Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa (OA 2018)

Ein Roman von über 500 Seiten von einem Schriftstellers, der mal wieder zeigt, dass aus den Niederlanden faszinierende, freche und unbekümmert kluge Bücher kommen. Ins Deutsche übersetzt wurde das Werk des renommierten Dichters und Autors (*1968) von Ira Wilhelm.

Im Spiegelkabinett zwischen Realität und Fiktion erzählt hier ein Schriftsteller namens Ilja Leonard Pfeijffer in der Ich-Form, wie er sich nach großem Liebeskummer in das altehrwürdige und ein wenig aus der Zeit gefallene Grand Hotel Europa einmietet, das gerade von einem chinesischen Investor übernommen wurde und dementsprechend langsam umgemodelt wird, um mehr Gäste aus China anzulocken. In dieser Abgeschiedenheit will er schreibenderweise verstehen, was ihn in seine jetzige Lage gebracht hat. Der Kummer gilt der Dame seines Herzens, einer betörend schönen italienischen Kunsthistorikerin, die er in Genua, wo er schon seit Jahren lebt, kennengelernt hat.

Ich musste alles präzise aufschreiben, obwohl mir klar war, dass der Drang, es zu erzählen, um es mit Aeneas‘ Worten an Dido zu sagen, den Verdruss wieder auffrischen würde. Es gibt kein Ziel ohne Klarheit darüber, von wo man aufgebrochen ist, und keine Zukunft ohne eine deutbare Version der Vergangenheit. Ich kann besser nachdenken, wenn ich dabei ein Schreibwerkzeug in Händen halte. Tinte klärt. Nur durch das Schreiben bringe ich meine Gedanken unter Kontrolle. Das war meine Aufgabe. Deshalb war ich hier.  Aufschieben war zwecklos. (S. 15)

Und so flanieren wir mit dem kunstbewanderten (und chauvinistischen) Erzähler und seiner Partnerin in der Vergangenheit durch Genua und Venedig, Orte, die wunderbare und geschichtssatte Bühnen für ihre temperamentvolle Liebesgeschichte bieten.

Wir lernen aber auch die anderen Hotelgäste kennen, z. B. die Amerikanerin Jessica, die „ein langes schwarzes Kleid in den Dimensionen einer Schutzhaube für einen mittelgroßen Lieferwagen“ trug, sowie ihren Mann, der sich für das „Schlichte entschieden“ hatte:

breite braun-beige Krawatte zu grau-blau kariertem Hemd und farblich passendem braun-grün kariertem Jackett mit sportlichen Wildlederapplikationen an den Ellbogen. Er sah aus wie ein Jagdaufseher bei einem Benefizabend zur Bewahrung der Biberbaue. (S. 279]

Dazu kommen noch der Majordomus des Hotels, Herr Montebello, und der Page Abdul, ein geflüchteter junger Mann, der nichts lieber täte, als seine Vergangenheit zu vergessen. Während der Schriftsteller die ein oder andere Zigarette mit Abdul raucht, entlockt er ihm dabei dann doch nach und nach seine Geschichte, die wiederum einige Überraschungen birgt.

Obwohl ich hierhergekommen war, um in meiner eigenen jüngeren Vergangenheit Ordnung zu schaffen, indem ich auf dem Papier rekonstruierte, welche Kette von Ereignissen dazu führte, dass ich mir diese Aufgabe auferlegte, und obwohl ich mich gerade deshalb für das Grand Hotel Europa als Aufenthaltsort entschieden hatte, weil ich kaum erwartete, dass hier etwas geschähe, was mich von der gewissenhaften Erledigung meiner Aufgabe ablenken könnte, beeindruckte mich die Geschichte von Abduls jüngerer Vergangenheit so sehr, dass ich mich dazu verpflichtet fühlte, sie aufzuschreiben. Ich konnte nur mit großer Mühe den Gedanken verdrängen, dass meine Geschichte verglichen mit seiner eitel und nichtig war. Meine einzige Entschuldigung dafür, so viel Zeit und Energie auf die Wiederaufführung eines Luxusdramas zu verwenden […], bestand darin, dass es sich bei dem Luxusdrama nun mal um meine Geschichte handelte und dass sie mich aus diesem Grund stark berührte. Doch Abduls Geschichte werde ich ebenfalls erzählen. Alle Schriftsteller Europas sollte die Geschichten aller Abduls erzählen. (S. 75/76)

Darüber hinaus geht es um die letzten Gemälde des Malers Caravaggio, das Schicksal von ertrunkenen Schiffsflüchtlingen und eine seltsame Crew aus Holland, die überlegt hatte, mit dem berühmten Schriftsteller einen Film über die verschiedenen Spielarten des Tourismus zu drehen. Doch wenn das nicht zustände käme, könne man das Material ja immer noch für einen Roman verwenden.

In all diese Handlungsfäden hinein verwoben sind verschiedene Themenkomplexe, zu denen sich der Erzähler so seine Gedanken macht. Auch in den diversen Dialogen spielen diese Aspekte immer wieder eine wichtige Rolle. Sei es der überall in Europa erstarkende Rechtspopulismus, die Notwendigkeit, uns Geschichten zu erzählen, oder die Überlegungen dazu, was Europa eigentlich ausmacht. Hat das ideale Europa der Kunst, der Kultur, der Philosophie überhaupt noch eine Zukunft oder wird es allmählich zum künstlichen und letztlich austauschbaren Spielgarten asiatischer und arabischer Konsumgelüste? Stichworte wie die Verramschung von Venedig und Amsterdam, die an ihrer eigenen Schönheit und den dadurch angelockten Massen zu ersticken drohen, die Immobilienhaie oder die megalomanen Pläne einer Außenstelle des Louvre in den Arabischen Emiraten sind nur einige der weiteren Aspekte.

Eng damit verbunden sind die Fragen nach den Ursprüngen des Reisen und was genau der moderne Tourist eigentlich sucht und selten findet. Der Tourist ist für den Erzähler eine höchst ärgerliche Herdenfigur der Globalisierung, grundsätzlich miserabel gekleidet, respektlos, infantil und gierig; kurzum ein Mensch, der eigentlich nichts anderes tut, als zum Absaufen von Venedig und dem Verlust von Authenzität beizutragen, von der Kunst, die er sich anschaut, keine Ahnung zu haben, und den Einheimischen saumselig im Weg zu stehen.

Man sieht sich die Mona Lisa in echt an, weil man die Erfahrung machen will, die Mona Lisa in echt gesehen zu haben. Walter Benjamin nennt das die Aura des Kunstwerks. Nicht das Kunstwerk selbst ist der Sinn und Zweck seiner Betrachtung, sondern die Erfahrung von dessen Nähe, am besten besiegelt mit einem Foto oder einem Selfie. Der Besuch der Mona Lisa im Louvre führt zu keinen tieferen Einsichten, zu keinem ästhetischen Genuss oder Vergnügen, auch gerührt ist man nicht durch den Anblick, sondern man ärgert sich nur über die anderen Touristen. […] Wir wollen uns das berühmte Kunstwerk für einen Moment durch unsere Anwesenheit aneignen. Das ist der einzige Zweck  hinter dem Besuch. Dann machen wir auf unserer Liste ein Häkchen. Wir können sagen, wir haben die Mona Lisa gesehen. (S. 108)

Und wenn Europa so sehr an der angeblich idealen Vergangenheit klebe und keine Vision einer Zukunft entwickele, könne es auch nicht angemessen auf die Ankunft von Flüchtlingen reagieren, die vor allem an der Zukunft interessiert sind. Dabei stellten gerade sie eine Chance für den alten und müden Kontinent dar.

Es ist großes Kino, wie leicht Pfeijffer diese verschiedenen Stränge miteinander verknüpft. Die Figuren sind in aller Überzeichnung so lebensecht, die Beschreibungen und Dialoge so bissig auf den Punkt gebracht, dass ich mich mit Freude – jedenfalls fast immer – durch die Seiten gepflügt habe.

Eine Erzählstimme, die mal missmutig, snobistisch, gelehrt, melancholisch, dann wieder polemisch, zynisch, boshaft, dozierend, selbstironisch, urkomisch und auch ein bisschen arrogant und größenwahnsinnig ist.

Vor allem aber wird man danach die Austauschbarkeit der meisten Hotelzimmer und die immergleichen Plastik-Souvenirshops kaum noch ertragen, niemals Backwaren mit Nutella in Amsterdam kaufen und vermutlich nie wieder so auf Reisen gehen wie zuvor.

Und man wird eine Ahnung, eine Idee von Europa bekommen, die erstrebenswert, wunderschön, idealistisch-verklärt und gleichzeitig utopisch ist und für die es doch, wenn man dem Ich-Erzähler glaubt, vielleicht schon zu spät ist.

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Pieter Steinz: Der Sinn des Lesens (OA 2015)

Anscheinend war der niederländische Originaltitel Lezen met ALS. Literatuur als levensbehoefte dem Reclam Verlag nicht schmissig genug, dabei ist er präziser und schickt die Leser nicht so in die Irre wie der deutsche Titel.

Denn es geht weniger um den Sinn des Lesens, sondern darum, dass der an ALS erkrankte Pieter Steinz, umtriebiger Journalist, Autor zahlreicher Werke und eine Instanz der niederländischen Literatur, seine noch verbleibende Zeit zwischen Diagnose und Lebensende u. a. den Menschen und Bedürfnissen widmen wollte, die ihm wertvoll waren. Und eines dieser Lebensbedürfnisse war die Literatur.

Für mich waren meine kleinen Essays in erster Linie ein guter Grund, um noch einmal eine Reihe meiner Lieblingsbücher lesen zu können. Außerdem bot das Schreiben eine wunderbare Möglichkeit, meinen körperlichen Verfall und den dazugehörigen Marsch durch die medizinischen Institutionen mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Das Buch, das so entstanden ist, gibt vielleicht keine definitive Antwort auf die Frage, ob Literatur in schwierigen Situationen Trost bieten kann, für mich hat sich auf jeden Fall erwiesen, dass zumindest das Schreiben über Literatur sehr tröstlich ist. (S. 8)

Und so stellt Steinz (1963 – 2016) in diesen anrührenden, traurigen, witzigen, selbstironischen kurzen Texten 52 Bücher und Textausschnitte in Bezug zu seiner Krankheit, deren körperliche Verwüstungen er nicht unter den Teppich kehrt und von der er weiß, dass er an ihr sterben wird.

Die Bandbreite der angesprochenen Bücher reicht dabei von Karlsson vom Dach bis Sokrates, von Autoren, die bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden, bis zu Thoreau, Orwell, Oblomow und Dem Grafen von Monte Christo.

Hier schreibt einer hinreißend klug, dankbar und unsentimental über sein Leben, seine Ehefrau, seine Bücher, über die Folgen seiner Krankheit und unsere Endlichkeit. Wenn man am Ende des Buches angelangt ist, kann man gleich wieder von vorn beginnen, um von Steinz zu lernen.

Natürlich, niemand möchte sterben. Wenn man glücklich ist, möchte man ewig weiterleben, so wie man auch möchte, dass ein tolles Buch niemals aufhört und ein perfekter Urlaub endlos weitergeht.  Aber sterben muss man trotzdem, und vielleicht ist es besser, dass es geschieht, wenn man mitten im Leben steht und umgeben ist von seinen Liebsten, als wenn man alt und pflegebedürftig ist und seine Tage in Einsamkeit verbringt. Mein Bestreben ist es, meine Augen zufrieden zu schließen und mich so dem Glücksideal von Solon und Herodot anzunähern. (S. 60)

Den Hinweis auf dieses faszinierende Buch verdanke ich der Besprechung auf Peter liest.

 

Gerbrand Bakker: Jasper und sein Knecht (2016)

Warum liest man das? Was hält einen bei der Stange, warum ist es so unglaublich spannend, diesem keineswegs immer sympathischen Menschen in feinste Verästelungen seines Lebens zu folgen?

Nachdem ich  Der Umweg und Juni gekünstelt, leblos und langweilig fand,  war ich mit Bakker eigentlich durch, doch dank des Grauen Sofas habe ich noch einmal einen Versuch gestartet, zum Glück, denn dieses Buch lohnt die Lektüre, auch dann, wenn man keinen Hund hat. Auch dann, wenn man sich kein bisschen für die von Bakker favorisierte Unterhosenmarke interessiert.

Doch zunächst zum Inhalt, dabei ist es gar nicht so einfach, etwas über die tagebuchartigen Aufzeichnungen, Erinnerungen, Gedanken und Ausschnitte aus älteren Texten des bekannten niederländischen Schriftstellers Bakker (*1962) zu sagen, mit denen er sich 2015 sortieren und auf die Spur kommen wollte.

Da geht es beispielsweise um stundenlange Spaziergänge mit Jasper, einem Straßenhund aus Griechenland, und um Bakkers Hoffnung, ihn langsam an sich zu gewöhnen, allerdings wird der Hund immer wieder ausreißen und erst nach Stunden nach Hause kommen.

Dann befinden wir uns plötzlich in seiner Studienzeit, die Bakker als grauenhaft in Erinnerung hat, sie war geprägt von einer nicht diagnostizierten Depression und seinen Bemühungen, niemanden merken zu lassen, wie dreckig es ihm ging.

Doch ich rempelte mich durch. Immer vorwärts, weil es rückwärts nun einmal nicht geht. (S. 301)

Er erzählt von seinem beruflichem Werdegang, u. a. ist er ausgebildeter Gärtner, seiner Begeisterung für den Eisschnelllauf und berichtet durchaus selbstironisch aus seinem Alltag als berühmter Schriftsteller.

Das Schöne an solchen Rezensionen ist, dass ich letzte Woche zu Dolf Verroen sagen konnte: ‚Ist dir eigentlich bewusst, dass einer der größten lebenden Autoren der Welt dir selbstlos beim Umzug hilft?!‘ (S. 310)

Lesungen beispielsweise sind ihm ein Graus, vor allem, wenn er den ZuhörerInnen in der Pause oder am Ende nicht schnell genug entfliehen kann. Lob und Komplimente setzen ihn eher unter Druck, doch Kritik setzt ihm genauso zu.

‚Wenn ich noch einmal einen Roman schreibe, tue ich es für mich selbst‘, steht weiter oben, als hätte ich meine bisherigen Bücher für ‚den Leser‘ geschrieben. Das ist Unsinn, ich habe es immer für mich selbst getan. Es waren Versuche, die Welt um mich herum zu begreifen, herauszufinden, welchen Platz ich darin einnehme. Vielleicht liegt hier die Ursache jener Unempfänglichkeit für Lob, sobald jemand etwas Positives über mein Werk sagt; vielleicht denke ich deshalb: Was weißt du denn? Das muss ich schon selbst beurteilen. (S. 75)

Es geht um Literaturpreisempfänge, das vom Künstler zu gestaltende Verhältnis zwischen dem Geschriebenen und dem tatsächlich Passierten, um seine Flugangst, seine Großeltern und den Verlust des kleinen Bruders, der mit zwei Jahren ertrank. Und um seine Eltern, die irgendwie damit zurande kommen müssen, dass hin und wieder Bakker-LeserInnen bei ihnen im Vorgarten stehen oder sie sehr Privates über sich in seinen Zeitungskolumnen lesen, während sie gleichzeitig stolz auf seine Erfolge sind.

Wir lesen von den ständigen Wechseln zwischen seiner Wohnung in Amsterdam und seinem 2012 erworbenen Hof in der Eifel, der immer noch einiges an Renovierungsarbeiten erfordert. Das alles wird nicht einfacher dadurch, dass Bakker keinen Führerschein besitzt und deshalb ständig auf hilfsbereite Nachbarn, Geschwister und Freunde angewiesen ist.

Bakker weiß um die Notwendigkeit, mit unserem Alleinsein umgehen zu müssen.

Niemals ist man deckungsgleich mit einem anderen, auch nicht in der Liebe: Letztendlich ist man immer allein und wird einen anderen nie wirklich verstehen und ergründen. (S. 262)

Er stellt sich deshalb gerne vor, wo die Menschen sind, die in seiner Welt eine Rolle spielen.

Die großen Ferien fand ich sowieso schrecklich, immer fuhren alle weg. Ich dagegen wollte, dass alles für alle Zeit unverändert blieb und dass Menschen da waren, wo ich sie erwartete. In Phasen, in denen ich es schwer hatte […], stellte ich mir im Bett oft vor, wo jeder Einzelne war. […] Ich hatte auch die Angewohnheit, meine Freunde zu zählen. Das beruhigte mich. Überblick und Sicherheit; ein fester Ort für jeden; und ich selbst, unter anderem deshalb, ebenfalls an einem festen Ort. Eine Konstellation, die Sicherheit gibt, so wie man – entsprechendes Interesse vorausgesetzt – Trost oder Ruhe in dem Gedanken finden kann, dass alle Sterne ihren festen Platz und alle Planeten ihre feste Bahn haben. Ich kenne gern die Häuser oder Wohnungen der Menschen, mit denen ich zu tun habe. Dann kann ich sie mir irgendwo vorstellen, ist alles weniger abstrakt. (S. 277)

Ein wichtiges Thema, neben seinem Hund Jasper, ist der Umgang mit seiner Depression, die erst sehr spät diagnostiziert wurde und mit der er sich schon seit Studienzeiten arrangieren muss. In Kombination mit seiner Homosexualität und grandiosen Unfähigkeit zur Nähe – von tiefergehenden, langfristigen Beziehungen erfahren wir so gut wie nichts – hat ihn das zu der Überzeugung gebracht, dass es besser ist, wenn er allein lebt. Andere Menschen strengen ihn an, überfordern ihn mit der Menge an Eindrücken, die dann zu verarbeiten sind. Er sei ein Mensch „mit einer sehr ausführlichen Gebrauchsanweisung (…), in der ganze Abschnitte auf Chinesisch geschrieben sind.“ (S. 58)

Eine Depression macht egoistisch, macht den Umgang mit Menschen zum Problem, wirkliches Interesse für jemand anderen oder Empathie zu empfinden ist schwierig, die eigenen Gefühle zu ergründen unmöglich, da man sie ja gerade auf Distanz halten will. ‚Unverträglich‘, hatte Klassenlehrer van Dijk in mehreren meiner Zeugnisse vermerkt. (S. 104)

Es ist wohl vor allem diese radikale Ehrlichkeit, mit der sich da einer durchleuchtet und versucht, Klarheit über sich und sein Tun, seine Grenzen, sein Sein zu finden, die mich hier fasziniert. Und dies keineswegs larmoyant oder anklagend. Oft ironisch, oft im Understatement. Würden wir uns nicht auch gern so gut kennen und halbwegs Frieden mit uns geschlossen haben?

Sabine Brandt hat in der FAZ geschrieben, dass sich Bakker in Menschenseelen auskenne; nach dem Lesen dieser Aufzeichnungen frage ich mich allerdings, ob es nicht vor allem die eigene Seele ist, in der sich Bakker auskennt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass mir von seinen Romanen Oben ist es still am besten gefallen hat.

Auch in Jasper und sein Knecht gibt es diesen feinen, knochentrockenen Humor, da geraten ihm die Aufzeichnungen zu seinen kaputten Zähnen bzw. seinen fürchterlichen Zahnarztbesuchen zu Eintragungen, bei denen einem kurz der Atem stockt. Oder man denke an die lakonischen Einblicke ins ganz normale Familienleben:

Gestern hat meine Mutter […] ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert. Mit einem Brunch bei Van der Valk in Wieringerwerf. Alles ging gut, niemand trank zu viel, niemand musste sich übergeben, es gab keinen Streit. (S. 22)

Beim Epilog, der dramaturgisch noch einmal ganz wichtig wird, möchte ich den Leser sehen, dem das nicht nahegeht. Und dazu immer wieder traumwandlerisch gute Sätze, die man sich aufs Kissen sticken möchte.

Wenn man einen Ozean von Giersch beseitigen will, weiß man nicht, wo man anfangen soll, in einem deutlich eingegrenzten Rechteck ist die Aufgabe zu bewältigen. (S. 137)

Und überhaupt:

Dass so etwas möglich ist, dass ein Mensch einfach immer weiterlebt, hinter sich eine immer längere Spur aus Augenblicken, Ereignissen, Fotos, toten Großeltern, Eltern, Brüdern und Schwestern, Freunden, Selbstmördern […]; immer wieder Weihnachten und immer wieder ein neuer 1. Januar; neue Badezimmer, neue Dachgauben, so vieles neu und anders, und nach zehn Jahren ist es schon wieder alt und normal, und alle machen ganz unbekümmert weiter. (S. 423)

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Geert Mak: Amsterdam: A brief life of the city (1994)

The people who lived through Amsterdam’s history have vanished. Nobody can tell their stories; nevertheless, dumb witnesses to what happened still exist in their thousands. Time and again small fragments are released from this silent archive. Beneath the foundations of an old house in the Warmoesstraat, next to the red-light district of the Oudekerksplein, building workers found a barely deteriorated layer of fourteenth-century cow dung and straw, and a pair of bone skates, remnants of the time when the Warmoesstraat was still a dyke, and Amsterdam a little village on the IJ. […] Again, by the Herengracht, […] excavations for a new bank laid bare a bizarre combination of objects: the lower beams of an old mill; a silver medallion bearing a rose-shaped cameo; several skeletons in almost totally disintegrated coffins; a horn ointment press; smelling bottles […] a mediaval stone wall lamp; a single lady’s shoe. The builders had chanced upon the site of the provisional pesthouse from the seventeenth century; a place where thousands of victims of the Black Death spent their last days.

Mit diesem Zitat von Seite 1/2 bekommen wir schon einen guten Eindruck von dem wunderbaren Reiseführer in die Geschichte und Kultur Amsterdams von Geert Mak.

Die englischsprachige Übersetzung stammt von Philipp Blom. Die deutsche Ausgabe mit dem Titel Amsterdam: Biografie einer Stadt, übersetzt von Isabelle de Keghel, erschien im btb Verlag.

Mak, der mich schon mit Das Jahrhundert meines Vaters begeistert hat, zeichnet hier auf 338 Seiten die Entwicklung Amsterdams nach. Dazu benutzt er u. a. Tagebuchaufzeichnungen eines Mönchs aus dem 16. Jahrhundert, archäologische Funde, Recherchen in Archiven und Interviews.

Er geht ein auf die Anfänge als kleines Dorf:

When all is said and done, Amsterdam was an impossible city. Everything that was built sank into the mud, especially in later centuries when the harbour could only be reached by a complicated route made more difficult by sandbanks and headwinds. (S. 20)

Wir erleben die Bedeutung der Religion in der Stadt und den allmählichen Siegeszug der Reformation:

In the year 1500, Amsterdam had no fewer than 20 convents and monasteries, roughly one for every 500 inhabitants. (S. 44)

Und dieses Dorf steigt zu einer europäischen Großmacht auf, die die Meere und den Handel, u. a. mit Sklaven, beherrscht, sodass man das 17. Jahrhundert als das Goldene Zeitalter bezeichnet, in der die Künste florierten. Es geht um die Entdeckung neuer Handelsrouten und darum, dass nur ein Bruchteil der Schiffsmannschaften wieder heil nach Hause kam.

One in ten deck hands would not even survive the outward-bound journey. One in every 25 ships would sink on its way back from the West Indies. Of the 671,000 men who travelled out from Amsterdam, only 266,000 were to return. (S. 161)

Er beleuchtet die spezifische Regierungsform der alten Kaufmanns- und Handelsstadt, das lärmige und internationale Treiben am Hafen, die kriegerischen Auseinandersetzungen, in die die Stadt verwickelt war, das (grauenhaft brutale) Strafsystem im Mittelalter, die Lebensbedingungen der einfachen Leute und die entsetzlichen Hungerwinter, in denen die Grachten zufroren, die Stadt deshalb kein sauberes Trinkwasser mehr hatte und Menschen in ihren Häusern oder auf den Straßen erfroren.

Mak beschäftigt sich mit Architektur und Transport:

The building of the Central Station was the largest construction project in nineteenth-century Amsterdam, and the city’s greatest planning blunder ever. (S. 207)

Doch auch Wirtschaft, Politik, die Entstehung der Grachtenlandschaft und die Mentalität der Bewohner wird unter die Lupe genommen. Wir erfahren, warum Rembrandt ein Armengrab bekam und dass besondere Tulpenzwiebeln wie die der Semper Augustus schon mal so viel wie ein großes Haus samt Garten kosten konnten.

Famously, in 1636, the trading index of tulip bulbs had rocketed in Amsterdam and throughout the rest of Holland. (S. 154)

Wir erfahren etwas über die relative Toleranz gegenüber Andersgläubigen, den Aufstieg des Schiffsbaus, die Rolle der jüdischen Einwohner, die Besetzung durch Nazi-Deutschland, die unvorstellbaren Gräueltaten der Besetzer. Dabei setzt sich Mak auch mit der Kollaboration seiner Landsleute auseinander.

Die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen im Nachkriegsholland kommen ebenfalls zur Sprache bis hin zu den anarchistischen Ausschreitungen bei der Hochzeit der späteren Königin Beatrix.

Fazit

Zwar hätte ich mir eine üppigere Illustration gewünscht, die sich hier ja wirklich angeboten hätte, dennoch:

Ein tolles Buch, allen zur Vorbereitung oder Nachbereitung einer Reise nach Amsterdam dringend empfohlen! Mak schafft es, übersprudelnd informativ und gleichzeitig unterhaltsam, spannend und interessant zu schreiben, da er immer ganz dicht am Leben der Menschen bleibt. Da finden sich dann so nette Passagen wie die folgende:

This specialization of trades [im 14. Jahrhundert] must have had momentous consequences, especially for women. Until the thirteenth century, they ground the grain by hand at home, made bread, wove garments and baked pots in the fire. By the end of the twelfth century, however, looms and potteries were beginning to be introduced, and soon these female tasks were taken over by male weavers and potters. This transition is clear from fingerprints found on earthenware dating from this time. With the help of fingerprint experts from the municipal police, Amsterdam city archaelogists were able to establish that the earliest pieces of earthenware were almost always handmade by women. Later, however, the pieces show the prints of men’s fingers. (S. 26)

IMG_0496Gemälde aus dem Het Scheepvaartmuseum in Amsterdam

Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau (OA 2013)

Ich gehe über den Styx und packe ein: eine Tube Zahnpasta (kleiner Scherz am Rande) …

Obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir sehr gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße. Mich zu dieser entwürdigenden Aktion zu erniedrigen ist wahrlich die unangenehmste Konsequenz des ziemlich verrückten Wegs, den ich auf meine alten Tage gewählt habe. Doch ich würde das Pflegepersonal misstrauisch machen, wenn ich mein Nachtzeug unbeschmutzt ließe.

So beginnt der Roman des flämischen Schriftstellers

Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau (2014)

Die Originalversion erschien 2013 und wurde von Rainer Kersten ins Deutsche übersetzt.

Zum Inhalt

Der über siebzigjährige ehemalige Bibliothekar Désiré Cordier erträgt die Vorstellung nicht, Garten und Eigenheim aufzugeben, um mit seiner nervtötenden Gattin in eine kleine und pflegeleichtere Stadtwohnung zu ziehen. Denn dort wäre es noch viel schwieriger, einander aus dem Weg zu gehen.

Ich reagiere schon lange nicht mehr auf die endlosen Tiraden meiner Frau; einer von vielen, möglicherweise Millionen schweigender Männer, die sich gegen die Launen ihrer Gattin mit einem Panzer von Gleichgültigkeit wappnen. Jahrelange Übung hat mich das gekostet. […] Gegen ihre Giftigkeit bot ich meine Gleichgültigkeit auf. Störrisch gruben wir uns in unsere Stellungen ein und wurden zusammen unromantisch alt, überlebten sogar befreundete Paare, die wirklich liebevoll miteinander umgegangen waren. (S. 16/17)

Also erarbeitet er sich zielstrebig die Einweisung in ein Altenpflegeheim. Er macht einen auf dement und hat diebische Freude daran, es mal so richtig krachen zu lassen und sich damit an seiner Frau zu rächen für all ihre Gemeinheiten, Bevormundungen und Taktlosigkeiten. Statt des Kuchens bringt er zum Nachmittagskaffee einen Toaster mit aus der Stadt, beim Einkaufen „vergisst“ er in einer Boutique zu zahlen und wird zur Schmach seiner Frau von der Polizei nach Hause eskortiert. Und er „erkennt“ schließlich weder Frau noch Kinder.

Er erreicht sein Ziel und kann nun Pflegenotstand und Trostlosigkeit im Heim am eigenen Leib erleben. Wie alte Menschen nur noch ein „Sack Knochen“ sind, niemand Zeit für sie hat, mit ihnen wie Kindern geredet wird, ihnen jegliche Persönlichkeit abhanden kommt.

Die Hauptbeschäftigung eines Demenzkranken ist Flüchten. Immer und überall will, muss er davon. Aus diesem Grund hat man im Garten unseres Heims eine Bushaltestelle gebaut. Reiner Schwindel natürlich. Ich meine: Nie wird dort ein Bus abfahren oder anhalten. Doch die Haltestelle ist eine perfekte Kopie, komplett mit Wartehäuschen und Sitzen, aushängendem Fahrplan und Informationen, für die sich übrigens kein Heiminsasse interessiert, die das Ganze aber besonders glaubwürdig machen. […] Seit diese Geisterhaltestelle im Garten von Winterlicht steht, müssen die Pfleger weniger Zeit mit der Suche nach ausgebüchsten Patienten verplempern. (S. 60)

Sogar seine Jugendliebe trifft er dort wieder, doch sie erkennt ohnehin niemanden mehr. Er – geistig noch hellwach und beieinander – erzählt uns nun von seinen Tagen im Heim, seiner Ehe, den Besuchen seiner Tochter. Letztlich ist das natürlich alles die Vorbereitung auf den finalen Abschied, den er sich ebenfalls nicht aus der Hand nehmen lassen will.

Was steht noch auf dem Wagen, dem letzten, der zu uns ins Zimmer gerollt wird? Die berühmten Swash-Tücher natürlich, dazu bestimmt, die sterblichen Überreste zu säubern, ohne die Talgschicht der Haut anzugreifen. Nur der Schambereich wird mit Seife gewaschen, damit die Leichenfeier nicht geruchsbedingt auf einem Fischmarkt stattfinden muss.  (S. 126)

Fazit

Schade, hier gibt es einen Plot, der wirklich nicht für mehr als die 140 Seiten gereicht hätte, die Grundidee hat’s nicht so mit der Logik. Wer würde sich bei halbwegs guter Gesundheit freiwillig den ganzen Tag vor sich hinstierend in einen Rollstuhl setzen und sich vorsätzlich in die Hose machen?

Warum hat er seine Frau nicht vor Jahrzehnten verlassen? Warum hat er pantoffelheldenhaft all ihre Demütigungen ertragen?

Zum Glück habe ich wenigstens schon früher – und ohne Monieks Wissen – testamentarisch festlegen lassen, dass es mir absolut wurst ist, wo meine sterblichen Überreste mal hinkommen, Hauptsache, nicht neben sie. Lange genug haben sie und ich wie zwei Leichen nebeneinander gelegen, dass wir das nicht auch noch im Tod fortsetzen müssen. (S. 89)

Wie schafft er es fast ungerührt, seiner Tochter in die Augen zu schauen, die so traurig über ihren angeblich dementen Vater ist, und ihr weiter dieses Schauspiel vorzumachen? Letztendlich ist Cordier gar nichts wirklich wichtig. Nichts freut ihn oder macht ihn dankbar. Er ist ein Zyniker, der sein Leben als verfehlt ansieht, ohne dem näher auf den Grund zu gehen. Ohne Pause kreist er nur um sich und verschwendet keinen Gedanken daran, dass er auch etwas für andere sein oder tun könnte.

Dennoch hat Verhulst hier einen Ich-Erzähler geschaffen, der so schnoddrig ehrlich von einer völlig verpatzten Ehe erzählt, Missstände des Alterns offenlegt und dem Sterben geradezu pietätlos entgegensieht, dass es immer wieder Stellen gab, die mich zumindest ein bisschen mit dem Buch versöhnt  haben.

Ich musste einen Moment nicht aufgepasst haben – unversehens war ich alt. (S. 65)

Anmerkungen

Hier geht es lang zu den Besprechungen bei der Bücherphilosophin, bei Literatwo,  beim Durchleser und bei der Literaturwelt.

Gerbrand Bakker: Der Umweg (OA 2010)

An einem frühen Morgen sah sie die Dachse. Sie liefen an dem Steinkreis herum, den sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte und gern einmal bei Tagesanbruch sehen wollte. Dachse hatte sie sich immer als friedliche, ein wenig träge und scheue Wesen vorgestellt, aber hier wurde gekämpft und gefaucht. Als die Tiere sie bemerkten, verschwanden sie ohne Hast zwischen den blühenden Stechginstersträuchern.

Mit diesen Sätzen beginnt der dritte Roman des Niederländers Gerbrand Bakker mit dem Titel Der Umweg von 2010. Die deutsche Übersetzung von Andreas Ecke erschien 2012.

So beeeindruckt ich von seinem ersten Roman Oben ist es still war, so enttäuscht war ich von seinem zweiten Roman Juni.  Der Umweg lässt mich jetzt nur noch irritiert zurück.

„Sie“, deren Namen wir erst auf den letzten Seiten erfahren, hat ihre Stelle als Literaturdozentin an der Amsterdamer Universität verloren. Kurz danach fährt sie ziellos von zu Hause fort, landet eher zufällig in Großbritannien und mietet ein Haus mitten in der walisischen Pampa. Ein paar Kühe und zehn Gänse sind ihre Nachbarn. Dort will sie ihre Ruhe haben und vielleicht an ihrer Dissertation zu der Dichterin Emily Dickinson arbeiten. Ihr Handy hat sie absichtlich auf der Fähre liegenlassen, damit man ihr nicht auf die Spur kommen kann. Wir ahnen rasch, dass es ihr gesundheitlich nicht gut geht. Die Menge der Schmerztabletten, die sie einnimmt, steigt allmählich an.

Irgendwann kommt ein junger Hiker an ihrem Haus vorbei, er will eigentlich die Route eines Wanderweges ausarbeiten, doch stattdessen quartiert er sich bei der eigenbrötlerischen Frau ein. Er kümmert sich um sie, kocht, kauft ein, erledigt Gartenarbeiten, ja, und man kommt sich auch sonst näher.

Andreas Schäfer  schreibt dazu im Tagesspiegel vom 25. März 2012:

Es ist schon rührend, wie die beiden, die nichts von sich erzählen, sich aneinander klammern, als kennten sie sich lange – aber glaubhaft ist diese Beziehung nicht. Denn der Junge ist unwirklich wie eine Einbildung, schleicht auf seinen Sportsocken wie ein herbei gewünschter Engel durch die Räume, und auch Agnes bleibt für ihn eher ein Gespenst. Statt zu sprechen, seufzt sie „Ach!“, außerdem verschweigt sie ihren wirklichen Namen und nennt sich Emily, nach der Dichterin Emily Dickinson, über die sie promoviert.

Parallel dazu gibt es einen zweiten Handlungsstrang: Ihr Mann, der ihr Fortgehen zunächst so hingenommen hatte, erfährt etwas, das ihn dazu bewegt, doch einen Privatdetektiv zu beauftragen, der ihren Aufenthaltsort ermitteln soll, so dass er ihr folgen kann.

Fazit

Es gibt Gemeinsamkeiten im Bakkerschen Literaturkosmos: Alle Romane spielen auf dem Land und die Protagonisten sind grundsätzlich nicht fähig oder willens, die sie existenziell betreffenden Fragen anzusprechen. Agnes ist ausgesprochen spröde, will niemanden mehr an sich heranlassen, und auch zu ihren Gedanken erhalten wir nur sehr spärlichen Zugang. Die Leserin, der Leser muss sich anhand der äußeren Handlung überlegen, was wohl in der Frau vorgeht und was sie antreibt. Eine Literaturdozentin, die nicht kommunizieren will oder kann und dem Mann und den Eltern – Freunde werden erst gar nicht erwähnt – nicht mitteilt, wo sie ist. Einfach abhaut, ein nettes Haus mietet, Geld anscheinend kein Problem. Das war für mich von vornherein nicht stimmig bzw. nicht nachvollziehbar.

Egal, wo man hinschaut, in diesem Roman wird man von Ödnis und Sprachlosigkeit umfangen. Das hat Blogger Tony auf Tony’s Book World dazu inspiriert, die neue Romankategorie „gorse novel“ (Ginsterroman) zu kreieren. Köstlich, ein Ginsterroman muss nämlich vier Kritierien erfüllen:

 1. A Gorse Novel takes place in an isolated rural area where the people are few and far between.  But these lonely souls make up for their sparseness with all of their eccentricities.

 2. These folks in a Gorse Novel are necessarily very close to nature, and the novel will contain elaborate descriptions of the birds, the other wildlife, the plants, or the weather that will usually put all but the most dedicated readers to restful sleep.

 3. People in a Gorse Novel don’t say much, and when they do, it is only in a few short words which are supposed to be Greatly Significant.  So when a character says “Storm’s a coming”, it means much more than that a storm is approaching.

 4. Nothing much happens in a Gorse Novel.  There is an eerie sense of quiet and calm, so finally when some tiny event happens like an itch or a cough, it seems as momentous as an earthquake.

Als fünftes Kriterium könnte man vielleicht noch ergänzen, dass eine Einsamkeit zelebriert werden muss, die einen frösteln macht.

Letztlich negiert das Buch – zumindest für die Hauptperson – jede Möglichkeit auf Gemeinschaft. Auch die Beziehung zu dem jungen Bradwen funktioniert ja nicht auf Augenhöhe. Ihre Begegnungen mit den Dorfbewohnern, dem Arzt, der sie nach einem Dachsbiss behandelt und ihr Schlaftabletten verschreiben soll, muten immer bedrohlicher an.

… und weil die Hauptfigur klärende Erinnerung verweigert, wird die Umwelt im Zustand der Verdrängung ein unheimlicher Projektionsraum, in dem sich Sehnsüchte und Ängste spiegeln. (Andreas Schäfer)

Ich kann mir einfach keine Frau vorstellen, die sich gerade noch auf ihre Fruchtbarkeit hat untersuchen lassen, um dann kurze Zeit später dem Ehemann nicht einmal mitzuteilen, was sie bedrängt, und einfach „weggeht“. Der Erzähler gibt uns außerdem den aufdringlichen Hinweis auf eine Katze, die auch einfach weggehe, wenn sie spürt, dass ihre Zeit gekommen sei.

Allerdings macht die Frau durchaus eine Entwicklung in dem Sinne durch, dass sie sich innerlich komplett von ihrem bisherigen Leben und Beziehungen lossagt. Schließlich verschwindet sogar das Heimweh bzw. die Wehmut, wenn sie an ihre Vergangenheit denkt. Ihr wird immer klarer, was sie eigentlich will, und sie wird es auch in die Tat umsetzen.

Sie ging noch ein Stück weiter, der Hohlweg stieg leicht an. Nach vielleicht zehn Minuten kam sie zu einer T-Gabelung, und dort sah sie zum ersten Mal den Berg. In diesem Moment wurde ihr klar, wie weit die Landschaft hinter ihrem Haus war und wie klein sie ihren Raum gehalten hatte. (S. 19)

Der Der Umweg und ich sind keine Freunde geworden. Auch die Art, in der das Ende der Handlung gestaltet ist, fand ich mehr als befremdlich. Gekünstelt. Da hat es auch nicht mehr geholfen, dass Bakkers Sprache ab und zu zu wahrer Meisterschaft auflief:

Das zähe Fließen des Bachs trug sie fort, ihr Denken dehnte sich, jeden Moment würde sie einschlafen. Sie hatte gerade noch genug Zeit für den Gedanken, wie angenehm es war zu schlafen. So von allem gelöst. So frei von den Dingen, über die der wache Mensch sich den Kopf zerbricht, vor denen er Angst hat, denen er mit Schrecken entgegensieht. (S. 159)

Wer sich die ersten drei Seiten vorlesen lassen möchte, klicke hier den Kanal von „Drei Erste Seiten“ an.

Lesemond und Syn-ästhetisch konnten dem Buch jedoch wesentlich mehr abgewinnen. Auch im Guardian wurde der Roman sehr positiv besprochen und die englische Übersetzung steht auf der Shortlist für den Independent Foreign Fiction Prize 2013. Und sehr gern weise ich auf eine einfühlsame Besprechung auf dem Grauen Sofa hin.

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Gerbrand Bakker: Juni (OA 2009)

„Gleich kommt Slootdorp“, sagt der Chauffeur. „Dort übernimmt Sie ein neuer Bürgermeister.“
Sie schaut hinaus. Rechts und links breite Streifen Weide- und Ackerland, deren Ende nicht zu sehen ist. Hier und da ein klobiger Bauernhof mit rotem Ziegeldach. Zum Glück regnet es nicht.

So beginnt Juni (2009) von Gerbrand Bakker, einer der für mich enttäuschendsten Romane, die ich seit langem gelesen habe, auch dieses Buch von Bakker wurde wieder von Andreas Ecke übersetzt.

Hatte der Autor es in seinem Romandebüt Oben ist es still geschafft, eine unverwechselbare Stimme für seinen Ich-Erzähler zu finden, dessen Wortkargheit so gut zu seinem Wesen und seiner Geschichte passte, so passt für mich in dem zweiten Roman des Niederländers gar nichts mehr zusammen.

Dabei fängt das erste Kapitel noch vielversprechend an: Die holländische Königin Juliana besucht im Juni 1969 Dörfer im Norden Hollands und muss dabei – streng nach Protokoll – diverse Programmpunkte und Würdigungen über sich ergehen lassen, die alle nur ein Ziel zu haben scheinen: jede echte Begegnung zwischen Monarchin und Bevölkerung unmöglich zu machen. Blümchen werden überreicht, der hiesige Bäcker liefert die Brote, es gibt kleine musikalische Darbietungen. Später steht noch eine Wasserskivorführung auf dem Programm. Common Reader bemerkt dazu so nett: „Für alle ist es aufregend, außer für die Königin, die macht das nämlich dauernd.“

Doch einmal schert die Königin für einen kurzen Moment aus dem minutiös durchgetakteten Zeitplan aus: Sie geht einer jungen Mutter namens Anna Kaan, die ein bisschen verspätet zu den Feierlichkeiten kommt, ein paar Schritte entgegen und streicht deren zweijähriger Tochter Hannah dabei kurz über die Wange. Man wechselt ein paar Worte und anschließend kehrt jede wieder zurück in ihre eigene Welt.

Dann springt die Handlung in die Gegenwart, fast 40 Jahre später. Wieder ist es Sommer und wir sind auf dem allmählich verfallenden Hof der Kaans, die junge Mutter von damals hat sich kurz nach ihrer goldenen Hochzeit an diesem unerträglich heißen Tag mit Eierlikör, Wasser und ein paar Keksen auf den Heuboden verkrochen. Weder ihre drei erwachsenen Söhne, ihr Ehemann Zeeger noch ihre Enkelin Dieke können die Altbäuerin überreden herunterzukommen. Es ist nicht das erste Mal, dass Anna hier ihre Zuflucht nimmt und ihren Erinnerungen nachhängt. Auch in diesem Roman wirft dabei ein tragischer Unfall seine langen Schatten bis in die Gegenwart.

Das Ganze ist aber in meinen Augen komplett missglückt. Statt Anteil zu nehmen, bin ich gelangweilt, ertappe mich dabei, nur noch querzulesen. Die Personen wirken auf mich wie planlos durch die Gegend laufende Pappfiguren, die zufällig irgendeinen Namen tragen und geradezu klischeehaft nie über das sprechen können, was sie eigentlich bewegt.

Einzig die Enkelin scheint ab und zu zum Leben zu erwachen und sich zu wundern. Der Schwung, die Sicherheit des Erzählens, der Sog von Oben ist es still, nichts ist hier davon zu spüren. Stattdessen hölzerne, entfremdete Nebensächlichkeiten wie:

Vor und neben dem Haus liegt Rasen und stehen Bäume, hinterm Haus sind die Staudengewächse und weiter hinten noch viel mehr Bäume. (S. 43)

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Gerbrand Bakker: Oben ist es still (2006; deutsche Ausgabe 2008)

Ich habe Vater nach oben geschafft. Nachdem ich ihn auf einen Stuhl gesetzt hatte, habe ich das Bett zerlegt. Wie er auf dem Stuhl saß, erinnerte er an ein wenige Minuten altes Kalb, noch bevor es saubergeleckt ist; mit unkontrolliert wackelndem Kopf und einem Blick, der nichts festhält.

Mit diesen Sätzen beginnt der großartige und mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Roman Oben ist es still (2006) des holländischen Autors Gerbrand Bakker.

Auch beim zweiten Lesen hat mich der erste Roman für Erwachsene des 1962 geborenen Autors wieder in seinen Bann gezogen, dabei kann ich mir kaum ein ruhigeres, unaufgeregteres Buch vorstellen.

Als sein alter Vater bettlägrig wird, schafft der 55-jährige Bauer Helmer van Wonderen ihn ins Obergeschoß, bringt ihm nur widerwillig zu essen und wäscht ihn nur dann, wenn der Gestank nicht mehr auszuhalten ist. Den Arzt ruft er nicht. Die Beziehung der beiden war schon immer denkbar schlecht.

Ansonsten erzählt er uns langsam, bedächtig, ja fast pedantisch, wie er die Zimmer entrümpelt, die Dielen und Fenster streicht, alte Fotos und die Standuhr nach oben zu seinem Vater bringt, sich ein neues Bett und eine Landkarte von Dänemark anschafft und sich mit der Nachbarin und deren zwei kleinen Söhnen unterhält. Die für Helmer wesentlichen Ereignisse liegen bereits Jahrzehnte zurück und nun – auch ausgelöst durch die Umräum- und Renovierungsarbeiten – muss er immer wieder an seine Kindheit und Jugend unter der Knute seines lieblosen Vaters denken:

Mutter war eine schweigsame Frau, aber sie sah alles. Vater war derjenige, der redete. Und kaum etwas sah. Er brüllte sich durch alles durch. (S. 27)

Vor allem aber denkt er an seinen Zwillingsbruder Henk, der mit 19 bei einem Verkehrsunfall starb. Eigentlich ist er über dessen Verlust, der schon begann, als Henk sich mit Riet befreundete, nie hinweggekommen. Die Trauer wurde den Eltern und Riet, der Verlobten von Henk, zugestanden. Ihn, den Zwillingsbruder, verlor man dabei aus den Augen.  Nach dem Tode Henks befahl ihm der Vater, sein Studium in Amsterdam aufzugeben und stattdessen auf den Hof zurückzukehren. Seitdem hat er zusammen mit seinem Vater den Hof bewirtschaftet. Irgendwann fragt ihn seine Nachbarin Ada:

„Warum hast du nicht geheiratet, Helmer?“
„Was?“
„Geheiratet.“
„Dafür braucht man eine Frau“, sage ich.
„Ja, aber warum hast du die nicht?“
„Ach…“ (S. 39)

Riet schreibt ihm nun nach über 30 Jahren einen Brief, in dem sie anfragt, ob Helmer für eine Weile ihren Sohn auf dem Hof aufnimmt, damit der ein bisschen mehr Klarheit darüber gewinnt, was er eigentlich mit seinem Leben machen möchte. Der Junge, der ebenfalls Henk heißt, kommt und die beiden leben zwei Monate eher wortkarg zusammen und Henk hilft ein bisschen bei der Arbeit auf dem Hof und versorgt das Jungvieh, falls er es nicht vorzieht, morgens im Bett liegen zu bleiben. Helmers Fazit über seinen „Knecht“:

Scheint mir eigentlich ein ganz netter Kerl zu sein. Fehlt bloß die Gebrauchsanweisung. (S. 167)

Er weiß, dass er ihn vermissen wird, wenn er wieder fort ist, und lässt sich doch auf seine zurückhaltende Art auf den Kontakt ein und kauft zum Beispiel einen Fernsehapparat, weil der Junge sich sonst abends langweilt.

Wenn man etwas nicht anders kennt, weiß man nicht, was einem fehlt. Weiß ich nicht jetzt schon, daß Henk weggehen wird? Natürlich geht er weg, warum sollte er bleiben? Er hat hier nichts verloren. (S. 208)

Ich höre Henk die Treppe herunterkommen Er geht durchs Haus, scheint kurz vor der Schlafzimmertür stehenzubleiben. Dann macht er überall die Lampen aus, ich höre es an dem Weg, den er nimmt. Kurz danach geht er wieder die Treppe hinauf. Das Haus ruht. (S. 226)

Das Besondere an diesem Roman ist, dass wir nur durch die Erinnerungen an längst Vergangenes und die Schilderungen der alltäglichen Verrichtungen und Begegnungen Anteil an Helmer bekommen. Er spricht fast nie direkt seine Gefühle, seine Verletzungen an, wir sehen sie wie durch einen Spiegel. Er hat alles in sich verschlossen.

Halb elf am Vormittag. Es regnet aus niedriger Wolkendecke. […] In der Küche brennt Licht. Die krumme Esche glänzt vor Nässe, die Nebelkrähe sitzt zusammengekauert auf ihrem Ast. Hin und wieder schüttelt sie ihr Gefieder ein bißchen auf, ohne die Flügel zu spreizen. Dann ähnelt sie einem Sperling, der ein Bad in einer Pfütze auf dem Hof nimmt. Einem Riesensperling. Ich warte. Die Zeitung liegt vor mir auf dem Tisch, aber ich kann nicht lesen. Ich sitze da und starre aus dem Fenster. Die Uhr summt, oben ist alles still, in meinem Becher sind noch ein paar Schlucke kalter Kaffee. Nicht nur oben ist es still, es ist überall still, der Regen klopft leise aufs Fensterbrett, die Straße ist naß und leer. Ich bin allein, habe niemanden zum Anschmiegen. (S. 137)

Das Buch entwickelt eine Sogwirkung, eben weil einem als Leser nicht alles vorgekaut wird. Die Auswirkungen der Vergangenheit auf Helmer sind unaufdringlich glaubwürdig. Die Geschichte zeigt, wie wir so schlecht aus unserer biografischen Haut herauskönnen und damit doch einigermaßen – wenn auch beschädigt – zurechtkommen müssen. Und wie ein einsamer Mann versucht, in Würde zu leben. Im Laufe des Buches ändert sich dann auch die Qualität des Alleinseins, zur Freude des Lesers. Und man muss das Buch schon selbst lesen, um die Schlussworte in Gänze verstehen zu können.

Ich weiß, daß ich aufstehen muß, daß es in dem Gewirr von Wegen und ungepflasterten Straßen jetzt schon dunkel ist, wegen der Wäldchen aus Kiefern, Birken und Ahornbäumen. Aber ich bleibe ruhig sitzen. Ich bin allein.

Anmerkungen

Auch die Kritiker waren sehr angetan,  David Hugendick schrieb beispielsweise in der ZEIT am 22. Januar 2009:

Leben, Tod, Einsamkeit, verlorene Träume – das wurde uns zigmal schon erzählt. Bakker tut es oft so frisch, so hin- und mitreißend, als habe er die Sujets gerade erst erfunden. Er erzählt uns diese Geschichte ergreifend und unzerknautscht. Ihm gelingt die Balance zwischen sentimentalen Episoden und lakonischem Witz. Die Dialoge funkeln in der Trübe der grau grundierten Landschaft.

2010 hat Bakker für diesen Roman übrigens den mit 100.000 Euro dotierten International IMPAC Dublin Literary Award verliehen bekommen. Die Begründung der Jury findet sich hier.

Hier meine Eindrücke zu den Romanen Juni (2009) und Der Umweg (2019).