Marcelle Sauvageot: Fast ganz die Deine (OA 1934)

Fast ganz die Deine ist sicherlich schon von den Umständen der Entstehung her eine außergewöhnliche Auseinandersetzung mit einer unglücklich endenden Liebesbeziehung.

Wenn ein Schmerz unbekannt ist, hat man mehr Kraft, ihm zu widerstehen, denn man kennt seine Macht nicht; man sieht  nur den Kampf und hofft, daß es später wieder ein erfüllteres Leben geben wird. Doch wenn man Bescheid weiß, möchte man mit erhobenen Händen um Gnade flehen und voll fassungsloser Müdigkeit sagen: ‚Nicht noch einmal!‘ Man sieht all die leidvollen Phasen voraus, durch die man wird gehen müssen, und weiß, danach kommt die Leere. (S. 16)

Marcelle Sauvageot, die in Paris als Französischlehrerin arbeitete, erkrankte mit 26 Jahren an Tuberkulose und ging 1930 in ein Sanatorium, aus dem sie nach einigen Monaten als geheilt entlassen wurde. Doch die Krankheit brach drei Jahre später wieder aus. Es folgt ein erneuter Sanatoriumsaufenthalt, diesmal in Davos; als sie stirbt, ist sie erst 33 Jahre alt.

Ihr namenlos bleibender Geliebte schreibt ihr 1930, dass er nun doch eine andere heirate, aber ihr Freund bleiben wolle. Daraufhin antwortet Sauvageot aus dem Sanatorium mit einem langen, ca. 70-seitigen Brief, der zwischen dem 7. November und dem 24. Dezember 1930 entsteht. In ihm bemüht sie sich, diese Liebe, ihren Schmerz, das Wesen des Geliebten, ihren Illusionen und Hoffnungen sowie dem Scheitern der Beziehung auf den Grund zu gehen, doch abschicken wird sie den Brief nicht. Letztendlich ist es auch der Versuch, sich wieder ihrer Selbständigkeit zu vergewissern, indem der ehemals so Geliebte aus dem Herzen geschubst wird, in der Hoffnung, auf diese Weise wieder zur Ruhe zu kommen.

Diese Vergangenheitsform, wenn die Gegenwart noch so nah widerhallt, ist traurig wie das Ende von Festen, wenn die Lichter ausgehen, wenn man allein zurückbleibt und den Paaren nachblickt, die in die dunklen Straßen hinausgehen. Es ist zu Ende: Man hat nichts mehr zu erwarten und bleibt doch noch endlos so stehen, wohl wissend, daß nichts mehr kommen wird. (S. 21)

Allerdings zeigt sie den Brief einigen Freunden, die ihr zureden, ihn zu veröffentlichen.

163 Exemplare werden 1933 privat verteilt […]. Posthum kommt 1934 eine zweite Auflage zustande, gefolgt von weiteren Auflagen in weiteren Verlagen 1936, 1943, 1986. Paul Claudel, Paul Valéry, Clara Malraux und andere preisen den Text. Seine Individualität beeindruckt sie, seine Bescheidenheit und Offenheit berühren sie, seine radikale Ehrlichkeit und Suche machen ihn singulär. (Ulrike Drasner, im Nachwort der Ausgabe des Nagel & Kimche Verlages, 2005, S.94/95)

Draesner weist zu Recht darauf hin, dass es egal sei, ob diese Briefe möglicherweise im Nachhinein doch bearbeitet, umgestellt oder auch erfunden seien, der reale Adressat, dessen Untreue der Erzählerin durchaus bekannt war,  habe sich ja bereits als Fiktion herausgestellt.

Ihre Briefe an dieses Du werden zunehmend zu einer Form des Selbstgesprächs. Doch es schließt sich nicht in sich, sondern öffnet sich auf ein neues Gegenüber: den Leser. (S. 97)

Mein Fazit nach der Lektüre ist verhalten. Einerseits gefällt mir diese strenge Selbstbefragung, andererseits bleibt vieles Fragment und so sind mir auch am Ende sowohl diese Beziehung als auch der Adressat dieses Briefes fremd. Eine Liebe, bei der von Anfang an keiner der beiden treu war. Und ein Mann, der ernsthaft  von einer Frau träumt, die glücklich ist, wenn sie ihm den ganzen Tag beim Spucken in einen Teich beobachten dürfe. Das wäre wohl selbst unter glücklicheren Umständen nicht gutgegangen. Und schon ganz und gar nicht mit einer so reflektierten Frau. 

 

Werner Schneyder: Krebs (2008)

Werner Schneyder, österreichischer Kabarettist, Autor, Box-Kampfrichter, Freund und Kollege von Dieter Hildebrandt, war über 40 Jahre mit seiner ersten Frau Ilse verheiratet, als diese die Diagnose Krebs erhielt. Zwei Jahre später, 2004, starb sie an Blasenkrebs, den auch diverse schwerste Operationen und eine Chemotherapie nicht aufhalten konnten.

Krebs ist – wie schon der Untertitel nahelegt – eine Nacherzählung dieser schwierigen Monate zwischen Diagnose und Tod. Dabei geht es zum einen um die Stationen, die die Erkrankte durchlebt, den ersten Sommer nach der ersten großen Operation, den sie noch in ihrem Haus am See verbringen und durchaus genießen kann, daran anschließend um die weiteren Krankenhausetappen, den allmählichen körperlichen Abbau. Zum anderen geht es darum, wie Schneyder, der gemeinsame Sohn, die Verwandten, die Freunde mit der Erkankung umgehen. Soll Schneyder auf Tournee gehen oder lieber daheim bleiben? Was mutet man der Kranken und sich selbst an Wahrheit zu? Wie verändert sich das Zusammensein? Wie verändert sich die Erkrankte? Was macht man mit der Hilflosigkeit, die man als Laie gegenüber den ärztlichen Entscheidungen oder Empfehlungen hat?

Jeder Versuch einer fairen Wertung ist für den Laien nicht möglich. Er kann glauben oder nicht. Er kann Ärzte sympathischer oder vertrauenswürdiger finden oder nicht. Was er nicht kann: beweiskräftig urteilen. (S. 62)

Nach der Lektüre ziehe ich leise meinen Hut. Schneyder (1937 – 2019) ist ein besonderes Buch geglückt.

Sprachlich wunderbar, zurückgenommen, treffend, auf den Punkt, zärtlich, lakonisch.

Das Abspielen von CDs ist gefährlich. Da kommt es zu schrecklichen Stellen. (S. 84)

Doch darüberhinaus ist es eben nicht nur ein Sich-von-der-Seele-Schreiben. Vielleicht das sogar am allerwenigsten. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst, z. B. damit, dass man als der Gesunde Gedanken hat, derer man sich schämt, wenn man beispielsweise in „triefendem Selbstmitleid“ badet oder schon mal überlegt, wie man später die Möbel stellen wird. Schließlich wird nicht nur der unheilbar Kranke, sondern auch der, der diesen Prozess begleitet, in eine unbekannte Umlaufbahn geschleudert, auf die einen nichts vorbereitet hat.

Doch gleichzeitig werden Fragen, und das war wohl eine der Hauptmotivationen für das Schreiben, an die Ärzte und ihr Selbstverständnis gestellt: Wieso stimmen diese sich nicht miteinander ab, wieso passieren hanebüchene Fehler in der Kommunikation zwischen den verschiedenen Abteilungen? Wieso wird auf Teufel komm raus operiert, bestrahlt und untersucht, wenn der Zeitgewinn von vielleicht drei Monaten durch die Nebenwirkungen gänzlich zunichte gemacht wird? Und warum ist Würde, auch wenn sie sich für jeden etwas anders darstellt, keine medizinische Kategorie? Und wieso wird noch physiotherapiert und mobilisiert, wo nichts mehr zu mobilisieren ist? Warum werden nicht rechtzeitig und ausreichend Schmerzmittel gegeben?

Ich habe den Eindruck, hier äußert sich ein medizinisches Prinzip, das offenbar verbietet, nichts zu tun. Das geht mir aber nicht ins Hirn, wenn sich therapeutische Vorschläge keine Sekunde lang mit der Chance auf Genesung oder Erleichterung verbinden. (S. 81)

Schneyder weiß natürlich auch um die Frage, ob es überhaupt legitim sei, einen so persönlichen Einblick in den Leidensweg seiner Frau zu geben. Er selbst gibt darauf an einer der Schlüssselstellen des Buches eine deutliche Antwort, die vor allem an die Adresse der Ärzteschaft geht.

Ich selbst habe diese 157 Seiten an keiner Stelle als voyeuristisch empfunden. Zum einen, weil man bei bestimmten Sätzen zunächst einmal Mitleid empfindet und weil Schneyder klarstellt, dass diese Krankheit in Kombination mit dieser Art der Behandlung eben den Sinn für das, was ausschließlich privat ist, gröblich verletzt.

Außerdem lese ich seine Schilderungen, die tatsächlich manchmal sehr intim sind, als etwas, das jeden von uns treffen kann, und als eine Erinnerung nicht nur an die Fragwürdigkeit mancher medizinischer Ansichten, sondern ebenso als Erinnerung an unsere Kreatürlichkeit und Fragilität, die uns auch dankbar und demütig machen kann.

Ein trauriges, trotziges, kluges, zorniges, ehrliches und sehr zärtliches Buch. Und eine Liebeserklärung sondergleichen.

Zweieinhalb Jahre, nachdem ich Schneyders Buch gelesen habe, lese ich, was Raymond Chandler anlässlich der Krankenhausaufenthalte seiner Frau in einem Brief vom Januar 1953 geschrieben hat:

Zu diagnostischen Zwecken ist eine Klinik mit ihren Spezialisten ja vielleicht ideal […], aber was man sonst dort bekommt, ist hartgesottene Effizienz, einen derart ausgeprägten Sinn für Eile, daß man seinen Arzt praktisch am Ärmel festhalten muß, wenn man ihn etwas fragen will. Es gibt keine Wärme, nichts Persönliches, kein Entgegenkommen, kein Gefühl für den Patienten als Individuum; oder wenn es ein solches Gefühl gibt, wird es nicht gezeigt.

aus: Frank MacShane, Raymond Chandler – eine Biografie, Diogenes, 1984 S. 352

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Vita Sackville-West: No Signposts in the Sea (1961)

Das schmale Werk von knapp 150 Seiten war der letzte Roman der erfolgreichen Dichterin und Schriftstellerin Victoria Mary Sackville-West (1892-1962). 1913 heiratete sie Harold Nicolson, die beiden lebten eine offene Ehe und gestalteten einen der berühmtesten Gärten in Großbritannien, Sissinghurst Castle Garden.

Der Inhalt von No Signposts in the Sea ist rasch umrissen. Edmund Carr, ein ca. 50-jähriger erfolgreicher Journalist aus einfachen Verhältnissen, erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat. Kurzerhand beschließt er, eine Kreuzfahrt anzutreten, da er weiß, dass die von ihm verehrte Laura Drysdale, eine wohlhabende Witwe, ebenfalls an Bord sein wird.

It is amusing to observe a batch of new passengers coming on board. From the superiority of the upper deck one gazes down upon the quay-side swarming with native porters and Europeans, distinguishable from the idle crowd of sight-seers who have come to stare at the ship for want of anything better to do. What a medley of noise and colour! Then comes the rush as the gangway is lowered; everyone wants to be first, though there is no conceivable reason for hurry; women hesitate and struggle back, convinced that they have lost their luggage; men enter into argument with the officers in their cool white ducks. The emigrants lugging their poor bundles are directed to a secondary gangway near the stern; they turn this way and that, like panic-stricken cattle. A tall black-bearded man in a red turban clutches a small girl swathed in blue muslin. A Buddhist priest with shaven head and saffron robe falls flat as he stumbles over a rope. A lost child sets up a howl. Is it possible that all this pullulating humanity will ever be sorted out?

It seems like a microcosm of everything that is happening all over the world. (S. 22)

Edmund hat beschlossen, Laura nichts von seiner Erkrankung zu erzählen. Er will kein Mitleid. Doch auch seine Liebe will er ihr verheimlichen. Zum einen ist da seine Unsicherheit, es ist das erste Mal, dass er sich ernsthaft verliebt hat, zum anderen rechnet er sich bei dieser attraktiven Frau keinerlei Chancen aus, zudem will er Laura keinen Kummer bereiten.

Zunächst ist Edmund einfach dankbar, noch diese Zeit mit der geliebten Frau verbringen zu können.

Sometimes I come upon her traces, a cigarette case, a scarf left trailing  upon a chair. For the competent woman I divine her to be, she is curiously  careless of her possessions, but then none so lovable as those who are not all of a piece. These little surprises of inconsistency are endearing enough to mere affection; how much more so when one is in love! The Colonel and I spend quite a lot of time retrieving her belongings. (S. 62)

Doch sein Vorsatz, weder Liebe noch Krankheit zu erwähnen, fallen ihm zunehmend schwerer, da sich die beiden gut verstehen, schöne Momente miteinander teilen und die Gespräche persönlicher werden. Dazu kommt, dass Edmund in dem attraktiven Colonel Dalrymple einen Rivalen wittert, und diese Eifersucht, die er selbst schäbig findet, macht ihm schwer zu schaffen.

… I want my fill of beauty before I go. Geographically I do not care and scarcely know where I am. There are no signposts in the sea. (S. 28)

Der Leser erfährt dies alles aus Edmunds Tagebuch, das Laura ihm geschenkt hat. Dort finden sich auch durchaus spöttische Töne, wenn Edmund sich beispielsweise über den unerfreulichen Anblick mittelalter und unzureichend bekleideter sonnenbadender Mitreisender auslässt.

Ich muss sagen, dass ich diesen ruhigen Roman, dessen Anleihen bei der Biografie der Autorin im Vorwort von Victoria Glendinning erläutert werden, sehr gern gelesen habe. Das geradezu Traumwandlerische, zumindest scheinbar von allen Alltagsdingen losgelöste Leben auf einem Schiff ist wunderbar eingefangen. Und wie sich Edmund jegliches Selbstmitleid verbietet, versucht, mit Würde und seinen Prinzipien gemäß diese Zeit zu verbringen und doch dabei unbeholfen ist und sich seiner selbst und seiner Herkunft im Grunde immer noch schämt, das gefiel mir sehr.

So kauft er während eines Landgangs auf einem der Märkte einen Schal für Laura, doch als eine Mitpassagierin ihm zu verstehen gibt, dass dieser höchstens für eine Haushaltshilfe tauge, aber für eine Dame wie Laura nicht in Frage komme, wirft er ihn heimlich ins Meer.

Der Snobismus und die Herablassung der reichen weißen „Oberschicht“ spielen auch an anderen Stellen eine Rolle. Was allerdings arg unecht klang und  völlig zusammenhanglos im Raum stand, war, dass der armen Laura sogar eine Vergangenheit als Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg angedichtet wurde.

Es passiert überhaupt nichts Unerwartetes in dieser Geschichte, was ich hier nicht negativ meine. Dennoch wirkt sie nach, schon allein durch die ehrliche, wenn auch teilweise verblendete Selbstbefragung Edmunds, und durch den Gegensatz zwischen der reichen inneren Welt eines einzelnen Menschen und der Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit, mit der man eben doch an den meisten Menschen vorbeiläuft. Und im Hintergrund immer das Wissen um die zeitliche Begrenztheit des Lebens.

‚Don’t you envy the early explorers who never knew what might be round the next corner? Fancy coming suddenly on the Grand Canyon when you had no idea of its existence.‘ (S. 45)

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Sabahattin Ali: Die Madonna im Pelzmantel (1943)

Was für ein feines Buch!

Maureen Freely, die Die Madonna im Pelzmantel ins Englische übersetzt hat, schreibt 2016 im Guardian, dass der Roman bei seiner Veröffentlichung in Istanbul 1943 keinerlei Aufsehen erregt habe. Doch jetzt, nachdem er Jahrzehnte von der Kritik ignoriert worden sei, habe er sich zum Bestseller entwickelt. Die Washington Post spricht gar von über einer Million verkauften Exemplaren, allein in der Türkei.

… for the past three years, it has topped the bestseller lists in Turkey, outselling Orhan Pamuk. It is read, loved and wept over by men and women of all ages, but most of all by young adults. And no one seems able to explain quite why.

Freely sieht einen wesentlichen Grund für die Wiederentdeckung Alis in dessen Biografie und seinem Beharren auf Meinungs- und Gedankenfreiheit. Geboren 1907 im heutigen Bulgarien, Studienaufenthalt in Berlin, Schriftsteller, Dichter und überzeugter Kommunist, geriet Sabahattin Ali immer wieder mit der türkischen Staatsmacht aneinander. Diverse Gefängnisaufenthalte, irgendwann Verlust der Arbeitserlaubnis als Lehrer, bei dem Versuch, das Land endgültig zu verlassen (ihm wurde ein Pass verweigert), 1948 vermutlich während oder nach einem Verhör im Auftrag des Geheimdienstes umgebracht.

Der Roman, der von Ute Birgi-Knellessen ins Deutsche übersetzt wurde, beginnt mit den Worten:

Unter allen Menschen, die meinen bisherigen Lebensweg kreuzten, hat einer mich ganz besonders beeindruckt. Und obwohl seit unserer ersten Begegnung Monate vergangen sind, hält dieser starke Eindruck unvermindert an. Wann immer ich mit mir allein bin, taucht in aller Lebendigkeit das offene Gesicht des Raif Efendi vor mir auf, mit seinen etwas weltfremd dreinblickenden Augen, die jedoch immer sofort zu einem Lächeln bereit waren, sobald sie auf einen Menschen fielen.

Der seit einigen Monaten arbeitslose Ich-Erzähler, ein junger Mann, noch keine 25 Jahre alt, findet durch die Vermittlung eines Schulfreundes, wieder eine Anstellung in einer Firma in Ankara. Dort muss er sich das Büro mit dem ruhigen und wesentlich älteren Raif Efendi teilen, der Schriftstücke ins Deutsche übersetzt. Schikanen der Vorgesetzen nimmt Efendi ohne Widerspruch hin. Eine bessere Stelle zu suchen kommt ihm nicht in den Sinn.

Dabei war Raif Efendi keineswegs außergewöhnlich, vielmehr gehörte er zu jenen ganz normalen Sterblichen ohne herausragende Eigenschaften, wie sie uns täglich zu Hunderten begegnen und denen wir kaum einen Blick schenken. […] Beim Anblick solcher Zeitgenossen fragen wir uns oft: ‚Wozu leben sie überhaupt? Welches Ziel verfolgen sie in ihrem Dasein? Wo liegt die Logik oder der tiefere Sinn, der ihnen befiehlt, auf dieser Erde zu wandeln?‘ Doch bei derartigen Überlegungen sehen wir eben nur das Äußere jener Menschen. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, dass auch sie einen Kopf mit sich herumtragen, in welchem, ob sie wollen oder nicht, ein zum ständigen Funktionieren verurteiltes Hirn liegt, das ihnen ihr ganz eigenes Bewusstsein gibt. Wenn wir, statt diesen für uns undurchschaubaren Individuen jegliches Seelenleben abzusprechen, auch nur ein wenig neugierig wären und ihre verborgene Innenwelt zu erforschen versuchten, würden wir sehr wahrscheinlich auf überraschende Dinge, ja unerwartete Schätze stoßen. (S. 5/6)

Die Neugier des jungen Kollegen wird tatsächlich – wenn auch eher zufällig – geweckt und so versucht er eine Erklärung für das fatalistische Verhalten Efendis zu finden. Allmählich entwickelt sich – vor allem auch durch die Besuche, die der junge Mann Efendi abstattet, wenn dieser wieder erkrankt ist, – eine vorsichtige Annäherung zwischen den beiden. Allerdings muss der Ich-Erzähler erkennen, dass Raif Efendi auch zu Hause ziemlich unter dem Pantoffel zahlreicher Verwandter steht, deren Respektlosigkeiten er kommentarlos hinnimmt.

Als Efendi lebensgefährlich erkrankt, bittet er seinen jungen Freund, ihm alle Papiere aus dem Büro mitzubringen, damit er diese vernichten kann. Doch schließlich erlaubt Efendi seinem Kollegen, ein dichtbeschriebenes Heft mit zu sich nach Hause zu nehmen. Verbrennen könne man dies ja auch noch am nächsten Tag.

Jenes Heft mit alten Aufzeichnungen bildet die eigentliche Handlung des Buches. Und wir erfahren, was es mit dem unscheinbaren Raif Efendi und seiner großen Liebe, der „Madonna im Pelzmantel“, einer emanzipierten Malerin, die er als junger Mann im Berlin der zwanziger Jahre kennengelernt hat, auf sich hat.

Wenn ich doch nur sprechen könnte! Nur einem einzigen Menschen mich anvertrauen! Doch selbst, wenn ich das wirklich wollte, wo sollte ich einen solchen Menschen finden? Ich bin zu müde, um ihn zu suchen. Deshalb habe ich dieses Heft gekauft. […] der Mensch muss sich nun einmal auf irgendeine Weise mitteilen. Ohne das gestrige Erlebnis … […] Doch nun, da ich beschlossen habe, alles aufzuschreiben, muss ich mich erst einmal beruhigen und dann ganz von vorne anfangen. […] Vielleicht hilft mir das Ausmalen banaler Einzelheiten ja ein wenig über die wirklich schlimmen Aspekte der Geschichte hinweg. Vielleicht erleichtert es mich, die Dinge aufzuschreiben, und sie wirken auf dem Papier weniger schrecklich. Vielleicht stelle ich dabei auch fest, dass das alles gar nicht so schlimm war, und muss mich sogar meiner Heftigkeit schämen … Vielleicht … (S. 64)

Durch die ruhige, bedächtig geschilderte Rahmenhandlung werden wir eingestimmt auf einen Charakter, der wie aus der Welt gefallen scheint, ohne Ellenbogenmentalität, ohne beruflichen Ehrgeiz, künstlerisch und literarisch interessiert, empfindsam, mit klarem und unbestechlichen Blick auf seine Mitmenschen, dabei über alle Maßen schüchtern und immer auf der Suche nach dem seelenverwandten Lebensmenschen, mit dem man wahrhaft sprechen kann, vor dem man sein Inneres entblößen kann, vor dem man keine Maske tragen, keine Fassade aufrechterhalten muss.

Doch die junge Frau, Maria Puder, ist in ihrer Ehrlichkeit, ihrem unbedingten Drang, sich keinem Mann zu unterwerfen, ebenfalls eine faszinierende Erscheinung.

Maureen Freely vermutet, dass auch die Tatsache, dass sich weder Maria noch Raif den stereotypen Rollenerwartungen an Mann und Frau beugen, ein Grund für die Wiederentdeckung dieses Romans in der Türkei ist. Sozusagen ein stiller Protest gegen die Hardliner, die den Frauen selbst das Lachen in der Öffentlichkeit untersagen möchten.

Doch für mich waren es weniger politische, sondern literarische Gründe, die mich über das Melodramatische dieser türkischen Romeo und Julia-Geschichte hinwegsehen lassen. Es sind nicht nur der Stil und das psychologisch, ja geradezu seismografisch sensible und stimmige Porträt des Raif Efendi, die von überzeugender Zeitlosigkeit sind. Sondern auch das Plädoyer für Respekt gegenüber dem Mitmenschen, das der Ich-Erzähler verkörpert.

Wie wenig doch die Menschen voneinander wussten! Und ich maßte mir trotzdem an, die innersten Gedanken eines anderen zu erraten und in seine mehr oder wenige komplizierte Seele zu schauen! Wie unergründlich und verworren war doch noch selbst die Seele des einfachsten, armseligsten, ja dümmsten Menschen auf dieser Welt! Wieso wollen wir das nicht begreifen und bilden uns stattdessen ein, dass nichts einfacher sei, als dieses Mensch genannte Wesen zu verstehen und zu beurteilen? Wie kommen wir dazu, in aller Seelenruhe unsere Meinung über jemanden auszusprechen, dem wir gerade zum ersten Mal begegnet sind, während wir zögern, uns über den Charakter eines neu gekosteten Käses auszulassen? (S. 48)

Edvard Hoem: Die Geschichte von Mutter und Vater (OA 2005)

Die deutsche Übersetzung von Ebba D. Drolshagen erschien 2007 im Insel Verlag.

Ohne Schnörkel ist hier der Titel Programm. Der norwegische Autor Edvard Hoem (*1949) erzählt die Geschichte seiner Eltern, wobei der Schwerpunkt auf den dreißiger und vierziger Jahren des letztes Jahrhunderts liegt, der Zeit, als seine Eltern noch jung waren. Die späteren Jahrzehnte werden gerafft und erscheinen doch nicht weniger innig.

An den meisten Tagen meiner Kindheit war ich mit meinen eigenen Dingen beschäftigt. Meine Eltern waren Eltern, sie sollten sich um mich und meine Geschwister kümmern, dafür sorgen, daß wir Essen, Kleidung und Geborgenheit bekamen. Aber hin und wieder wunderte ich mich darüber, was gesagt und nicht gesagt wurde bei uns zu Hause. (S. 9)

Der Vater des Autors soll später den kleinen Bauernhof in der Nähe der Westküste im Gudbrandsdalen übernehmen. Doch dann kommt im Dezember 1931 einer der Wanderprediger in seinen Heimatort und hält eine Andacht in dem kleinen Schulhaus.

An diesem Tag hat es geregnet und geschneit, aber gegen Abend verziehen sich die Wolken, und die Sterne kommen heraus. Sie leuchten über den Wiesen, den Fjorden und über dem roten Schulhaus. Es sind dieselben Sterne, die auf der ganzen Welt scheinen, überall, wo Menschen ihr Zuhause haben. Es sind die Sterne, die über den Feldern von Bethlehem leuchteten, wo die Hirten schliefen, und sie schienen über der Prärie in Amerika. Die Sterne über dem Hang, wo die Hoem-Schule steht, gehören allen. […] Die Zeit vergeht, aber die Sterne bleiben dieselben, sie sind wie Gottes ewiges Wort, sie leuchten von Geschlecht zu Geschlecht. (S. 15)

Seit diesem Abend fühlt sich der junge Knut Hoem nicht länger zum bäuerlichen Leben berufen, sondern dazu, Menschen Gottes Wort nahezubringen. Und das setzt er auch durch und so predigt er, der Bauernjunge, nach kurzer Bibelschulausbildung in den Tälern und Dörfern den einfachen Leuten seiner Heimat Gottes Wort. Die Menschen hören den lebensfrohen, wenn auch etwas unpraktischen Mann gern und so wird er von einem Dorf zum nächsten, von einem Hof zum nächsten weitergereicht, um auch dort seine Andachten zu halten.

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Der Autor kann 50 Jahre später diese oftmals beschwerlichen Reisen, die sein Vater Jahrzehnte mit dem Fahrrad, dem Bus oder zu Fuß, vor allem in den Wintermonaten, absolviert hat, anhand unzähliger kleiner Notizbücher aus dem Nachlass des Vaters genauestens nachvollziehen. In den Sommermonaten hat er später, nachdem er verheiratet war, seiner Frau auf dem Hof geholfen, auch wenn er nie gern Arbeit verrichtet hat, bei er in Gefahr stand, sich schmutzig zu machen. Und sicherlich hätte sich seine Familie mehr als einmal einen zupackenderen, kräftigeren Helfer auf dem Hof gewünscht als diesen freundlichen, aber nicht besonders robusten Laienprediger, der manchmal mitten in der Kartoffelernte wieder auf Reisen ging.

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Die Geschichte seiner Mutter Kristine verlief zunächst ganz anders. Ein hübsches, arbeitsames Mädchen, das in seiner Jugend das Vieh auf der Sommeralm hüten musste und sich aufs Leben freute. Für eine höhere Schulbildung reichte das Geld nicht und so musste sie schon früh, wie auch ihre Zwillingsschwester, Geld verdienen. Sie war reserviert, sehr schüchtern, aber tüchtig und von ihren Arbeitgebern immer geschätzt. Dann kam der Krieg, die Besatzung und mit ihr kamen auch die verhassten deutschen Soldaten, u. a. auch nach Lillehammer, wo Kristine in einem Pflegeheim arbeitete. Ihre Brüder gingen schon bald in den Widerstand.

Letztlich war nichts unwahrscheinlicher als eine glückliche Verbindung zwischen dem tiefgläubigen Mann und dieser Frau. Das sah auch Kristine so, das sahen auch alle anderen so, die schließlich massiv intervenierten, um die Heirat zu verhindern. Wie daraus trotzdem eine besonders schöne Liebesgeschichte werden konnte, das muss nun jeder selbst erlesen.

Mir jedenfalls hat dieses unaufgeregte Buch sehr gefallen. Selbst das, was ich zunächst bemäkeln wollte – dass es dem Autor eben nicht gelingen will, bestimmte Vorkommnisse kraft seiner Imagination zum Leben zu erwecken, sagt er doch selbst, jetzt müsse er wohl ein wenig ausschmücken, weil er nicht wisse, was sich nun wirklich vorgetragen habe –  wendet sich und unterstreicht das Liebenswürdige, das Schlichte und Schöne dieser Erzählung, die ihren unaufdringlichen Reiz sicherlich zu einem Großteil der zurückgenommenen Sprache verdankt.

Mutter und er hatten schon lange zueinander gefunden. Sie waren ein Paar geworden. In den langen Jahren, wenn er nicht bei ihr war, schrieben sie sich Briefe über alle möglichen praktischen Fragen, aber es wurde nie mit einem Wort erwähnt, wie es ihnen ging. Doch wer zwischen den Zeilen liest, versteht. Nur ein Satz ist anders, in einem von tausend Briefen. Er schreibt, daß er sie, Kristine, grüße, er berichtet von allem, was er tut, und von seiner Hoffnung, daß das norwegische Volk ein weiteres Mal die Türen öffnen und die Gnade empfangen möge. Doch nachdem er all diese frommen Wünsche geäußert hat, […] kommt er zurück auf sie, die die Freude seiner Jugend und der Trost seines Alters geworden ist: Ein weiteres Mal grüße ich dich. So endet sein Brief. […] Wenn es tausend Briefe gäbe, und wenn sie aus tausend großen Worten und Beteuerungen bestünden, sie würden mir nicht mehr sagen als diese einfachen Worte. (S. 206)

Darüber hinaus ist es auch interessant, Einblick in die Zeit der deutschen Besatzung zu bekommen. Bei der Lektüre wird einem ebenfalls bewusst, welche Werte damals hochgehalten wurden und wie arm die Bauern in den abgelegenen Tälern Norwegens noch vor wenigen Jahrzehnten waren, wie hart die Arbeit war und wie wenig Aussicht bestand, aus diesem Leben herauszutreten, weil das Geld für höhere Schulbildung einfach nicht da war oder weil die Arbeitskraft des Sohnes oder der Tochter unersetzlich war.

IMG_2251Freilichtmuseum Maihaugen, Lillehammer

Irgend etwas ist im Haushalt immer gerade zu erledigen, sei es Brotbacken, Marmeladekochen, Buttern, Waschen, Weben oder Stricken. Wenn der Webstuhl in der Küche steht, ist fast kein Vorbeikommen. Sie leben so dicht gedrängt, daß kaum Luft zum Atmen bleibt. Es ist eng um den Küchentisch, alles ist zu knapp, zu kurz und zu wenig, aber hier leben sie, hier schweigen sie, und hier reden sie. Wenn der Schultag vorüber ist, bekommen die Töchter von der Mutter Aufgaben, die sie erledigen müssen, die Jungen gehen mit dem Vater in den Stall und zum Holzhacken. […] Die harten Arbeitstage ließen keinen Platz für Spiel, Spaß und Überflüssiges. Wenn man sich hinsetzte, dann nur, um sich auszuruhen. Wenn man für den Tag fertig war, war es Abend. (S. 49)

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Carry Brachvogel: Alltagsmenschen (1895)

Als vor nahezu sieben Jahren die münchener Zeitungen unter der Rubrik ‚Lokales‘ verkündeten, daß die einzige Tochter des Herrn Kommerzienrates und Handelsrichters Mey, Fräulein Elisabeth Mey, sich mit Herrn Dr. jur. Friedrich Becker, einem Sohn des bekannten Augsburger Großindustriellen Herrn Martin Becker, verlobt habe, da bot sich den sämtlichen Klatschmäulern der schönen Isarstadt (und es soll deren etliche geben!) Stoff zur Be- und Verarbeitung in Hülle und Fülle dar.

Mit diesem Satz beginnt Alltagsmenschen (1895), ein Buch von Carry Brachvogel, das in seiner psychologischen Hellsichtigkeit den Vergleich mit den großen Ehebruchsromanen nicht zu scheuen braucht.

Die junge Elisabeth ist – wie die tuschelnde Gesellschaft nicht müde wird zu betonen – schon 23, als sie sich nach nur wenigen Wochen Bekanntschaft mit Friedrich Becker verlobt. Doch anders als die Klatschmäuler vermuten, wird es eine Liebesheirat.

Das blühende Mädchen mit den großen dunklen Augen, dem anmutigen, klug und lebhaft plaudernden Munde hatte ihn im ersten Augenblick bezaubert, und schon nach wenigen Wochen hielt er um sie bei ihren Eltern an, nachdem eine Aussprache mit der Geliebten vorhergegangen war, die an flammender Empfindung und beredtem Ausdruck alle Liebesszenen der dramatischen und novellistischen Litteratur zu übertrumpfen drohte. (S. 9)

Doch der Keim des späteren Unglücks ist schon längst gelegt, denn Elisabeth ist ein Produkt ihrer Umwelt und in den damaligen Rollenbildern gefangen. Sowohl die schulische Erziehung, die ja nicht auf eine spätere Selbstständigkeit der Frau abzielt, als auch das Elternhaus Elisabeths sorgen dafür, dass sie im Grunde gar nicht erwachsen werden kann.

Als einziges Kind überzärtlicher Eltern war ihr bislang ein Jahr nach dem andern in ungetrübt heiterer Gleichmäßigkeit dahingeflossen, jeder Schatten einer Sorge, ja nur einer Mißstimmung ängstlich von ihr ferngehalten worden. Aber das Mädchen fing bald an, sich in dieser schier beängstigenden Atmosphäre des Glückes und der Sorglosigkeit zu langweilen; es erging ihr ähnlich wie den Leuten, die in der Einsamkeit einer schwülen, lautlos brütenden, stahlblauen Hochsommermittagsstunde derselbe unheimliche, gespensterahnende Schauer beschleicht, der eigentlich nur für Mitternacht gestattet und üblich ist. – Und wenn sie auch frei blieb von modern-hysterischer Sehnsucht nach Leiden und Selbstentäußerung, so verlangte es sie eben doch nach etwas Unfaßlich-Wunderbarem, das endlich einmal erschreckend und erlösend zugleich in ihr Dasein hineinrauschen sollte. Ihrem Leben fehlte der Inhalt. Ein Tag wie der andere floß leer dahin: Toilette, Spaziergengehen, ein bischen Lesen, ein bischen Porzellanmalen, Besuche, Theater, Bälle. (S. 9)

Sie wünscht sich, etwas mit ihrem Leben anfangen zu können, etwas Großes zu vollbringen und wie ein Mann tätig zu sein, der seine Kräfte einsetzen kann. Doch wie hätte das für sie aussehen sollen? Die Erfüllung hat die Frau in der Ehe, ihren häuslichen Verpflichtungen und in der Mutterschaft zu finden.

Dementsprechend hat sie sich in ihren Mädchenträumen die Ehe recht heroisch ausgemalt: Der Mann als Adler, als Held, der der Sonne entgegenfliegt, und sie als die aufopferungsvolle Gefährtin, die dem Adler sorgsam das weiche Nest bereitet und so an seinem Ruhm Anteil hat. Aber Friedrich ist kein Adler, kein Held, sondern ein ganz normaler Mensch, der abends müde von der Arbeit kommt, der zwar seine Frau liebt und verwöhnt, ihre zunehmende Unzufriedenheit und Stimmungsschwankungen allerdings nicht nachvollziehen kann.

An ihrer kleinen Tochter hängt Elisabeth mit ganzem Herzen. Doch als die „Honigmonde“ der ersten Ehezeit vorbei sind und der neue Stand nichts Neues und Aufregendes mehr bereithält, stellt sich wieder das Gefühl der Langeweile und der gekränkten Eitelkeit ein.

… und ein Frösteln befiel zuweilen die junge Frau, wenn sie bedachte, daß es nun immer so weitergehen würde, bis ihr Haar grau geworden und ihr Sinn alt, daß für sie nunmehr alles fertig und abgeschlossen war. Ja, ja – abgeschlossen – dies Wort traf das Richtige, denn ihr schien’s zuweilen, als sei ein schweres, eisernes Thor unversehens hinter ihr ins Schloß gefallen und banne sie nun grausam vom hellen blühenden Leben weg in einen düstern, einsamen Burghof, zu dem die glänzenden, funkelnden Sonnenstrahlen von draußen wohl niemals den Weg fanden. (S. 14)

Letztlich ist sie nicht ausgelastet mit der „Spielzeugrolle, die man der modernen Frau in in der Ehe immer noch gerne anweist“ (S. 16). Und als sie auf einem Ball den Legationsrat Max Heßling kennenlernt, ist sie betört von seiner Galanterie und seinem gesellschaftlichen Schliff.

Sein Gespräch war voll prickelnder Grazie, voll treffender Sarkasmen, die Elisabeth sehr entzückten; doppelt, da sie gleich den meisten Frauen Heßlings spöttelnde Frivolität nicht für echt hielt, sondern als stacheliges Panzerhemd betrachtete, mit dem sich eine ideale Seele  schamhaft bekleidete, um ihre zarten Regungen vor unzarter Berührung zu wahren. (S. 28)

Sie lässt sich aus Eitelkeit, aus Langeweile und Gedankenlosigkeit allmählich in eine Affäre mit Heßling hineingleiten, von der beide lange glauben, dass sie alles im Griff haben. Dabei erklärt uns der allwissende Erzähler, dass dabei von wirklicher Liebe keine Rede sein könne.

Elisabeths unbestimmte sehnsuchtsvolle Langeweile hatte sich endlich zu dem Bedürfnis abgeklärt, etwas Aufrüttelndes zu erleben: Heßlings Huldigungen schmeichelten ihrer Eitelkeit, ihre Überspanntheit flunkerte einiges von glühender Leidenschaft und alle konventionellen Schranken niederstürmender Liebe, der große Galeotto schwang kräftig seine Hetzpeitsche, und so war sie denn eben eines schönen Tages in die Arme des Legationsrats geeilt. (S. 71)

Doch natürlich wird auch diese Beziehung zu etwas Alltäglichem. Heßling überlegt schon, an einem anderen Ort seine Karriere fortsetzen zu wollen, doch die Kraft zu einem Schlussstrich findet keiner der beiden. Dabei wird das Versteckspiel immer gefährlicher und belastet Elisabeth immer mehr. Jetzt erst erkennt sie, was sie aufs Spiel setzt.

Fazit

Fontanes Effi Briest wurde fast zeitgleich zu den Alltagsmenschen veröffentlicht, nämlich als Fortsetzungsroman in der Neuen Rundschau von 1894 bis 1895. Der Leser denkt natürlich auch an Madame Bovary und Anna Karenina, letzteres wird sogar neben anderen in der Geschichte erwähnt, selbst wenn Brachvogel ihre Ménage-à-trois ganz anders auflöst als ihre großen Kollegen.

In seiner psychologischen Glaubwürdigkeit fand ich das Buch beeindruckend. Jede Seelenregung der drei Betroffenen wird mit großer Menschenkenntnis bis in die kleinsten Nuancen geschildert.

Deutlicher als jemals zuvor offenbarte sich hier der Bruch in ihrem Charakter, das ungleiche Verhältnis darin zwischen Wollen und Können: sie wäre ja gar zu gerne eine außergewöhnliche Frau gewesen, eine von jenen, die als temperamentvoll gelten und über die hinweg sich die Männer mit verständnisvollem Blinzeln ansehen, aber sie war nicht schlecht genug, um sich ihres Fehltritts in aller Seelenruhe zu freuen, und bei weitem nicht groß genug, um ihr Thun nur vor den Gesetzen ihres eigenen Ichs verantworten zu wollen und zu können. […] Von der Bühne herab sah sich solch sündiges Liebesglück doch meistens sehr verlockend an, es las sich auch recht hübsch davon, aber in Wirklichkeit war es doch sicher richtiger und besser, eine anständige Frau zu sein, als eine gefallene. (S. 78)

Da hat Elisabeth natürlich recht, denn wenn ihr Mann von der Affäre erfährt, kann er sie aus dem Haus jagen, was nicht nur das Ende ihres gesellschaftlichen Ansehens und ihrer finanziellen Absicherung, sondern vor allem die Trennung von ihrem Kind bedeuten würde. Letztlich wird Elisabeth, wenn auch zu spät, erwachsen, denn sie sieht, welch mädchenhaften Fantasien und welcher Dummheit und Eitelkeit sie ihr Glück vor die Füße geworfen hat.

Doch auch Heßling, der nur eine kurze Affäre mit der schönen Frau gesucht hat, und Friedrich, der seine Frau liebt, werden in ihren inneren Konflikten und einander widerstrebenden Empfindungen scharfsinnig und nachvollziehbar gezeichnet.

Dabei sind alle drei, ohne sich dessen bewusst zu sein, auch Opfer des vorherrschenden Frauenbildes und stehen in Wechselwirkung mit der vierten Kraft im Roman, der Gesellschaft, deren oft verlogene und heuchlerische Stimme wir immer wieder vernehmen.

Was sich aber inzwischen überlebt hat, ist die oft unglaublich pathetische Sprache, die wilden Naturmetaphern.

Gleich schwerer, ertötender Eiseskälte legte sich die Erinnerung der Schuld auf die hochgehenden Wogen ihres fieberisch-verzweifelten Heroismus … (S. 104)

Auch die Erzählerstimme fand ich manchmal anstrengend. Sie weiß wirklich alles und ein Lesen zwischen den Zeilen ist nicht vonnöten. Es wird alles, alles erklärt und gedeutet.

Anmerkungen

Das Buch erschien im Allitera Verlag, und zwar in der edition monacensia, in der Werke Münchner Autoren und Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts erscheinen.

Das Cover fand ich entsetzlich und dass ein Zitat auf dem hinteren Buchdeckel fälschlicherweise Elisabeth zugeschrieben wird, das aber von Heßling stammt, machte die Sache nicht besser.

Das Nachwort von Ingvild Richardsen hingegen war sehr erhellend. Carry (eigentlich Caroline) Brachvogel (geboren 1864) gehörte damals zu den „modernen“ Autorinnen, die sich auf „die Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Frau“ begaben und die traditionellen Rollenvorstellungen in Frage stellten (S. 156).

Auch zur Biografie der jüdischen Autorin und Frauenrechtlerin, die seit 1895/96 über 30 Jahre lang einen einflussreichen literarischen Salon leitete, gibt es interessante Hinweise. Sie wurde schließlich als Schriftstellerin in ganz Deutschland bekannt.

Mit ihrer Existenz als unverheiratet bleibende, selbstständige, arbeitende Witwe widerspricht sie dem gängigen Ideal der Frau im Bürgertum des Kaiserreichs (S. 160)

Doch das Ungeheuerliche ist den Herausgebern nur einen kurzen Satz in der hinteren Umschlagklappe wert:

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird die Jüdin Carry Brachvogel beruflich isoliert und schließlich 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert, wo sie kurz darauf verstarb.

Und bei Lena Riess bitte gleich weiterlesen: Sie stellt eine Novellensammlung der Autorin vor.

Emily Brontë: Wuthering Heights (1847)

Mit einem Grinsen im Gesicht und großer Genugtuung lese ich, was Mithu Sanyal in ihrem Buch Über Emily Brontë schreibt:

Wuthering Heights war der erste echte Roman, den ich gelesen habe, […] Und das war ein Glücksgefühl, ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis. Und ein Problem. Hängte er doch die Latte für weitere Romane extrem hoch, sodass ich später oft dachte: Das ist ja alles schön und gut, aber wann kommt endlich das Moor? (S. 14)

Vor einigen Jahren rief Birgit Böllinger auf ihrem ehemaligen Blog Sätze & Schätze dazu auf, unsere ganz persönlichen Klassiker zu entstauben und vorzustellen:

Im Gegensatz zum Feuilleton sind Literaturblogger nicht dem ständigen Aktualitätszwang verpflichtet – darin liegt auch eine Chance, immer einmal wieder einen Klassiker aus dem Regal hervorzuholen, sie den Lesern – so sie ihn noch nicht kennen – näherzubringen. Ich habe daher einige lesende und schreibende Menschen (Blogger, Schriftsteller, Verleger, Literaturschaffende und Literaturliebhaber) gebeten, mir von ihrem persönlichen Favoriten zu erzählen und über Bücher zu schreiben, die sie seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten begleiten, denen sie eine besondere Bedeutung zuschreiben, die sie als Klassiker bezeichnen würden.

Ich musste nicht lange überlegen. Mein Klassiker ist Wuthering Heights von Emily Brontë, einigen vielleicht eher unter dem deutschen Titel Sturmhöhe bekannt.

Die wilde Geschichte von den zwei unterschiedlichen Familien, die irgendwo im einsamen und rauhen Yorkshire wie Naturgewalten aufeinandertreffen, wurde erstmals 1847 veröffentlicht. Da wären zum einen die Earnshaws, deren Vater eines Tages aus Liverpool, dem damaligen Zentrum des Sklavenhandels, das so auffällig dunkle Findelkind Heathcliff mitbringt. Insgesamt sind die Earnshaws mit Tochter Catherine und Sohn Hindley eine Familie, die mit dysfunktional noch sehr freundlich umschrieben wäre. Auf der anderen Seite gibt es die gesitteten Lintons. Es kommt zu unglückseligen Eheschließungen, Geburten, Liebesleid, einem jahrzehntelangen Rachefeldzug, Tod und schließlich zu einer milden, aber geisterhaften Ruhe nach all dem stürmischen Gebaren.

Hab’s schon als Teenager gelesen, ohne die geringste Ahnung, dass das ein echter Klassiker ist. Später die Schwarzweiß-Verfilmung gesehen. Weitere Verfilmungen gingen spurlos an mir vorbei. Das Buch reicht mir völlig.

Im Studium habe ich mich monatelang mit dem Buch beschäftigt und es aus allen möglichen und unmöglichen feministischen, marxistischen oder psychoanalytischen Richtungen analysiert, interpretiert und dabei fast auswendig gelernt. Doch das Werk hat all dem standgehalten und begeistert mich heute noch genauso wie beim allerersten Mal.

Es bleibt bewunderndes Staunen oder staunende Bewunderung, denn bei jedem Lesen entdecke ich etwas Neues; man wird mit diesem Buch einfach nicht fertig. Da gibt es z. B. eine große psychologische Feinheit, mit der die Autorin zeigt, welche Verheerungen eine miese und brutale Erziehung anrichten kann.

Dann die Modernität der Perspektivengestaltung: Wie in einem Spiegellabyrinth muss man überlegen, wem man glauben kann. Die Erzählerfiguren, der Städter Lockwood und die Haushälterin Nelly Dean, die oft genug selbst ihre Finger im Spiel hatte, wollen uns von Anfang an ihre Sicht der Dinge unterjubeln.

Und erst die Hauptfiguren: Catherine, ihr ekelhafter Bruder Hindley, Heathcliff und dann Edgar und Isabelle Linton. In den zwei Häusern tobt ein archaischer Sturm, scheinbar meilenweit vom nächsten Ort entfernt, die Rache- und Liebeshandlung drängt vorwärts; am Ende sind fast alle tot und die Leser*innen völlig fertig. Und dann die großen Fragen nach Schuld, nach Liebe. Schließlich tragen hier alle ihren Teil, gewollt oder ungewollt, zu Chaos und Herzeleid bei.

Und überhaupt, was ist eigentlich Liebe? Ist es Liebe oder eine schier unfassbare Selbsttäuschung, wenn Catherine beteuert:

If all else perished, and he [Heathcliff] remained, I should still continue to be; and if all else remained, and he were annihilated, the Universe would turn to a mighty stranger. I should not seem a part of it. (…) my love for Heathcliff resembles the eternal rocks beneath – a source of little visible delight, but necessary. Nelly, I am Heathcliff – he’s always, always in my mind – not as a pleasure, any more than I am always a pleasure to myself – but, as my own being….

Und im Anschluss lese man das coole und ausgesprochen informative Buch Über Emily Brontë (2022) von Mithu Sanyal, die auch noch weiteren im Buch angelegten Spuren nachgeht, denen man erst seit wenigen Jahrzehnten überhaupt Aufmerksamkeit widmet, wie beispielsweise der Kritik an den unüberwindlichen Klassenschranken, der Hautfarbe Heathcliffs und den Spuren des Sklavenhandels.

Abschließend kann man dann noch die ARTE-Dokumentation anschauen, in der die Literaturwissenschaftlerin Lucasta Miller eine weitere Interpretationsmöglichkeit ins Spiel bringt: Der Roman könne als eine Warnung an die viktorianische koloniale Gesellschaft verstanden werden: „Die Ausgestoßenen werden sich letztendlich erheben.“

Elena Ferrante beschreibt in einem Interview, was ein gutes Buch ihrer Meinung nach leistet. Nicht nur nach dieser Definition ist Wuthering Heights ein phänomenal gutes Buch.

Good books are stunning charges of vital energy. They have no need of fathers, mothers, godfathers and godmothers. They are a happy event within the tradition and the community that guards the tradition. They express a force capable of expanding autonomously in space and time.

(aus: Elena Ferrante in einem Interview mit Sheila Heti, zitiert nach: ‘Be Silent, Recover My Strength, Start Again’: In Conversation with Elena Ferrante)

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Heinz Hilpert: So wird alles Schwere entweder leicht oder Leben (2011)

26. Juni 1944

Mir schien alles trübe und traurig, weil ich von Dir fortging. Fortging, zwar in die tiefe Glaubensgewißheit, Dich wiederzusehen – aber auch mit der harten Gewißheit, dich lange entbehren zu müssen! Das entbehren zu müssen, was der liebe Gott zu meiner innigsten Ergänzung auf die Welt geschickt hat.

Nie noch habe ich die unbedingte Zusammengehörigkeit zu einem Menschen so hinreißend und grundsätzlich gespürt – als zu Dir. […]

Jeder Berg, jeder Baum, jeder Bach, jeder Schlaf, jedes Erwachen in Sonne oder Regen […] – alles lebte nur auf Dich bezogen und in mir, süß und zwingend, zu Dir hin. Manchmal irrte ich ab, zu dieser oder jener Frau, in Gedanken, leise und ganz tierhaft, und dennoch spürte ich – alles warst Du. Aus und mit Dir lebe und sterbe ich, ich will Dich ganz bei mir haben. Ich wünsche mir, zum erstenmal in Leben, ein Kind von Dir – ich und Du. Ich will nur Dich. In Dir vollendet sich mein Leben und mein Wirkenkönnen. Gott soll uns segnen und zusammenfügen. Ich will nur Dich – nicht „weil“, sondern ohne alle Gründe, weil Du bist und weil Du so bist, wie Dich eben Gott geschaffen hat. Mir und vielen zur Freude – aber mir zur letzten, einzigen Heimat. […]

Ich habe Dich lieber als mein Leben, lieber als Sonne und Mond, lieber als alle bestirnten Nächte, als alle Bäume und Tiere, die ich kenne und liebgewonnen habe, lieber, als mir je ein Mensch war, lieber als mein Leben, meine Hoffnung, meine Einsamkeit und die Summe meiner ganzen Arbeit und aller Seligkeiten, die mich auf meinem kurzen Gang durch die Dämmerung beglückt haben.

Aus den Tagebuchaufzeichnungen Heinz Hilperts (1890 – 1967) vom 26. Juni 1944

Zum Hintergrund

Heinz Hilpert, Regisseur und Intendant des Deutschen Theaters, hat seine große Liebe und spätere Ehefrau Annelies „Nuschka“ Heuser (1902 – 1963) Ende der zwanziger Jahre kennengelernt. Sie war Jüdin, ihre  Familie emigrierte, doch Annelies blieb in Deutschland.

Gerade noch rechtzeitig kann Nuschka im Juli 1943 in die Schweiz fliehen. Hilpert reist danach mehrere Male in die Schweiz. „Das vorerst letzte Mal sehen sich Heinz  und Nuschka Anfang Juli 1944 in Zürich. Kurz bevor er das Tagebuch beginnt.“ (S. 8)

Heinz Hilpert wird schließlich jede weitere Reise in die Schweiz untersagt. Er musste vorsichtig sein, war er den nationalsozialistischen Herrschers doch bereits unangenehm aufgefallen. Und Joseph Goebbels wird der drohende Satz zugeschrieben, dass Hilperts Theater nicht anderes seien als KZs auf Urlaub.

Bis Juni 1945 schreibt nun Hilpert dieses „Tagebuch für Nuschka“, das von Michael Dillmann und Andrea Rolz herausgegeben wurde und unter dem Titel So wird alles Schwere entweder leicht oder Leben 2011 im Weidle Verlag erschienen ist.

Wir erfahren, wie das Wetter und seine jeweilige Stimmung ist, ob die Vögel singen, wie viel er an heißen Tagen trinkt und wie sehr er die sommerliche Wärme genießt, bis in den letzten Kriegsmonaten die Einträge verzweifelter werden.

Doch vor allem enthält das schmale Büchlein wunderschöne Liebesworte, auch wenn die sprachliche Vergötterung Nuschkas, der „Gebenedeiten“, die er um Segen bittet, für mich an manchen Stellen etwas schwer verdaulich war. Die geliebte Frau ist „seine Brücke“ zu Gott.

Könnte ich Dir nur einmal ganz sanft über Deine geschlossenen Lider streicheln, Deinen Haaransatz ganz, ganz leise mit meinen Lippen berühren und Dich noch ein wenig fester zudecken, damit Du nicht nachtkalt hast. Aber so bleibt mir nichts, als Dich ganz innig in  mein Gebet einzuschließen und Dich der Gnade dessen anheimzustellen, der uns zusammen auf diese wunderschöne Erde kommen ließ. (S. 21)

In poetischer Sprache umkreist Hilpert immer wieder die Fragen, wie sich diese Liebe auf ihn auswirkt, wie sie ihn verwandelt und unverwundbar macht.

Die Begriffe „sicher“ und „unsicher“ hören auf einzig und allein im Hoheitsgebiet der Liebe. Hier lebt der Mensch im Glauben, und der Glaube macht unversehrbar – man „sichert“ nicht mehr. […] und in der vollkommenen Liebe zu Dir, Nuschka, bin ich ganz unversehrbar, kann ich kämpfen, ohne mich umzusehen, kann ruhen, ohne mich zu schützen, kann schwerelos sein, ohne mich ekstatisch aufzuschwingen, kann kreisen, ohne schwindelig zu werden, kann verweilen, ohne zu versäumen. „Nichts mehr versäumen“ ist das tiefe, tiefste Lebensgefühl, was sich dem Liebenden erschließt. Er rennt und jagt nicht mehr, er bangt und flieht nicht mehr. Er hält inne und ist heiter, er geht still fort und fort und ist selig. Das Wissen und die Weisheit, die für ihn taugt, schmiegt sich still in sein Herz. (S. 24)

Geliebt werden ist schön – es entwickelt und differenziert aber nicht. Lieben – mit aller Fragwürdigkeit des Widergeliebtwerdens – ist eben eine Kraftvergeudung, die ständig verjüngt, ist eine Auslieferung, die einem sich selbst zurückbringt, ist ein Schmerzempfinden, das in Lust umschlägt. (S. 60)

Und ähnlich wie auch Bonhoeffer in seinen Brautbriefen ringt auch Hilpert darum, die lange Trennungszeit sinnvoll werden zu lassen:

Und dann baute sich immer wieder aus Sehnsucht und Liebe eine Brücke, die gerade in Dein liebes Herz hineinmündete. Und ich ging darauf und dachte, warum ist Liebe, die sich bescheiden muß und sich nicht stillen kann, weil die Geliebte fern ist, so viel inniger und zarter und verbundener, verflochtener, unauflösbarer als die, die genießt? Weil sie schmerzhafter ist? Schenkt uns der Schmerz diese ganz besonderen Innigkeiten? Warum werden Menschen erst im Entbehren wesentlich? Und ganz nahe? (S. 63)

In den letzten Kriegsmonaten werden die Briefe aus Berlin dunkler, die Verzweiflung und Sehnsucht riesengroß, aber selbst die Gedanken an den Tod sind aufgehoben in dieser großen Liebe:

Die Welt wird immer dunkler. Die Angriffe immer grauenhafter. Wir müssen’s dulden! Meine Unversehrtheit liegt ganz bei Dir und meinem Gefühl zu Dir. Was auch kommt – ich bin immer nur auf dem Wege zu Dir. Immer Richtung Nuschka. Auch wenn ich sterben muß, ist mein letzter Herzschlag für dich. Sei geküßt und gesegnet. (S. 97)

Eine weitere Besprechung findet sich auf lustauflesen.de.

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Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer: Brautbriefe Zelle 92 (1992)

Wen dieser Briefwechsel kaltlässt, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.

Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945), der bekannte Theologe, aktiv im Widerstand gegen Hitler, begegnet im Juni 1942 seiner großen Liebe, der 18 Jahre jüngeren Maria von Wedemeyer. Im November 1942 bittet Marias Mutter wegen des Altersunterschiedes um das Einhalten einer einjährigen Kontaktsperre, was sie allerdings im April 1943 zurücknimmt, als Bonhoeffer von den Nazis verhaftet wird und für fast zwei Jahre in Berlin Tegel, Zelle 92, inhaftiert ist. Den ersten Kuss geben sich die Brautleute im Gefängnis.

Also schreiben sich diese zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten und beide sind wunderbar ehrliche Briefeschreiber. Besonders die Briefe der jungen Frau sind von großer Anschaulichkeit und zeigen – vor allem in der Anfangsphase – Lebenslust, Energie und übersprudelnde Verliebtheit.

Wenn ich morgens um 6 aufwache, ist mein erster Griff in die Nachttischschublade nach Deinem Bild. Dann stelle ich es auf die Bettdecke und sage: „Guten Morgen, Dietrich, hast Du gut geschlafen? Machst Du ein fröhliches Gesicht? Denkst Du an mich? Hast Du mich noch lieb? Freust Du Dich auf später?“ und noch viel mehr. (2. September 1943, S. 49)

Hurra, Hurra, Hurra, Hoch, Vivat und Halleluja! Ich hab einen Brief von meinem Dietrich bekommen und bin sehr glücklich darüber. Mein liebster Dietrich, was kannst Du für schöne Briefe schreiben! Ich bin verliebt in jeden einzelnen Satz, in jedes Wort, in jeden Kringel Deiner Schrift. Ich lese immer und immer wieder. Es unterhält sich so schön mit Dir, wenn man einen Brief dazu in Händen hat. (21. September 1943, S. 58)

Wir lesen aber auch von Marias Sorge, dem älteren und gebildeten Mann vielleicht doch nicht genügen zu können. Sie spricht von ihrem Alltag, ihrer Arbeit, der Trauer über den Tod des Vaters und des Lieblingsbruders im Krieg.

Da werden Hochzeitspläne geschmiedet und sie denkt darüber nach, woher man die zum Hausstand notwendigen Möbel bekommt und wie man sich wohl jeweils in der Schwiegerfamilie wird eingewöhnen können. Dietrich und Maria empfehlen einander ihre Lieblingsbücher (wobei Bonhoeffer nicht immer glücklich ist mit den Vorlieben seiner jungen Braut). Man erfährt, wie sich die beiden nach den „Sprecherlaubnissen“ fühlen, wo sie für kurze Zeit unter Aufsicht miteinander reden dürfen.

Eigentlich ist es ganz unverständlich, wenn ich so neben Dir sitze, daß es nun nicht einfach so weitergehen kann, daß ich nicht Deine Hand fassen darf und mit Dir zusammen hinausgehen kann durch die 2 großen Türen auf die Straße und dann immer weiter nur noch mit Dir zusammen. (Maria am 5. Januar 1944, S. 111)

Dietrichs Briefe klingen gesetzter, durchdachter und reifer und sind durch seine theologische Arbeit und seinen Glauben geprägt. So schreibt er am 21. November 1943:

Weißt Du, so eine Gefängniszelle, in der man wacht, hofft, dies und jenes – letztlich Nebensächliche – tut, und in der man ganz darauf angewiesen ist, daß die Tür der Befreiung von außen aufgetan wird, ist gar kein so schlechtes Bild für den Advent. (S. 83)

Doch zeigen gerade die wenigen an der Zensur vorbeigeleiteten Briefe, wie viel Herz und Leidenschaft sich eben den grauenhaften Bedingungen anpassen musste und sich nicht frei artikulieren durfte. So beginnt einer der wenigen unzensierten Briefe Dietrichs:

Meine liebe, liebe Maria! Es geht nun nicht mehr länger, ich muß endlich einmal an Dich schreiben und zu Dir sprechen, ohne daß ein Dritter daran teilnimmt. Ich muß Dich in mein Herz sehen lassen, ohne daß ein anderer, den es nichts angeht, mit hineinguckt. Ich muß zu Dir von dem reden, was uns beiden ganz allein auf der Welt gehört und was entheiligt wird, wenn es fremden Ohren preisgegeben wird. Was Dir allein gehört, daran lasse ich keine Dritten teilnehmen; ich empfände es als unerlaubt, als unrein, als hemmungslos, und als würdelos Dir gegenüber. Was in verschwiegenen Gedanken und Träumen mich zu Dir zieht und an Dich bindet, liebste Maria, das kann erst in der Stunde offenbar werden, in der ich Dich in meine Arme schließen darf. (11. März 1944, S. 150)

Außerdem ist er anfangs unsicher, ob er der jungen Maria mit einem von den Nazis inhaftierten Bräutigam nicht doch zu viel aufbürdet.

Die beiden wissen um ihre Unterschiede und tun das Menschenmögliche, sich durch ihre Briefe kennenzulernen, obwohl die meisten der Briefe ja die Zensur passieren mussten und nur wenige Briefe durch wohlwollendes Wachpersonal an den Augen der Nazi-Schergen vorbeigeschmuggelt werden konnten.

Wir bekommen Einblick in die familäre Prägung, vor allem von Maria. Sie schildert, wie bei ihr zuhause noch eine Jagdgesellschaft stattfindet, bei der die Gäste in Frack und Abendkleid erscheinen. Und wir hören von den Höhen und Tiefen dieses ungewöhnlichen Brautstandes, der beiden tiefes Glück, Traurigkeit, aber auch Dankbarkeit und Sehnsucht bedeutet. Immer wieder müssen sie darum ringen, das Unverständliche, das Sinnlose im Gottvertrauen wieder sinnvoll werden zu lassen, eine Aufgabe, an der besonders Maria spürbar reift.

Morgens, wenn ich um 1/2 sechs aufstehe, dann bemühe ich mich immer recht zart und behutsam an Dich zu denken, damit Du noch ein bißchen weiterschlafen kannst. Ich hab einen Kreidestrich um mein Bett gezogen etwa in der Größe Deiner Zelle. Ein Tisch und ein Stuhl steht da, so wie ich es mir vorstelle. (Maria, am 26. April 1944)

Im September 1944 entdeckt die Gestapo ein „Geheimarchiv der Verschwörer im Amt Canaris“, deren Kreis ja auch Bonhoeffer angehörte (S. 205), sodass die Hoffnungen, das Kriegsende noch zu erleben,  immer weiter schwinden. Am 9. Oktober wird Bonhoeffer ins Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts überführt. Dort entstehen dann im Dezember die berühmten Verse des später vertonten Gedichts „Von guten Mächten treu und still umgeben“.

Am 3. Februar 1945 erlebt Berlin den schwersten Luftangriff, so kommt „es am 7. Februar zum Transport, der Bonhoeffer mit 19 anderen prominenten Häftlingen in ein Kellergefängnis am Rande des KZ Buchenwald verbrachte. […] Am 3. April erfolgte die Weiterfahrt dieser Truppe gen Süden über Regensburg nach Schönberg im Bayrischen Wald, wo sie in einer Schule untergebracht wurden.“ (S. 212)

Am 8. April fand im KZ Flossenbürg das Standgericht statt „und am nächsten frühen Morgen die Hinrichtung am Galgen, zusammen mit Wilhelm Canaris, Ludwig Gehre, Hans Oster, Karl Sack und Theodor Strünck. Wohl zur gleichen Zeit erlitt Hans von Dohnanyi im KZ Sachsenhausen den Tod.“ (S. 213)

Maria von Wedemeyer hat vom Tod ihres Verlobten erst im Juni 1945 erfahren.

Ein gesondertes Fazit zu diesem Buch möchte ich gar nicht ziehen, zu sehr hat es mich bewegt und mitgenommen, wie hier zwei Menschen um ihre Liebe und ihre Zukunft ringen.

Ich konnte gut verstehen, dass Maria diesen Briefwechsel erst auf ihrem Sterbebett ihrer älteren Schwester überlassen hat. So persönlich, so zart, so intim sind diese Texte. Erst 1992 konnten die Briefe veröffentlicht werden, versehen mit einem umfangreichen und informativen Anhang, der u. a. die Lebenswege und die gesellschaftliche Stellung der Protagonisten noch einmal nachzeichnet.

Eine große und wunderbare Liebesgeschichte, ein Fremdkörper in einer Zeit der Freizügigkeit, der Selfies, Pornos und der scheinbar völligen Tabulosigkeit, die doch die Zeit überdauern wird und mich verstört und bewegt hat wie lange kein Buch mehr und die en passant auch den Irrsinn des Nationalsozialismus zeigt.

Am 8. Oktober 1945 schreibt Karl Bonhoeffer, der Vater Dietrichs, an seinen Kollegen Professor Joßmann in Boston:

… Daß wir viel Schlimmes erlebt und zwei Söhne (Dietrich, der Theologe, und Klaus, Chefsyndikus der Lufthansa) und zwei Schwiegersöhne (Prof. Schleicher und Dohnanyi) durch die Gestapo verloren haben, haben Sie, wie ich höre, erfahren. Sie können sich denken, daß das an uns alten Leuten nicht ohne Spuren vorübergegangen ist. […] Da wir alle aber über die Notwendigkeit zu handeln einig waren und meine Söhne auch sich im Klaren waren, was ihnen bevorstand im Falle des Mißlingens des Komplotts und mit dem Leben abgeschlossen hatten, sind wir wohl traurig, aber auch stolz über ihre geradlinige Haltung. (zitiert nach: E. Bethge, R. Bethge, C. Gremmels: Dietrich Bonhoeffer, Bilder aus seinem Leben, 1986, S. 234)

Anmerkungen

Aus der gleichen Zeit stammen die Briefe von Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, die von Thomas Hartnagel veröffentlicht wurden, siehe dazu den Beitrag auf Annes Lesetagebuch.

Wer auf der Suche nach weiteren Liebesbriefen ist, sollte auf Leselebenszeichen vorbeischauen. Ulrike bespricht Die Liebesbriefe von Dylan Thomas.

Elizabeth Jenkins: The Tortoise and the Hare (1954)

The sunlight of late September filled the pale, formal streets between Portland Place and Manchester Square. The sky was a burning blue yet the air was chill. A gold chestnut fan sailed down from some unseen tree and tinkled on the pavement. In the small antique-dealer’s a strong shaft of sunlight, cloudy with whirling gold-dust, penetrated the collection of red lacquer and tortoiseshell, ormulu and morocco. Imogen Gresham held a mug in her bare hands; it was a pure sky blue, decorated with a pattern of raised wheat ears, and of the kind known in country districts as a „harvester“. Her eye absorbed the colour and her fingers the moulding of the wheat. Her husband however saw that there was a chip at the base of the mug, from which cracks meandered up the inside like rivers on a map.

So beginnt der sechste Roman von

Elizabeth Jenkins: The Tortoise and the Hare (1954)

Zum Inhalt

Manchmal lese ich ein Buch, bei dem ich denke, dass ihm ein paar Worte zum Inhalt nicht gerecht werden können, ja sogar einen falschen Eindruck erwecken. Dies ist so ein Roman. Denn wenn ich schreibe, dass wir hier die Geschichte über den allmählichen Zerfall einer Ehe in der gehobenen britischen Gesellschaftsschicht lesen, die in den fünfziger Jahren spielt, klingt das nicht wirklich aufregend, oder?

Ist es aber.

Also: Imogen, mit 37 immer noch sehr attraktiv, ist die Frau des erfolgreichen Anwalts Evelyn Gresham. Er ist 15 Jahre älter als seine Frau.

When a foolish or inaccurate thing was said in Evelyn’s presence, in court or during a consultation, it was essential that he should correct it at once, as decisively as possible, and the habit of instantly setting right other people’s blunders and mistakes was perhaps carried with him into private life farther than he knew. (S. 27)

Sie leben auf dem Land und haben eine ca. 50-jährige Nachbarin namens Blanche Silcox, die in so ziemlich allen Belangen das Gegenteil Imogens ist. Sie ist unscheinbar, kleidet sich unvorteilhaft, ist aber durch eine Erbschaft wohlhabend und vor allem unglaublich „kompetent“. Sie geht „männlichen“ Beschäftigungen nach, fährt Auto, reitet, angelt, jagt und organisiert mühelos einen großen Haushalt. Sie hat einen Kopf für geschäftliche Dinge, spekuliert an der Börse, dirigiert diverse Wohltätigkeitsvereine und – ist ledig.

Imogen hingegen ist das Produkt eines früheren Frauenbildes: Sie hat keinerlei Berufsausbildung, dafür ist sie schön, elegant, an Kunst und Literatur interessiert, die Bewunderung der Männer für selbstverständlich haltend, hoffnungslos unpraktisch und für ihren Mann ein früher mal geschätztes Dekorationsobjekt, das aber mehr und mehr seine Daseinsberechtigung verliert.

Sie ist aber keineswegs das dumme Frauchen eines wohlhabenden Gatten, nur verlieren ihre liebenswerten Eigenschaften und Fähigkeiten für Evelyn zunehmend an Bedeutung. Sie hat Sinn für Schönheit, ist taktvoll, freundlich und großzügig. Sie möchte, dass es allen in ihrer Umgebung gut geht. An sich selbst denkt sie dabei gar nicht.

There was never a doubt in her mind that to meet his [Evelyn’s] demands was the most absorbing and the most valuable end to which her energies could be used. (S. 31)

Auch der Freund ihres Sohnes, ein vernachlässigter Nachbarjunge, der zu Hause kaum genug zu essen bekommt, wird von ihr ganz selbstverständlich aufgenommen und quasi ein Mitglied der Familie. Und: Sie liebt ihren Mann aus ganzem Herzen.

Das Gefährliche dabei: Sie stellt ihren Mann auf ein Podest, in ihren Augen kann er kein Falsch tun. Nie kann sie sich in einer Auseinandersetzung gegen ihn durchsetzen. Sie gehorcht ihm und hat sich – da sie ihn liebt – in dieser Rolle zwölf Jahre lang wohl und sicher gefühlt. Sobald er sie kritisiert, hat sie ein schlechtes Gewissen: Als ihr ein Buch gefällt und sie ihn zugegebenermaßen etwas naiv bittet, es ebenfalls zu lesen, weil sie ihre Freude mit ihm teilen möchte, heißt es:

‚My dear girl,‘ he said, ‚you must be out of your mind. For heaven’s sake, read something worthwhile, if you must spend all this time reading.‘ The condemnation and disgust in his tone seemed to convince her at the same time of the folly and wickedness of the characters and the incompetence of their author. (S. 36)

Imogen nimmt es als naturgegeben hin, dass er sie in ihrer Rolle als Mutter nicht unterstützt und ihre Autorität untergräbt. Die Verachtung, die Evelyn ihr gegenüber spürt, darf auch der Sohn ungehindert zeigen. Selbst als sie ihre Vorbehalte gegen die zunehmenden Aufmerksamkeiten äußert, die Blanche ihrem Gatten erweist, hat sie Gewissensbisse ob ihrer Geschmacklosigkeit. Dazu kommt ihre gekränkte Eitelkeit, „her touchy pride as a fading beauty“ (Hilary Mantel). Viel zu spät stellt sie ihren Mann – und damit ihren Lebenssinn – in Frage.

Was hätte eine solche Frau der Bedrohung ihrer Ehe entgegenzusetzen?

Fazit

Zwar ist dem Leser schon nach den ersten Absätzen klar, dass hier zwei Menschen verheiratet sind, die einander nicht verstehen und einander nichts zu sagen haben. Und zwischendurch dachte ich: Oh nein, nicht noch ein Beispiel, nicht noch eine Szene, die uns verdeutlicht, dass und wo genau hier eine Ehe im Argen liegt. Doch genau dadurch baut sich allmählich Spannung auf und der Leser lebt mit, fast als ob das alles in einer befreundeten Familie passieren würde.

Die Tragik liegt auch weniger darin, dass die beiden nicht zusammenpassen, sondern dass Evelyn jegliche Wertschätzung und jeder Respekt für seine Frau abhanden kommt. Sie ist anders als er, und jetzt, wo nach über einem Jahrzehnt Ehe der romantische Lack ab ist, wirft er ihr das vor und macht daraus ein Werturteil. Diese Abwertung wiederum entzieht Imogens Selbstsicherheit jeden Boden. Und auch wenn mal alle drei Hauptprotagonisten schütteln möchte, man versteht sie. Keiner ist ohne Schuld und keiner kann anders handeln, als er es tut.

Mit großer Präzision und klarem Blick werden hier Beziehungen analysiert, ja geradezu seziert. Gewinner der gesellschaftlichen Rollenverteilung ist Evelyn. Er nimmt sich, was er haben möchte. Gleichzeitig kann man verstehen, dass das kritiklose, kindliche Anhimmeln seiner Frau sich nach zwölf Jahren vermutlich etwas fad anfühlt, zumal sie nicht einmal kompetent die Rolle der treusorgenden Hausfrau einnehmen kann. Seine bevorzugte Anrede für sie lautet „my dear girl.“

Über Paul, einen Freund der Greshams, der bei der Wahl seiner wesentlich jüngeren Ehefrau auch nicht gerade große Geisteskraft bewiesen hat, heißt es hingegen:

… his choice had been made with a complete and fatal lack of judgement. […] Her refusal to alter or modify her opinions or tastes under his influence seemed a charming instance of integrity. It wore a different air somewhat later, when he found himself bound down beside a being narrow and stubborn, with the strongest disinclination to compromise or learn. (S. 14)

Doch Paul sieht sich ebenfalls in starren Rollenbildern gefangen: Statt seiner dummen jungen Frau, mit der ihn buchstäblich nichts verbindet, den Laufpass zu geben, will er den ehrenhaften Schein wahren und ist ständig darum besorgt, dass es wenigstens ihr gut geht. Das erreicht er dadurch, dass er ihr unbegrenzten Zugriff auf sein Konto erlaubt und sich möglichst nie in ihrer Nähe aufhält.

Jenkins Stil ist elegant, treffend, ironisch. Als Imogen die Nachbarin Mrs Leeper nach deren Schwester fragt, die als Dichterin mit atemberaubendem Aussehen als Femme Fatale bekannt ist, heißt es:

‚She is digesting the Corsican experiences,‘ she answered. Most people would have said that their sister had had a very good holiday in Corsica, but Corinne Leeper thoroughly understood her duties as the relation of an artist. (S. 21)

Dazu kommt eine lyrische Sprache, wenn die Schönheit der Natur in geradezu filmischer Pracht den Wirrungen der Hauptfiguren entgegengestellt wird.

Noch lange nach der Lektüre überlegte ich, wer wie hätte handeln sollen. Das geht mir selten so. Auch kommt man mit dem Roman nicht  dadurch zurande, dass man ihn einfach in die Kiste packt mit der Aufschrift „Beispiel für rückständiges und einengendes Frauenbild“. Natürlich wird Imogen das Verhaftetsein in diesem unerwachsenen Rollenbild zum Verhängnis.

Doch was ist mit dem Egoismus von Blanche und der zunehmenden Kaltschnäuzigkeit ihres Mannes? Kein Grund, sich heute auf dem hohen Roß zu fühlen, zeigen doch die heutigen Scheidungsraten, dass das Patentrezept für eine glückliche und dauerhafte Ehe noch nicht gefunden wurde…

Jenkins schildert Menschen, die von Konventionen und Normen einer vergangenen Zeit geprägt sind. Und das Faszinierende dabei: Der Roman wirkt kein bisschen veraltet, da sie es schafft, den Kern ihrer Protagonisten freizulegen. Die Rahmenbedingungen ändern sich, die Menschen wohl nicht.

Übrigens: Nein, Imogen wirft sich nicht vor den Zug.

Anmerkungen

Hilary Mantel schreibt in ihrem Vorwort ganz treffend:

„I have admired this exquisitely written novel for many years, partly for its focus on a fascinating and lost social milieu, but also because through her close attention to the negotations between men and women, and women and women, Elizabeth Jenkins has provided a thoughtful and astrigent guide to the imperatives of sexual politics – and one which is of more than historical interest.“

Elizabeth Jenkins lebte von 1905 bis 2010. Sie schrieb nicht nur Romane, sondern auch hochgelobte Biografien, u. a. über  Elizabeth I. und Jane Austen. Jenkins war maßgeblich an der Gründung der Jane-Austen-Society und am Erwerb des Hauses in Chawton beteiligt, das später das Jane Austen’s House Museum beherbergen sollte. Sie selbst hat übrigens nie geheiratet.

2004 erschien ihre Autobiografie The View from Downshire Hill.

Hier geht’s lang zum Nachruf im Telegraph.

John W. Evans: Young Widower (2014)

The year after my wife died, I compulsively watched television. I needed distraction, to be entertained. What I could not stream online or order through the mail I sought out at the local video store. I was living in a suburb of Indianapolis, about a mile from a strip mall where I could rent, in a pinch, midseason discs of The Wire, The Office, Friday Night Lights.

So beginnt der autobiografische Bericht des Dozenten und Schriftstellers John W. Evans über das schlimme Jahr nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2007.

Evans hatte seine Frau in Bangladesch während der Arbeit im Peace Corps kennengelernt. Die beiden leben zwischendurch auch in Amerika, doch dort hält es sie nicht lange. Sie gehen nach Bukarest in Rumänien, seine Frau Katie arbeitet u. a. in einem Anti-AIDS-Programm mit und er unterrichtet Englisch.

Irgendwann unternehmen sie mit Freunden eine zweitägige Wanderung durch die Karpaten. Spät am Nachmittag trennt sich die Gruppe, damit die Schnelleren wie John schon mal eine Unterkunft in einem Hostel organisieren können. Doch als es dunkel wird und man ungeduldig auf die Nachzügler wartet, kommen nur zwei der drei völlig verstört am Hostel an. Die Gruppe war von einem Bären angegriffen worden und nur den beiden ist die Flucht gelungen, Katie ist also allein mit dem Bären irgendwo in der Dunkelheit.

My wife’s death was violent and sensational. She was killed by a wild bear, while we were hiking in the Carpathian Mountains outside of Bucharest, where we had lived and worked for the last year of her life. She was thirty years old. (S. 2)

Der Autor schreibt nun – wie schon viele Witwer und Witwen vor ihm – seine und Katies Geschichte auf. Wir erfahren im Rückblick, wie sie sich kennengelernt haben, sich ihre Liebe entwickelt hat, was für ein Mensch Katie gewesen ist.

Doch vor allem ist das Buch der unerbittliche Versuch, sich selbst Klarheit zu verschaffen über den Ablauf des Trauerprozesses, wobei der Schreibprozess auch ordnen soll, was im Grunde nicht zu ordnen ist. Gerade den genauen Hergang des grauenhaften Unglücks hat er wohl vor der Veröffentlichung nahezu zwanghaft immer wieder und wieder umgeschrieben.

In Wellenbewegungen nähert er sich dabei auch dieser verhängnisvollen Wanderung – und wir erfahren immer weitere Details, wobei es dem Autor nie um Sensationshascherei geht, was für den Leser/die Leserin den Schmerz entsprechender Stellen fast unerträglich macht.

Katie und John hatten sich, als sich die Gruppe getrennt hat, ein wenig gestritten (fast schon ein zu großes Wort für die kleine Missstimmung). Die Nachzügler hatten zwar Bärenspray dabei, doch dies hatten sie in ihren Rucksäcken verstaut, die sie als erstes wegwarfen, in der Hoffnung, so den Bären abzulenken.

John muss außerdem damit zurechtkommen, dass der Hostelbetreiber ihm keine Waffe aushändigen wollte, um keine Scherereien zu bekommen. Als die Bärenjäger aus dem Nachbardorf kommen, ist alles zu spät. So war John allein zurückgegangen, um Katie zu helfen. Doch er kann nur noch wie erstarrt zusehen, wie der Bär Katie den Brustkorb zerquetscht. Danach fühlt er sich schuldig für seinen Überlebenswillen und die Unfähigkeit, Katie zu retten.

Die Prämie der Lebensversicherung ermöglicht ihm, – abgesehen von kleineren Lehrtätigkeiten – erst einmal aus dem Arbeitsleben auszusteigen. Er zieht beim Bruder seiner verstorbenen Frau und dessen Familie ein und wird so etwas wie ein weiteres Familienmitglied, das mal am Familienleben teilnimmt, mal sich völlig zurückzieht, seine Therapiestunden besucht, Medikamente nimmt, Tagebuch schreibt, Freunde trifft, sich an die schönen und schwierigen Alltagsmomente mit Katie erinnert und versucht, das Gedenken an seine Frau, z. B. mit einem Blog, wachzuhalten.

I have three soft-cover notebooks in which I wrote daily accounts of my life during that year. The journal is a matter of will and record. I wanted to survive grief. I feared I would lose, with time, the intensity, of my reactions. A therapist said we were personally and creatively redefining the context of my emotional experience of the world. (S. 3)

Er fühlt sich auch schuldig, weil er sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand beispielsweise Katies Lachen nicht mehr vergegenwärtigen kann und Erinnerungen seltsam leblos werden. Diverse Fragen treiben ihn um. Warum fühlt er – gerade am Anfang – den Drang, wirklich jedem seine Geschichte zu erzählen? Wäre es gefährlich, irgendwann die Tabletten gegen die Angst und die Schlafstörungen abzusetzen?

Hätte er seine Frau retten können? Ist er unschuldiger Zeuge eines entsetzlichen Unglücks oder ein Feigling? Wie verändern sich familiäre Beziehungen und Freundschaften in dieser Zeit?

Wie kann man trauern, wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der jeder funktionieren soll und es außer schwarzer Kleidung keine gesellschaftlich anerkannten Rituale für Trauer mehr gibt und kaum jemand damit umgehen kann, wenn ein anderer so aus der Bahn geschleudert wird? Wenn niemand mit der Endlichkeit des Lebens behelligt werden möchte?

Was antwortet man der Therapeutin, als die vorschlägt, nur noch jeden zweiten Abend eine Schlaftablette zu nehmen? Wie lernt man später, seinen Schmerz auch zu schützen?

I had carried grief at first so that everyone would see it, maybe even forced to acknowledge it. Now I had to learn how to step back and protect it, to cover my body and reveal only what I needed someone else to see. (S. 105)

Welches „Bild“ von Katie ist angemessen? Sie war ja mehr als „nur“ seine Frau, sie war Tochter, Tante, Freundin und eben ein ganz eigenständiger Mensch. Wie kann es sein, dass das als selbstverständlich angenommene Zusammensein mit Katie nach ihrem Tod zu einer Reihe unzusammenhängender Einzelerinnerungen zerfällt?

Ab wann werden Trauer und Gedenkrituale zu einem Schauspiel, dem die echten Gefühle abhanden gekommen sind? Ein Schauspiel, das man nur deshalb noch aufführt, um die Anteilnahme der Mitmenschen zu bekommen und um eine Handlungsanweisung zu haben, an der  man sich orientieren kann.

Entscheidend ist bei diesem Buch, dass Evans mit aller Kraft versucht, seine Trauer intellektuell zu verstehen und zu verarbeiten.  Das zeigt sich bei Dingen wie dem im Eingangszitat erwähnten Fernsehkonsum.

I became suspicious of representations of suffering, especially gratuitous violence. What was the point of imagining bloodlust and apocalypse, if not to enjoy it? I preferred alternative logics – superheroes, universes, Texas – and comedies. They rejected finality. I found comfort in their repetitions. What did it matter that I was real and the people I watched were not? I felt present by proxy in constant variations on redemption: charity, sublimation, self-actualization. (S. 11)

Fazit

Eine traurige, tragische und eine große Liebeserklärung an seine Frau. Drei Tage nach dem Unglück, noch in Rumänien, spricht er mit einem Psychologen der Botschaft. Sie reden über dies und das, über die Wirkung der Schlaftabletten usw. Evans schreibt:

I feel safe with Katie is what I should have said. If Katie were with me in the room, I should have told the nurse, then she would tell me what to do next. I wouldn’t need to ask the embassy nurse for pills, or the embassy psychiatrist for help, or anyone why, since Katie’s death, I had felt in such equal parts fear and excitement, even at night, as I fell asleep in a haze of narcosis and panic, uncertain how I might keep myself safe and protected for the seven hours I would not be conscious. Katie kept me safe, I thought, and though I knew this was sentimental, it was also true. (S. 89)

Und die indirekte Kritik am westlichen Gesellschaftssystem, das einem normalerweise keine längere Auszeit nach einer persönlichen Katastrophe zugesteht, würde ich sofort unterschreiben.

Evans schreibt schonungslos ehrlich und ist ein kluger Beobachter, dennoch fehlte mir irgendetwas. Zum einen schreibt hier ein Mensch, der mir in seiner ganzen Lebensart ziemlich fremd wäre, diese Fremdheit ist durch die Lektüre nicht geringer geworden.

Dazu kommt, dass Evans ein Liebhaber von Abstrakta ist. Das machte die Lektüre stellenweise schwierig und es gab Sätze, die ich auch nach mehrmaligem Lesen schlicht nicht verstanden habe.

Obwohl jeder von uns sterben wird, geht jeder anders damit um. Und die literarischen Zeugnisse der Überlebenden, der Trauernden zeigen, dass auch jeder auf ganz individuellem Weg seinen Trost findet – oder eben auch nicht. Vielleicht war es das, was mich hier auf Abstand gehalten hat. Letztlich haben Evans der zeitliche Abstand geholfen, Tabletten, ein Therapeut, eine unterstützende Familie und nicht zuletzt die finanzielle Absicherung, sodass er nach ca. einem Jahr bereit ist, den Absprung zu wagen und bei seinem Schwager auszuziehen.

Und doch bleibt alles so, wie soll ich sagen, unbefriedigend. Ein wirklicher Trost, der das Grauen aushält, ist nicht in Sicht. Letztlich scheint das auch Evans zu spüren.

A therapist said to think of Katie’s death as a story. Name the parts that are too difficult, and then leave them out. Tell the story again and again, until those difficult parts come back.

Is it easier to think of our life together as a collection of facts and events, rather than one complete, exhaustive sequence? I’m not certain that either Katie’s life or our life together had certainty and coherence; that how we lived was exactly the one life described in eulogies and tributes, with its tidy beginning, middle, and end, full of premature accomplishment. (S. 36)

Auch die Tatsache des Schuldigwerdens, des dumme Fehler-Machens, was katastrophale Folgen haben kann, kann hier nur „wegtherapiert“ werden. So bleibt für Evans zunächst nichts als die Erkenntnis:

The healthy body does not grieve forever. It will not stay in bed all day, or refuse to go to work, or drink too much alcohol, or take too many pills. It is a highly adaptable organism. (S. 161)

Anmerkung

Das Buch hat den River Teeth Literary Non-Fiction Prize der Ashland University gewonnen.

Auf der Homepage des Autors, der inzwischen Creative Writing unterrichtet, findet sich ein kurzer biografischer Abriss.

Zum Abschluss ein Zitat von Nicholas Montemarano aus der lesenswerten Besprechung in der Los Angeles Review of Books:

Evans is one in a long line of such messengers, from Lewis to Didion to Deraniyagala. And we need them: it is too easy to forget that what we have, we will lose — that brown bears come in many guises, and that we are all powerless in one way or another. But thanks to honest and sadly beautiful books like Young Widower, we are at the very least helpless together. We can’t go on, we’ll go on.

Montemarano nennt auch weitere Titel, die den Verlust geliebter Menschen zum Thema haben.

Alexandre Dumas: Die Kameliendame (OA 1848)

Ich bin der Ansicht, daß man Gestalten erst dann zu erschaffen vermag, wenn man die Menschen eingehend erforscht hat, wie man ja auch eine Sprache erst beherrscht, nachdem man sie von Grund auf erlernt hat. Da ich selbst noch nicht in dem Alter bin, in dem man frei erfinden kann, will ich hier nichts als Tatsachen berichten. Der Leser darf also getrost der Überzeugung sein, daß diese Geschichte sich tatsächlich zugetragen hat und alle Personen, mit Ausnahme der Heldin, noch am Leben sind. Zumal es ein Leichtes wäre, für die meisten der hier geschilderten Begebenheiten in Paris Zeugen zu finden, sollte man mir nicht genug vertrauen.

Mit dieser Herausgeberfiktion beginnt der Roman Die Kameliendame (1848) von Alexandre Dumas, den er in nur vier Wochen schrieb. Ins Deutsche wurde das Buch von Michaela Meßner übersetzt. Die erste deutsche Ausgabe erschien erst 1907.

Ein namenloser junger Mann wird zufällig Zeuge einer Versteigerung, bei der die Einrichtungsgegenstände und Kleider der kürzlich verstorbenen Kurtisane Marguerite Gautier unter den Hammer kommen. Dabei erwirbt er das Buch Manon Lescaut, da eine handschriftliche Eintragung seine Neugier geweckt hat.

Kurz darauf sucht ihn eben jener Armand Duval auf, von dem die Widmung im Buch stammt, und bittet ihn unter Tränen um das Buch. Die beiden jungen Männer freunden sich an und Armand ist irgendwann bereit, dem neugewonnenen Freund die tragische Geschichte seiner Beziehung zu Marguerite zu erzählen.

Armand hatte sich in die überaus schöne Kurtisane Marguerite verliebt und sie aus der Ferne verehrt.

In einem Oval von unbeschreiblicher Anmut stelle man sich zwei schwarze Augen vor, überwölbt von Brauen, deren geschwungener Bogen so rein ist, daß sie wie gemalt erscheinen; die Augen überschleiere man mit langen Wimpern, die beim Senken den rosigen Teint der Wangen überschatten; die Nase zeichne man fein, gerade, geistreich, mit leicht geöffneten Nasenflügeln, die ein heftiges Verlangen nach dem sinnlichen Leben verraten; dann entwerfe man einen regelmäßigen Mund, dessen anmutige Lippen milchweiße Zähne sehen lassen; die Haut koloriere man nach Art samtschimmernder Pfirsiche, die noch von keiner Hand berührt wurden, und das Ganze ergibt dann diesen berückenden Kopf. (S. 14)

Die beiden lernen sich kennen und Armand bringt eine unvermutete Seite in der jungen Frau zum Klingen, denn er will ihre Gesellschaft und ihren Körper nicht – wie sonst all die anderen Männer – kaufen. Er war derjenige, der sich jeden Tag nach ihrem Befinden erkundigt hatte, ohne dabei seinen Namen zu hinterlassen, als sie krank war. Und er hat als einziger Mitleid mit ihr, als sie nach einem Abendessen Blut hustet. Armand erkennt, dass sich die erfolgreiche Kokotte noch „so etwas wie Arglosigkeit“ bewahrt hat.

Man merkte ihr an, daß das Laster bei ihr noch etwas ganz Jungfräuliches war. (S. 77)

Sie verlieben sich ineinander und das Unheil nimmt seinen Lauf, denn eine Frau wie Marguerite führt einen Lebenswandel mit Pferden, Kutsche und teuren Kleidern, Blumen und Theaterbesuchen, den ihr Armand noch nicht einmal ansatzweise finanzieren könnte.

Sie ist trotz ihrer Jugend lebenserfahren, klug und sich über ihre Stellung völlig im Klaren:

Wenn all die Frauen, die unser schändliches Gewerbe ergreifen, von Anbeginn wüßten, was da auf sie zukommt, dann würden sie lieber Dienstmädchen werden. Aber nein! Uns verlockt die Eitelkeit, Kleider, Diamanten und Equipagen zu besitzen […] und dann verschleißt man nach und nach sein Herz, seinen Körper und seine Schönheit. Man wird gefürchtet wie ein wildes Tier, verachtet wie ein Paria und ist von lauter Menschen umgeben, die stets mehr nehmen als sie selbst geben, und eines Tages verreckt man wie ein Hund, nachdem man seine Freunde und auch sich selbst verloren hat. (S. 102)

Freunde haben wir natürlich keine. Wir haben selbstsüchtige Verehrer, die ihr Vermögen nicht für uns vergeuden, wie sie immer behaupten, sondern für die eigene Eitelkeit. Für diese Leute, die selbst an gar nichts glauben, müssen wir fröhlich sein, wenn sie guter Laune sind, Appetit haben, wenn sie essen gehen wollen. Aber Herz dürfen wir auf keinen Fall zeigen, sonst werden wir zur Strafe verhöhnt und verlieren unser Ansehen Wir können nicht mehr frei über unser Leben verfügen. Wir sind keine Menschen mehr, sondern Dinge. (S. 142)

Marguerite ist diejenige, die die Unmöglichkeit ihrer Liebe sieht, denn selbst wenn sie für Armand ihren Lebenswandel ändern würde, wovon sollten sie leben und wie wäre sie abgesichert, wenn Armand, wie zu erwarten ist, in einigen Jahren nichts mehr von ihr wissen will und sie dann keine reichen Gönner mehr hätte? Doch für kurze Zeit verdrängen sie alle Sorgen um die Zukunft. Marguerite prostituiert sich weiterhin, um sich mit dem Geld ihrer Liebhaber ein kleines Haus auf dem Land mieten zu können. Dort verleben die beiden einen glücklichen Sommer, ausschließlich ihrer Liebe lebend.

Aus heutiger Sicht ist es putzig, dass Armand auch nicht ein einziges Mal auf die Idee kommt, sich eine Stellung zu suchen. Seine einzige Idee diesbezüglich ist der Spieltisch.

Doch die Familie Armands will nicht zulassen, dass der Lebenswandel des Sohnes die Familie zu kompromittieren droht. Zwar war das Kurtisanentum ein akzeptierter Teil des gesellschaftlichen Lebens in Paris, und eine attraktive und kostspielige Geliebte war nichts anderes als ein Statussymbol, doch Armand nimmt nach Ansicht des Vaters diese Liebschaft viel zu ernst und bedenkt nicht, dass sie sein weiteres Fortkommen behindern, ja unmöglich machen würde.

Das Buch ist so voller Verve und mitreißendem Pathos und interessantem Zeitkolorit, dass man den beiden Liebenden gerne durch ihre Verirrungen und Seelenqualen folgt, auch wenn die Selbstlosigkeit Marguerites, mit der sie schließlich alles für ihren Liebhaber opfert, schon ein wenig übermenschlich wirkt. Doch sie verkörpert – im Gegensatz zur verlogenen feinen Gesellschaft – einen Liebesbegriff, der wirklich das Wohl des Geliebten im Blick hat.

Armand hingegen ist ein alberner und rührseliger Wicht. Er behauptet, sie schon nach 24 Stunden unendlich und unwiderruflich zu lieben, redet dabei gern davon, dass er sie die folgende Nacht wieder besitzen werde und philosophiert darüber, dass es doch eine ganz andere Heldentat sei, das Herz einer erfolgreichen Kurtisane zu erobern als das eines einfachen und keuschen Mädchens.

Er kümmert sich keinen Deut darum, was später aus Marguerite werden soll, wenn sie mit ihren reichen Liebhabern bricht. Eine Eheschließung kommt ihm nicht einmal in den Sinn. Das würde die Gesellschaft nicht verzeihen. Doch solange er in Marguerite verliebt ist, würde er gern von seiner Umwelt in Ruhe gelassen werden. Selbst auf die Briefe seines Vaters antwortet er nicht mehr.

Er weint gern und viel, ist eifersüchtig und trotz angeblich unsterblicher Liebe sofort bereit, das Schlimmste von seiner Geliebten zu denken. Eigentlich geht es ihm immer nur um sich selbst. Als er – das erfährt der Leser schon ganz früh – kurz nach der Beerdigung Marguerites nach Paris zurückkommt, lässt er sie exhumieren:

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß diese Frau, die so jung und so schön war, als ich wegfuhr, nun tot sein soll. Davon muß ich mich mit eigenen Augen überzeugen. Ich muß sehen, was Gott aus diesem Wesen gemacht hat, das ich so sehr liebte, vielleicht wird mir dann der Ekel vor diesem Anblick die Verzweiflung über die Erinnerung nehmen … (S. 46)

Vielleicht war es gerade dieses Pathos, das die Bühnenfassung des Buches zu einem der erfolgreichsten Theaterstücke des 19. Jahrhunderts machte, die wiederum als Inspiration für die Oper „La Traviata“ gilt.

Interessant ist es auch, sich Armands Vorstellung von Liebe ein bisschen genauer anzuschauen. Ist es wirklich Liebe, wenn Armand eine heiße Liebesnacht mit Marguerite verbringt, obwohl sie hohes Fieber hat?

Ach, was war das für eine seltsame Nacht! Ihr ganzes Leben schien in die Küsse zu strömen, mit denen sie mich bedeckte, und ich liebte sie so sehr, daß ich mir inmitten des fieberhaftes Rausches meiner Liebe die Frage stellte, ob ich sie nicht töten solle, damit sie nie wieder einem anderen gehören könnte. (S. 222)

Der Roman ist auch ein Plädoyer für Barmherzigkeit gegenüber denjenigen, die durch das Raster der Wohlanständigkeit fallen. Aus heutiger Sicht fällt allerdings auf, dass der Erzähler zwar Mitgefühl, Nachsicht und Vergebung für die Prostituierten fordert.

Es genügt nicht, beim Eintritt ins Leben zwei Pfähle aufzustellen, deren einer die Inschrift Weg des Guten und der andere die Warnung: Weg des Bösen trägt, und dann denen, die davorstehen, zu sagen: ‚Trefft eure Wahl!‘; vielmehr muß man wie Christus denen, die sich auf Abwege leiten ließen, die Pfade weisen, die vom zweiten zum ersten hinführen; und vor allem dürfen die ersten Schritte auf diesen Wegen weder allzu schmerzhaft sein noch allzu ungangbar erscheinen. […] Weshalb sollten wir strenger sein wollen als Christus? Weshalb sollten wir, indem wir uns halsstarrig an die Ansichten einer Welt klammern, die sich hart gibt, damit man sie für stark hält, jene blutenden Seelen zurückstoßen, deren Wunden das Übel ihrer Vergangenheit entströmt wie schlechtes Blut einem Kranken und die doch nur warten, daß eine Freundeshand sie pflege und ihrem Herzen Genesung bringe? (S. 25)

Doch die Liebhaber, die dieses System der Ausbeutung erst ermöglichen, scheinen sich dabei nicht mit Schuld zu beladen. Die Doppelmoral und die Regeln der damaligen Gesellschaft werden als gegeben akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, mit dem Tod der Heldin ist die kurzzeitig gefährdete Ordnung wieder gesichert.

… der junge Duval ist auf den Pfad seiner gesellschaftlichen Pflichten zurückgebracht, und es wird keine Mühe gescheut, den schwer Getroffenen in den Schoß der Familie zurückzuholen. Nachdem die Kurtisane dem jungen Herrn von Stand geopfert wurde, endet die Anklage an die Gesellschaft in einem Loblied auf Familie und Rechtschaffenheit. (Michaela Meßner in ihrem Nachwort zur dtv-Ausgabe, S. 258)

Anmerkungen

Beim Autor dieses Werkes handelt es sich übrigens nicht um den Schöpfer von Der Graf von Monte Christo oder des Romans Die drei Musketiere, sondern um dessen unehelichen Sohn, der deshalb auch Dumas der Jüngere genannt wird.

1844 lernt Dumas der Jüngere die ebenfalls zwanzigjährige Marie Duplessis kennen, eine berühmte Kurtisane, mit der er elf Monate liiert war und „deren tragische Lebensgeschichte ihm zu seinem literarischen Durchbruch verhalf“. (Meßner, S. 253)

Viele Handlungsdetails hat Dumas fast unverändert der Realität entnommen. Duplessis stirbt 1847. „Am 10. Februar kehrte er [Alexandre Dumas] nach Paris zurück, genau an dem Tag, an dem ihre Habe versteigert wurde. Dumas selbst erstand Maries goldene Halskette. Den Erlös der Versteigerung, die auch Charles Dickens miterlebte, hatte Marie Duplessis einer Nichte unter der Bedingung vermacht, daß das junge Mädchen nie nach Paris gehen dürfe.“ (Meßner, S. 256)

Sibylle Berg: Der Mann schläft (2009)

Ich war alt genug  zu wissen, dass es Glück ist, einen zu treffen, den man so gern hat, dass er einen nie stört. (S. 11)

Eine nicht mehr junge Frau, Verfasserin von Gebrauchsanweisungen, an deren Nutzen sie selbst nicht glaubt, sitzt auf einer chinesischen Insel fest, auf der sie eigentlich nur den Urlaub mit ihrem Partner verbringen wollte, doch der Mann kommt ihr abhanden, als er eine Besorgung erledigen wollte. Sie leidet, wartet auf seine Rückkehr, trauert und blickt auf die vier gemeinsamen Jahre mit dem Mann zurück. Und so wechseln die Kapitel zwischen der Gegenwart auf der Insel und dem Rückblick auf die gemeinsame Vergangenheit ab.

Auf Dauer wirkt das etwas ermüdend.

Bergs Sprache ist wie immer sehr pointiert, mit wunderbar klaren Beobachtungen und stets leicht säuerlicharrogantem – oder anders ausgedrückt – misanthropischem Unterton, z. B. wenn sie eine Bekannte beschreibt:

Allein war sie immer gewesen, und wie fast alle, die immer allein blieben, hatte sie sich fast ausschließlich mit Projektionen aufgehalten, war davon ausgegangen, dass jeder Mann, der sie in Aufregung versetzte, das Gleiche für sie empfinden müsste, hatte wegen der mangelnden Zivilcourage der Männer die meiste Zeit ihres Lebens auf Nachrichten gewartet, die nie eintrafen, war bitter geworden über dem Warten und fühlte sich betrogen. […] Wie hilfreich es für viele wäre, sich nur kurz von außen betrachten zu können. Der seltsamen Bekannten wäre dann klargeworden, dass es für niemanden einen Grund geben konnte, sein Leben mit ihr zu teilen. Die Chance, dass sich einer fand, der sie für den Sonnenschein seiner Existenz hielt, war sehr gering. […] Sie war ein Mensch, den nichts auch nur für eine kurze Zeit glücklich machen konnte. Ich glaube, sie hatte das Gefühl, wunschlos zu sein, nie kennengelernt. Es gab nichts, was sie nicht auf sich bezog; sah sie eine schöne Landschaft, so erschien es ihr ungerecht, dass sie darin kein Haus besaß. (S. 40/42)

Auch die Neue Zürcher Zeitung schreibt am 8. September 2009 in ihrer Rezension Das Zen der Müdigkeit:

Sibylle Berg zeichnet ein zauberhaftes Porträt einer Misanthropin, der es zunehmend nicht gelingt, uns Leser und sich selbst von ihrem Existenz- und Weltekel zu überzeugen. Sie liebt sich mehr, als sie sich zugesteht, und sie hängt stärker am Leben, als ihre kultivierte Todessehnsucht vermuten lässt. Sie leidet wie ein Hund und hundert Mal mehr als jeder Verzweifelte in einem gediegenen französischen Film. Sie sagt die schrecklichsten Sätze und trifft damit ins Prekäre der Existenz […] Und geradezu abgründig komisch entlarven ihre Bonmots jede Liebhaberei als blinde Schwärmerei: ‚Italien war attraktiver gewesen, als ich es noch nicht so genau gekannt hatte.‘ […] Sibylle Bergs Roman kokettiert auf vielfältige Weise mit einem gepflegten Lebensüberdruss; aber das bildet lediglich die Staffage dieser Reise in die Einsamkeit. Im Hintergrund lauern die Melancholie, die Trauer über eine unzulänglich eingerichtete Welt und die stille Wut am eigenen Ungenügen.

Aber irgendwann nervt’s als Attitüde, alle Personen, selbst die Chinesen sprechen den typischen Sibylle Berg-Sound. Und manchmal hoffnungslos plump und anbiedernd, speziell wenn die Erzählerin meint, über Christen (Sekten, Gurus, für sie ohnehin alles das Gleiche) lästern zu müssen.

Dabei stellt sie selbst eine der großen Menschheitsfragen, wie man nämlich die Vergänglichkeit des Lebens aushalten kann. Warum sie allerdings meint, dass man mindestens einmal am Tag das eigene unvermeidliche Ende betrauern soll, wenn doch sowieso alles so blöd ist, bleibt ein Widerspruch, den sie nicht auflöst.

An einer Stelle merkt die Erzählerin an, dass sich bisher keiner

der Anstrengung unterzogen [habe], eine Liebe zu schildern, die ruhig und still verlief, die freundschaftlich war und eine gewisse Niedlichkeit ausstrahlte. Von Liebe berichten, so schien es, ausschließlich Personen, die mit dem Begriff und dem Gefühl dazu nicht vertraut sind. (S. 95)

Sie versucht also genau das: ihre gedämpfte stille Zweisamkeit der letzten vier Jahre zu beschreiben. Das Ideal: am besten den ganzen Tag mit dem anderen im sicheren Bett  zu verbringen. Dies sei das Glück; dafür und auch für die brutale Katastrophe, von einem Moment auf den anderen plötzlich allein zu sein, findet sie Worte, die treffen und einem ganz neu erscheinen.

Auch das Zwiespältige und Doppeldeutige an unserer Vorstellung von Liebe wird nicht verschwiegen: Liebt man bloß, weil man Angst hat, allein zu sein? Liebt man bloß, um sich so in seiner behaglich-privaten Idylle die Welt – und unsere Verantwortung – vom Leib zu halten?

Das stellt man sich doch nicht vor, in seinen Träumen von Liebesgeschichten; dass die Anwesenheit von jemandem vierundzwanzig Stunden am Tag bedeutet, das eigene Leben zu ändern; man träumt von Sekundenaufnahmen, von Wegen in der Herbstsonne, Licht, das durch Küchentüren fällt, und Großmutter lebt noch. Dass es hauptsächlich meint, neben einem anderen zu gehen, zu liegen oder zu stehen, wenn man davon spricht, sein Leben miteinander zu verbringen, ist ein Umstand, der in der Weltliteratur kaum Erwähnung findet. Ich konnte mich sehr gut neben dem Mann aufhalten. (S. 97)

Und in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 23. August 2009 sagt sie ein paar sehr vernünftige Dinge über die seltsamen Ideen, mit denen viele an der Partnersuche scheitern.

Doch vor allem der Schluss des Romans hat mich nicht überzeugt. Berg sagt zwar im Interview, das im Buch abgedruckt ist, dass die Art, in der der Leser das offene Ende interpretiert, dessen Bewusstseinsstand widerspiegele, aber im Grunde fehlt ihr einfach eine schlüssige Motivation für das Verschwinden des Mannes. Zwar mag es im tatsächlichen Leben egal sein, wodurch die Katastrophe zuschlägt, „wenn das eintritt, vor dem man sich immer am meisten gefürchtet hat“, und nur die Frage zählt, wie man dann weiterleben kann. Aber für eine Romanhandlung finde ich es schon ein bisschen wurstig.

Den Begeisterungsausbruch eines Rezensenten, dass Berg eine der wenigen deutschen Autoren sei, für die es sich lohne, eine Buchhandlung zu überfallen, finde ich – um ein Lieblingsadjektiv der Erzählerin zu bemühen – eher niedlich.

Hier noch ein Zitat, das der ein oder anderen vielleicht hilft, das Schnarchen des Partners besser zu ertragen:

Das war der Zeitpunkt, an dem auch wir meist das Licht ausschalteten, ich mich zum Einschlafen nahe an den Mann legte und den kleinen Geräuschen lauschte, die schöner waren als alle, die ich kannte, weil sie einer machte, den man mochte, und weil er doch leben musste, um Geräusche zu machen, die mir ein Zelt bauten, in der Nacht. (S. 249)

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Ernest J. Gaines: A long day in November (1964)

Somebody is shaking me but I don’t want to get up, because I’m tired and I’m sleepy and I don’t want to get up now. It’s warm under the cover here, but it’s cold up there and I don’t want to get up now.

So beginnt

Ernest J. Gaines: A long day in November (1964)

Die Geschichte erschien in der von Langston Hughes herausgegebenen Sammlung The Best Short Stories by Black Writers 1899 – 1967.

Zum Inhalt

In der Geschichte, die in den 30er oder 40er Jahren des letzten Jahrhunderts spielt, werden aus der Sicht eines kleinen schwarzen Jungen die Geschehnisse eines einzigen Tages erzählt.

Der kleine Sonny nässt – wohl aufgrund der Streitereien seiner Eltern – noch ein. Nach einem entsprechend demütigenden Vormittag in der Schule kommt er nach Hause.

Die Mutter hat jedoch eigene Sorgen und beschließt, mit Sonny zu ihrer Mutter zu ziehen, da die Konflikte mit ihrem Mann anscheinend nicht mehr zu lösen sind. Dieser hat nämlich nur noch sein Auto im Kopf und vernachlässigt darüber die Familie. Die Großmutter begrüßt den Schritt der Tochter, da sie sich noch nie für ihren Schwiegersohn erwärmen konnte.

Der Vater, ein schwacher Mann, will jedoch unbedingt seine Frau zurückgewinnen und holt sich den Rat einer Wahrsagerin ein. Deren Empfehlung ist eindeutig: Verbrenne dein Auto. Der Vater versucht der Wahrsagerin eine harmlosere Lösung abzuringen, vielleicht könne er das Auto wenigstens verkaufen, dann würde sich zumindest der finanzielle Verlust in Grenzen halten.

Doch schließlich wirft ihn die Wahrsagerin raus, sie habe ihm alles gesagt, ein Verkauf des Wagens reiche keinesfalls aus.

Der verzweifelte Mann ist hin und hergerissen, doch schließlich holt er alle zu dem Spektakel hinzu und verbrennt tatsächlich seinen heiß geliebten Wagen. Selbst die Schwiegermutter muss zugegeben, dass sie ihm diese männliche Tat nicht zugetraut hat.

Zusammen kehrt die kleine Familie nach Hause zurück. Der kleine Junge fühlt sich wieder geborgen und mit den Geräuschen des knarrenden Ehebetts im Hintergrund kann er endlich einschlafen.

Fazit

Hier wird auf beeindruckende Weise die Falkennovelle ins Leben geholt, in ein anderes Jahrhundert und auf einen anderen Kontinent, in einen anderen Kulturkreis transportiert: Die Geschichte schildert den Konflikt des Liebenden und seinen unbedingten Willen, sich für die Liebe zum Partner tatsächlich von dem zu trennen, was diese Liebe hinderlich ist. Egal, wie schmerzhaft das ist.

Eine nur scheinbar einfache und dabei sehr anrührende Geschichte.

Aus dieser Sammlung hat mir auch Richard Wright „Almos‘ a man“ gut gefallen.