbeitgeber zu erringen. Aber die Kritik an der Erziehungspraxis ihrer Arbeitgeber ist so wuchtig und voller Empörung, dass hier zweifellos auch die Verbitterung und die Erfahrungen aus Anne Brontës eigener sechsjähriger Gouvernantentätigkeit verarbeitet wurden. Auch andere autobiografische Details lassen sich im Roman wiederfinden.

Die unappetitlichen Schilderungen verzogener und verrrohter Kinder wurden von Brontës Zeitgenossen eher ungnädig aufgenommen. So genau wollte man das gar nicht wissen. Kinder sollten, zumindest in der Literatur, wohlerzogene, unschuldige Wesen sein. Und nicht alle Eltern dürften angesichts der Erziehungskritik, die ihnen hier vorgehalten wurde, glücklich gewesen sein, wie z. B. als Mrs Murray Agnes Hinweise gibt:

how I should prepare and smooth the path of learning till Rosalie could glide along it without the least exertion to herself: which I could not, for nothing can be taught to any purpose without some little exertion of the part of the learner.

Anmerkung

Auch Annes Schwestern Emily und Charlotte arbeiteten als Gouvernanten oder Lehrerinnen und waren dabei genauso unglücklich wie Anne. Hier ein Tagebucheintrag von Charlotte von 1836, während sie als Lehrerin in Roe Head arbeitete:

Heute verbrachte ich den ganzen Tag wie in einem Traum, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt […] Fast eine Stunde habe ich mich abgerackert, um Miss Lister, Miss Marriott und Ellen Cook den Unterschied zwischen einem Artikel und einem Substantiv beizubringen. Und dann war die Grammatikstunde zu Ende, und im Klassenzimmer herrschte Totenstille, und ich saß da und versank vor Verärgerung und Erschöpfung in eine Art Lethargie. Mußte ich denn die besten Jahre meines Lebens mit dieser jämmerlichen Sklavenarbeit zubringen, ständig gewaltsam meinen Zorn unterdrücken, angesichts solcher Faulheit und Interesselosigkeit und der von Tag zu Tag sich steigernden Blödheit dieser schafsköpfigen, lümmelhaften Esel, und dies mit der geheuchelten Miene der freundlichen, geduldigen und beflissenen Lehrerin? Mußte ich denn wirklich Tag für Tag an diesen Stuhl gekettet hier drinnen hocken, eingekerkert zwischen diesen vier kahlen Wänden, während draußen die Sommersonne aufs herrlichste vom Himmel herabbrennt und die prachtvollste Zeit des Jahres vorübergeht? Von solchen Überlegungen ins Mark getroffen, stand ich auf und ging mechanisch zum Fenster hinüber. Ein wunderschöner Augustmorgen grüßte von draußen herein … Hätte ich die Zeit gehabt, diesen Augenblick in seiner inspirierenden Ausstrahlung auszukosten, wäre daraus sicherlich eine der besten Erzählungen geworden, die ich jemals geschrieben habe. Aber just in dem Moment kommt so ein Schafskopf mit den Hausaufgaben daher. (zitiert nach Muriel Spark: In sturmzerzauster Welt: Die Brontës, Diogenes 2003, S.16/17)

Im Original klingt das so:

All this day I have been in a dream, half miserable, half ecstatic, miserable because I could not follow it out uninterruptedly, ecstatic because it showed almost in the vivid light of reality the ongoings of the infernal world (gemeint ist Angria). I had been toiling for nearly an hour with Miss Lister, Miss Marriott, and Ellen Cook, striving to teach them the distinction between an article and a substantive. The parsing lesson was completed: a dead silence had succeeded it in the schoolroom, and I sat sinking from irritation and weariness into a kind of  lethargy. The thought came over me: Am I to spend all the best part of my life in this wretched bondage, forcibly suppressing my rage at the idleness, the apathy, and the hyperbolical and most asinine stupidity of these fat-headed oafs, and of compulsion assuming an air of kindness, patience and assiduity? Must I from day to day sit chained to this chair, prisoned within these four bare walls, while these glorious summer suns are burning in heaven and the year is revolving in its richest glow, and declaring, at the close of every summer day, the time I am losing will never come again? Stung to the heart with this reflection, I started up and mechanically walked to the window. A sweet August morning was smiling without. The dew was not yet dried off the field, the early shadows were stretching cool and dim from the hay-stacks and the roots of the grand old oaks and thorns scattered along the sunk fence […] If I had had time to indulge it I felt that the vague suggestions of that moment would have settled down into some narrative better at least than anything I ever produced before. But just then a dolt came up with a lesson. I thought I should have vomited.

Michael Hagner: Der Hauslehrer (2010)

Im Juni 1902 suchte das Berliner Bankiersehepaar Rudolf und Rosalie Koch einen Hauslehrer für seine beiden jüngsten Söhne. Der dreizehnjährige Heinz Koch war kurz zuvor aus dem thüringischen Internat Haubinda entlassen worden, sein zwei Jahre jüngerer Bruder Joachim machte trotz Nachhilfelehrer kaum Fortschritte in der Oberrealschule.

So beginnt Hagner, Professor für Wissenschaftsgeschichte, seine Aufarbeitung eines bedrückenden historischen Kriminalfalls.

Zum Inhalt

Rosalie Koch ist – gemäß den damaligen Gepflogenheiten der wohlhabenden Schicht – für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig, während der Bankiersgatte seinen beruflichen und gesellschaftlichen Pflichten nachgeht und seine zwei jüngsten Söhne nur sporadisch sieht.

Als Heinz und Joachim nicht die Leistungen zeigen, die von ihnen erwartet werden, engagieren die Kochs den jungen Studenten Andreas Dippold als Hauslehrer, der sich aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen hochgearbeitet hatte.

Dippold unterbricht sein Studium, tritt am 1. Juli 1902 seine Stelle an und zieht mit den beiden Kindern auf ein der Familie Koch gehörendes Gut. Zunächst scheint er Erfolg zu haben. Dippold achtet auf eine gesündere Ernährung der Jungen, sie werden weniger verzärtelt und müssen Sport treiben, sodass sich ihr körperlicher Zustand deutlich verbessert. Doch die schulischen Leistungen bleiben weiterhin unterdurchschnittlich. Der Lehrer wird strenger und um zu vermeiden, dass die Eltern seine Autorität durch verfrühtes Lob oder Versprechungen untergraben, schlägt er vor, den Briefkontakt zwischen Eltern und Kindern persönlich zu überwachen. Jeder Brief geht durch seine Hände, so wird schon früh verhindert, dass sich die Jungen unzensiert und ehrlich an ihre Mutter wenden können.

Allerdings muten die erhaltenen Briefe der Mutter ohnehin befremdlich an. Sie scheint unfähig gewesen zu sein, eine liebevolle Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen. Ihre Briefe sind eine wüste Mischung aus Beschimpfungen, Herabwürdigung, Androhungen, Appellen, Versprechungen und Selbstmitleid. Als die Leistungen von Heinz weiterhin Anlass zu Beanstandungen geben, schreibt sie:

Schlage die Hand, die wir Dir durch Herrn Dippold bieten, nicht aus, sondern nutze jeden Augenblick, damit Du es nicht bitter bereuen mußt, wenn es zu spät ist. Wie unglücklich Du mich noch ganz besonders durch Deine Faulheit machst, habe ich Dir oft genug wiederholt u ich kann Dir nur rathen, mißbrauche meine Geduld nicht zu lange, sonst könnte für uns beide ein recht trauriges Ende davon kommen. (S. 20 – 21)

An den jüngeren Sohn sind die Worte gerichtet, dass er

zu der ganz minderwertigen Sorte von Jungen [gehöre], die nur durch erneute geistige Peitschenhiebe zu ihrer Pflicht zu bringen sind. Schäme Dich, Joachim! (S. 24)

Dippold versteht es, auf der einen Seite den Eltern zu vermitteln, dass er mit seinen überdurchschnittlichen pädagogischen und wissenschaftlichen Kenntnissen genau der richtige Mann für diese Aufgabe sei, und auf der anderen Seite wird er nicht müde, den Rückstand seiner Schützlinge zu betonen und so die Dimension seiner Mission herauszustellen.

Die Entfremdung zwischen Söhnen und Eltern schreitet voran. Auf Empfehlung des Hauslehrers verbringen die Kinder noch nicht einmal die Weihnachtsferien im elterlichen Haus, sondern in nahe gelegenen einfachen Unterkünften. Irgendwann schickt der Gärtner des Guts, auf dem Dippold mit den Jungen lebt, beunruhigende Nachrichten nach Berlin: Dippold habe die Jungen über die Maßen schwer gezüchtigt. Die Mutter reist an und lässt sich doch wieder beschwichtigen.

Als Grund für die schweren Prügel, die im Laufe der Monate immer heftiger werden, nennt Dippold das Onanieren der Jungen. Der Hauslehrer wirkt wie besessen und beginnt einen brutalen Kreuzzug. Doch stand er damals mit seinen Vorstellungen keineswegs allein:

Seit dem späten 18. Jahrhundert gehörten das Thema Onanie und ihre schonungslose Bekämpfung zu den stabilsten Säulen des pädagogischen und medizinischen Diskurses über Sexualität. Hundert Jahre später hatte sich daran nur wenig geändert, denn das bürgerliche Publikum hielt die Onanie weiterhin für den großen unberechenbaren Feind. […] Auch um 1900 waren drastische Bestrafungen und weitergehende Maßnahmen noch an der Tagesordnung, die sich sogar mit Verweis auf die neueste medizinische Literatur rechtfertigen ließen. (S. 36)

Rosalie Koch bricht sogar endgültig mit ihrem Sohn Heinz – vermutlich von Dippold provoziert, bekam er so doch einen noch größeren Machtbereich, in dem ihm niemand mehr reinreden sollte. Noch einmal flüchtet Heinz zum Gärtnerehepaar, weil er fürchtet, dass Dippold ihn und seinen Bruder totschlagen werde. Der Gärtner, der einzige, der sich in dieser Schauergeschichte menschlich verhält, informiert auch diesmal unverzüglich die Eltern. Doch so unglaublich es klingt, die Mutter vertraut dem Brief des Hauslehrers, in dem er seine Maßnahmen rechtfertigt. Er schreibt ganz offen, dass er nun sogar mit den Jungen in einem Bett schlafe, um deren  Orgien (die Jungen onanierten angeblich bis zu 40-mal am Tag) zu unterbinden, und dass er tagsüber auch ihren Hosenlatz kontrolliere. Sie kommt noch nicht einmal persönlich, sondern schickt einen Arzt, der die Jungen aber nicht untersucht, sondern nett mit Dippold plaudert und der Mutter Entwarnung gibt.

Da das Dienstpersonal Dippold jetzt aber wohl doch mehr als ihm lieb war auf die Finger sah, verlässt er mit dem Einverständnis der Eltern das Kochsche Anwesen und zieht mit den Jungen zurück in seine alte Pfälzer Heimat, wo er jeglicher Kontrolle enthoben seine sadistischen Bestrafungsfantasien auslebt. Am 10. März 1903 stirbt Heinz Koch, gerade einmal 14 Jahre alt, an den Folgen der Misshandlungen.

In einem aufsehenerregenden Prozess wird Dippold, der sich keiner Schuld bewusst ist, zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.

In den weiteren Kapiteln rollt der Autor den Prozess gegen Dippold auf und untersucht die Rolle, die die Zeitungen bei diesem Skandal für die öffentliche Meinungsbildung und Vorverurteilung spielten. Außerdem geht er der Frage nach, wie die verschiedenen Fachbereiche versuchten, ihre eigenen Ansichten zu dem Fall als letztgültigen Stand der Wissenschaft in Stellung zu bringen. Juristen, Mediziner, Kriminalrechtler, Psychologen, Befürworter und Gegner der Prügelstrafe, alle meldeten sich lautstark zu Wort.

Fazit

Die Schilderung dieser Lehrer-Schüler-Beziehung geht streckenweise wirklich an die Nieren. Die Verquickung aus fehlender Elternliebe, dem Vertrauen in selbsternannte Experten, Härte, Sadismus, Ignoranz, der Angst vor Tabuthemen wie Sexualität und Onanie und dem „Das-Beste-Wollen“ ist fürchterlich.

Hagners Interesse geht aber über die bloße Darstellung des historischen Falls hinaus und so untersucht er u. a. eine Reihe theoretischer Fragen, z. B. wie sich dieser Fall in den Augen der Öffentlichkeit zu einem solch publikumswirksamen Skandal ausweiten konnte, bei dem schließlich jeder meinte, ebenfalls seine Meinung kundtun zu müssen, und zwar in zum Teil extrem schrillen Tönen.

Dabei geht er besonders auf die Rolle der Zeitungen ein. In diesem Zusammenhang bezieht Hagner sich ausführlich auf Foucault und dessen von ihm geprägte Begriffe wie Diskurs, Dispositiv etc. Da wurde die Lektüre streckenweise sehr theorielastig und schwierig, da ich mich nie näher mit Foucault beschäftigt habe. Man muss dann schon mal durch Sätze durch wie:

Foucault legt großen Wert darauf, daß die vier Dispositive [gemeint sind: vier strategische Komplexe, die um den Sex spezifische Wissens- und Machtdispositive entfaltet haben] historisch zwar nicht zur selben Zeit entstanden sind, aber doch eine Kohärenz auf der Ebene der Macht und des Wissens gewonnen haben und im Diskurs über die Sexualität ein eng miteinander verflochtenes Knäuel bilden. Nimmt man diese These ernst, so schließt sie kategorisch aus, daß diese Dispositive sich idiosynkratisch zueinander verhielten. (S. 100)

Da beschlich mich dann der Zweifel, ob man das für Laien nicht doch weniger abstrakt hätte ausdrücken können.

Dennoch sind dem Buch interessante Einsichten zu verdanken: Schon damals sahen sich sowohl Rechtsprechung als auch Medizin vor die Frage gestellt, ob ein Täter überhaupt zurechnungsfähig ist oder nicht. So kam es schließlich zu dem seltsamen Konstrukt, dass Dippold im Jargon der Zeit zwar als abnorm, minderwertig, sadistisch etc. klassifiziert wurde, er aber trotzdem als voll verantwortlich angesehen wurde. Er selbst hat übrigens nie einen Hehl aus seinen Misshandlungen gemacht, diese aber bis zum Schluss als gerechtfertigt angesehen und deshalb jede Schuld am Tod seines Zöglings abgestritten. Als es immer enger für ihn wurde, führte er als mögliche Todesursachen ein Nierenversagen oder eine generelle Schwächung durch übermäßiges Onanieren an.

Die damalige Berichterstattung, von Hagner akribisch recherchiert, zeigt die gleichen Schattenseiten, wie wir sie aus der heutigen Medienlandschaft kennen: Sensationsgier, das Ausgraben immer weiterer Details aus dem Privatleben aller Beteiligten, egal, ob sie in einem Zusammenhang mit dem Verbrechen stehen oder nicht, und der Kampf der Fachleute um die Deutungshoheit des Geschehens: Wer trägt Schuld, die Eltern, die Pädagogik, der Lehrer, der Arzt, der die Kinder auf dem Gut besuchte, aber nicht untersuchte? Waren die Kinder schuld? Darf man Kinder prügeln? Ist Dippold zurechnungsfähig oder nicht? Welche Strafe ist angemessen? Wie schädlich ist nun die Onanie? Experten und solche, die sich dafür hielten, argumentierten und versuchten mit aller Kraft, ihre jeweiligen Sichtweisen als die allein richtige und von der Wissenschaft abgesicherte darzustellen. Und schon damals gab es das Phänomen, dass Ärzte und Fachleute Gutachten erstellten, ohne je mit dem Angeklagten überhaupt gesprochen zu haben. Alles rein nach Aktenlage bzw. nach dem, was in den Zeitungen stand.

Interessant auch die Rolle der Eltern, die sich nun flugs eine Strategie überlegen mussten, weshalb sie bis zum bitteren Ende so große Stücke auf den Hauslehrer gehalten haben und den Warnungen z. B. des Gärtners nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit nachgegangen sind. Sie gingen dann zum Gegenangriff über und stilisierten Dippold plötzlich als sadistischen Kinderschänder. Die Frage nach der Onanie und ihrer Bewertung rückte damit – auch im Interesse der Familie – allmählich in den Hintergrund.

Hagner ordnet das alles ein in die damals gängigen zutiefst autoritären Welterklärungsmodelle und zeigt, dass Dippold wie auch die Gesellschaft um ihn herum ganz selbstverständlich von Ideen des Antisemitismus, Sozialdarwinismus, von Untertanenmentalität und Prügelpädagogik geprägt war.

Das liest sich alles akribisch recherchiert und sauber belegt, und doch war der Erkenntnisgewinn für mich nicht so hoch, dass ich jetzt völlig aus dem Häuschen wäre. Am Ende stellt das Buch letztlich die Frage: Woher können wir wissen, dass unsere Werte und Maßstäbe die richtigen sind und wir nicht nur einem gerade angesagten Zeitgeist hinterhertaumeln?

Und an der entscheidenden Stelle ist das Buch ganz still: Die Kinder selbst kommen kaum zu Wort, und das bleibt das Fürchterliche, der eigentliche Skandal bis heute: Misshandelte, missbrauchte, verhungernde oder zu Tode geprügelte Kinder sind leise, ihre Peiniger sorgen schon dafür, dass möglichst niemand ihre Stimme hört.

Anmerkungen

Hans Ulrich Gumbrecht schreibt in der NZZ vom 4. Oktober 2010:

Der Autor droht, so scheint es, in der von ihm gekonnt aufgefächerten Diskursvielfalt zu verschwinden – und mit ihm auch eine Antwort auf die Frage, was von dem ‚zeitlosen Lehrstück‘, als das der Klappentext die Geschichte ankündigt, denn gelernt werden kann.

Hier geht’s lang zu einem Gespräch des Autors mit Stephan Speicher auf dem Blauen Sofa.

Andrea Hirata: Die Regenbogentruppe (OA 2005; deutsche Ausgabe 2013)

Hirata (*1967) setzt in dem bisher erfolgreichsten Buch eines indonesischen Autors seinen ehemaligen Mitschülern und seinen zwei Grundschullehrern, die an einer winzigen Zwergschule auf der Insel Belitung unterrichteten, ein liebenswertes Denkmal. Dieser manchmal auch etwas märchenhaft geratene Lobgesang auf das Recht auf Bildung beginnt mit den Sätzen:

An jenem Morgen hockte ich auf einer langen Bank im Schatten eines dicht belaubten Filicium, eines japanischen Baumfarns. Mein Vater saß neben mir, hatte mir den Arm um die Schultern gelegt und nickte den anderen Eltern und Kindern, die auf der Bank gegenüber saßen, mit einem Lächeln zu. Es war ein ganz besonderer Tag: mein erster Schultag.

Der Ich-Erzähler Ikal geht in Belitung zur Schule. Zwar wurde auf Belitung Jahrhunderte lang Zinn abgebaut, doch von den Bodenschätzen profitierte wie so oft die einheimische Bevölkerung am wenigsten. Zunächst bereicherten sich die niederländischen Kolonialmächte, die von ca. 1600 bis zum Zweiten Weltkrieg das Sagen hatten, und anschließend die Mittelschicht des Landes und die Besitzer und leitenden Angestellten einer Bergbaugesellschaft.

Die Bergbaugesellschaft betreibt auch eine eigene Schule, der Zugang ist allerdings nur Kindern der höheren Angestellten gestattet. Die Arbeiter, Fischer und Bauern bleiben bettelarm und schicken ihre Kinder meist erst gar nicht zur Schule, da diese zum Lebensunterhalt der Familien beitragen müssen. Und die, die trotzdem ihre Kinder schicken, haben, was die Schule angeht, ohnehin keine Wahl:

… und wir gehörten alle zur ärmsten Bevölkerungsschicht der Insel. Auch die Muhammadiyah (Name der Schule) war eine der ärmsten Dorfschulen auf Belitung. Es gab nur drei Gründe, warum unsere Eltern uns hier angemeldet hatten. Erstens, weil Muhammadiyah-Schulen keine Gebühren nahmen und sie lediglich freiwillige Beiträge zahlten, soweit sie es eben konnten. Zweitens, weil unsere Eltern hofften, dass eine frühe Unterweisung im Islam uns später vor schlechten Einflüssen bewahren würde. Und drittens, weil wir sowieso keinerlei Chance hatten, von einer anderen Schule genommen zu werden. (S. 8/9)

Schon der erste Schultag Ikals zeigt, wie gefährdet die kleine Schule ist. Der Schulinspektor will sie am liebsten schließen lassen und hat deshalb verfügt, dass zum neuen Schuljahr mindestens zehn Schüler zur Einschulung kommen müssen. Ihm ist diese heruntergekommene Schule ein Dorn im Auge und bei seinen Inspektionen findet er immer etwas zu beanstanden.

Unsere Schule war eine von Hunderten, wenn nicht Tausenden armer Schulen im Land, eine von der Sorte, die jederzeit in sich zusammenfallen konnte. Dazu hätte es nur eines Ziegenbocks bedurft, der hinter einer Ziege her war. Wir hatten nur zwei Lehrer für alle Fächer und alle Klassenstufen. Wir hatten keine Schuluniformen. Und wir hatten auch keine Toilette. Da unsere Schule am Waldrand lag, brauchten wir uns nur in die Büsche zu schlagen. Unsere Lehrer kamen immer mit, es hätte ja sein können, dass wir von einer Schlange gebissen worden wären. (S. 14)

Die Lehrer und Schüler kämpfen aber nicht nur mit dem vom Einsturz bedrohten Gebäude, dem Fehlen grundlegender Ausstattung und den Löchern im Dach. Wenn es regnet, versucht die fünfzehnjährige Lehrerin Bu Mus sich so gut es eben geht mit Bananenblättern zu schützen. Die zweite Gefahr geht von der Bergbaugesellschaft aus, die irgendwann Probebohrungen macht und Zinkvorkommen unter dem Schulhaus findet. Daraufhin rückten Bagger und große Maschinen an. Doch damit wollen sich weder die Schüler noch die zwei Lehrer abfinden, die sich zu allem anderen Ungemach ihren Lebensunterhalt auf andere Art und Weise verdienen müssen, denn entlohnt werden sie nicht.

Allmählich werden die Kinder älter und so lesen wir auch von der ersten Liebe Ikals. Am Abend seines ersten Rendezvous mit A Ling fahren die beiden mit einem Riesenrad:

Und dann schwiegen wir beide, schwiegen zusammen und wollten gar nicht wieder aussteigen. Das Riesenrad zeichnete mit seinen Lampen ein Muster in den Himmel. Mein Herz war weit. Dies war die schönste Nacht meines Lebens. (S. 133)

Leider endet die die Beziehung abrupt, weil A Ling von ihrer Familie nach Jakarta geschickt wird, um sich dort um eine Tante zu kümmern. Als Abschiedsgeschenk lässt sie ihm ein Buch zukommen, das mich dann doch überrascht, nämlich Der Doktor und das liebe Vieh von James Herriot. Das Buch heilt ihn von seinem Liebeskummer.

Ich war hingerissen von der Schönheit des kleinen Dorfes Edensor. Ich begriff, dass es außer der Liebe noch andere schöne Dinge gab auf der Welt. Herriots Beschreibungen waren so eindrücklich, dass ich meinte, den Duft der Narzissen und Aurikeln zu riechen, die an den Weidezäunen wucherten, von denen er erzählte. […] Es war wie ein Wunder, ich war wieder völlig gesund. Ich hatte eine neue Liebe, die in meiner zerschlissenen Tasche steckte. Das war Edensor. Nachdem ich 480 Stunden, 37 Minuten und 12 Sekunden den Verlust von A Ling beklagt hatte, beschloss ich mit dem Selbstmitleid aufzuhören. (S. 156/157)

Mit Humor und Wehmut erzählt hier einer eine Bildungsgeschichte der besonderen Art. Neben skurrilen Begebenheiten, Klassenstreichen und dem selbstlosen Einsatz der Lehrer werden die Mitschüler porträtiert und uns fremd anmutende Sitten und Gebräuche und der Einfluss von Aberglauben und Schamanen geschildert.

Allein in Indonesien verkaufte sich das Buch millionenfach und die Verfilmung wurde der erfolgreichste indonesische Film. Inzwischen gibt es drei Fortsetzungen.

Die Sprache ist einfach und die Erzählperspektive etwas wacklig. Manche Fragen z. B. zur Chronologie bleiben offen. Ob die von Hirata berichteten wundersamen Geschehnisse zutreffen – das Manuskript sei ihm gestohlen und ohne sein Wissen einem Verlag zugespielt worden -, sei dahingestellt. Und es irritiert, wenn im Buch das baufällige Schulgebäude zusammenbricht und Hirata trotzdem im Interview mit Wolfgang Herles behauptet, dass die große Scheune hinter ihnen genau diese Schule sein soll… So passen einige Details nicht recht zusammen. Man darf da wohl nicht alles als einen Tatsachenbericht lesen.

Dennoch: Es ist eine zutiefst menschliche, tolerante und warmherzige Geschichte, die einen Einblick in ein mir bisher unbekanntes Land gibt, und zugleich ein Plädoyer für das Recht auf Bildung und ein Loblied auf die Schule, das uns in Deutschland auch zu denken geben könnte:

Pak Harfan (der Lehrer) war allerdings nicht müde geworden, den Kindern klarzumachen, dass Wissen einen Wert für sich selbst darstellte und Erziehung eine Verpflichtung gegenüber dem Schöpfer bedeutete. Dass Schule nicht immer nur darauf abzielen musste, einen Titel zu erwerben, Geld zu verdienen oder gar reich zu werden. Schule bedeutete für ihn Wert und Würde, gelebte Menschlichkeit, sie war Lust am Lernen und Bildung. (S. 188)

Und zum Ethos des Lehrerberufs heißt es:

Ein Lehrer, dem ein Schüler abhandenkommt, ist wie ein Lehrer, dem die halbe Seele fehlt. (S. 207)

Wir in unserem reichen Land mit allgemeiner Schulpflicht sind da ja zum Glück schon weiter: Anstatt dafür zu sorgen, dass jedes Kind tatsächlich so unterstützt wird, dass es mit einem Schulabschluss, der nicht einfach hinterher geworfen wird, die Schule verlässt, gibt es ein Modellprojekt nach dem nächsten, in dem SchülerInnen, die ohne den Hauptschulabschluss die Schule verlassen, ein oder zwei Jahre geparkt werden, um bloß nichts am bisherigen dreigliedrigen System verändern zu müssen.

Wir verzetteln uns in albernen Papiertiger-Kompetenzbereich-Diskussionen und viele unserer Schüler (und Eltern) sehen Schule nun überhaupt nicht als die Institution an, in der man etwas lernen und sich dadurch sogar aus bedrückenden sozialen Rahmenbedingungen herausarbeiten kann, sondern eher als eine lästige Störung eines ansonsten unstrukturierten und regelfreien Aufbewahrungs-Spaßraums.

Wie ganz anders hingegen der Klassenkamerad Ikals: Lintang, ein hochbegabter Junge, versäumt nie auch nur einen einzigen Schultag, selbst wenn ihm wieder mal die Fahrradkette kaputtgeht oder ihm Krokodile den Weg versperren.

Lintang setzte immer wieder dem Unterricht zuliebe sein Leben aufs Spiel. Aber er fehlte niemals. Vierzig Kilometer  hatte er täglich auf seinem Schulweg zurückzulegen. Wenn der Unterricht bis zum Nachmittag dauerte, kam er erst bei Dunkelheit zu Hause an. Mich schauderte manchmal, wenn ich an seinen Schulweg dachte. Dabei waren noch gar nicht die anderen Schwierigkeiten eingerechnet, wie etwa Wege, die in der Regenzeit manchmal bis in Brusthöhe überflutet waren. Wenn das Wasser zu hoch war, ließ er sein Fahrrad an einem höhergelegenen Baum stehen, schwamm durchs Wasser und lief dann zu Fuß weiter. (S. 47)

Die Szene, in der Lintang im Auftrag der Mutter den kostbarsten Besitz seiner Familie verkauft – den Ehering seiner Eltern -, damit er sich eine neue Fahrradkette kaufen kann, gehört bestimmt zu den traurigsten Momenten der ganzen Geschichte und zeigt, wie viel Hoffnung die Familie in den Schulbesuch ihres Sohnes setzt.

Der Titel des Buches verdankt sich übrigens der Lehrerin Bu Mus:

Eines Nachmittags – es hatte den ganzen Tag über stark geregnet – erschien ein perfekter Regenbogen am Himmel, ein voller Halbkreis, strahlend hell in sieben Farben. […] Der Regenbogen schwang sich seidig schimmernd über die Ebene, er sah aus wie Millionen von schönen Jungfrauen in bunten Gewändern, die sich in einen abgelegenen See stürzten, um ihre Schönheit zu verbergen. Wir rannten zum Filicium und kletterten hinauf, jeder auf seinen gewohnten Ast. Wir taten das jedes Mal, wenn es geregnet hatte, um den Regenbogen zu betrachten. Deswegen nannte uns Bu Mus „die Regenbogentruppe“. (S. 73)

Eine Frage bleibt allerdings offen: Welche Wirrungen der Übersetzung sorgten dafür, dass aus James Herriots fiktivem Darrowby Edensor wurde?

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe: Bildungsroman (2011)

„Setzen“, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte: „Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf“; und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie mit den Ökosystemen, den Naturhaushalten, den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen unter den Arten, zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, dem Wirkungsgefüge von Gemeinschaft und Raum.

Mit diesen Sätzen beginnt Der Hals der Giraffe: Bildungsroman von Judith Schalansky. Am Ende frage ich mich, warum ich das bloß gelesen habe.

Eine Biologie- und Sportlehrerin, in der DDR sozialisiert, bis ins Mark verknöchert – keine Ahnung, wie sie zu ihrer Tochter gekommen ist, die aus gutem Grund, wie man später erfährt, in Amerika lebt und sicherlich nicht mehr ins dieses ostdeutsche Kaff zurückkehren wird. Ihr Leben eine einzige Tristesse, ihre Ehe eine sprachlose Wohngemeinschaft, sie selbst unfähig, ihre Schüler als Menschen wahrzunehmen, weshalb sie auch das Mobbing, das in ihrer Klasse stattfindet, komplett und konsequent empathielos ignoriert.

Ihre Versuche, wirklich alles mit Darwin, Anpassung und Erblehre zu erklären und sich das Leben und die Sinnfragen vom Leib zu halten, am Ende natürlich zum Scheitern verurteilt.

Abhauen war ja keine Kunst. Das hatte sie immer den anderen überlassen. Es hatte nur eine ganz kurze Zeit gegeben, in der sie mit dem Gedanken spielte. Aber das war lange her. Sie war geblieben. Freiheit wurde überbewertet. Die Welt war entdeckt, die meisten Arten bestimmt. Man konnte getrost zu Hause bleiben. (S. 42)

Der bissig-resignative Erzählton wird konsequent durchgehalten, doch die Frage bleibt: Warum soll man das lesen?

Da, wo es spannend werden könnte, wo ihr die Wirklichkeit ganz nahe rückt, als ihr Direktor sie mit der Frage konfrontiert, ob sie das Mobbing in ihrer Klasse tatsächlich nicht bemerkt habe, wo man nun gern ihre Reaktion darauf wissen würde, ist das Buch zu Ende.