Stephen Grosz: The Examined Life – How We Lose and Find Ourselves (2013)

Ich mag das, wenn sich für mich Fäden zwischen Büchern entwickeln, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Das ging mir so mit der Novelle Leutnant Burda (1887) von Ferdinand von Saar aus der Sammlung Requiem der Liebe und andere Novellen und den modernen Fallgeschichten des amerikanischen Psychoanalytikers Stephen Grosz, der schon lange in London lebt und arbeitet.

Leutnant Burda war eine der Erzählungen von Ferdinand von Saar, die mir besonders gefallen hatten. Ihr Inhalt sei hier kurz umrissen:

Der fast 30-jährige, gut aussehende, korrekte und beliebte Offizier Joseph Burda hält sehr auf seine äußere Erscheinung und sich, was seine Wirkung auf die Damenwelt angeht, für unwiderstehlich.

Für ihn und seine Heiratspläne beginnt das „weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse“ (S. 282), das ist – abgesehen von der Arroganz dieser Haltung – auch insofern ein Problem, da er selbst aus sehr einfachen Verhältnissen kommt. Burda lässt allerdings Nachforschungen anstellen, um nachzuweisen, der Nachfahre eines altes Adelshauses zu sein. Doch diese Hoffnungen werden sich als Luftgespinste erweisen.

Das alles hindert ihn nicht, sein Augenmerk auf eine Tochter eines der wichtigsten Fürsten am Wiener Hof zu richten. Er schickt ihr Gedichte, Blumen und beobachtet sie im Theater, interpretiert die Wahl ihrer Kleiderfarbe in seinem Sinn und deutet überhaupt alles, was er aus der Ferne von ihr sieht, hört und erfährt, als Zeichen ihrer Neigung. Ein zufälliges Vorbeifahren ihrer Kutsche ist damit quasi schon ein Versprechen auf ihre unverbrüchliche Treue.

Es war erstaunlich, wie Burda sich alles und jedes zurechtlegte. Und in der Tat, wenn er sich hinsichtlich der Gefühle, die er der Prinzessin zumutete, nicht einer vollständigen Täuschung hingab, so erschienen seine Hoffnungen, so abenteuerlich sich diese ausnahmen, nicht ohne einen gewissen Haltpunkt. (S. 303)

Weder seine Freunde noch Abgesandte des Fürsten, die ihn auffordern, sein unziemliches und lästiges Betragen einzustellen, können ihn von seiner Wahnvorstellung, dass die Prinzessin ihm gewogen sei, heilen.

Und nun zu The Examined Life – How We Lose and Find Ourselves des Psychoanalytikers Stephen Grosz (*1952), der immer wieder auch literarische Figuren zur Illustration heranzieht: Seine 31 verdichteten Fallgeschichten aus seiner über 25-jährigen Arbeit als Therapeut wurden zu einem Bestseller und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die deutsche Übertragung von Bernhard Robben erschien unter dem dämlichen Titel Die Frau, die nicht lieben wollte. 

Es geht um die Horrorszenarien, die wir uns so lebhaft ausmalen, um Ehefrauen, die sich die Untreue ihres Mannes nicht eingestehen können, um Rache, traurige Kinder und die Verdrängung nicht eingestandener Persönlichkeitsanteile, die wir dann umso rabiater bei anderen bekämpfen. Aber auch ein spätes Coming-Out sowie die langen Schatten, die unsere Kindheit auf unser erwachsenes Leben werfen kann, kommen zur Sprache oder eben – wie bei Joseph Burda – eine Form des Liebeswahns.

Grosz bezeichnet ein solches Verhalten in seinem Buch als lovesickness. Er meint damit eine auf eine andere Person gerichtete irreale Wunschvorstellung, die beispielsweise eine Frau jahrelang trotz aller anderslautenden Beweise hoffen lässt, dass sich ihr verheirateter Geliebter für sie von seiner Ehefrau trennen wird.

Dieses Kapitel How lovesickness keeps us from love zeigt exemplarisch, wie der Autor vorgeht. Er stellt sich nie über seine Klient*innen, gesteht eigenes berufliches Scheitern ein, ist unglaublich interessiert an seinen Mitmenschen und hilft geduldig, mit freundlicher Empathie und entsprechendem Sachverstand den Ursachen der jeweiligen Verhaltensweise auf den Grund zu kommen. Hier zeigt er auf, welche Konsequenzen solch eine lovesickness mit sich bringt und welche Erkenntnisschritte, welcher Schmerz ausgehalten werden müssen, damit Heilung geschehen kann.

Most of us have come down with a case of lovesickness at one time or another, suffering its fever to a greater or lesser degree. […] When we are lovesick, we feel that our emotional boundaries, the walls between us and the object of our desire, have fallen away. We feel a weighty physical longing, an ache. We believe that we are in love. (S. 110)

Doch auch das Kapitel um unsere Unwilligkeit, einen kleinen Verlust zu akzeptieren, um einer größeren Gefahr zu entgehen, illustriert anhand der Erfahrungen von Marissa Panigrosso, einer der Überlebenden des Anschlags am 11. September 2001, fand ich sehr eindrücklich. Panigrosso flüchtete sofort, nachdem klar war, dass etwas passiert war, mit dem (vorletzten) und ansonsten menschenleeren Fahrstuhl in einem der Twin Tower nach unten und brachte sich damit in Sicherheit. Andere folgten den Lautsprecheransagen, stiegen aufs Dach oder rannten zurück, um noch etwas aus ihrem Schreibtisch zu holen oder taten – gar nichts.

We don‘t want an exit if we don‘t know exactly where it is going to take us, even – or perhaps especially – in an emergency. (S. 123)

In verschiedenen Interviews erklärt Grosz, was ihn zu diesem Buch motiviert hat. Zum einen sei er erst sehr spät Vater geworden und möchte seinen Kindern etwas von seiner Sicht auf die Welt mitgeben, da man nie wissen könne, wie lange er noch Zeit mit ihnen verbringen kann. Zweitens hält er Geschichten für eine viel sinnvollere Art, Erfahrungen und Einsichten aus seiner Arbeit weiterzugeben, als rein wissenschaftliche Berichte oder gar statistische Angaben. Außerdem ist ihm bewusst:

Also, psychoanalysis requires time and money, and many people won’t be able to afford it. I wanted to set down some of the important things I’ve learned in a way that may be helpful to those who are unable to have psychoanalysis or therapy.

Was könnte die Leserin, der Leser also von diesem Buch lernen?

The first […] is that change involves loss. In fact, all change involves loss, and yet life itself is change – we are always giving up something for something else. And the point is that we lose ourselves when we try to deny those changes, when we deny that life entails loss. […]

Thereafter we mend ourselves, Grosz believes, „by repairing our relationship with the lost, by acknowledging that these were losses. We can find ourselves by facing truths about our lives and about these losses, by facing the truth about how our relationships with people really are, not how we’d like them to be.“ In other words, by truly telling our stories.

Hier geht es lang zu einem Interview mit Stephen Grosz.

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Nicole Seifert: FRAUENLITERATUR – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt (2021)

Die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert greift gleich zu Beginn ihrer lesenswerten Abhandlung ein Zitat von Margaret Atwood auf:

Könnte es sein, dass Frauen furchtlos Bücher lesen, die unter Umständen als ‚Männerromane‘ gelten könnten, während Männer immer noch glauben, ihnen fiele etwas ab, wenn sie ein paar Sekunden zu lange auf bestimmte, von Frauen sicher hinterlistig miteinander kombinierte Wörter blicken? (S. 11)

Nun, es ist längst erwiesen, Männer lesen viel viel seltener Literatur, wenn diese von Frauen verfasst wurde, während Frauen umgekehrt wesentlich seltener Berührungsängste haben. Selbst die Leserschaft weltbekannter Autorinnen wie Margaret Atwood besteht nur zu 20 % Prozent aus Männern (siehe den Artikel von MA Sieghart im Guardian). Dies Missverhältnis findet sich übrigens auch bei  Sachbüchern.

Neben dieser fehlenden Bereitschaft, Autorinnen wahrzunehmen, gibt es auch aktive Abwertung, wie sie schon in der Tatsache zum Ausdruck komme, dass es kein Äquivalent zu dem Begriff ‚Frauenliteratur‘ gibt. Seifert würde lieber von einem „weiblichen Schreiben“ sprechen, da Autorinnen über Jahrhunderte von  eingrenzenden Lebensbedingungen beeinflusst waren, daraus ergäben sich bestimmte Themen und Motive, die überdurchschnittlich oft verwendet werden:

Zum Beispiel das Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, das Eingeschlossensein im Haus und die Erwartungen, die an Frauen gestellt wurden und werden. Autorinnen beschreiben über Jahrzehnte und Jahrhunderte, wie ­Prota­gonistinnen krank werden, weil sie versuchen diese Erwartungen zu erfüllen. Und das zieht sich bis heute durch. (Interview mit der taz am 2.10.2021)

Und damit ist Seifert auch schon mitten in ihrem Thema und ich habe mich durch die verschiedenen Kapitel nur so durchgefräst.

Seifert geht den Gründen nach, wie es dazu kommen konnte, dass sich in ihrem Bücherregal lange Zeit mehr Autoren als Autorinnen getummelt haben, was man ja gern mal bei sich persönlich überprüfen kann. In diesem Zusammenhang wird untersucht, wie Autorinnen in der Geschichte behindert, lächerlich gemacht oder eingeschränkt wurden.

Wie ihre Werke anders beurteilt wurden und werden, sobald herauskam, dass eine Frau das Buch geschrieben hatte. Wie sie – bis heute – seltener im Feuilleton rezensiert werden und wie andere Maßstäbe, zum Teil gänzlich unliterarischer Art, an ihr Schreiben gestellt werden (siehe den Artikel auf der Seite des Deutschlandfunk von Samira El Quassil).

Die amerikanische Autorin Catherine Nichols 

schickte einen Probetext an Literaturagenturen – fünfzigmal mit ihrem eigenen Namen und fünfzigmal mit einem männlichen Pseudonym. Der vermeintliche Autor wurde siebzehnmal um das vollständige Manuskript gebeten, die Autorin ganze zweimal. (S. 155/156)

Zudem wird beleuchtet, wie die Inhalte ihrer Werke für Männer als uninteressant und irrelevant dargestellt wurden und werden, während die Interessen der Männer als allgemeingültig und universell verstanden werden.

Diese Linien ziehen sich bis in die Gegenwart. Man untersuche nur einmal die Leselisten für die Oberstufe oder untersuche das Geschlechterverhältnis in diversen Literaturgeschichten, Lesebiografien oder Kanones. 

Es geht aber auch u. a. um „Autorinnen und die Literaturgeschichte“, weibliches Schreiben und das fadenscheinige Argument, dass ausschließlich die Qualität darüber entscheide, ob ein Werk besprochen oder in einen Kanon aufgenommen werde.

Darüber hinaus wird in dem Kapitel „Von Klassikern und vom Vergessen“ auf weitere Beispiele und die Kanondiskussion eingegangen (Effie Briest von Fontane im Vergleich zu Aus guter Familie von Gabriele Reuter). Dazu gehört auch die Überlegung des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Todd McGowan, der die Theorie aufgestellt hat, dass Werke von Frauen, Schwarzen und PoC eigentlich nicht vergessen, sondern eher aktiv ignoriert und verdrängt wurden, da sie sich nicht „in die Weltsicht des bestehenden Kanons integrieren ließen.“ (S. 96)

… weil andernfalls eine Auseinandersetzung mit diesen Bereichen der Geschichte hätte stattfinden müssen. Und das wiederum hätte bedeutet, dass eine ethische Verantwortung hätte übernommen werden müssen. Vor dem Hintergrund der Sklaverei, der Kolonialgeschichte und der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau war der Ausschluss dieser ‚anderen‘ Stimmen demnach immer schon politisch begründet, ist die ästhetische Begründung stets eine politische. (S. 97)

Spannend – und darüber hätte ich gern noch mehr gelesen – waren auch die Ausführungen zu den historischen Wurzeln des Problems, die Ansicht, dass die Frau dem Mann grundsätzlich unterlegen und ihre natürliche Sphäre ausschließlich Haus, Hof und Kindererziehung, Gefühl und Sorge für den Ehegatten sei.

Und selbstverständlich haben auch Reich-Ranicki, Denis Scheck, Karl Ove Knausgård, Harald Martenstein und der Begriff des „Fräuleinwunders“ ihren nicht immer rühmlichen Auftritt.

Fazit: Das Buch ist erhellend, allerdings auch ein wenig deprimierend, wenn man gehofft hatte, dass wir eigentlich schon weiter wären. Aber es gibt Hoffnung. Das Problembewusstsein nimmt zu, es gibt tolle Initiativen und die Freude an Neuentdeckungen sowie an Wiederentdeckungen weiblicher Autorinnen wächst.

Meinetwegen hätte das Buch auch gern länger als die 178 Textseiten (dazu kommt ein ausführliches Quellenverzeichnis) sein dürfen. Auf einige Appelle hätte ich verzichten können und weniges ist mir – vielleicht aufgrund der Kürze – auch zu plakativ dargestellt. Als ein Beispiel dafür sei der Absatz über die einigen Trubel auslösende Besprechung von Martin Ebel zu Sally Rooneys Roman Gespräche unter Freunden genannt.  Da wird dann für die Pointe, den Vorwurf des Sexismus, eben verschwiegen, dass Ebel sich bei seiner Äußerung, dass Rooney auf einem Foto aussehe wie ein aufgescheuchtes Reh, auf die Vermarktungsmaschinerie bezog, bei der AutorInnenfotos natürlich auf eine Wirkung hin inszeniert werden.

Da scheint mir das zweite Beispiel, das Seifert aufgreift, doch wesentlich überzeugender: So schreibt – und ich reibe mir verstört die Augen – Peter Lückemeier in der FAZ allen Ernstes über Laura Karasek:

Das Gesicht mit dem Näschen, dem gepflegten Mund, den regelmäßigen Zügen hätte beinahe etwas Puppenhaftes, wären da nicht diese Augen: hellgrün und hellwach. Überhaupt scheint Laura Karasek viele Gegensätze in sich zu vereinigen. Sie sieht aus wie ein Mädchen, ist aber gerade 37 geworden und verheiratete Mutter vierjähriger Zwillinge. Sie wird manchmal für eine Spielerfrau oder Charity-Lady gehalten, schaute aber bis vor kurzem als Anwältin bei der Frankfurter Großkanzlei Clifford Chance aus dem 36. Stock auf die Frankfurter Skyline.

Hier noch einige Interviews mit der Autorin

Die Thematik ist sicherlich in einen größeren Zusammenhang eingebettet, da muss die Leserin – so sie die Zeit hat – dann noch mal selber ran. Ich denke zum Beispiel an folgende Bücher und Verlage:

Frauen in einer von Männern geprägten Welt

  • Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert (2020)
  • Evke Rulffes: Die Erfindung der Hausfrau – Geschichte einer Entwertung (2021)
  • Carel van Schaik, Kai Michel: Die Wahrheit über Eva (2020)
  • Mary Ann Sieghart: The Authority Gap (2021)
  • Deutschsprachige Verlage

Englischsprachige Verlage

Deutsch

  • Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit – Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800 (1989)
  • Stefan Bollmann: Frauen und Bücher (2013)
  • Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Literatur Geschichte – Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (1999)
  • Ruth Klüger: Frauen lesen anders (1996)
  • Isabelle Lehn: Weibliches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
  • Gerhart Söhn: Die stille Revolution der Weiber – Frauen der Aufklärung und Romantik: 30 Porträts (1998)

Englisch

  • Mary Beard: Women and Power (2017)
  • Nicola Beaumann: A Very Great Profession: The Womans’ Novel 1914-39, Persephone Books (2008)
  • Lennie Goodings: A Bite of the Apple: A Life with Books, Writers and Virago, Oxford University Press (2020)
  • Joanna Russ: How to Suppress Women‘s Writing (1983)

Anthologien 

  • Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter: 100 Autorinnen in Porträts, Piper (2021)
  • Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter: Leidenschaften: 99 Autorinnen der Weltliteratur, Bertelsmann (2009)
  • Gisela Brinker-Gabler: Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart – Gedichte – Lebensläufe (1978)
  • Lyndall Gordon: Five Women Writers who Changed the World (2017)
  • Katharina Herrmann: Dichterinnen & Denkerinnen: Frauen, die trotzdem geschrieben haben (2020)

Lesebiografien

  • Maureen Corrigan: Leave me alone, I‘m reading, Vintage Books (2005)
  • Samantha Ellis: How to be a Heroine – or what I‘ve learned from reading too much, Vintage Books (2014)
  • Deborah G. Felder: A Bookshelf of Our Own (2005)
  • Brenda Knight: Wild Women and Books (2006)
  • Nina Sankovitch: Tolstoy and the Purple Chair, Harper (2011)

Biografien und Autobiografien

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Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde: Die Praxis der Unbildung (2014)

Konrad Paul Liessmann, österreichischer Philosophieprofessor, Kulturpublizist und Österreichs „Wissenschaftler des Jahres 2006“, setzt sich in seiner Streitschrift Geisterstunde: Die Praxis der Unbildung  mit dem Begriff der Bildung auseinander, um anschließend darzulegen, dass wir gerade dabei sind, genau diese aufs Spiel zu setzen und sie in ihr Gegenteil zu verkehren.

Sein Ideal ist der Mensch, der im Sinne Kants selbstverantwortlich handelt und den Mut und die Fähigkeit hat, sich seines Verstandes zu bedienen.

Selbstverantwortung […] Die Verantwortung, die ich für mein Denken und Handeln nicht vor anderen, sondern vor mir selbst übernehme. Dies setzt voraus, dass ich mich selbst als eine Instanz begreife, die mich befragen und vor der ich mich auch verantworten kann. […] Selbstverantwortung, ernst genommen, ist eine Form der Selbstbegegnung. Es gibt allerdings ziemlich viele und vor allem gute Gründe, dieser Begegnung aus dem Weg zu gehen. (S. 117)

Das Buch dürfte vor allem für diejenigen interessant sein, die in irgendeiner Weise mit Schule, Ausbildung und Universität zu tun haben. Liessmann erklärt in seinem Vorwort:

Das aktuelle Glücksversprechen der Bildung ist ein falsches, weil es dabei weder um Bildung noch um Glück geht. Es geht, wenn überhaupt, um Abrichtung, Anpassung und Zufriedenheit durch Konsum. Was heute unter dem Titel Bildung firmiert […], ist deren Gegenteil und Karikatur, eine Phrase, eine Schimäre, eine einzige riesige Sprechblase, ein Gespenst, das nicht um Mitternacht, sondern zur besten Unterrichtszeit sein Unwesen treibt: Geisterstunde! (S. 10)

Unter anderem setzt er sich mit den gerade vom Zeitgeist angesagten heiligen Kühen der Bildungsdiskussion auseinander, den Pisa-Tests, dem Vergleichswahn und der Bologna-Reform. Alles Dinge, die seiner Meinung  nach einzig einem ideologisch aufgeheizten und unreflektierten Aktionismus entspringen und der Wirtschaft unkritische Arbeitnehmer und Konsumenten zuliefern sollen.

Er kritisiert, und wenn es nicht so traurig wäre, würde ich ihm auch hier applaudieren, die überall grassierende PowerPoint-Seuche, bei der noch die banalsten und schlichtesten Info-Häppchen per Copy-and-Paste medial ansprechend aufbereitet werden.

Auch die allgegenwärtige Kompetenzorientierung, übrigens ein Konzept, das ursprünglich aus der Wirtschaft stammt, pflückt er auseinander.

Der für die Schweiz vorgelegte „Lehrplan“ brachte es für die Grundschule auf annähernd 4000 Kompetenzen, die entwickelt, geübt, getestet und angewandt werden sollen. […] Kein Mensch mit Sprachgefühl kann solche Curricula lesen, ohne in eine tiefe Depression zu verfallen. Oder wie anders soll man auf Formulierungen dieser und ähnlicher Art reagieren? „Über Lesefähigkeiten verfügen – Lebendige Vorstellungen beim Lesen von Texten entwickeln – […] bei der Beschäftigung mit Texten Sensibilität und Verständnis für Gedanken und Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen zeigen …“ (S. 49)

Das Schöne daran, solche Kompetenzen lassen sich kaum sinnvoll überprüfen und der Inhalt, an dem man derlei Kompetenzen entwickeln soll, wird zunehmend beliebig. Dabei liefe es doch eigentlich umgekehrt:

Noch nie hat sich ein Mensch in einem wirklichen Bildungsprozess etwa für eine bestimmte philosophische Lebensauffassung interessiert, bloß um daran seine eigene Argumentationskompetenz zu üben, sondern es läuft immer umgekehrt: Ein bestimmter Inhalt fasziniert, lässt nicht mehr los und erhält dadurch eine Verbindlichkeit, auf die der verstehenwollende Mensch gleichsam genötigt ist, durch die Ausbildung bestimmter Kompetenzen zu antworten, um dem Anspruch der Sache gerecht werden zu können. (Peter Gaitsch, zitiert nach S. 53)

Der sogenannte Bildungsexperte ist ebenfalls nicht vor Liessmanns Spott sicher:

Niemand weiß so genau, was ihn zum Experten macht, meistens handelt es sich um einen Absolventen eben jenes Bildungssystems, das er nun medienwirksam kritisiert, sein Hintergrund ist vielfältig, aber eines ist sicher: Er sorgt sich um die Bildung, und er weiß, was eigentlich zu tun wäre. (S. 30)

Liessmanns Verdienst ist es, den Schlagworten, die man in bestimmten Kreisen gar nicht mehr hinterfragen darf, mal auf den Zahn zu fühlen; dazu gehört auch der Begriff der digital natives, die zwar selbstverständlich mit den neuen Medien aufwachsen und Infoschnipsel googlen können, doch gleichzeitig oft überfordert sind, wenn es gilt, „Informationen in einen komplexeren Verstehenskontext“ (S. 91) einzubetten.

Die ständige Betonung, wie unsinnig es sei, die Köpfe junger Menschen mit „totem Wissen“ zu füllen, täuscht darüber hinweg, dass in den Köpfen kein Wissen mehr ist. (S. 90)

Er wehrt sich überhaupt gegen die Abwertung von angeblich totem Faktenwissen, denn es war schon immer entscheidend,

wie tief dieses Wissen geht, wie es die Persönlichkeit formt, wie man es kontextualisiert. Gerade dort, wo es um die vielzitierten Zusammenhänge und Transferleistungen, um den Prozess des Verstehens geht, wird man jedoch ohne Fakten nicht auskommen. Die Annahme, dass diese jederzeit zur Verfügung stehen, ist genauso irrig wie die Vorstellung, man könne sich ohne grundlegendes fachliches Wissen in einem Problemfeld orientieren. (S. 98)

Hohntriefend, aber leider nicht von der Hand zu weisen, ist auch das Kapitel, in dem sich Liessmann über den Zusammenhang von Pädagogik, der freiwilligen Infantilisierung, Unmündigkeit und Ahnungslosigkeit (deshalb das blühende Berater- und Coachinggedöns) und dem Herabsetzen jedweder Standards  und unserem Konsumverhalten auslässt.

Bildung erscheint längst nicht mehr als Ausdruck einer eigenen und zunehmend selbstverantwortlich organisierten Anstrengung, sondern als das Konsumieren eines Produkts, das von einem Konsortium von Pädagogen und ihren Beratern maßgeschneidert angeboten werden muss. […] Und wie bei den Nahrungs- und Genussmitteln verlangen wir auch hier, dass uns eine übergeordnete Instanz die Verantwortung für unser Tun abnimmt und vor möglichen Gefahren schützt, uns zumindest eindringlich warnt. Anders ist es wohl nicht zu erklären, dass Studenten der University of California in Santa Barbara gefordert haben, dass die Texte der literarischen Klassiker mit Warnhinweisen bezüglich expliziter Darstellungen von Sex und Gewalt versehen werden sollten, um mögliche traumatische Belastungsstörungen nicht zu  verschlimmern. […] Erwachsene Studenten wollen also auf keine intellektuellen Entdeckungsreisen mehr gehen, sondern sie verlangen, dass eine paternalistische Instanz die Verantwortung für ihr physisches und kognitives Konsumverhalten übernimmt. Mündigkeit sieht anders aus. (S. 115)

Fazit

Ich verstehe das Buch von Liessmann als einen engagierten, dringend notwendigen Zwischenruf in der Bildungsdebatte á la „Des Kaisers neue Kleider“, der dazu einlädt, innezuhalten und noch einmal darüber nachzudenken, was Bildung sein könnte und müsste – ohne dass der Autor dabei die Notwendigkeit beruflich nutzbringender Fähigkeiten und Qualifikationen in Abrede stellt.

Aber von den Qualitätsmanagern und Kompetenzentwicklern, die inzwischen von den Professoren sogar „Kompetenzorientierungskompetenz“ verlangen, wird das Buch wohl leider erst gar nicht gelesen werden.

Es ist bissig geschrieben und mit mancherlei Beispielen unterfüttert, bei denen man sich die Haare raufen möchte.

Man spürt seine Traurigkeit darüber, dass Bildung mehr und mehr auf das Nützliche reduziert wird und man nur noch das gelten lasse, das sich auch anwenden lasse.

… sieht man alles nur noch unter der Perspektive der Verwertbarkeit, geht jede Chance verloren, jungen Menschen in Schulen und Universitäten die Möglichkeit zu geben, sich einer Sache um ihrer selbst willen zu nähern, sich von einem Gegenstand faszinieren zu lassen, einer Frage auch dann neugierig zu folgen, wenn die Antwort ausbleibt oder keine Bedeutung für die Karriere hat. Nützlichkeit bedeutet immer: Sein für ein Anderes. Es verwehrt uns jedes Für-sich-Sein. (S. 179)

An dieser Stelle möchte ich auch auf die Festrede “Wie wäre es, gebildet zu sein?” von Prof. Dr. Peter Bieri hinweisen, auf die sich Liessmann mehrmals bezieht.

Und den Hinweis auf das Buch verdanke ich Claudia. Auf Dem Grauen Sofa gibt es auch eine Besprechung.

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Ruth Goodman: How to be a Victorian (2013) – Teil 1/4

I want to explore a more intimate, personal and physical sort of history, a history from the inside out: one that celebrates the ordinary and charts the lives of the common man, woman and child as they interact with the practicalities of their world. I want to look into the minds of our ancestors and witness their hopes, fears and assumptions, no matter how apparently minor. In short, I am in search of a history of those things that make up the day-to-day reality of life. What was it really like to be alive in a different time and place?  […]

Mit diesen Sätzen beginnt das Geschichtsbuch How to be a Victorian der britischen Historikerin Ruth Goodman, das ich heute vorstellen möchte.

Zur Autorin

Ruth Goodman, die u. a. Museen wie das Victoria and Albert Museum berät, ist eine begeisterte Befürworterin des sogenannten Reenactment, der Nachstellung historischer Ereignisse und Lebensbedingungen in möglichst authentischer Weise. So ist Goodman einem breiten britischen Publikum vor allem durch ihre Mitarbeit bei den BBC-Dokumentationen Victorian Farm, Victorian Pharmacy, Edwardian Farm, Tudor Monastery Farm und Wartime Farm bekannt geworden.

Zum Inhalt

Wie der Titel schon sagt, steht das Viktorianische Zeitalter (1837 bis 1901) im Mittelpunkt der Betrachtungen. Im Vorwort erläutert sie, auf was es ihr ankommt: nicht auf die großen geschichtlichen Ereignisse, sondern auf das Alltagsleben der Menschen, dem sie akribisch nachspürt, aufgefädelt an den Stationen eines Tages:

… there are many excellent books that relate in more detail the political, economic and institutional shifts of the period. I aim to peer into the everyday corners of Victoria’s British subjects and lead you where I have wandered in search of the people of her age.

I have chosen to move through the rhythm of the day, beginning with waking in the morning and finishing with the activities of the bedroom, when the door finally closes. Where I can, I have tried to start with the thoughts and feelings of individuals who were there, taken from diaries, letters and autobiographies and expanding out into the magazines and newspapers, adverts and advice manuals that sought to inform and shape public opinion. Glimpses of daily life can be found in items that people left behind, from clothes to shaving brushes, toys, bus tickets and saucepans. More formal rules and regulations give a shape to the experience of living, from the adoptions of white lines to mark out a football pitch to the setting of a standard of achievement for school leavers. (S. 3)

Erstes Kapitel: Getting up

Gleich auf den ersten Seiten erfahren wir, was es mit dem Berufsbild des knocker-upper auf sich hatte: Die meisten Arbeiter konnten sich keine Uhren leisten. Um trotzdem pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, bezahlten sie dem knocker-upper einen kleinen Betrag für seine Dienste.

Armed with a long cane and a lantern, a knocker-upper wandered the streets at all hours, tapping on the windowpanes of his clients. (S. 6)

Warum empfahlen die Autoritäten der damaligen Zeit, dass man immer auf Durchzug und frische Luft im Schlafzimmer achten musste, egal wie kalt es war? Und wie und wie oft wuschen sich die Menschen überhaupt, so ohne fließendes Wasser?

Im vorviktorianischen Zeitalter war es übrigens nicht üblich gewesen, sich regelmäßig mit Wasser zu waschen, da man davon ausging, dass das die Hautporen öffne und so Krankheitsverursacher in den Körper gelangen würden. Stattdessen achtete man darauf, so oft wie (finanziell und zeitlich) möglich, die Unterwäsche zu wechseln.

Constant clean underwear absorbed the sweat and dirt of the body and, each time you changed, the accumulated dirt was taken away. Dry rubbing of the body with a clean linen towel also helped to remove dirt, grease and sweat from the skin and gave the added benefit of stimulating the circulation, thus promoting a healthy glow and a general tonic to the whole system.

Interessant hierbei ist, dass die Autorin viele dieser Methoden selbst ausprobiert. Sie kommt, was die Körperpflege anbelangt, zu dem Ergebnis:

It works. I know, because I have tried it for extended periods. Your skin remains in good health and any body odour is kept at bay. A quick daily rub-down with a dry body cloth or a ‚flesh brush‘ […] leaves the skin exfoliated, clean and comfortable. The longest I have been without washing with water is four months – and nobody noticed. (S. 15)

Zweites Kapitel: Getting Dressed

Hier erfahren wir nicht nur, was es mit den diversen Kleidungsstücken der verschiedenen Gesellschaftsklassen auf sich hatte, wie sich Modetrends entwickelten, weshalb Frauen Korsetts und Reifröcke trugen, sondern auch, dass die Arbeiterklasse bis ca. 1860 ihre Kleidung nahezu ausschließlich auf großen Second-hand-Märkten erstand. Die spärliche Kleidung der Insassen der Arbeitshäuser war uniformiert – also für Außenstehende ein sicheres Erkennungsmerkmal – und möglichst nicht auf den einzelnen zugeschnitten, sodass die Kleidungsstücke nach den Waschtagen wahllos ausgehändigt werden konnten. Es gab keine „persönlichen“ Stücke.

Drittes Kapitel: A Trip to the Privy

Es folgt ein Kapitel zu den Plumpsklos, die gerade in den Arbeitervierteln der rasant wachsenden Städte zu Gestank, grauenhaften hygienischen Bedingungen und zur Kontamination des Erdbodens und damit des Grundwassers führten, da sie nicht regelmäßig geleert wurden.

As towns and cities became larger and ever more populated, the problems grew. Pools and puddles of filth  from overflowing and inadequate privies became increasingly common in the poorer districts, where people could ill afford to thave them cleaned. Similarly, unscrupulous landlords were loath to spend money on their slum properties. The sharing of facilities only exacerbated the problem. One survey carried out in Sunderland in the 1840s recorded one privy for every seventy-six people, while, in Worcester, one privy was recorded as being shared between fifteen families. (S. 98)

Ab 1848 war es verboten, Häuser zu bauen, die nicht an die öffentliche Kanalisation angeschlossen waren. Das hieß im Klartext, dass in London alles in die Themse geleitet wurde.

It took the Great Stink of 1858, when sacking soaked in chloride of lime had to be hung at the windows of parliament to combat the nauseating smell rising from the river, before the politicians were sufficiently convinced that a solution to the problem had to be found. (S. 100)

Außerdem gibt es einen Exkurs über die technischen Probleme bei der Etablierung von WCs, die ab 1851 vermehrt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten, aber ohnehin für Jahrzehnte auf die Häuser der reichen Oberschicht begrenzt blieben.

Als Toilettenpapier dienten lange Zeit Zeitungen, Werbeprospekte und ausgediente Briefumschläge, die in Quadrate geschnitten und mit einem Loch für eine Kordel versehen wurden, an der man sie auffädelte. Erst als man befürchtete, mit verschmutzem Papier auch Krankheiten zu übertragen, entwickelte man in Amerika 1857 die erste Toilettenpapiersorte.

Viertes Kapitel: Personal Grooming

Dem Kapitel habe ich nicht nur entnommen, dass man sehr wohl über Wochen auf Shampoo beim Haarewaschen verzichten könnte, sondern auch, dass arme Frauen sich manchmal Geld damit verdienten, ihr langes Haar zu verkaufen. Weil der Bedarf an langen Haaren für Perücken und Haarteile jedoch so groß war, schreckten einige Bestatter auch nicht davor zurück, das Haar von Leichen zu verkaufen.

… one of the reasons many working-class people preferred open-casket funerals. (S. 116)

Dazu gab es einen florienden Handel, besonders mit Haar aus Indien.

Once the hair had arrived in England, it was bleached and sorted before being sold on to a host of hair workers in small workshops, mostly based in London. Finally, it would appear on the head of a society lady. (S. 116)

Es folgen die Kapitel Morning Exercise und Breakfast.

Hier erfahren wir beispielsweise eine Menge über die Essgewohnheiten der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Armut, die quasi dauerhafte Unterernährung der ärmeren Bevölkerungsschichten und furchtbaren Hunger.

Victorian commentators themselves noticed a difference in height among the contemporary population, with many people noting how much smaller, at every age, working-class people were than the upper classes. (S. 170)

Passend dazu empfehle ich den Beitrag auf Entdecke England über Charles Dickens‘ London: The Great Stink.

Morgen geht’s weiter…

Geert Mak: Amsterdam: A brief life of the city (1994)

The people who lived through Amsterdam’s history have vanished. Nobody can tell their stories; nevertheless, dumb witnesses to what happened still exist in their thousands. Time and again small fragments are released from this silent archive. Beneath the foundations of an old house in the Warmoesstraat, next to the red-light district of the Oudekerksplein, building workers found a barely deteriorated layer of fourteenth-century cow dung and straw, and a pair of bone skates, remnants of the time when the Warmoesstraat was still a dyke, and Amsterdam a little village on the IJ. […] Again, by the Herengracht, […] excavations for a new bank laid bare a bizarre combination of objects: the lower beams of an old mill; a silver medallion bearing a rose-shaped cameo; several skeletons in almost totally disintegrated coffins; a horn ointment press; smelling bottles […] a mediaval stone wall lamp; a single lady’s shoe. The builders had chanced upon the site of the provisional pesthouse from the seventeenth century; a place where thousands of victims of the Black Death spent their last days.

Mit diesem Zitat von Seite 1/2 bekommen wir schon einen guten Eindruck von dem wunderbaren Reiseführer in die Geschichte und Kultur Amsterdams von Geert Mak.

Die englischsprachige Übersetzung stammt von Philipp Blom. Die deutsche Ausgabe mit dem Titel Amsterdam: Biografie einer Stadt, übersetzt von Isabelle de Keghel, erschien im btb Verlag.

Mak, der mich schon mit Das Jahrhundert meines Vaters begeistert hat, zeichnet hier auf 338 Seiten die Entwicklung Amsterdams nach. Dazu benutzt er u. a. Tagebuchaufzeichnungen eines Mönchs aus dem 16. Jahrhundert, archäologische Funde, Recherchen in Archiven und Interviews.

Er geht ein auf die Anfänge als kleines Dorf:

When all is said and done, Amsterdam was an impossible city. Everything that was built sank into the mud, especially in later centuries when the harbour could only be reached by a complicated route made more difficult by sandbanks and headwinds. (S. 20)

Wir erleben die Bedeutung der Religion in der Stadt und den allmählichen Siegeszug der Reformation:

In the year 1500, Amsterdam had no fewer than 20 convents and monasteries, roughly one for every 500 inhabitants. (S. 44)

Und dieses Dorf steigt zu einer europäischen Großmacht auf, die die Meere und den Handel, u. a. mit Sklaven, beherrscht, sodass man das 17. Jahrhundert als das Goldene Zeitalter bezeichnet, in der die Künste florierten. Es geht um die Entdeckung neuer Handelsrouten und darum, dass nur ein Bruchteil der Schiffsmannschaften wieder heil nach Hause kam.

One in ten deck hands would not even survive the outward-bound journey. One in every 25 ships would sink on its way back from the West Indies. Of the 671,000 men who travelled out from Amsterdam, only 266,000 were to return. (S. 161)

Er beleuchtet die spezifische Regierungsform der alten Kaufmanns- und Handelsstadt, das lärmige und internationale Treiben am Hafen, die kriegerischen Auseinandersetzungen, in die die Stadt verwickelt war, das (grauenhaft brutale) Strafsystem im Mittelalter, die Lebensbedingungen der einfachen Leute und die entsetzlichen Hungerwinter, in denen die Grachten zufroren, die Stadt deshalb kein sauberes Trinkwasser mehr hatte und Menschen in ihren Häusern oder auf den Straßen erfroren.

Mak beschäftigt sich mit Architektur und Transport:

The building of the Central Station was the largest construction project in nineteenth-century Amsterdam, and the city’s greatest planning blunder ever. (S. 207)

Doch auch Wirtschaft, Politik, die Entstehung der Grachtenlandschaft und die Mentalität der Bewohner wird unter die Lupe genommen. Wir erfahren, warum Rembrandt ein Armengrab bekam und dass besondere Tulpenzwiebeln wie die der Semper Augustus schon mal so viel wie ein großes Haus samt Garten kosten konnten.

Famously, in 1636, the trading index of tulip bulbs had rocketed in Amsterdam and throughout the rest of Holland. (S. 154)

Wir erfahren etwas über die relative Toleranz gegenüber Andersgläubigen, den Aufstieg des Schiffsbaus, die Rolle der jüdischen Einwohner, die Besetzung durch Nazi-Deutschland, die unvorstellbaren Gräueltaten der Besetzer. Dabei setzt sich Mak auch mit der Kollaboration seiner Landsleute auseinander.

Die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen im Nachkriegsholland kommen ebenfalls zur Sprache bis hin zu den anarchistischen Ausschreitungen bei der Hochzeit der späteren Königin Beatrix.

Fazit

Zwar hätte ich mir eine üppigere Illustration gewünscht, die sich hier ja wirklich angeboten hätte, dennoch:

Ein tolles Buch, allen zur Vorbereitung oder Nachbereitung einer Reise nach Amsterdam dringend empfohlen! Mak schafft es, übersprudelnd informativ und gleichzeitig unterhaltsam, spannend und interessant zu schreiben, da er immer ganz dicht am Leben der Menschen bleibt. Da finden sich dann so nette Passagen wie die folgende:

This specialization of trades [im 14. Jahrhundert] must have had momentous consequences, especially for women. Until the thirteenth century, they ground the grain by hand at home, made bread, wove garments and baked pots in the fire. By the end of the twelfth century, however, looms and potteries were beginning to be introduced, and soon these female tasks were taken over by male weavers and potters. This transition is clear from fingerprints found on earthenware dating from this time. With the help of fingerprint experts from the municipal police, Amsterdam city archaelogists were able to establish that the earliest pieces of earthenware were almost always handmade by women. Later, however, the pieces show the prints of men’s fingers. (S. 26)

IMG_0496Gemälde aus dem Het Scheepvaartmuseum in Amsterdam

Ian Mortimer: Im Mittelalter – Handbuch für Zeitreisende (OA 2008)

Welche Bilder kommen Ihnen bei dem Wort ‚Mittelalter‘ in den Sinn? Ritter und Burgen? Mönche und Klöster? Endlose Wälder, in denen Vogelfreie leben, die sich über die Gesetze der Mächtigen hinwegsetzen? All das sind gängige Vorstellungen, die aber wenig über das Leben der großen Masse der Menschen verraten. Stellen Sie sich vor, Sie könnten in der Zeit reisen: Was würden Sie finden, wenn Sie ins 14. Jahrhundert zurückgingen? Sie stehen an einem Sommermorgen auf einer staubigen Londoner Straße. Ein Diener öffnet einen Fensterladen im Obergeschoss und beginnt, eine Decke auszuklopfen. Ein Hund, der die Packpferde eines Reisenden bewacht, verfällt in lautes Gebell. […] Die Balken der Häuser ragen in die Straße hinein. Gemalte Schilder über den Türen zeigen, was es in den Läden zu kaufen gibt. Plötzlich greift ein Dieb bei den Marktständen nach der Börse eines Kaufmanns, und der rennt laut rufend hinter ihm her. Alle drehen sich nach den beiden um. Und Sie, mitten in diesem Tohuwabohu, wo werden Sie heute Nacht unterkommen? Wie sieht Ihre Kleidung aus? Was werden Sie essen?

So beginnt eine Zeitreise ins 14. Jahrhundert mit dem wunderbaren Reiseführer des Historikers

Ian Mortimer: Im Mittelalter – Handbuch für Zeitreisende (2014)

Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The Time Traveller’s Guide to Medieval England und wurde von Karin Schuler ins Deutsche übersetzt.

Inhalt

Werfen wir doch einfach einen Blick ins Inhaltsverzeichnis:

  1. Die Landschaft – von Feldern, Wäldern und Städten
  2. Die Menschen – von Kämpfern, Betern, Arbeitern und Frauen
  3. Das Wesen des mittelalterlichen Menschen
  4. Grundlegende Aspekte des Alltagslebens
  5. Wie man sich kleidet
  6. Wie Sie durch das Königreich reisen
  7. Wo Sie Unterkunft finden
  8. Was Sie essen und trinken
  9. Von Gesundheit und Hygiene
  10. Wie sich Recht und Gesetz gestalten
  11. Was sich zum Zeitvertreib unternehmen lässt

Wir lernen die zehn Orte kennen, die man in London des 14. Jahrhunderts gesehen haben muss, und werden aufgefordert, die wunderbaren Wandmalereien in der Kirche der Westminster Abbey zu beachten, „die sich leider nicht bis ins 21. Jahrhundert erhalten haben.“ (S. 41)

Als zehnte Sehenswürdigkeit ganz eigener Art werden die Badehäuser der Southwark Stews genannt.

Prostituierte werden in London nur in einer Straße, der Cock Lane, geduldet. Deshalb begeben sich Londoner wie Besucher in das ‚Rotlichtviertel‘ von Southwark auf der anderen Flussseite. Hier können Männer essen und trinken, ein heißes, parfümiertes Bad nehmen und ihre Zeit in weiblicher Gesellschaft verbringen. Im Jahr 1374 gibt es dort 18 einschlägige Etablissements, die alle von flämischen Frauen geführt werden. Anders, als man erwarten könnte, ist ein Besuch dort nicht mit einem Makel behaftet; es gibt nur wenige sexuell übertragbare Krankheiten, und die Ehegelübde verlangen nur die Treue der Ehefrau; der Mann kann tun, was er möchte. Natürlich wettern manche Geistliche gegen diese Unmoral, aber nur wenige nehmen Southwark direkt aufs Korn. Die meisten Badehäuser verpachtet der Bischof von Winchester. (S. 42)

Wir erfahren vom Klimawandel, der dafür sorgt, dass um 1400 alle Weingärten in England verschwunden sind, und lesen von Hungersnöten, während denen die Tiere auf ihren überfluteten Weiden ertrinken.

Zwischen den Jahren 1300 und 1400 verliert England ca. die Hälfte seiner Bevölkerung, die Pest sorgt in mehreren Wellen dafür, dass gegen 1400 nur noch ca. zweieinhalb Millionen Menschen leben. Eine für die Gesellschaft und die Menschen selbst traumatische Erfahrung, die natürlich auch Auswirkungen auf die Landwirtschaft hat.

Wenn aufgrund der geringen Lebenserwartung und hohen Sterblichkeitsrate ca. 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre alt sind, hat das wiederum Folgen für das Zusammenleben.

Von siebenjährigen Jungen erwartet man […], dass sie arbeiten. Von diesem Alter an können sie auch wegen Diebstahls gehängt werden. Sie können mit 14 heiraten und sind ab ihrem 15. Geburtstag verpflichtet, im Heer zu dienen. […] Verlobt werden die Jungen und Mädchen als kleine Kinder, und eine Verheiratung zwölfjähriger Mädchen gilt als zulässig, während das Zusammenleben gewöhnlich erst mit 14 beginnt. (S. 61)

Die Gesellschaft ist gewalttätiger (auch in den Strafen), rauflustiger und risikofreudiger, was sich beispielsweise bei DEM „Spektakel des 14. Jahrhunderts“ (S. 335), dem Lanzenstechen, zeigt.

Das „mittelalterliche Verständnis der Leibeigenschaft oder Hörigkeit ist nicht weit von der Sklaverei entfernt“. (S. 59) Da konnte die Herrschaft sogar bestimmen, wer wen heiratet. Weigerungen konnten mit Bußgeld und Gefängnisstrafen geahndet werden.

Auch auf das Frauenbild, das von komplett irregeleiteten Vorstellungen zur weiblichen Sexualität und von rechtlichen und intellektuellen Vorurteilen geprägt war, geht der Autor ein.

Der Leser lernt nicht nur, worin der Unterschied zwischen Herzögen (dukes), Grafen (earls) und Baronen (barons) sowie zwischen Rittern, Esquires und Gentlemen liegt, sondern auch, warum 1363 Fußballspielen schließlich im gesamten Königreich verboten wird.

Wir erfahren, warum reiche Männer Arme dafür bezahlen, später an ihrem Begräbnis teilzunehmen, und erkunden, wie mobil die Gesellschaft war – schließlich gab es noch keine Landkarten – und über wie viel Weltwissen die Menschen verfügen.

Welches sind die beliebtesten Ziele der Pilger? Und vor allem: Welche Literatur wird gelesen?

Wieso waren Nahrungsmittel – verglichen mit heute – wesentlich teurer, Arbeitskraft und Land jedoch spottbillig?

Ungelernte Arbeiter müssen damit rechnen, dass sie zu Beginn des Jahrhunderts etwa zwei Drittel ihres Lohns für Essen und Trinken ausgeben. (S. 139)

Wie ist das mit Ablasshandel, Aberglaube und der Alphabetisierungsrate? Wie viele unterschiedliche Möglichkeiten gab es, den Anfang des Jahres zu datieren, und wie maß man damals eigentlich die Zeit?

Wie und wann verschob sich die Vorherrschaft des Französischen hin zum Englischen?

Wie hat man dem Recht Geltung verschafft in einer Zeit, in der es noch keine Polizei gab?

Dies und vieles mehr erfahren wir in diesem Kompendium, in dem es dem Autor gelingt, immer wieder die Brücke zur Gegenwart zu schlagen. Einer der wichtigsten Unterschied zu heute: Damals war es von entscheidender Bedeutung, Teil einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu sein, der man im Notfall auch seine Sicherheit und seinen Schutz verdankte. Individualität und Selbstverwirklichung waren gar nicht erstrebenswert.

Und dann sind wir plötzlich ganz nah an unserer Zeit: Erinnern wir uns noch an Pferdefleisch in der Lasagne oder die Gammelfleischskandale?

Sie glauben einfach nicht, wie vielen Tricks und Täuschungen ein argloser Kunde [auf dem Markt] ausgesetzt ist. Fragen Sie im Rathaus von London, wen Sie wollen; jeder wird Ihnen von Kochgeschirr aus weichem, billigen Metall mit Messingüberzug erzählen, von Brotlaiben mit Steinen oder Eisentücken darin, die für das gesetzlich geforderte Gewicht sorgen. […] Die Waren wird auf den Ständen so ausgelegt, dass man die Mängel nicht sieht. Wolle wird gezogen, bevor man sie webt, und läuft dann länger (schrumpft aber furchtbar ein). Tuch wird manchmal mit menschlichem Haar gestreckt. […] Verdorbenes Fleisch wird noch verkauft, ebenso wie saurer Wein und grünschimmeliges Brot, das den Käufer auch umbringen kann. […] Selbst mit Haferflocken kann man noch betrügen. Wie das, fragen Sie? Haferflocken sind doch Haferflocken, oder? Nicht, wenn ein Sack verschimmelter Flocken mit ein paar Handvoll guter, frisch gemahlener obendrauf angeboten wird. (S. 132)

Und als jemand, der auf dem Land wohnt, musste ich doch lächeln, als ich folgenden Artikel in den Stadtverordnungen von Worcester las:

Jeder muss die Straße vor seiner Behausung sauber halten. (S. 303)

Kurz zum Konzept des Autors

Bei Mortimer handelt es sich nicht um einen Hobby-Geschichtsfan, der mal eben für ein bisschen Unterhaltung ein paar Informationen zum Mittelalter verrührt und die massentauglich aufbereitet, sondern um einen der bekanntesten Historiker in Großbritannien. Er selbst nennt sein Konzept „free history“, das bedeutet verkürzt gesagt, dass der Historiker nicht nur Informationen finden und kennen, sondern sie auch für ein Publikum relevant machen muss. Wer sich näher damit beschäftigen möchte, dem sei sein Aufsatz What Isn’t History? empfohlen. Hier gibt es ein Interview (in Englisch) mit ihm und 2012 hat der Spiegel mit Mortimer gesprochen.

Unter dem Pseudonym James Forrester schreibt Mortimer auch historische Romane, etwas, das er am liebsten allen seinen gelehrten Kollegen empfehlen würde, warum, erklärt er in seinem Aufsatz „Why historians should write fiction„.

Fazit

So kann nur jemand schreiben, der

  1. viel weiß und enorme Recherchearbeit geleistet hat,
  2. hingerissen von seinem Forschungsgebiet ist,
  3. von der Wichtigkeit seiner Erkenntnisse überzeugt ist und
  4. diese uns so anschaulich nahe bringen möchte, dass niemand mehr sagen kann, Geschichte sei langweilig und ohne Bedeutung für unsere Gegenwart.

Man denke nur an die Diskussionen, ob deutsche Lehrerinnen ein Kopftuch tragen dürfen oder nicht.

Langes, offenes Haar gilt allgemein als verführerisch und wird deshalb wie auch nackte Arme und Beine versteckt, um Unschicklichkeit zu vermeiden. Nur zügellose und liederliche Frauen wagen sich mit offenem und unfrisiertem Haar nach draußen. (S. 157)

Die Lektüre hatte ganz eigentümliche Auswirkungen auf meine Assoziationen zum Begriff Mittelalter. War das Wort vorher einfach ein Wort, mit dem ich bestimmte und weniger fest umrissene Vorstellungen und Informationen verband, begann der Begriff sich zu bewegen, über seine Ränder zu wachsen, plötzlich sah ich Menschen, das Ganze kam mir näher, als ich das für möglich gehalten habe.

Faszinierend beispielsweise die diversen Kleiderordnungen, die regeln sollten, wer welche Stoffe tragen durfte. Hübsch auch, dass im Jahr 1300 sich der linke und der rechte Schuh noch gar nicht voneinander unterschieden. Und dann die bizarre Entwicklung hin zu den Schnabelschuhen der Männer, deren Spitzen eine Länge von bis zu 50 cm erreichen konnten. Treppensteigen wurde damit praktisch unmöglich.

Hin und wieder wurde die Grundidee, die Geschichte in Anlehnung an einen Reiseführer zu schreiben, zwar ein bisschen überstrapaziert. Auch was wie viel kostete, habe ich irgendwann einfach überflogen. Dafür entschädigen dann die dezent ironischen Stellen.

In der mittelalterlichen Vorstellung besteht die Gesellschaft aus drei Teilen oder ‚Ständen‘, die von Gott geschaffen sind: den ‚Kämpfern‘, den ‚Betern‘ und den ‚Arbeitern‘. Die Adligen sind die Kämpfer. Sie beschützen die Beter und die Arbeiter. Die Geistlichen übernehmen das Beten und setzen sich für die Seelen der Kämpfer und Arbeiter ein. Die Arbeiter ernähren den Adel und den Klerus durch Dienste, Pacht und Zehnten. So trägt jede Gruppe zum Wohlergehen der Gesellschaft als Ganzem bei. Dieses klare Konzept spricht besonders jene an, die das Kämpfen und das Beten übernehmen. (S. 62)

Einziger Kritikpunkt: Der Autor hätte für meinen Geschmack das Ganze durchaus noch stärker mit größeren Bezügen verknüpfen können. Zum Bauernaufstand und dem Hundertjährigen Krieg habe ich dann doch Wikipedia zu Rate ziehen müssen.

Nichtsdestotrotz bin ich hin und weg und ein Dankeschön an den Blog Mein Lesesessel, dem ich den Hinweis auf dieses Buch verdanke.

Anmerkungen

Nachdem er einen solchen Erfolg mit seiner Zeitreise ins Mittelalter hatte, hat Mortimer nachgelegt. Inzwischen kann man mit ihm auch ins Elizabethanische Zeitalter reisen.

Die Homepage des Autors ist gespickt mit interessanten und durchaus zu Widerspruch reizenden Aufsätzen, Texten und Interviews, nicht nur zur Geschichte. Schon gleich der Aufsatz, in dem er erläutert, warum er grundsätzlich nicht fliegt, hatte mich am Haken.

Hier geht’s lang zu Besprechungen im britischen Guardian:

Bei Sue Arnold heißt es: „After The Canterbury Tales this has to be the most entertaining book ever written about the middle ages.“

Kathryn Hughes schreibt:

In The Time Traveller’s Guide to Medieval England he sets out to re-enchant the 14th century, taking us by the hand through a landscape furnished with jousting knights, revolting peasants and beautiful ladies in wimples. It is Monty Python and the Holy Grail with footnotes and, my goodness, it is fun. Mortimer’s argument, spelled out in a thoughtful epilogue, is that these pleasures become possible not by laying critical sense to one side, but by embracing an altogether different approach. Statistics are all very well, but unless they come clothed in flesh it is hard to know them in your bones. […]. The result of this careful blend of scholarship and fancy is a jaunty journey through the 14th century, one that wriggles with the stuff of everyday life.

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Raphael M. Bonelli: Selber schuld (2013)

Über Sex zu sprechen ist heute kein Problem mehr, weder in Therapien noch in Talkshows. […] Aber über eigene Fehler sprechen – das geht gar nicht. Nichts ist so intim wie die eigene Schuld. Die Abwehraggression bei dem Thema ist deutlich spürbar, besonders auffällig natürlich bei Paartherapien, bei denen jeweils „Unschuld“ auf Beschuldigung prallt. […] Wir verdrängen unsere Schuld, weil sie letztlich Schmerz bedeutet und wir Angst vor Schmerz haben. Viele Menschen tun sich heute schwer, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und haben sich ein entlastendes Erklärungsmuster von Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid zurechtgelegt. Fast jeder sieht sich als Opfer. Dieser Mechanismus ist aber der seelischen Gesundheit nicht förderlich …

Mit diesen Sätzen beginnt das  erhellende Buch des österreichischen Professors mit dem provokant-saloppen Titel Selber schuld (2013).

Der 1968 geborene Neurowissenschaftler, Psychiater und Psychotherapeut setzt sich hier vor allem mit der menschlichen Eigenschaft auseinander, selbst nie an der eigenen Misere schuld sein zu wollen. Schuld sind die anderen, die Eltern, die Lehrer, der Partner, die Lebensumstände usw.

Die Verdrängung eigener Schuld und das Ausweichen in die Fremdbeschuldigung und die Opferrolle schränken uns aber enorm in unserem Handlungsspielraum ein, denn als Opfer könne man nichts tun, um sich aus Verstrickungen zu befreien, in die man sich möglicherweise selbst hineinmanövriert hat. Wie der Ehemann, der den Therapeuten anschnauzt, dass der ihn nicht verstehe. Er leide doch so sehr unter der belastenden Situation, sich nicht zwischen Geliebter und Ehefrau entscheiden zu können.

Lösungsansätze können also nur sein: Selbsterkenntnis und der Mut, Fehler und Schuld einzugestehen. Deshalb kann Bonelli dem Ansatz mancher Psychiater-Kollegen, die jegliches Schuldgefühl bei ihren Patienten am liebsten sofort wegtherapieren wollen, nichts abgewinnen, weil das den Weg zur Selbsterkenntnis blockiere.

Dabei macht der Autor immer wieder unmissverständlich klar, dass es ihm in diesem Buch NICHT um Schuldgefühle und Belastungen geht, die beispielsweise aus Stoffwechselstörungen, Krankheiten oder aus traumatischen Erlebnissen herrühren. Er will keine Schuldgefühle züchten, sondern dazu ermutigen, einen einmal erkannten Fehler, eine Schuld nicht zu verleugnen, sondern an ihr zu reifen und den Handlungsspielraum zurückzugewinnen, den Verleugnung, Verdrängung, Opferstatus und Fremdbeschuldigung eingenommen hatten.

Er geht dabei u. a. folgenden Mechanismen näher auf den Grund:

Es gibt eine Reihe von psychopathologischen Mechanismen, die dem normalen, fehlerhaften Menschen die Schuld nehmen und ihn in ein Unschuldslamm verwandeln: Perfektionismus, Ichhaftigkeit, Selbstwertüberhöhung, Narzissmus, Selbstempathie, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Selbstmitleid, Abgrenzung, Lebenslügen, Selbstbetrug und innere Widersprüchlichkeit. […] Alle diese Faktoren sind verwandt miteinander, bedingen einander und überschneiden sich auch teilweise. Sie nehmen die Verantwortung und blockieren den Menschen in der Makellosigkeit. Alle diese Ingredienzien sind jedenfalls zur artgerechten Aufzucht eines makellosen Unschuldslamms hilfreich. (S. 67)

Im letzten Teil erarbeitet er anhand der alltagstauglichen Begriffe Kopf, Herz und Bauch, wie der Mensch vermeiden kann, in die oben genannten Fallen hineinzutappen.

Bonelli weitet den Blick auf die Auswirkungen, die der gängige Zeitgeist – alles ist locker-flockig easy und erlaubt – so mit sich bringen kann. Dazu bedient er sich zum einen vieler Fallbeispiele, die nur auf den ersten Blick nichts mit unserem „normalen“ Alltag zu tun haben, bei genauerem Hinsehen jedoch genau die Denkweisen und Denkfallen veranschaulichen, die die meisten von uns sicherlich kennen.

Zum anderen leitet er die großen Abschnitte jeweils mit einer literarischen Gestalt ein, die er darauf hin untersucht, wie sie mit Schuld und Schuldgefühlen umgeht. Da findet sich Faust neben Franz Moor und Gregorius neben Richard York. Auch Michael Kohlhaas, Anton Hofmiller, Raskolnikow und Ebenezer Scrooge haben ihre Auftritte. Jean Valjean bildet den krönenden Abschluss.

Fazit

Ich bin froh, dass madame flamusse im November 2013 auf dieses Buch aufmerksam machte. Ich habe es gern und mit Gewinn gelesen, am Ende fühlte ich mich ein bisschen so, als hätte ich mal wieder die Windschutzscheibe geputzt.

Der Autor mit der beeindruckenden Vita schreibt in einer unakademischen, stets auch für den Laien verständlichen Sprache und arbeitet mit Humor und Übertreibung. Er zeigt, wo es notwendig ist, die Überschneidungen, aber auch die zu beachtenden Grenzen zwischen Psychologie als Wissenschaft, Therapie und Religion. Immer wieder bettet er seine Erkenntnisse in den wissenschaftlichen Kontext und die Arbeit anderer Kollegen ein und wer will, könnte danach anhand der erwähnten Literatur ein ausgedehntes Selbststudium betreiben. Sicherlich wird man ohnehin das ein oder andere auch noch mal lesen müssen, denn alle Informationen sind beim ersten Lesen gar nicht abzuspeichern.

Außerdem macht sein Buch deutlich, dass verschiedene therapeutische Schulen eben verschiedene Menschenbilder als Grundlage haben und man vermutlich gut damit beraten wäre, dies zu Beginn einer Therapie zu klären.

Nicht zuletzt die Beispiele aus der Weltliteratur haben mir Spaß gemacht und mal wieder gezeigt, die großen Autoren sind allesamt begnadete Menschenkenner gewesen.

Peter Braun: Von Blechtrommlern und Nestbeschmutzern (2010)

Randbemerkung in einem Schulbuch, eingetragen im Sommer 1934: ‚Leck mich am Arsch, Faschisten-Häuptling.‘ Der Schüler ist sechzehn, der das schreibt. ‚Tod den Braunen.‘ Sein Schulweg ist längst nicht mehr sicher. Jungnazis schlägern in den Straßen von Köln. Sie verprügeln gleichaltrige ‚Gesinnungslumpen‘, besonders gern die kirchennahen, zu denen der Schüler gehört.

So beginnt das erste Kapitel – zu Heinrich Böll – in der lesenswerten Einführung in die deutschsprachige Nachkriegsliteratur von Peter Braun, die wohl vor allem für junge Leser gedacht ist; Von Blechtrommlern und Nestbeschmutzern: Deutsche Literaturgeschichte(n) nach 1945 (2010)

Peter Braun stellt sich auf seiner Homepage folgendermaßen vor: „gelernter Kfz-Mechaniker, arbeitet nach seinem Studium der Zahnmedizin als Publizist und freier Journalist.“ Kennt jemand einen kürzeren Lebenslauf?  Und diese knappe, sofort auf den Punkt kommende Sprache zeichnet auch seine Einladung zum Entdecken der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg aus.

Insgesamt fünfzehn Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden näher beleuchtet, und zwar in enger Verzahnung von Biografie, ihren wichtigsten Werken und der gesellschaftlich-politischen Großwetterlage. Das liest sich flott, durchaus zum Widerspruch anregend. Ich vermisste z. B. Elias Canetti, der immerhin 1981 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die Lyrik wird nur gestreift und Nelly Sachs gar nicht erwähnt (Nobelpreis 1966). Erich Kästner wird nur als Autor von Kinderbüchern und Lyriker vorgestellt. Kein Wort über seine Romane für Erwachsene. Leider werden auch keine Quellen angegeben.

Aber der herrlich unakademische, d. h. überaus lesbare Stil und die Fülle an Informationen machen das wett und vor allem eins: Lust, sofort mindestens zehn der genannten Romane zu lesen oder wiederzulesen.

Mein Neffe ist vier, also doch noch ein wenig zu jung für das Buch, aber egal, ich habe Brauns Band Von Taugenichts bis Steppenwolf schon neben mir liegen.

… viele Bücher der Weltliteratur wurden irgendwo, irgendwann von irgendwem untersagt. Das wohl erstaunlichste Buchverbot: 1998, Kalifornien. Zwei Schulen verwehrten ihren Schülern das Märchen Little Red Riding Hood, das Rotkäppchen der Gebrüder Grimm. Begründung: Im Korb mit Geschenken, den Rotkäppchen zur Großmutter trägt, liegt eine Flasche Wein. Dies würde die Schüler zum Trinken verleiten. (S. 53)

Und noch eine völlig irrelevante Fußnote meinerseits: Im Kapitel über Thomas Bernhard wird Hedwig Stavianicek nicht erwähnt, die der Dichter als seinen „Lebensmenschen“ bezeichnete, dem er buchstäblich alles verdanke. Dieser Begriff geht angeblich auf Goethe zurück, dort noch in der Bedeutung „Mensch des Lebensgenusses“. 2008 dann wurde „Lebensmensch“ in Österreich zum Wort des Jahres. „Dies war eine Folge seines hohen Verbreitungsgrades im Oktober 2008, als Stefan Petzner den kurz zuvor tödlich verunglückten Jörg Haider in den Medien unter Tränen als seinen „Lebensmenschen“ bezeichnet hatte.“ (Wikipedia) Das hat Bernhard nicht verdient …

Peter Braun hat sich in Von Schatzinseln und weißen Walen (2011) auch der klassischen Abenteuerliteratur angenommen.