Ich mag das, wenn sich für mich Fäden zwischen Büchern entwickeln, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Das ging mir so mit der Novelle Leutnant Burda (1887) von Ferdinand von Saar aus der Sammlung Requiem der Liebe und andere Novellen und den modernen Fallgeschichten des amerikanischen Psychoanalytikers Stephen Grosz, der schon lange in London lebt und arbeitet.
Leutnant Burda war eine der Erzählungen von Ferdinand von Saar, die mir besonders gefallen hatten. Ihr Inhalt sei hier kurz umrissen:
Der fast 30-jährige, gut aussehende, korrekte und beliebte Offizier Joseph Burda hält sehr auf seine äußere Erscheinung und sich, was seine Wirkung auf die Damenwelt angeht, für unwiderstehlich.
Für ihn und seine Heiratspläne beginnt das „weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse“ (S. 282), das ist – abgesehen von der Arroganz dieser Haltung – auch insofern ein Problem, da er selbst aus sehr einfachen Verhältnissen kommt. Burda lässt allerdings Nachforschungen anstellen, um nachzuweisen, der Nachfahre eines altes Adelshauses zu sein. Doch diese Hoffnungen werden sich als Luftgespinste erweisen.
Das alles hindert ihn nicht, sein Augenmerk auf eine Tochter eines der wichtigsten Fürsten am Wiener Hof zu richten. Er schickt ihr Gedichte, Blumen und beobachtet sie im Theater, interpretiert die Wahl ihrer Kleiderfarbe in seinem Sinn und deutet überhaupt alles, was er aus der Ferne von ihr sieht, hört und erfährt, als Zeichen ihrer Neigung. Ein zufälliges Vorbeifahren ihrer Kutsche ist damit quasi schon ein Versprechen auf ihre unverbrüchliche Treue.
Es war erstaunlich, wie Burda sich alles und jedes zurechtlegte. Und in der Tat, wenn er sich hinsichtlich der Gefühle, die er der Prinzessin zumutete, nicht einer vollständigen Täuschung hingab, so erschienen seine Hoffnungen, so abenteuerlich sich diese ausnahmen, nicht ohne einen gewissen Haltpunkt. (S. 303)
Weder seine Freunde noch Abgesandte des Fürsten, die ihn auffordern, sein unziemliches und lästiges Betragen einzustellen, können ihn von seiner Wahnvorstellung, dass die Prinzessin ihm gewogen sei, heilen.
Und nun zu The Examined Life – How We Lose and Find Ourselves des Psychoanalytikers Stephen Grosz (*1952), der immer wieder auch literarische Figuren zur Illustration heranzieht: Seine 31 verdichteten Fallgeschichten aus seiner über 25-jährigen Arbeit als Therapeut wurden zu einem Bestseller und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die deutsche Übertragung von Bernhard Robben erschien unter dem dämlichen Titel Die Frau, die nicht lieben wollte.
Es geht um die Horrorszenarien, die wir uns so lebhaft ausmalen, um Ehefrauen, die sich die Untreue ihres Mannes nicht eingestehen können, um Rache, traurige Kinder und die Verdrängung nicht eingestandener Persönlichkeitsanteile, die wir dann umso rabiater bei anderen bekämpfen. Aber auch ein spätes Coming-Out sowie die langen Schatten, die unsere Kindheit auf unser erwachsenes Leben werfen kann, kommen zur Sprache oder eben – wie bei Joseph Burda – eine Form des Liebeswahns.
Grosz bezeichnet ein solches Verhalten in seinem Buch als lovesickness. Er meint damit eine auf eine andere Person gerichtete irreale Wunschvorstellung, die beispielsweise eine Frau jahrelang trotz aller anderslautenden Beweise hoffen lässt, dass sich ihr verheirateter Geliebter für sie von seiner Ehefrau trennen wird.
Dieses Kapitel How lovesickness keeps us from love zeigt exemplarisch, wie der Autor vorgeht. Er stellt sich nie über seine Klient*innen, gesteht eigenes berufliches Scheitern ein, ist unglaublich interessiert an seinen Mitmenschen und hilft geduldig, mit freundlicher Empathie und entsprechendem Sachverstand den Ursachen der jeweiligen Verhaltensweise auf den Grund zu kommen. Hier zeigt er auf, welche Konsequenzen solch eine lovesickness mit sich bringt und welche Erkenntnisschritte, welcher Schmerz ausgehalten werden müssen, damit Heilung geschehen kann.
Most of us have come down with a case of lovesickness at one time or another, suffering its fever to a greater or lesser degree. […] When we are lovesick, we feel that our emotional boundaries, the walls between us and the object of our desire, have fallen away. We feel a weighty physical longing, an ache. We believe that we are in love. (S. 110)
Doch auch das Kapitel um unsere Unwilligkeit, einen kleinen Verlust zu akzeptieren, um einer größeren Gefahr zu entgehen, illustriert anhand der Erfahrungen von Marissa Panigrosso, einer der Überlebenden des Anschlags am 11. September 2001, fand ich sehr eindrücklich. Panigrosso flüchtete sofort, nachdem klar war, dass etwas passiert war, mit dem (vorletzten) und ansonsten menschenleeren Fahrstuhl in einem der Twin Tower nach unten und brachte sich damit in Sicherheit. Andere folgten den Lautsprecheransagen, stiegen aufs Dach oder rannten zurück, um noch etwas aus ihrem Schreibtisch zu holen oder taten – gar nichts.
We don‘t want an exit if we don‘t know exactly where it is going to take us, even – or perhaps especially – in an emergency. (S. 123)
In verschiedenen Interviews erklärt Grosz, was ihn zu diesem Buch motiviert hat. Zum einen sei er erst sehr spät Vater geworden und möchte seinen Kindern etwas von seiner Sicht auf die Welt mitgeben, da man nie wissen könne, wie lange er noch Zeit mit ihnen verbringen kann. Zweitens hält er Geschichten für eine viel sinnvollere Art, Erfahrungen und Einsichten aus seiner Arbeit weiterzugeben, als rein wissenschaftliche Berichte oder gar statistische Angaben. Außerdem ist ihm bewusst:
Also, psychoanalysis requires time and money, and many people won’t be able to afford it. I wanted to set down some of the important things I’ve learned in a way that may be helpful to those who are unable to have psychoanalysis or therapy.
Was könnte die Leserin, der Leser also von diesem Buch lernen?
The first […] is that change involves loss. In fact, all change involves loss, and yet life itself is change – we are always giving up something for something else. And the point is that we lose ourselves when we try to deny those changes, when we deny that life entails loss. […]
Thereafter we mend ourselves, Grosz believes, „by repairing our relationship with the lost, by acknowledging that these were losses. We can find ourselves by facing truths about our lives and about these losses, by facing the truth about how our relationships with people really are, not how we’d like them to be.“ In other words, by truly telling our stories.
Hier geht es lang zu einem Interview mit Stephen Grosz.