Als ich diesen polnischen Krimi gekauft habe, wollte ich mich einfach ein bisschen unterhalten lassen, zumal mir der Schauplatz – Krakau gegen Ende des 19. Jahrhunderts – reizvoll erschien. Doch dann passierten seltsame Dinge. Dass Kriminalromane mich nämlich dazu bringen, im Anschluss mit wachsender Fassungslosigkeit ein Sachbuch zu lesen, war mir zuvor noch nie passiert. Doch von vorn.
Unter dem Künstlernamen Maryla Szymiczkowa haben der Dichter, Übersetzer und Autor Jacek Dehnel (*1980) und sein Mann, der Historiker Piotr Tarczynski, inzwischen mehrere Bände um ihre Protagonistin Zofia Turbotyńska veröffentlicht.
Besagte Dame ist 38, kinderlos und Gattin eines Anatomieprofessors in Krakau. Die Handlung des zweiten Bandes, um den es hier gehen soll, beginnt Ostern 1895. Zofia ist mit der Beaufsichtigung des Haushalts unterfordert und hat dementsprechend Zeit, etwas genauer hinzuschauen, als ihre junge und hübsche Zofe Karolina aus heiterem Himmel ihre Kündigung einreicht, spurlos verschwindet und am nächsten Tag ermordet aufgefunden wird.
Die Polizei gibt sich rasch mit Erklärungen zufrieden, glaubt, den Täter ausfindig gemacht zu haben, und möchte zur Tagesordnung übergehen. Zofia allerdings entdeckt immer weitere Ungereimtheiten und mithilfe ihrer Köchin Franciszka kommt sie einem Verbrechen auf die Spur, das ihre schlimmsten Träume übersteigt, und bis zur endgültigen Aufklärung des Falls lernt sie Dinge über ihre eigene Stadt, vor denen das satte Bürgertum sonst lieber fest die Augen verschließt.
Das liest sich spannend und kurzweilig. Dabei ist die Protagonistin keineswegs ein reiner Sympathieträger. Sie ist ganz Kind ihrer Zeit, unglaublich versnobt, hadert mit dem halben freien Tag pro Woche, der ihren Bediensteten zusteht, und blickt auf „niedere“, d. h. mittellose Gesellschaftsschichten herunter. Aber sie hat einen Kopf, den sie benutzt, ist schlagfertig, durchsetzungsfreudig, an der Wahrheit interessiert und weiß ihren Mann um den kleinen Finger zu wickeln. Und nichts bereitet ihr mehr Befriedigung, als wenn sie zu wichtigen gesellschaftlichen Anlässen glänzen oder dem Ansehen und der Karriere ihres Mannes etwas Gutes tun kann. Da sich für eine Frau ihrer Schicht allzu viel Aktivität und Hirn nicht schickt, müssen ihre Ermittlungen vor ihrem stockkonservativen, aber nicht unliebenswürdigen Mann möglichst geheimgehalten werden.
Diesen Krimi zeichnen drei Dinge aus: eine spannende, verschachtelte Handlung, die ihren Kern tatsächlichen historischen Umständen verdankt, einen exquisit recherchierten Schauplatz (am Ende weiß man mehr über diese Stadt und die zeitgenössischen Strömungen, als man vielleicht zunächst hätte wissen wollen). Das dritte Kennzeichen ist der gefährliche doppelte Boden für die LeserInnen.
Denn man könnte den Krimi als reine Unterhaltung lesen, doch spätestens nach der Lektüre fängt man vermutlich an zu recherchieren und dann passiert etwas, das ich in diesem Fall weder geplant noch erwartet hatte. Man weiß mehr über die schier grenzenlose Armut und Ausweglosigkeit in einem Landstrich namens Galizien, die Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts Hunderttausende in die Emigration – vor allem nach Amerika – getrieben hat.
Ins Englische wurden die Bücher übrigens von Antonia Lloyd-Jones übersetzt.
Weiterführende Literatur – und auch ohne Krimihintergrund unbedingt empfehlenswert:
Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 2013