Elizabeth Fair: A Winter Away (1957)

Heute gibt es einen schönen kleinen Schmöker, dessen Ton bereits auf der ersten Seite deutlich wird:

Maud had been in the house less than an hour, but she had already made out that Puppy and Wilbraham were alternative names for the same animal. He was Wilbraham to Cousin Alice and Puppy to Miss Conway. She had not seen him yet but she gathered from their talk that he was their joint property and that they had had him for seven years. Puppyhood must be far behind him, but perhaps he was exceptionally skittish for his age; or perhaps Miss Conway disliked being reminded of the passage of time. (S. 1)

Maud Ansdell, die gerade zwanzig geworden ist, zieht also als Untermieterin bei Alice, der älteren Cousine ihres Vaters, und deren 43-jähriger Gesellschafterin Miss Conway ein. Denn Cousine Alice hat Maud ihre erste Arbeitsstelle als Sekretärin bei Nachbar Marius Feniston vermittelt.

Feniston, der hinter seinem Rücken von allen nur „old M.“ genannt wird, ist ein wohlhabender und sehr durchsetzungsfreudiger älterer Herr.

‚My last secretary was thirty-five,‘ old M. said gloomily, ‚and no more sense than a child of ten. Or else she wasn’t all there. You all there?‘ he asked suddenly, giving Maud a searching look. ‚No banging your head on the table? No throwing the china at me? Hey?‘ (S. 18)

Sein prächtiges Herrenhaus lässt er aus Geiz vergammeln, mit seinem gut aussehenden Neffen hat er seit Jahren kein Wort mehr gewechselt und sein Sohn Oliver scheint auf den ersten Blick ein eulenhafter Langweiler zu sein.

Nach und nach gewinnt Maud eine Freundin und lernt mit old M. auszukommen. Sie muss sich nicht nur im komplizierten Geflecht zwischen Cousine Alice und Miss Conway, sondern auch im Durcheinander der kleinen dörflich geprägten Gemeinde zurechtfinden.

Aber das Entscheidende an dem Buch ist ohnehin nicht der Inhalt, sondern die Art und Weise, wie uns hier ein kleines Stückchen Welt präsentiert wird.

Liebenswürdig und mit feinen Charakterschilderungen von Menschen, die wir mit ihren kleinen und größeren Schrullen sofort wiedererkennen. Dabei werden allerdings die Abgründe, die die Protagonisten bei sich selbst nicht wahrhaben wollen, nicht verschwiegen.

Fairs Humor, der nie ins Alberne abrutscht, kommt besonders in den Dialogen zum Tragen und sie hat die Fähigkeit, aus wirklich unbedeutenden Geschehnissen großes Kino zu machen.

Als Maud bei Nachbarn Zeuge eines völlig harmlosen Unfalls wird, entsteht in beinahe loriothafter Zwangsläufigkeit eine Kettenreaktion, die mit den Worten endet:

Explanations must wait till the morning, Cousin Alice had insisted. As it was they had been up half the night, calming Miss Conway, removing thorns from her person and sponging her scratches, and persuading her to accept a hot-water bottle, a glass of hot milk, and three biscuits.
‘I’m perfectly all right.’ Miss Conway had repeated frequently, though even to Maud’s eyes she looked all wrong.

Kurzgesagt: Kein großer gesellschaftskritischer Roman, keine Lektüre, nach der ich die Welt anders sehe. Und selbst in den fünfziger Jahren, in denen Elizabeth Fair ihre sechs kleinen Romane veröffentlichte, dürften ihre Bücher schon ein bisschen provinziell-idyllische Patina gehabt haben.

Also kein Fünf-Gänge-Menü, sondern eher so ein fluffig-luftiger Schokoladenpudding oder wie die Lieblingsstrickjacke. Aber manchmal muss es eben unbedingt ein Schokoladenpudding sein.

Und ich habe es bedauert, als dieser kleine, feine Roman von 221 Seiten, der mich abwechselnd an Jane Austen, Barbary Pym und Alexander McCall Smith erinnerte, schon zu Ende war.

BOOK SNOB ging es anscheinend ganz ähnlich:

…this is a hilarious, witty and wonderfully warm story about a number of misfits whose convergence in a corner of rural Dorset leads to just the sort of trifling yet utterly absorbing events that make up the often ridiculous course of everyday life. This is the perfect antidote to current affairs: it’s light and wonderfully funny, but also very well written and sensitively observed. I adored every moment, and felt quite bereft at leaving the world of the characters behind.

Ich vermute, dass die Autorin, die 1997 verstarb, nach 1960 keinen Roman mehr veröffentlicht hat, weil sich dann Verleger- und Publikumsgeschmack doch grundsätzlich wandelten. Umso schöner, dass ihre sechs Romane nun neu aufgelegt wurden.

Nachtrag

The Native Heath (1954) war mir zu glatt, zu harmlos.

Der letzte Roman der Autorin The Mingham Air (1960) hatte deutliche Schwächen. Nicht alle Figuren waren organisch in die Handlung integriert. Das Buch wirkte wie aus Einzelteilen zusammengeschustert.

Mit Seaview House (1955) und Landscape in Sunlight (1953) gab es aber wieder uneingeschränktes Lesevergnügen.

Dorothy Whipple: Greenbanks (1932)

Auch Greenbanks, der dritte Roman von Dorothy Whipple, der ursprünglich 1932 erschienen ist, wurde bei Persephone Books neu aufgelegt. Er beginnt mit den Worten:

The house was called Greenbanks, but there was no green to be seen today; all the garden was deep in snow. Snow lay on the banks that sloped from the front of the house; snow lay on the lawn to the left, presided over by an old stone eagle who looked as if it had escaped from a church and ought to have a Bible on his back; snow lay on the lawn to the right, where a discoloured Flora bent gracefully but unaccountably over a piece of lead piping that had once been her arm. Snow muffled the old house, low and built of stone, and of no particular style or period, and made it look like a house on a Christmas card, which was appropriate, because it was Christmas day.

Greenbanks, das ist also das gediegene Zuhause von Louisa Ashton. Hier hat sie mit ihrem notorisch untreuen Gatten sechs Kinder großgezogen, die inzwischen alle erwachsen und bis auf Laura auch verheiratet sind. Wir folgen nun fast zwei Jahrzehnte dem Alltag, den Ehequerelen und den beruflichen Entwicklungen der Familienmitglieder. Dabei geht es auch um die Frage, ob und wo eine Frau vor, während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg ihren Platz in der Gesellschaft finden kann, an dem sie glücklich ist und gleichzeitig von der Gesellschaft akzeptiert wird.

Im Zentrum steht Großmutter Louisa, in finanziellen Angelegenheiten immer von ihrem Ehemann und später ihrem Sohn abhängig, manchmal  naiv, mit wenig Durchsetzungsvermögen, und doch mit einem großen Herzen. Sie mag nicht besonders gebildet oder reflektiert sein, doch hat sie ein untrügliches Gespür für die Menschen um sich herum und kann kaltem Nützlichkeitsdenken wenig abgewinnen. Ihr Lieblingssohn Charles bekommt beruflich kein Bein auf die Erde, doch das Schlimme daran sind für sie nur die sarkastischen Kommentare seines geldgierigen Bruders und seines besserwisserischen Schwagers.

Hat Louisa allerdings erst einmal eine Entscheidung getroffen, wie z. B. die eine Bekannte als Gesellschafterin in ihr Haus aufzunehmen, die von der Gesellschaft wegen eines unehelichen Kindes ausgestoßen worden war, dann setzt sie das mit der Sturheit eines Maulesels durch, egal, was ihr fürchterlicher Schwiegersohn Ambrose davon hält.

Die zweite Person, die mir im Gedächtnis bleiben dürfte, ist Louisas Lieblingsenkelkind Rachel. Ihr kindlicher Blick ist wunderbar gezeichnet. Und ihr beim Erwachsenwerden zuzuschauen, macht große Freude. Sie ist die einzige Frauenfigur, die vermutlich halbwegs unbeschadet ihren Weg finden wird, auch deshalb, weil sie bei ihrer geliebten Großmutter immer einen Raum hatte, an dem sie ganz sie selbst sein durfte.

[Rachel] looked up from the page to her grandmother sitting in the window, her hands empty now that she had no one to knit for. ‚Darling,‘ thought Rachel. Some dim comprehension of the courage, the isolation of each human soul, the inevitable loneliness in spite of love, reached Rachel. The room was quiet, the ticking of the clock the only sound. Rachel was aware, for a moment, of the mystery of herself, her grandmother, eternity before and behind them both. Then she jumped up. Youth will glance at these things, but hates to look long. (S. 247)

Rachels Mutter Letty hingegen langweilt sich zunehmend in der Ehe mit ihrem pedantischen und befehlshaberischen Ehemann Ambrose, den sie als junges Mädchen noch so angehimmelt hatte.

He gave her, more and more frequently, the same flat exhausted feeling she had when she tried to carry a mattress downstairs unaided; that exasperating feeling of not being able to get hold of the thing properly and of wanting to give up at every step. But of course you couldn’t give up; you couldn’t sit down in the middle of the stairs with a great burden like that; you had to carry it the whole way, until you could put it down somewhere final. (S. 48)

Greenbanks ist für mich nicht der stärkste Roman der Autorin, aber im Nachhinein bin ich doch angetan davon, wie aufschlussreich der Roman als Zeitzeugnis ist. Welche gesellschaftlichen Veränderungen brachte der Erste Weltkrieg mit sich? Welchen Rollenzwängen sahen sich die Frauen damals ausgesetzt? Das alles mit einem Figurenensemble, das so durchschnittlich, so alltäglich ist, mit Dialogen und – fast noch wichtiger – mit Gedanken und Verhaltensweisen, die wir auch heute noch mühelos wiedererkennen. Trotz der Verankerung in einem bestimmten Milieu und einer vergangenen Zeit wirken die Figuren überraschend frisch und kein bisschen verstaubt.

Besonders die Männerfiguren sind in ihrer Heuchelei, Engstirnigkeit und Doppelmoral in Bezug auf Ehe, Treue oder Zölibat und Frauenbildung oft unerfreuliche und manchmal auch fast eindimensionale Gestalten, die aber von Whipple nicht verurteilt, sondern einfach geschildert werden. Auch sie haben ihre Gründe, so zu sein, wie sie sind.

Und wie bei jedem guten Schmöker will ich natürlich schon wissen, wie sich die ein oder andere Verwicklung auflösen wird.

Anmerkungen zur Rezeption des Romans

Der Spectator schrieb Ende September 1932:

Greenbanks is a pleasant, quiet, delightful domestic book, lifted head and shoulders above the ranks of pleasant, quiet, delightful domestic books by the uncanny accuracy of the portraiture and the lightness and delicacy of its touch.

Und Hugh Walpole war sich sicher:

I believe Greenbanks will be remembered for a long time to come because of the characters of two people in it, the grandmother Louisa and the granddaughter Rachel. In them Dorothy Whipple has performed splendidly the great job of the novelist, which is to increase for us infinitely the population of the living world.

Hier gibt es noch eine Besprechung auf Tales from the Reading Room.

 

 

 

Oss Kröher: Das Morgenland ist weit (1997)

Die hinreißenden Erinnerungen von Oss Kröher an eine nie mehr zu wiederholende Reise mit dem Motorrad beginnen mit den Sätzen:

Es war am Vormittag des 15. März 1951 in der Stadt Pirmasens, als vor dem Hause Klosterstraße 29 – unweit der Horebschule – ein kleiner Volksauflauf entstand. Die Menge umringte ein schier vorsintflutliches NSU-Motorrad, Baujahr 1928, das wundersamerweise den Krieg überlebt hatte und auf dem zwei abenteuerlich gewandete Gestalten saßen. Seitlich angekoppelt war ein heillos überladener Beiwagen, auf dessen Bug ein Schild mit der Aufschrift „Germany – India“ prangte. (S. 17)

Oss (eigentlich Oskar) Kröher (*1927 in Pirmasens) und sein Freund Gustav Pfirrmann brechen also im Frühjahr 1951 auf, um mit einem alten Motorrad samt Beiwagen bis nach Bombay in Indien zu fahren. Eine Reise, die fast anderthalb Jahre dauern wird.

Ihr Plan, die Haushaltskasse durch Vorführungen zu finanzieren, geht auf, und zwar spektakulärer, als sie das selbst erwartet hätten. Dabei ist Gustav für Zauberkunststücke und das Feuerschlucken zuständig, während Oss Volkslieder und Schlager samt Gitarrenbegleitung zu Gehör bringt. Immer wieder gewünscht vom Publikum wurde übrigens Lili Marleen.

Ich mußte es noch oft anstimmen, aber im ‚Arizona‘ über den Dächern von Damaskus sang ich es erstmals öffentlich. Vielleicht war mein Ausdruck deshalb so überzeugend, weil ich noch als Teenager an die Front gekommen war und nur durch außergewöhnliche Umstände das Kriegsende, wenn auch leicht lädiert, überlebt hatte. (S. 234)

Mit jugendlichem Überschwang nehmen sie es hin, dass sie schließlich sogar vom ersten indischen Premierminister Jawaharlal Nehru eingeladen werden.

Sie „fressen Staub“, „schlachten“ unzählige Wassermelonen, kämpfen mit Läusen, müssen so ziemlich alles reparieren, was an einem Motorrad kaputtgehen kann, schleppen bis zum Schluss zwei Feldbetten mit, freuen sich an der Schönheit der Menschen, der Moscheen und an den überwältigenden Natureindrücken. Sie fahren und spazieren mit offenem Blick durch die Natur, die Basare, Bars, Hurenviertel und Villen.

Mit der aufkommenden Nacht fuhren wir in eine Schlucht hinein, deren Felsblöcke sich zu beiden Straßenseiten die steilen Hänge emportürmten. Acht Kilometer rollten wir durch diese düstere Felsenwildnis aus geborstenen Säulen und Mauerresten der Antike, durch dies Niemandsland. Immer dunkler fiel die Nacht, immer steiler stieg die Straße zwischen den Zyklopenfelsen. Eine Eule flog lautlos vor uns her, und neben uns flüchtete ein Schakal in das Geröllfeld. Da hielten wir an und blickten ihm  nach, bis er auf dem Grat vor dem Nachthimmel noch einmal stehenblieb, zu uns herunterlugte – und dann verschwand. Kurz danach sperrte der syrische Schlagbaum die Straße. Der Grenzpolizist trug Khaki und begrüßte uns auf Französisch. Er hob den Schlagbaum und öffnete uns die Grenze. Wir waren in Syrien. (S. 210)

Sie geraten in Stürme, werden das Opfer von Sabotage, doch genauso werden sie vom Hauslehrer eines Scheichs eingeladen, der ihnen stolz seinen Wagenpark von fünfzehn Luxusfahrzeugen präsentiert, während seine Pächter wie Leibeigene leben.

Die beiden kommen einer Python ziemlich nah, geben in Bagdad Radio-Interviews und bewundern archäologische Kostbarkeiten, wie z. B. Ktesiphon, die Behistun-Inschrift oder die Ruinen von Babylon. Die Reisegefährten werden, wenn auch unbeabsichtigt, Zeuge der Bestattungsriten der Parsen, die die Leichen der Verstorbenen in den Türmen des Schweigens den Vögeln zum Fraß überlassen.

Sie hören Deutsch an den überraschendsten Stellen und ein Afghane überrascht sie mit seinem rheinischen Dialekt. Daneben gewinnen sie Freunde, mit denen sie z. T. Jahrzehnte später noch Kontakt halten, und erleben – gerade auch durch die Musik -, wie Menschen sich über Länder- und Sprachgrenzen hinweg verständigen und respektieren können.

Die lange Reise hatte uns unmerklich aufgeschlossen und bescheiden gemacht. Die Überheblichkeit unserer Jugend war der Achtung vor fremden Verhaltensweisen gewichen, und wir hatten gelernt uns der Ausstrahlung fremder Kulturen bereitwillig hinzugeben. (S. 493)

So sollte man reisen.

Was für ein großartiges Buch (und nein, ich fahre nicht Motorrad). Am liebsten möchte ich gleich wieder mit der Lektüre von vorn beginnen, habe ich doch die Fülle an Geschichten, befremdlichen und herzerwärmenden Eindrücken und skurrilen und gastfreundlichen Begegnungen und Informationen beim ersten Mal wie einen Abenteuerschmöker genossen.

Einmal [kurz vor Delhi] tauchte sogar eine Sänfte auf. Wir hatten uns gerade im Schatten niedergetan, als die vier Träger langsam näherkamen. Einer von ihnen mußte den Passagier darin auf uns hingewiesen haben, denn der Vorhang wurde zurückgezogen, und das Antlitz eines zwölfjährigen Knaben sah uns an. Über den dunklen Augen und der Bronzehaut der Stirn leuchtete der weiße Turban aus Seide, und mit anmutiger Geste hielt die Knabenhand den Vorhang gerafft. So zog die Sänfte fast lautlos an uns vorbei, denn die vier halbnackten Träger gingen barfuß; dann verschwand sie hinter uns im Schatten der dichtbelaubten Alleebäume. (S. 504)

Und – zu meiner Verblüffung – zeigt sich, dass eine solide Kenntnis der Bücher von Karl May damals aus Fremden rasch Vertraute machen konnte.

Daneben kann man das Buch auch zum Anlass nehmen, etwas über die bereisten Länder (Italien, Griechenland, Türkei, Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und Indien) zu lernen. Oss Kröher spickt seine Erinnerungen nämlich mit vielen Informationen zur Geschichte, den heiligen Stätten, der Literatur und Kultur.

Dann aber, im Mongolensturm des Jahres 1258, büßte Bagdad seine Macht und Größe ein. Das arabische Reiterheer versank vor den Mauern der Stadt in Blut und Tod, als die mongolischen Bogenschützen auf ihren struppigen Ponies wie ein todbringendes Schicksalsrad das gelähmte Heer der Araber galoppierend  umkreisten und so lange mit Pfeilen überschütteten, bis sich nichts mehr rührte. Dann wurde die ehemals strahlende Märchenstadt von den Steppenreitern geplündert, verwüstet und verbrannt. Aus den Schädeln der Toten bauten sie eine Pyramide zum eigenen Ruhm. In unseren Geschichtsbüchern steht kaum etwas davon geschrieben. (S. 280)

Und während man dieses Zeitzeugnis liest, kann man ganz trübsinnig werden, weil ein Großteil mancher dieser Länder nun in Trümmern liegt, so dass in Vergessenheit zu geraten droht, welch Jahrtausende alte Kultur, Architektur, Literatur etc. da gerade zu einer Mondlandschaft zerbombt wird. Unser eurozentrischer Blick kommt an mehr als einer Stelle ordentlich an seine Grenzen.

In Hochstimmung näherten wir uns der ersten arabischen Stadt – es war Aleppo, im Norden Syriens. […] Ob Eselsgespann, Pferdekutsche oder amerikanische Straßenkreuzer mit Glitzer und Chrom; ob Omnibusse, die mit Landschaftsbildern bemalt waren, aber dafür keine Fensterscheiben hatten – wegen der Tageshitze -, ob tiefverschleierte Frauen oder europäisch gekleidete, sie alle waren offenbar emsig beschäftigt, und die Stadt atmete pulsierendes Leben. (S. 212)

Gleichzeitig zeigen Kröhers Erinnerungen, dass die ungeheuerliche, hoffnungslose Armut und die geringe Alphabetisierungsrate der Massen in Kombination mit dem selbstherrlichen Wüten der Kolonialmächte und den wirtschaftlichen Interessen des Westens schon lange ein explosives Gemisch gewesen sind. Ich war jedenfalls überrascht, wie viele westliche Ingenieure die beiden auf ihren Reisen getroffen haben und wie die zwei jungen Deutschen meist freundlich aufgenommen wurden, eben weil sie nicht zu den verhassten Kolonialmächten gehört hatten.

Heute, im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, könnten wir unsere bunte und friedliche Motorradreise von damals keinesfalls wiederholen. (S. 224)

Ich wäre auch noch länger mit an Bord geblieben, dabei hat das Buch schon 662 Seiten. Die Informationen über die Vorgeschichte des Unterfangens und über die beiden Freunde selbst hätten gern noch ausführlicher sein können und – ein bisschen Meckern muss erlaubt sein – ich hätte mich über noch mehr Fotos gefreut.

Und nach dem Lesen beziehe ich den Titel nicht mehr nur auf die vielen tausend Meilen zwischen Pirmasens und Bombay, sondern lese ihn auch so: Das Morgenland ist von großer und fast unvorstellbarer Weite und Vielfältigkeit.

Und wer wissen will, was die beiden jungen Männer auf ihrer langen Reise am tiefsten berührt hat, was sie mit Eleanor Roosevelt zu tun hatten, welche Fehler man lieber nicht machen sollte und auf welch geradezu märchenhafte Art und Weise Oss die Heimreise nach Deutschland angetreten hat, der muss das Buch nun doch noch selbst lesen.

Wir ließen die Hafenstadt hinter uns und fuhren in das Amanosgebirge hinauf. Da kamen uns Zigeuner entgegen mit Kind und Kegel, ihre armselige Habe war auf einem Maulesel-Karren verstaut. Pfannen und Töpfe hingen an den Seiten, und die Frauen trugen durchwegs lange, weite Röcke, unter deren rotbunten Falten die Barfüße herauslugten. Die rotznäsige Kinderschar, halbnackt und in zerlumpten Turnhosen, versuchte bei uns zu betteln, aber wir hielten nicht an. Einer der Männer, in längsgestreifter Pyjamahose und ärmelloser Weste, führte einen zottigen Braunbären an einer Nasenkette. (S. 207)

Anmerkungen

Oss Kröher trat übrigens später – zusammen mit seinem Zwillingsbruder Hein – jahrzehntelang als Liedermacher und Volksliedsänger auf. Hannes Wader sagte einmal über die beiden, dass er viele Volkslieder erst durch die Brüder kennengelernt habe.

Ein Literaturtipp, der sich aus dem Buch ableitet, wäre Die vierzig Tages des Musa Dagh (1933) von Franz Werfel.

Den Hinweis auf Das Morgenland ist weit verdanke ich Stefan von Lichtgewimmel. Also Danke für einen wunderbaren Tipp; ich kann jetzt verstehen, weshalb du damals das Buch vor der Buchapokalypse retten wolltest.

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Joseph O’Connor: Star of the Sea (2002)

All night long he would walk the ship, from bow to stern, from dusk until quarterlight, that sticklike limping man from Connemara with the drooping shoulders and ash-coloured clothes. The sailors, the watchmen, the lurkers near the wheelhouse would glance from their conversations or their solitary work and see him shifting through the vaporous darkness; cautiously, furtively, always alone, his left foot dragging as though hefting an anchor.

So anschaulich und an die Erzähltraditionen des 19. Jahrhundert erinnernd beginnt der Roman The Star of the Sea des irischen Schriftstellers Joseph O‘Connor (und Bruders von Sinéad O’Connor). 2004 erschien die Übersetzung der ca. 400 Seiten von Manfred Allié und Gabrielle Kempf-Allié unter dem Titel Die Überfahrt.

Das in die Jahre gekommene Passagierschiff Star of the Sea (= Stella Maris; Bezeichnung für die Jungfrau Maria) ist 1847 unterwegs von Queenstown (Irland) nach New York. An Bord befinden sich laut den akribischen Aufzeichnungen des wackeren Kapitäns Lockwood folgende Personen:

We have thirty-seven crew, 402 1/2 ordinary steerage passengers (a child being reckoned in the usual way as one half of one adult passenger) and fifteen in the First-Class quarters or superior staterooms. Among the latter: Earl David Merredith of Kingscourt and his wife the Countes, their children and an Irish maidservant. Mr G.G. Dixon of the New York Tribune: a noted columnist and man of letters. Surgeon Wm. Mangan, M.D. of the Theatre of Anatomy, Peter Street, Dublin, accompanied by his sister, Mrs Derrington, relict; His Imperial Highness, the potentate Maharajah Ranjitsinji, a princely personage of India; Reverend  Henry Deedes, D.D., a Methodist Minister from Lyme Regis in England (upgraded); and various others. (S. 3)

Was hier zunächst so spröde aufgezählt wird, entfaltet bald eine unglaubliche Wucht, denn die Schicksale mehrerer Passagiere sind miteinander verknüpft oder werden sich im Laufe der Reise miteinander verknüpfen, nicht immer zum Guten. Schließlich geschieht sogar ein Mord.

Im Zentrum stehen mehrere Passagiere der ersten Klasse, während die über 400 Menschen, die ihr letztes Geld für die Überfahrt ausgegeben hatten, ständig Hunger haben und im überfüllten, stinkenden, lauten und Krankheiten befördernden Zwischendeck hausen, bis auf wenige Ausnahmen keine aktive Rolle spielen. Aber indirekt erfahren wir doch viel über sie, z. B. wenn der Kapitän in seinen Aufzeichnungen, die sich mit denen des amerikanischen Reporters Dixon abwechseln, berichtet, welche Passagiere den Tag nicht überlebt haben und dem Meer und der Gnade Gottes anbefohlen werden mussten.

Fast alle Auswanderer – egal ob erste Klasse oder Zwischendeck – müssen ihre Heimat wegen der Großen Hungersnot verlassen. Die Große Hungersnot in Irland zwischen 1845 und 1852 (the Great Famine) wurde ausgelöst durch mehrere Kartoffelmissernten in Folge und die zynische Laissez-faire-Haltung der britischen Regierung, die dafür sorgte, dass gerade während der katastrophalen Hungerjahre so viel Weizen aus Irland exportiert wurde wie nie zuvor (weil die überwiegend britischen Großgrundbesitzer damit gut Geld machen konnten). „Infolge der Hungersnot starben eine Million Menschen, etwa zwölf Prozent der irischen Bevölkerung. Zwei Millionen Iren gelang die Auswanderung“ (Wikipedia).

Ein weiterer Faktor war die grausame und unbarmherzige Vertreibung der Kleinpächter von ihrem Land, weil sie die Pacht nicht länger aufbringen konnten. Wer „Glück“ hatte, konnte irgendwie noch die Überfahrt nach Amerika bezahlen, wo sie dann keineswegs mit offenen Armen empfangen wurden. Viele andere verhungerten.

Fazit

Zwischenzeitlich scheint die Handlung  auf der Stelle zu treten, denn in mehreren langen Rückblenden werden uns erst einmal die einzelnen Lebensgeschichten der Hauptpersonen erzählt, bevor wir wieder auf die Star of the Sea zurückkehren, doch das stört überhaupt nicht.

Selbst dass manche Charaktere nicht mit so ganz tolstoifeinem Blick gezeichnet werden, war egal. Ich habe schon lange nicht mehr so einen packenden und bewegenden Roman gelesen, der eine ganze Gesellschaft in den Blick nimmt. Öfter fühlte ich mich an Charles Dickens erinnert (der sogar seinen eigenen Auftritt in der Geschichte hat), nur ohne den Kitsch und ohne den Klamauk. Auch wie das in die Jahre gekommene Schiff selbst zu leben scheint, stöhnt und ächzt, sich durch Stürme kämpft, Ratten, Not und menschliche Schicksale beherbergt, war ganz großes Kino.

Vor allem durch die Einbettung der Geschichte in die Große Hungersnot in Irland öffnet sich der Blick auf einen wichtigen Moment der irischen Geschichte, ja der Menschheit insgesamt. Was für eine Not, was für eine Traurigkeit und – wie leicht das Wegschauen fiel. Was vorher nur ein paar Schlagworte aus der Geschichte waren, bekam plötzlich eine Tiefenschärfe, eine menschliche Dimension. Was für ein Trauma das für Irland bedeutet und welcher Hass sich da entwickelt haben muss, wurde auf einmal sehr nachvollziehbar.

Heute machen sich wieder Menschen auf, um Hungertod und Krieg zu entkommen. Wieder in überfüllten Booten. Skrupellosen Schleusern ausgeliefert. Und falls sie überhaupt irgendwo ankommen und nicht schon unterwegs ertrunken, erstickt oder sonst wie zu Tode gekommen sind, müssen sie sich in Flüchtlingsheimen fürchten und sehen sich u. U. einem pöbelnden Mob gegenüber, der von irrationalen Ängsten und Hass getrieben ist. Wie viel weiter als damals sind wir eigentlich gekommen?

Dixon, der amerikanische Journalist, der selbst von den Einkünften einer Plantage profitiert, will jedenfalls nicht länger dazu schweigen:

Nothing hat prepared him for it: the fact of famine. The trench-graves and screams. The hillocks of corpses. The stench of death on the tiny roads. The sunlit, frosted mornings he had walked alone from the inn at Cashel to the village of Carna – the sun shone, still, in this place of extinguished chances – and found three old women fighting over the remains of a dog. The man arrested on the outskirts of Clifden accused of devouring the body of his child. The blankness on his face as he was carried into the courtroom, not being able to walk with hunger. The blankness when he was found guilty and carried away. […] Dixon had no words for it. Nobody did.

And yet could there be silence? What did silence mean? Could you allow yourself to say nothing at all to such things? To remain silent, in fact, was to say something powerful: that it never happened: that these people did not matter. They were not rich. They were not cultivated. They spoke no lines of elegant dialogue; many, in fact, did not speak at all. They died very quietly. They died in the dark. (S. 130)

Anmerkungen

Hier geht’s lang zu einigen Besprechungen:

  • literaturkritik.de – Das Albtraumschiff (Petra Porto)
  • TAZ – Das Phantom der Wilden (Andreas Merkel)
  • FAZ – Kreuzfahrt auf einem Sargschiff (Tanya Lieske)

Hugh Walpole: Rogue Herries (1930)

A little boy, David Scott Herries, lay in a huge canopied bed, half awake and half asleep. He must be half awake because he knew where he was – he was in the bedroom of the inn with his sisters, Mary and Deborah; they were in the bed with him, half clothed like himself, fast sleeping. Mary’s plum naked arm lay against his cheek, and Deborah’s body was curled into the hollow of his back and her legs were all confused with his own. He liked that because he loved, nay, worshipped his sister Deborah.

So beginnt der Trumm von einem Buch (736 Seiten), der erste (!) von vier Bänden der opulenten Familiensaga des heute kaum noch gelesenen Schriftstellers

Hugh Walpole: Rogue Herries (1930)

Zum Inhalt

Um das Jahr 1730 bezieht die Familie Herries ein altes, vernachlässigtes Gutshaus im Lake District in der Nähe von Keswick, das sich seit Generationen in Familienbesitz befindet und ebenfalls Herries genannt wird. Da wären zum einen der Vater Francis Herries, ein schöner Mann und unverbesserlicher Frauenheld, ein Eigenbrötler und Tyrann, und seine ihn vergötternde Gattin Margaret, deren Ergebenheit ihm zuwider ist, auch wenn er ihre Mitgift wie selbstverständlich über die Jahre verschleudert.

Die beiden haben drei Kinder, Mary, Deborah und David. Nur zu dem Jungen hat Francis eine gute Beziehung und auch David liebt seinen wilden und unberechenbaren Vater von ganzem Herzen, obwohl sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Im Gefolge der Familie befindet sich aber – abgesehen von zwei Dienstboten – auch noch Alice Press, die aktuelle Geliebte von Francis. Für den äußeren Schein ist sie offiziell das Kindermädchen.

Als Alice anfängt, Francis auf die Nerven zu gehen, weil er so lange schon nicht mehr mit ihr geschlafen hat, verweist er sie kurzerhand des Hauses. Als sie sich weigert, die Familie zu verlassen, und es zu einem Treffen auf einem Jahrmarkt kommt, verkauft er sie – zumindest symbolisch – kurzerhand an den Meistbietenden. Spätestens da ist allen Leuten sowohl in Rosthwaite als auch in Keswick, wo die feineren Verwandten wohnen, klar, dass man Francis und seiner Familie besser aus dem Weg geht. Fortan heißt er nur noch Rogue Herries und ist ein gesellschaftlich Geächteter.

Allerdings könnte nichts ihm gleichgültiger sein. Francis ist sich selbst genug und erkundet die Täler und Berge und jeden Weg in seiner neuen Heimat, er verfällt der einzigartigen Landschaft des Lake District und weiß, dass er nie wieder woanders leben will.

Gleichzeitig prügelt er seinen Pferdeknecht blutig, treibt sich mit seinen Saufkumpanen herum und vernachlässigt seine Familie. Aber er weiß er um seine Natur, seine Verdorbenheit und ein immer wiederkehrender Traum erinnert ihn an seine Sehnsucht nach etwas Höherem, Reinem, nach etwas, dem sich seine starke Natur hingeben kann.

Und genau das passiert. Er sieht irgendwann die Frau, von der er sofort weiß, dass er sie bis zum Tode lieben wird, Miranda Starr. Diese Liebe wird sein Leben auf eine Art und Weise aus den Angeln heben, die weder er noch der Leser für möglich gehalten hätten.

So folgen wir nun den Geschicken der einzelnen Familienmitglieder und einiger Verwandter über viele Jahrzehnte, wobei die Fäden immer wieder zurück zu Francis, der Hauptfigur, führen, über den sein eigener Bruder sagt:

‚There is a wild loneliness in his spirit that no one can reach.‘ (S. 182)

Fazit

Eine für 1930 schon ganz und gar aus der Zeit gefallene Mischung aus Charles Dickens, Wuthering Heights und romantischem Schauer- und Abenteuerroman, der auch die geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sichtbar macht. Irgendwann sind wir sogar mitten in den Wirren um Charles Edward Stuart (Bonnie Prince Charlie), der mit seinen jakobitischen Anhängern 1745 Carlisle besetzt und versucht, die Krone für die Stuarts zurückzuerobern.

Haarsträubende Wendungen, unmotivierte historische Einsprengsel und Unglaubwürdigkeiten, dazu ein Schreibstil, den selbst ihm wohlgesonnene Kritiker als „sloppy“ bezeichnen. Walpole war bekannt dafür, drauflos zu schreiben und seine Texte nicht mehr zu überarbeiten, weil er viel lieber schon die neuen Geschichten aufschrieb, die ihm im Kopf herumschwirrten.

Und als Leser wünscht man sich dringend, dass er gekürzt, gestrichen, gerafft hätte, es hätte dem Buch und seiner innewohnenden Spannung sicherlich gut getan. Und wie schrieb The Quivering Pen so nett: „and he never turned away an adjective begging to be written.“

Doch wäre das alles, hätte ich wohl kaum die über 700 Seiten durchgehalten. Was also hielt mich bei der  Stange und sorgte letztendlich eben doch für ein großes Lesevergnügen?

Walpole schreibt so herzhaft, dass es eine Freude ist:

With his long protruding chin his face had the shape of a yellowpointed shoe, and his eyebrows looked as though they were made of horsehair and fastenend on with glue. (S. 498)

Und die Beschreibung eines Fußballspiels, bei dem bis zu 200 kampfeslustige Männer aus unterschiedlichen Dörfern gegeneinander antreten, war so anschaulich und aufregend, als wäre Walpole selbst dabei gewesen. Ein Rezensent hat deshalb seine Geschichten als Gute-Nacht-Geschichten für Erwachsene bezeichnet, da Walpole im Grunde ein (mündlicher) Erzähler gewesen sei.

Ich las das Buch während unseres Urlaubs im Lake District. Mit Walpole, der von 1924 bis zu seinem Tod 1941 neben seiner Wohnung in London auch ein Haus sechs Meilen von Keswick entfernt besaß und sich in die Gegend verliebt hatte, fand ich einen Gesinnungsgenossen in der Faszination für diese Landschaft. Mit Rogue Herries ist Walpole eine Hommage an ein Fleckchen Erde gelungen, die diejenigen sofort nachvollziehen können, die ebenfalls von diesem Virus befallen sind.

Der heutige Blick auf die wunderbare Landschaft mit ihren pittoresken Orten wurde durch die im 18. Jahrhundert angesiedelte Handlung nach und nach mit einer weiteren Dimension versehen. Plötzlich sah ich in hinter den – gerade zur Hauptsaison überfüllten und beengten – Marktstädtchen und herausgeputzten Dörfern und den einsam gelegenen Farmen Armut, Menschenleere, Krankheiten, karge und schmutzige Lebensbedingungen hervorschimmern und statt Kino und Bootstouren geisterten mir Hundekämpfe, Wrestling, Hahnenkämpfe und Bullenbeißen durch den Kopf oder Märkte mit allerlei zwielichtigen Gestalten, fahrendem Volk und Aberglaube sowie brutale Klassenschranken.

It was not so much that English society in the middle of the eighteenth century was snobbish, as that the members of it simply felt that those who were not members of it were not human. It was easy enough. A man who was not a gentleman was hanged for stealing a sheep or whipped at the public stocks until the blood ran, or a child would be imprisoned in a jail too filthy for rats for stealing a loaf of bread, or a woman who was not a lady would suffer the grossest of public indignities for no reason other than that she answered her mistress impertinently. (S. 613)

Darüber hinaus ist Walpole tatsächlich ein großartiger Geschichtenerzähler. Er hat selbst gewusst, dass seine Art des Erzählens im Gegensatz zu der zu seiner Zeit modernen Literatur stand, was ihn nicht daran gehindert hat, mit Virginia Woolf, Henry James und anderen gut befreundet zu sein. Trotzdem hat er darauf beharrt, dass eine gute Geschichte eine sei, bei der der Leser unbedingt wissen wolle, wie es weitergeht. Und genau das hat er hier auch geschafft, trotz der Ausuferungen, Melodramatik und mancherlei Unwahrscheinlichkeiten.

Und: Ich glaube ihm seine wilden Geschichten, denn sie werden mir mit so viel Begeisterung erzählt und seine Charaktere sind – in der Welt dieses Romans – trotz allem in sich stimmig.

But the devil was always around the corner with a remarkable knowledge of each individual’s weakness. (S. 644)

Wir verstehen die Unterwürfigkeit Margaretes, der Frau von Herries, und genauso verstehen wir, warum ihn gerade das so abstößt.

It was the most aggravating thing that she could have said. It called up in its train a thousand stupidities, placidities, nervousnesses, follies, that had, in their time, driven him crazy with irritation. Never a mind of her own, always this maddening acquiscence and sentimental fear of him. He drew his hand away. (S. 55)

Walpole schildert Menschen so, wie sie sind, manchmal mit einem freundlichen Schuss Bosheit, aber immer mit viel Anteilnahme. Über Pomfret, einen der Brüder von Francis, heißt es:

He was sixty-seven years of age now, a tun of a man with a floating hulk of a belly, and he was lonely as perhaps were all men of sixty-seven. Only with horses and dogs and a drinking parson and a swearing friend or two, killing, hunting those animals that he yet so dearly loved, only thus might he for a driving hour cheat himself of his loneliness. (S. 263)

Ja, als ich auf Seite 736 angekommen war, war ich froh zu wissen, dass der zweite Ziegelstein aus der Herries-Serie Judith Paris bereits sicher im Urlaubsgepäck verstaut war.

Anmerkung

Hier geht’s lang zu dem Beitrag The Walpole Chronicle von Eric Robson auf BBC 4.

Grevel Lindop bringt es am Ende seiner fairen Besprechung auf den Punkt:

As for Herries, there will be places in these massive blocks of paper where everyone will want to skip. But Walpole’s ham-fisted, messy and eccentric attempt at the Great Lakeland Novel still deserves to be read. The episodes – by turns gracelessly ornate and bleakly brilliant – remain often weirdly enthralling and memorable, their sheer self-indulgence a guilty pleasure for the reader too. In the Herries novels, Walpole confessed, he had allowed himself to be, for the first time in his adult life, ‘what I really am – a little boy telling stories in the dormitory.’

Schmöker

Der Duden definiert Schmöker als die umgangssprachliche Bezeichnung für ein „dickeres, inhaltlich weniger anspruchsvolles Buch, das die Lesenden oft in besonderer Weise fesselt.“ Der Begriff stamme aus der Studentensprache: Man schmökte sein Pfeife und dazu riss man übermütig aus einem alten oder schlechten Buch Seiten heraus, um daraus seine Fidibusse zum Anzünden zu drehen (siehe auch den Artikel der GfdS).

Für mich ist der Begriff „Schmöker“ jedoch nicht negativ besetzt: Ein Schmöker muss spannend sein, uns eine kleine Alltagsflucht ermöglichen – deswegen spielt er vorzugsweise an geografisch von uns entfernten Orten und vielleicht auch in einer anderen Zeit. Außerdem muss er viele, viele Seiten haben. Das aktuelle Weltgeschehen bleibt mal einige Stunden außen vor. Man entspannt wie an einem gelungenen Kinoabend und ist gefesselt von der Geschichte, der vorwärts eilenden Handlung, man begleitet die Sympathieträger und will unbedingt wissen, wie es weitergeht. Und wenn das Buch zu Ende ist, hätte man gern noch weitergelesen anstatt sich wieder im Alltag einzufinden.

Dabei darf die Lektüre keinesfalls trivial, eindimensional oder verkitscht sein. Ich möchte mich ja nicht für dumm verkauft fühlen. Aber sicherlich werde ich auch nicht so gefordert wie bei einem anspruchsvolleren Roman. Man wird mit seinen Ansichten und seinem Stückwerk an Erkenntnissen nicht in Frage gestellt. Das zeigt, dass der Begriff Schmöker ein höchst subjektiver ist: Was für den einen ein Schmöker ist, ist für den anderen schon Trivial- oder einfach Unterhaltungsliteratur.

Die schönste Erklärung, der wirklich nichts mehr hinzugefügt werden muss, stammt von e. o. plauen (eigentlich Erich Ohser), der 1944 Suizid beging. Seine reizende Bildergeschichte trägt den Titel Der Schmöker (auch bekannt unter dem Titel Das interessante Weihnachtsbuch). Der Südverlag war sogar so nett und erteilte mir eine Abdruckerlaubnis, wenn ich mit vaterundsohn.de verlinke und die „Unterdrückung der Download-Möglichkeit über die rechte Maustaste“ sicherstelle. Falls jemand weiß, was damit gemeint ist, let me know.

Was aber ist für euch ein wunderbarer und empfehlenswerter Schmöker?

Immer weitere Kommentare von euch trudeln ein, deshalb hier eine gern zu ergänzende Liste der genannten Titel (in Klammern Mehrfachnennungen):

  • Graphic Novel “The Walking Dead Compendium Vol. 1&2″
  • Jane Austen: Pride and Prejudice (2)
  • Jean-Luc Bannalec
  • Emily Bronte: Wuthering Heights
  • Raymond Chandler
  • James Clavell: Shogun
  • Dostojewski: Die Brüder Karamasow
  • Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo
  • Daphne du Maurier: Rebecca (2)
  • Umberto Eco: Der Name der Rose
  • Ildefonso Falcones: Die Kathedrale des Meeres
  • Ken Follett: Die Säulen der Erde/Die Tore der Welt (2)
  • Jonathan Franzen: Freiheit
  • Lee Harper: Wer die Nachtigall stört
  • Yu Hua: Brüder
  • James Jones: Verdammt in alle Ewigkeit
  • Stephen King: Es
  • Elisabeth Kostova: Der Historiker
  • John Ajvide Linqvist: So finster die Nacht
  • Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
  • Margaret Mitchell: Vom Winde verweht (2)
  • James Albert Michener: Hawaii/Die Bucht
  • Paul Murray: Skippy stirbt
  • Gregory David Roberts: Shantaram
  • Willy Russell: Der Fliegenfänger
  • Dorothy Sayers
  • Lisa See: Der Seidenfächer
  • Diane Setterfield: Die dreizehnte Geschichte (2)
  • John Steinbeck: Jenseits von Eden (2)
  • Donna Tart: Die geheime Geschichte
  • Tiziano Terzani: Das Ende ist mein Anfang
  • J. R. R. Tolkien: Herr der Ringe
  • Leo Tolstoi: Anna Karenina (2)
  • Leon Uris: Exodus
  • Martin Walker
  • Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River

Daphne du Maurier: Rebecca (1938)

Last night I dreamt I went to Manderley again. It seemed to me I stood by the iron gate leading to the drive, and for a while I could not enter, for the way was barred to me. There was a padlock and a chain upon the gate. I called in my dream to the lodge-keeper, and had no answer, and peering closer through the rusted spokes of the gate I saw that the lodge was uninhabited.

Mit diesen poetischen Sätzen beginnt Rebecca von Daphne du Maurier, ein wunderbarer Schmöker, der seit seinem Erscheinen 1938 ohne Unterbrechung lieferbar ist.

Romanidee

Kein Wunder, dass dieser schauerlich-schöne Liebesroman mit seinen unerwarteten Wendungen und dem geschickten Spannungsaufbau 1940 von Hitchcock verfilmt wurde. In der Ankündigung an ihren Verleger beschrieb sie ihre Romanidee folgendermaßen:

… very roughly the book will be about the influence of a first wife on a second … she is dead before the book opens. Little by little I want to build up the character of the first in the mind of the second … until wife 2 is haunted day and night … a tragedy is looming very close and crash! bang! something happens … it is not a ghost story. (zitiert nach Margaret Forster: Daphne du Maurier, arrow books 1993, S. 132)

Zum Inhalt

Die Ich-Erzählerin, die inzwischen mit ihrem Mann Maxim irgendwo in einem südeuropäischen Hotel in einem selbstauferlegten Exil lebt, blickt voller Wehmut auf die ersten Monate ihrer Ehe zurück.

I am glad it cannot happen twice, the fever of first love. For it is a fever, and a burden, too, whatever the poets say. They are not brave, the days when we are twenty-one. They are full of little cowardices, little fears without foundation, and one is so easily bruised, so swiftly wounded, one falls to the first barbed word. (S. 37 der schönen Hardcover-Ausgabe von Virago Modern Classics)

Wir erfahren, wie sie als junge mittellose Frau, die ihren Lebensunterhalt als Gesellschafterin einer reichen, aber dümmlich-snobistischen Amerikanerin verdient, den attraktiven Witwer Maximilian de Winter kennenlernt. Maxim ist über 20 Jahre älter, wohlhabend und Besitzer des herrlichen Herrenhauses Manderley irgendwo an der Küste in England. Er scheint Gefallen an der jungen, unerfahrenen und nicht besonders attraktiven Frau zu finden, die zudem überaus schüchtern ist und immer an ihren Fingernägeln kaut, wenn sie nervös und unsicher ist.

Als sie mit ihrer Arbeitgeberin nach Amerika aufbrechen soll, macht de Winter ihr kurzerhand einen Heiratsantrag, den sie – völlig bezaubert und betört – annimmt. Nach wunderbaren Flitterwochen in Südeuropa kehrt de Winter mit seiner jungen Braut, deren Namen wir nicht erfahren, nach Manderley zurück.

Doch mit ihrer neuen Rolle als Herrin eines herrschaftlichen Anwesens ist sie von Anfang an überfordert. Sie weiß nicht, wie sich kleiden, wie mit den Dienstboten umgehen, wie mit ihrem Mann auf Augenhöhe kommunizieren. Alle häuslichen Angelegenheiten werden von der Dienerschaft und der unheimlichen Haushälterin Mrs Danvers mit dem totenkopfähnlichen Schädel geregelt, und zwar im Sinne der verstorbenen Hausherrin Rebecca, die vor knapp einem Jahr bei einem Segelunfall ums Leben gekommen ist. Mrs Danvers hält das Zimmer und die Kleidung Rebeccas wie einen Schrein in perfekter Ordnung. So bleibt der jungen Frau nur ein bisschen zu zeichnen, zu lesen und sich mit dem Cockerspaniel Jasper auf ausgedehnte Spaziergänge zu begeben und sich den afternoon tea unter der großen Kastanie servieren zu lassen.

Scheinbar war Rebecca die Verkörperung aller weiblichen Tugenden: wunderschön, klug, eine charmante Gastgeberin, eine tollkühne Reiterin und erfahrene Seglerin, kurz jemand, der jeden bezauberte, der ihr begegnete. So verstrickt sich die neue Mrs de Winter immer tiefer in Angstfantasien, Eifersucht auf die Tote und die Überzeugung, dass Maxim es bestimmt bereue, sie so überstürzt geheiratet zu haben. Sie spürt genau, dass ihre Ehe nicht auf Ebenbürtigkeit beruht, verhält sich aber genau wie das Kind, als das sie nicht behandelt werden möchte.

I wished he would not always treat me as a child, rather spoilt, rather irresponsible, someone to be petted from time to time when the mood came upon him but more often forgotten, more often patted on the shoulder and told to run away and play. I wished something would happen to make me look wiser, more mature. Was it always going to be like this? He away ahead of me, with his own moods that I did not share, his secret troubles that I did not know? Would we never be together, he a man and I a woman, standing shoulder to shoulder, hand in hand, with no gulf between us? (S. 219 – 220)

Ihre von du Maurier psychologisch feinfühlig gezeichnete Unsicherheit und ihre Ängstlichkeit, auch ihrem Mann gegenüber, verhindern ein offenes Ansprechen ihrer Sorgen, bis es bei einem Maskenball zum Eklat kommt. Naiverweise hat sie den Rat Mrs Danvers befolgt und will Maxim mit einem Kleid überraschen, das einem der Familienporträts nachempfunden ist.

Und dann nimmt die Handlung weiter an Fahrt auf und an (Melo-)Dramatik zu und ich konnte das Buch erst zur Seite legen, als ich wusste, wie es ausgeht.

Fazit

Du Maurier ist eine überzeugende Balance zwischen der Charakterstudie einer jungen Frau, die erst in der Ehe erwachsen wird, und einer spannenden „gothic romance“ gelungen, die an einigen dezent-passenden Stellen sogar witzig ist. Als Beatrice, ihre herzensgute, aber lärmige Schwägerin, ihr von dem Maskenball vorschwärmt, den sie jährlich bei sich zu Hause veranstalten, wird die junge Mrs de Winter leicht nervös:

I had an uneasy feeling we might be asked to spend the approaching Christmas with Beatrice. Perhaps I could have influenza. (S. 201)

Die Personen sind manchmal fast schon Archetypen: Der Ehemann ein düsterer und – wenn auch nur in seiner Sicht – tragischer Held, die böse Haushälterin, der loyale Butler. Gleichzeitig bleiben Dissonanzen, so dass ich nie das Gefühl hatte, einen eindimensionalen Trivialroman zu lesen. Das liegt vor allem daran, dass die Hauptperson eine Entwicklung durchmacht, die stimmig und glaubwürdig ist.

It seemed incredible to me now that I had never understood. I wondered how many people there were in the world who suffered, and continued to suffer, because they could not break out from their own web of shyness and reserve, and in their blindness and folly built up a great distorted wall in front of them that hid the truth. This was what I had done. I had built up false pictures in my mind and sat before them. I had never had the courage to demand the truth. (S. 309)

Der Leser, die Leserin soll die Perspektive der jungen Frau übernehmen, und es ist verblüffend, wie gut das gelingt, bis ich mir die Augen reibe und sage: Das ist doch unerhört, da schimpft das junge Paar auf die Presse und die Journalisten, die die schmutzige Wäsche der de Winters aufdecken und damit den guten Namen Manderley in den Schmutz ziehen, haben aber keinerlei Gewissensbisse, wenn sie selbst Verbrechen unter den Teppich kehren, die nun überhaupt nicht unter den Teppich gehören.

Kurzum: ein höchst befriedigendes Buch, wenn man gut und spannend unterhalten werden will, auch wenn Sally Beauman in ihrem lesenswerten Nachwort in der Virago Modern Classics-Ausgabe zugibt, dass der Roman von den Kritikern bedauerlicherweise – und zwar zu Unrecht – immer unterschätzt worden sei:

One thing is certain: Rebecca is a deeply subversive work, one that undermines the very genre to which critics consigned it.

Beauman hat übrigens Rebecca’s Tale (2001), eine Fortsetzung zu du Mauriers Buch,  geschrieben. Jetzt müsste man eigentlich gleich im Anschluss mal wieder Jane Eyre von Charlotte Bronte lesen. Und wer den Film sehen möchte, hier geht’s lang.

Zum Weiterlesen: Sabine Friedrich hat in ihrem lesenswerten Beitrag „Rebecca: sexistischer Horror“ eher den Blick auf die Darstellung der verstorbenen Rebecca gelegt. Und die Besprechung auf schiefgelesen ist großes Kino. Unbedingt lesen.

Zur Biografie

Margaret Forster, selbst eine großartige Autorin, hat Daphne du Maurier (1993) geschrieben, eine von der Kritik zu Recht sehr positiv besprochene Biografie. Diese beleuchtet intelligent und einfühlsam das Wechselspiel zwischen dem Leben der Schriftstellerin und ihren Werken.  Interessant beispielsweise die Jugendzeit der Autorin, die in einem sehr begüterten Umfeld aufwuchs. Ihre Familie war u. a. mit Barrie, dem Schöpfer von Peter Pan, und der Familie von Edgar Wallace gut befreundet.

Auch du Maurier hat ihren Mann nach nur drei (!) Monaten des Kennenlernens geheiratet, und war dann – surprise, surprise – verwundert und auch befremdet, dass der Mann einige Seiten hatte, wie z. B. schreckliche Alpträume als Nachwirkungen seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg, von denen sie gar nichts geahnt hatte und die sie auch nicht sonderlich attraktiv fand.

In ihre Werke flossen immer autobiografische Anteile und jeweilige Stimmungen und Fragestellungen ein. In ihrem erfolgreichsten Roman Rebecca beispielsweise hat sie einige ihrer eigenen Eigenschaften auf die zwei weiblichen Hauptfiguren aufgeteilt. Sie war wie Rebecca eine begeisterte Seglerin und sexuellen Erfahrungen gegenüber sehr aufgeschlossen, doch auf der anderen Seite war sie eine so hoffnungslose Hausfrau wie die namenlose Protagonistin. Du Maurier war noch nicht einmal in der Lage, ihrem Baby die Flasche zu geben, als das Kindermädchen Ausgang hatte, und war am Boden zerstört, als sie zum zweiten Mal schwanger wurde. Am liebsten hat sie ihre Kinder bei einem Kindermädchen deponiert. Als ihre Töchter ca. sechs bzw. zwei Jahre alt waren, schrieb sie:

I am not one of those mothers who live for having their brats with them all the time and I sincerely look forward to the time when Flavia and Tessa will be of a decent companionable age. (zitiert nach Margaret Forster, S. 145)

Erst bei ihrem Sohn, dem dritten Kind, empfand sie anders und konnte sich von dem kleinen Kerl kaum trennen. Auch die Repräsentationspflichten, die sie später als Gattin eines hochrangigen Offiziers hatte, haben Daphne mit ähnlichem Abscheu erfüllt wie die zweite Mrs de Winter. Doch gleichzeitig war sie willensstark und vom Luxus verwöhnt wie Rebecca.

Zeitlebens hat du Maurier ihre Bisexualität vor ihrer Familie verschwiegen, an einer immer problematischeren Ehe festgehalten und im Alter unendlich darunter gelitten, dass ihre Kreativität versiegte, da das Schreiben immer auch ein Weg gewesen war, verheimlichte und ungezügelte persönliche Anteile auszuleben.

Der Herrensitz Manderley wurde dem Anwesen Menabilly in Cornwall nachempfunden, den du Maurier aus ihrer Jugend kannte und in dem sie von 1943 bis 1969 lebte. Als sich die Gelegenheit ergab, das Haus Menabilly für zwanzig Jahre zu mieten, und zwar unter der Bedingung, dass sie auch für Reparaturen und die komplette Instandhaltung des riesigen Hauses aufzukommen hatte, hat sie nicht gezögert und sich geradezu wahnwitzig in dieses Projekt gestürzt. Dabei hat sie dann immer verdrängt, dass das Haus ihr gar nicht gehört und die eigentlichen Erben immer in den Startlöchern standen.

Vielleicht sind die fast schon hypnotisierenden Schilderungen Manderleys und der Natur auch der Tatsache geschuldet, dass der Roman zu einem Viertel in Ägypten verfasst wurde, wo ihr Mann für einige Zeit stationiert war. Sie hat sich die ganze Zeit nach England und dem Wetter dort zurückgesehnt und das Leben in Ägypten gehasst und – man kann es nicht anders sagen – sich mit ausgesprochenem Dünkel über die Einheimischen mokiert.

Während ihr Mann im Krieg war, war das Familienleben auf Menabilly gelinde gesagt chaotisch. Ratten liefen nachts durchs Haus, was die Kinder zwar ängstigte, aber Daphne völlig kalt ließ. Genauso wie die Kälte, die Fledermäuse im Zimmer oder die unzureichende Erziehung ihrer Kinder. Das Kindermädchen war immer häufiger krank, die Mahlzeiten oft improvisiert.

Daphne […] very successfully ignored the chaos around her. She was entirely relaxed about any kind of mishap, and also about the state of the house, just so long as she could go on writing. Tessa’s two goats, Freddie and Doris, were allowed to wander wherever they liked, on condition they didn’t actually  sleep on the beds, and the rabbits and bantams, though meant to be outside, were not unwelcome either. On fine days the children roamed the woods and on wet days explored the shut-off north wing which their mother worried about, because it was unsafe, though she did not make much effort to stop them. (Margaret Forster, S. 193)

Vea Kaiser: Blasmusikpop (2012)

Alle Holzfäller schworen, sie hätten jenen Stammrutsch, der Johannes Gerlitzen zu Sommerbeginn 1959 die Schulter ausrenkte und den rechten Arm brach, nicht kommen sehen. Zu Johannes‘ Glück waren es nur fünf gefällte Fichten – Äste und Zweige waren bereits abgeschlagen -, die so schwer auf dem feuchten Waldweg lasteten, dass dieser abrutschte.

So beginnt das aberwitzig-gute Romandebüt Blasmusikpop von Vea Kaiser, die bei Erscheinen des Buches 23 (!) Jahre alt war.

Zum Inhalt

Johannes Gerlitzen wird nun also von den anderen Männern nach Hause gebracht, mit dem ortstypischen Starrsinn lehnt er es ab, einen Arzt aus der Stadt kommen zu lassen. Unter Zuhilfenahme einer kompletten Schnapsflasche wird ihm die Schulter eingerenkt und der Arm geschient. Dabei geraten die Männer in Streit.

Erst als Elisabeth [die Frau Johannes] einen Kübel Brunnenwasser über ihnen ausgoss, ließen sie voneinander ab. Seit sie Kinder waren, ging das so, und Elisabeth hatte, da sie unmittelbar neben den Ötschs wohnten, immer einen Kübel kalten Wassers parat. Am Gartenzaun standen fünf davon. (S. 12)

Johannes ist auf längere Zeit nicht in der Lage, seiner Arbeit als Holzschnitzer nachzugehen und vertieft sich stattdessen in die Bestände der kleinen Gemeindebibliothek in seinem abgelegenen Bergdorf in den Alpen. Diese Lektüre hat ungeahnte Folgen: Er findet seine große Leidenschaft, die Wissenschaft, und beschließt, Frau und Kind zurückzulassen, in die Hauptstadt zu reisen und dort Doktor zu werden.

Für die Dorfbewohner, die ihn davon abhalten wollen, sich in die feindliche Welt der „Hochgeschissnen“ hinauszuwagen, steht fest: Johannes ist verrückt geworden. Doch nichts kann ihn umstimmen, und so marschiert er einfach mal los.

Nun kann eine furiose Familien- und Dorfgeschichte über drei Generationen ihren Lauf nehmen, über die ich gar nichts weiter verraten möchte, weil ich jeden beneide, der diese Fülle an Geschichten, Lebensfreude, Menschenfreundlichkeit, eigenwilligen Figuren und unbekümmerter Situationskomik noch vor sich hat.

Zunächst befürchtete ich, dass das Ganze wie eine hübsche Seifenblase nicht wirklich für fast 500 Seiten reichen und sich in einer launigen Dorfchronik  erschöpfen würde, die über die wenigen traurigen Stellen rasch und nicht wirklich überzeugend hinweg huschte. Auch die quasi-wissenschaftlichen Exkurse des Enkels von Johannes zur Geschichte St. Peters fand ich arg erschöpfend. Dieser hat sich seinen Helden Herodot zum Vorbild genommen, um das Leben der „Bergbarbaren“, wie er seine Mitbürger freundlich-spöttisch nennt, zu erforschen.

Aber dann passiert das Gegenteil: Die lange Vorgeschichte passt am Ende wunderbar zu der Geschichte des Enkels, der seine liebe Not hat, mit seiner Herkunft aus dem Dorf der Barbaren zurande zu kommen; einem Dorf, das sich jedem Kontakt mit höherer Schulbildung, Hochsprache und Zivilisation so weit wie möglich entzieht und seine eigenen Regeln und Gepflogenheiten hat. Und das Ende des Buches ist so köstlich, dass ich selbst als kompletter Fußballmuffel kurz davor war, mein Herz für den Fußball zu entdecken.

Johannes, der Enkel, durchlebt seinen ganz eigenen Bildungsroman und er zeigt, dass wir erst dann sinnvoll in die Zukunft gehen können, wenn wir Frieden mit unserer Herkunft geschlossen haben, vielleicht sogar die Blindheit ablegen können, mit der wir diese bisher betrachtet haben.

Im Gegensatz zu Sigrid Löffler, die dem Buch eine naive Feier des Hinterwäldlertums unterstellt, halte ich den Roman für eine anregende Auseinandersetzung mit der Frage, was Provinz und Heimat für uns bedeuten. Sigrid Löffler schreibt:

Vea Kaiser ist eine opulente Fabuliererin; sie schwelgt in skurrilen Details und kann sich gar nicht genug tun, die Schrullen der kauzigen Dörfler genüsslich und liebevoll auszumalen. Sie ist auch eine begnadete Ausblenderin großer Realitätsbereiche, die ihr nicht ins Harmonisierungskonzept passen. Ihr positives, gänzlich unproblematisches Heimatbild lässt sie sich nicht trüben, auch nicht dadurch, dass ihre Dörfler alle Erscheinungsformen der urbanen Moderne ablehnen. Eine kritische oder auch nur ironische Distanz der Erzählerin zur Zivilisations- und Bildungsfeindlichkeit der Dörfler ist nirgends bemerkbar. Im Gegenteil. Es herrscht ein wohliger Ton heiteren und behaglichen Einverständnisses mit jedem noch so plumpen Zeichen der demonstrativen Rückständigkeit der Dörfler. (Kulturradio vom rbb, 13. August 2012)

Als Beispiel für die Tumbheit der Dorfbewohner führt Löffler ihre angebliche Technikfeindlichkeit an, ihre Ignoranz gegenüber Internet, Facebook und Handys. Sie hat dabei leider übersehen, dass gerade Johannes, der einzige Gymnasiast, der Verehrer Herodots, der Anhänger der „Zivilisation“ in diese Techniken erst durch seine neugewonnenen Freunde im Dorf eingeweiht werden muss.

Überhaupt ist gerade das eine der Stärken des Buches, dass Kaiser Schwarzweiß-Malerei vermeidet. So wenig wie sie das Misstrauen der Dorfbewohner gegenüber der Welt da draußen verschweigt, so offen bleibt am Ende auch, ob die nun denkbare Öffnung z. B. gegenüber dem Tourismus nun wirklich das Gelbe vom Ei sein wird. Und Löfflers Vorwurf der Ironiefreiheit lässt mich zweifeln, ob wir überhaupt das gleiche Buch gelesen haben.

Viel eher könnte man an Kleinigkeiten herummäkeln, am Titel, an sprachlichen Patzern wie „senile Altersbettflucht“ oder Metaphern, die wiederholt werden, oder daran, dass Simona, die im letzten Teil des Romans eine entscheidende Rolle spielt, ein bisschen zusammenkonstruiert wirkt. Aber ehrlich gesagt, das ist völlig unerheblich, ich war nach den 479 Seiten enttäuscht, dass der Roman schon zu Ende war, und wäre auch noch die nächsten dreißig Jahre den Leuten in St. Peter am Anger treu geblieben.

Allgäu0045