Elin Wägner: Die Sekretärinnen (OA 1908)

Die Straßenbahn war voller morgendlich blasser und fröstelnder Arbeiter. Als ich sie sah, versuchte ich meine Stimmung durch ein ‚Denk an die ganzen Leute, denen es schlechter geht als dir‘ zu heben. Da ich nicht vor neun Uhr im Büro sein muss, hätte es unglaublich guttun müssen, an die zu denken, die schon um sieben in die Tretmühle müssen, aber das ist wohl nur eine Legende, die sich alte Leute ausgedacht haben, denn der Gedanke an die Sieben-Uhr-Menschen hob meine Stimmung nur unwesentlich. (S. 8)

Das Buch Norrtullsligan der schwedischen Journalistin, Schriftstellerin und Feministin Elin Wägner erschien 1908. Bereits 1910 wurde die erste deutsche Übersetzung von Julia Koppel unter dem Titel Die Liga der Kontorfräulein: eine Erzählung aus Stockholm veröffentlicht. Nun erschien im Ecco Verlag eine Neuübersetzung von Wibke Kuhn.

In sachlichem, kessem Understatement erzählt die 25-jährige Elisabeth von den Nöten und Freuden junger Frauen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts nach Stockholm kamen, um dort beispielsweise als Sekretärinnen sich und manchmal auch noch jüngere Geschwister finanziell durchzubringen. Elisabeth lebt mit drei weiteren Frauen gemeinsam zur Untermiete, doch die Löhne sind karg, sie werden grundsätzlich schlechter als die Männer bezahlt und müssen sich zudem mit sexuellen Belästigungen durch ihre Kollegen und Chefs herumärgern. Dass man sich manchmal sogar in seinen Chef verliebt, macht die Sache nur noch schlimmer, denn der will zwar ein bisschen Spaß haben, aber  keinesfalls seine Sekretärin ehelichen.

Und so zerplatzen die Träume wie Seifenblasen, derweil die Frauen sich gegenseitig unterstützen und zusammen feiern, bis politische Fragen (soll man streiken oder nicht) die ein oder andere Freundschaft auf die Probe stellen.

Auch wenn Elisabeth und ihre Freundinnen den Großstadttrubel genießen; viel an kulturellen Möglichkeiten oder Unterhaltung können sie nicht wahrnehmen, dafür haben sie gar kein Geld. 

Ich mochte den Einblick in eine Welt, in der das Recht auf die Berufstätigkeit der Frau erst noch erkämpft werden musste, und den ironisch-saloppen Stil. Dennoch: Lange nachgehallt hat das Buch leider nicht bei mir, dafür waren die Charaktere dann doch nicht nuanciert genug.

Eine weitere Besprechung findet ihr auf Kulturbowle.

Die hübsche neue Hardcover-Ausgabe Die Sekretärinnen aus dem Ecco Verlag mit einem Bild von Hilma af Klint auf dem Cover enthält bedauerlicherweise keinerlei Vor- oder Nachwort, was bei der Bedeutung und dem Lebenslauf dieser Autorin doch etwas verwundert. 

Weitere Bücher auf dem Blog, die sich mit der Thematik ‚Frauen und Berufstätigkeit’ beschäftigen: 

Malin Lindroth: Ungebunden: Das Leben als alte Jungfer (OA 2018)

Die schwedische Autorin und Dramaturgin Malin Lindroth (*1965) möchte in ihrem zarten, offenen und aufmüpfigen Werk Ungebunden von ca. 80 Seiten, das von Regine Elsässer ins Deutsche übersetzt wurde und ein Vorwort von Teresa Bücker enthält, einer Gruppe eine Stimme geben, die ihrer Meinung nach seit Jahrzehnten ungehört und unsichtbar ist. Dafür bedient sie sich einer Vokabel, die im Wortschatz des modernen Menschen schon so gut wie ausgestorben war, die der alten Jungfer. Ein Begriff, der wie kaum ein anderer das Geschlecht, die implizierte Schande und den Familienstand unter einem Dach vereine.

Indem ich mich alte Jungfer nenne, stehe ich zu meiner Geschichte, mehr nicht. Ich nehme mir das Recht, über das, was ich weiß und gesehen habe, zu sprechen. Und ich tue dies in der Gewissheit, dass ich, in dem Moment, wo ich das Narrativ über mich in Besitz nehme, mich von anderen Narrativen befreie, denen der Kultur, von denen ich keinerlei Nutzen hatte. (S. 103)

Alte Jungfern, das sind für Lindroth die älteren Frauen, die nie dauerhaft in einer Partnerschaft gelebt haben, obwohl sie sich das gewünscht haben. Witwen oder Geschiedene zählen laut Lindroths Definition nicht dazu, denen fehle die „gediegene Erfahrung“ des Alleinseins.

Ledige Frauen müssten nicht nur mit dem ungewollten Single-Dasein zurechtkommen, sondern auch mit dem Kult, den die moderne Gesellschaft um die glückliche Partnerschaft treibt. Und mit dem Schweigen, dem Nichterzählen, dem Nichtgeltenlassen ihrer eigenen Geschichten. Für diese Frauen, die Lindroth aus dem eigenen und gesellschaftlichen Schweigen holen möchte, holt sie den Begriff der alten Jungfer aus der Mottenkiste, bürstet ihn gegen den Strich und versieht ihn mit Traurigkeit, Pep, Zunder und einer neuen Freiheit.

Die Autorin lebte in den Achtzigern vier Jahre lang in einer Beziehung, seitdem nie wieder.

Seit 1989 habe ich mich fünfzehnmal verliebt. Alle Männer haben Nein gesagt. Ich habe nie Nein gesagt. Diese Gelegenheit bot sich nie. (S. 27)

Und so berichtet uns die Autorin von schmerzhaften Erinnerungen, die bis zurück in die Schulzeit reichen, von sozialer Unbeholfenheit, eigenen Schwachstellen, die sie immer wieder auf die falschen Männer hereinfallen ließ, aber auch von der Unsichtbarkeit der Alleinstehenden.

Das Thema scheine so schambesetzt, auch bei den besten FreundInnen, dass es keinen Ort zu geben scheint, wo die „alte Jungfer“ einfach erzählen und sein darf, wie sie ist, so wie doch all die Paare und Familien da sein und erzählen dürfen.

Dazu kommt für Lindroth die Frage, wie dieser Lebensstil in den Medien, in Büchern und Filmen gespiegelt wird. Wer würde nicht an Bridget Jones denken, über die man eben nicht emphatisch gelacht habe, sondern vielmehr hämisch, da Bridget es, im Gegensatz zu einem selbst, einfach nicht gebacken bekam. Im 21. Jahrhundert kam dann Carrie Bradshaw in Sex and the City. Nun galt es, sich selbst und den anderen das Alleinsein als eigene emanzipierte Wahl zu verkaufen, ja, es konnte als Teil eines erfolgreichen und empowered Lebensstil hochgejazzt werden.

Doch Lindroth betont, dass das für sie nie gestimmt hat, sie und viele andere haben sich diesen Lebensstil eben nicht freiwillig ausgesucht. Besonders vermisse sie inzwischen das alltägliche Geplauder, das Teilen des Alltags. Deshalb müsse man sich zwar keineswegs als Opfer sehen, das ständig in einer bemitleidenswerten Dramafalle sitze, nur sei  es eben schwierig, auch in dieser Lebensrealität mit den dazugehörigen Erfahrungen gehört, gesehen und akzeptiert zu werden. Höchstens werde man huldvoll beneidet, weil man ja keinen Stress mit schreienden Babys und überhaupt so viel mehr Zeit für sich selbst zur Verfügung habe.

Die Sprache machte große Kreise um die Einsamkeit, in der wir alle geboren werden und sterben und dazwischen unser Bestes tun, um sie zu vergessen. (S. 31)

Das Problem ist, dass viele Leute nicht wissen, wie man mit jemandem spricht, der keinen Referenzrahmen in Sachen Zweisamkeit besitzt. Sie lösen dieses Problem, indem sie einen korrigieren oder für nicht vorhanden erklären. (S. 50)

Neben einem kurzen Rückblick in die Geschichte Schwedens im 19. Jahrhundert, als unendlich viele Frauen ledig waren, da es schlicht zu wenig Männer gab, beschreibt sie, wie unterschiedlich ledige Männer und ledige Frauen beschrieben und bezeichnet werden, auch wenn beide mit dem Gefühl der ständigen Zurückweisung umgehen müssten.

Dazu komme, dass die Gesellschaft den Ledigen einrede, versagt zu haben im Spiel um Zweisamkeit und Romantik. Die Ursachen für das Unbehagen der Gesellschaft an den unfreiwilligen Singles sieht Lindroth u. a. darin, dass die alten Jungfern daran erinnerten, dass das Leben eben mehr sei als die Summe von freien, planbaren und bewussten Entscheidungen.

In (sehr) kurzen Exkursen beschäftigt sich die Autorin mit Frauen als Künstlermusen und mit ledigen Frauen in der Literatur sowie mit einsamen Silvesternächten auf der Couch.

Am Ende kann man vielleicht sagen, dass sich die Autorin durch ihre Altjungfernschaft hindurchgewagt hat und so etwas wie einen Ausblick, eine neue Standfestigkeit für die Zukunft gewonnen hat, da nun auch die – zunächst unfreiwillig erduldeten – positiven Auswirkungen des Ledigseins auf die eigene Biografie mit berücksichtigt werden können.

Fazit: Ein zwar sehr sprunghaft und assoziativ geschriebenes Werk, das aber randvoll mit Ehrlichkeit und nachdenkenswerten Überlegungen ist. Sehr gern gelesen.

Lieblingsstelle:

Einsamkeit. Wie sieht sie aus? Wie ein Lavafeld auf Island. Keine Bäume, keine Pflanzen. Nur Grautöne, Weite, Himmel – vielleicht ganz in der Ferne ein kleiner Busch, der im eisigen Wind zittert. […] Genau so sieht meine Einsamkeit aus. Ich kann in dieses große Nichts hineingehen, mich hineinlegen und zu Hause fühlen. Man sieht keinen Unterschied zwischen mir und der Landschaft. Der Gedanke klingt depressiv, das höre ich auch, aber in meiner Erinnerung ist es nicht so. Eher wie ein kurzer Moment des Bodenkontakts. Als ob ich […] plötzlich auf dem Grund meines Lebens gestanden und gespürt hätte, wie die Einsamkeit in mir sich mit der Einsamkeit der Landschaft verband, die sich wiederum mit dem Horizont vereinte, der nur ein schmaler Saum gegen eine noch größere Öde war, die im Universum wohnt. Und plötzlich war meine Einsamkeit so groß, so uralt und eine so allgemeine Erfahrung, dass ich mich überhaupt nicht mehr einsam fühlte. (S. 69)

Zu dem Buch passt ganz ausgezeichnet der Artikel Ersatzreligion Liebe aus der FAZ.

Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden (1906)

Manchmal ist es ja auch von Vorteil, wenn man Klassiker erst im vorgerückten Alter für sich entdeckt. Dann kann man gleich davon profitieren, dass die erste vollständige Ausgabe dieses als Schulbuch gedachten Werkes erst jetzt auf Deutsch vorliegt.

Es war einmal ein Junge. Er war vielleicht vierzehn Jahre alt, lang und schlaksig und flachshaarig. Viel taugte er nicht: Am liebsten schlief oder aß er, und am zweitliebsten trieb er Unfug. Jetzt war es Sonntagmorgen, und die Eltern des Jungen waren dabei, sich zurechtzumachen, um zur Kirche zu gehen. Der Junge aber saß im Hemd auf der Tischkante und dachte, wie gut es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen. So könne er ein paar Stunden machen, was er wollte. ‚Dann kann ich Vaters Gewehr herunterholen und ein bißchen schießen, und es redet mir keiner hinein‘, sagte er zu sich selbst.

So beginnt also die vollständige deutsche Fassung des schwedischen Nationalklassikers von Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden (OA 1906; neu übersetzt von Thomas Steinfeld 2014; Sonderausgabe der Anderen Bibliothek) von Selma Lagerlöf.

Zum Inhalt

Der Inhalt dürfte den meisten bekannt sein: Der faule, widerborstige und grobe vierzehnjährige Gänsehirte, der den Eltern nur Verdruss bereitet und die Tiere auf dem heimischen Hof in Südschweden quält, wird zur Strafe von einem Wichtel auf Wichtelgröße geschrumpft. Immerhin kann Nils sich ab sofort mit jedem Tier unterhalten.

Just als er den zahmen Gänserich Marten daran hindern will, sich den in den Norden ziehenden Wildgänsen anzuschließen, und ihn versucht festzuhalten, fliegt Marten los. Und so beginnt das große Abenteuer, das die Gänseschar und ihren kleinen, zunächst unfreiwilligen Begleiter durch ganz Schweden und in eine Reihe gefährlicher Situationen bringt, in denen sie sich in mancherlei Hinsicht bewähren müssen.

Da gibt es Smirre, den Fuchs, der den Gänsen tödliche Rache geschworen  hat, oder den erbarmungslosen Kampf der Grauratten gegen die Schwarzratten, in dem ihre Hilfe benötigt wird. Dann wieder haben sie Nils verloren oder einer der ihren muss von Nils gerettet werden.

Die Reisegefährten erfahren, wie die Riesen verschiedene Landschaften geformt haben, schlichten Händel, retten bedrohte Wesen und nehmen Teil am jährlich stattfindenden Tanz der Kraniche auf dem Kullaberg.

Und dann kamen die grauen Vögel, in die Farben der Abenddämmerung gekleidet, mit Federbüschen an den Flügeln und rotem Federschmuck im Nacken. Die großen Vögel […] kamen den Hügel hinuntergeglitten in geheimnisvollen Schwindel. Während sie vorwärtsglitten, drehten sie sich, halb fliegend, halb tanzend. […] Es war etwas Wunderbares und Fremdes an ihrem Tanz. Es war, als ob graue Schatten ein Spiel darboten, dem das Auge kaum zu folgen vermochte. Es war, als ob sie es von den Nebeln gelernt hätten, die über den einsamen Mooren schweben. Es lag ein Zauber darin. […] Es lag Wildheit darin, und trotzdem war das Gefühl, das er weckte, eine milde Sehnsucht. Niemand dachte mehr ans Kämpfen. Statt dessen wollten alle, die Geflügelten und die, die keine Flügel hatten, sich ins Unendliche erheben, über die Wolken hinaufsteigen, herausfinden, was jenseits davon lag, den Körper verlassen, der sie beschwerte und zur Erde hinabzog, und fortschweben, dem Überirdischen entgegen. (S. 95)

Nils durchläuft dabei wesentliche Stationen auf dem Weg in ein verantwortliches Erwachsenenleben. Er lernt, was Freundschaft, Treue und Hilfsbereitschaft bedeuten, und häufig kommt er in Situationen, in denen er zusammen mit dem Leser, z. B. durch belauschte Gespräche, unendlich viel über sein Heimatland, dessen Geographie und wirtschaftliche Grundlagen, dessen Bräuche,  Feste und Landschaften erfährt. Wir beobachten die Arbeiten in Holzfällerlagern, in Bergwerken, auf den Feldern und gehen mit Fischern auf See. Wir fliegen über Moore, Felder, Wälder und ruhen abends in niedrigen Wassern aus, in sicherer Entfernung zu den Feinden.

Und immer wieder werden uns Sagen und Legenden erzählt, die zu bestimmten Gegenden gehören.

Schließlich steht Nils vor der größten Herausforderung der langen Reise: Der Wichtel, der ihn verzaubert hatte, hat verfügt, dass er nur dann in einen Menschen zurückverwandelt werde, wenn er Marten wohlbehalten zurück auf den elterlichen Hof bringt. Doch das ist leider nur ein Teil der Bedingung.

Fazit

1901 fragte der Lehrerverband bei Lagerlöf an, ob sie sich vorstellen könne, auf ca. 200 Seiten ein „an die veränderten Vorstellungen von Pädagogik angepasstes Lesebuch für Geografie und Naturkunde“ (S. 680) zu schreiben.

Doch erst 1906 erschien der erste Band, denn zunächst fand Lagerlöf keine Möglichkeit, all die Geschichten, Themen und Märchen zu einem zusammenhängendem Text zu verbinden. Erst mit der Idee, Nils mit den Wildgänsen durch und über Schweden fliegen zu lassen, fügte sich alles zu einem organischen und wunderbar anschaulichen Ganzen zusammen.

Ich war überrascht über die deutlichen Aufforderungen zu Tier- und Umweltschutz:

Doch es ist ungewiß, wie lange sie (die Vögel) die Herrschaft über Rohrdickicht und morastige Ufer behalten können, denn die Menschen können nicht vergessen, daß der See sich über eine große Fläche guter und fruchtbarer Erde ausbreitet, und immer wieder kommen unter ihnen Vorschläge auf, daß man ihn trockenlegen sollte. Würden diese Vorschläge verwirklicht, wären viele Tausende von Wasservögeln gezwungen, die Gegend zu verlassen. (S. 223)

Und so begannen sie (die Menschen), Bauholz und Bretter aus dem Wals zu holen und an die Bewohner des flachen Landes zu verkaufen, die ihren eigenen Wald schon aufgebraucht hatten. Sie merkten bald, daß sie ihr Brot mit dem Wald verdienen konnten, wie sie es zuvor mit dem Acker und der Grube getan hatten, nur daß sie vernünftig damit umgehen mußten. Und da fingen sie an, den Wald auf eine andere Weise zu betrachten als früher. Sie lernten, ihn zu pflegen und zu lieben. (S. 254)

Überrascht hat mich auch, dass Tod, Auswanderung, Krankheit und Armut so ganz en passant und doch in aller Deutlichkeit geschildert werden. Nichts wird in Frage gestellt, das Gemeinwesen ist geordnet, die wichtigen Momente im Leben werden von der Kirche begleitet und alles wird von einem Grundton positiver Fortschrittserwartung getragen, deshalb wird auch immer wieder das Loblied der Bildung gesungen.

Es gab vieles, was einem verlorenging, wenn man für immer mit den Tieren leben sollte. Menschen waren doch ganz außerordentliche und tüchtige Wesen. (S. 100)

Doch das hat meiner Freude am Buch keinen Abbruch getan und die 699 Seiten (einschließlich vieler Illustrationen und eines höchst informativen Nachworts) vergingen „wie im Flug“. Ja, das Ende kam fast ein wenig abrupt. Hätte ich als Kind so ein Buch gelesen, wären meine Geografiekenntnisse vielleicht auch nicht so kümmerlich… Und was für eine schöne Idee, ein Land sozusagen von oben, mit dem ganz weiten Blick, zu entdecken, und das Anfang des 20. Jahrhunderts.

Letztlich war es wie ein an allen Ecken und Enden überbordendes Märchen, bei dem man tiefe Charakterschilderungen vergeblich sucht, das aber nie seinen roten Faden verloren hat.

Dass sich schon bald Lehrer darüber beklagten, dass sie das Buch nicht in der vorgesehenen Unterrichtszeit bewältigen würden, wundert mich allerdings nicht.

Hier geht es lang zu einer begeisterten Besprechung in der ZEIT und das sagt die WELT.

Und auf HERLAND gibt es einen superinformativen Beitrag der renommierten Übersetzerin Gabriele Haefs zur Autorin und ihrer Rolle als Frau in einer Männerwelt.

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Astrid Lindgren: Das entschwundene Land (OA 1975; deutsche Ausgabe 1977)

Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern nur eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe. Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, daß sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten.

So beginnt das einzige Buch, das die vielleicht berühmteste Kinderbuchautorin der Welt für ein erwachsenes Publikum geschrieben hat. Die deutsche Ausgabe wurde von Anna-Liese Kornitzky übersetzt. Das Original erschien 1975 unter dem viel nüchternen Titel Samuel August från Sevedstorp och Hanna i Hult.

Zum Inhalt

Der nur 126 Seiten schmale Band – überdies in großer Schrift – umfasst sechs Kapitel. Das erste und mit ca. 45 Seiten längste Kapitel schildert die Liebesgeschichte von Samuel August von Sevedstorp und Hanna in Hult, also den Eltern von Astrid Lindgren (1907– 2002). Die Kinderbuchautorin „wurde als zweites Kind des Pfarrhofpächters Samuel August Ericsson (1875–1969) und seiner Ehefrau Hanna Ericsson (1879–1961) geboren. Sie hatte einen älteren Bruder, Gunnar (1906–1974), und zwei jüngere Schwestern, Stina (1911–2002) und Ingegerd (1916–1997).“ (Wikipedia)

In der Liebe dieser Eltern sah Lindgren das Fundament ihrer glücklichen Kindheit.

Es war schön, dort Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. (S. 44 der dtv-Ausgabe)

Und tatsächlich weht den Leser da noch etwas an von einer anscheinend wahrhaft idyllischen Kindheit:

Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiß wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, so daß es das reine Wunder ist, daß wir uns  nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, daß unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluß, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten. (S. 44 – 45)

Gehorsam gegenüber den Eltern und Mithilfe sowohl im Haushalt als auch auf dem Feld waren dabei von klein auf selbstverständlich.

Daß wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache von der Welt. Schon mit sechs Jahren mußten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen. Mit dem Heranwachsen wurden wir auch, sofern es nötig war, bei der Erntearbeit eingespannt. […] Was einem aufgetragen war, das hatte man zu tun. Ich glaube, es war eine nützliche Lehre, die einem später im Leben half, auch mit eintöniger Arbeit ohne allzuviel Gestöhne und Gejammer fertig zu werden. (S. 46)

Schön war auch die Beschreibung der Familienfeste. Zu denen musste man oft ja erst stundenlang mit dem Pferdewagen anreisen. Und dann gingen die Erwachsenen sozusagen nahtlos von einer guten Mahlzeit zur anderen über, während die Kinder die Gelegenheit ergriffen, mit all ihren Kusinen und Vettern so viel Unsinn wie möglich zu treiben.

Im nächsten Kapitel erzählt Lindgren dann noch ein wenig mehr aus dem Alltag des elterlichen Pachthofes mit seinen Mägden und Knechten, die ein karges Leben fristeten und kaum etwas ihr Eigen nennen konnten. Aber vor allem gelten ihre Erinnerungen der Natur.

Sie umschloß all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, daß man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann […] In der Natur ringsum war auch all das angesiedelt, was unsere Phantasie zu erfinden vermochte. Alle Sagen und Märchen, alle Abenteuer, die wir uns ausgedacht oder gelesen oder gehört hatten, spielten sich nur  dort ab, ja sogar unsere Lieder und Gebete hatten dort ihren angestammten Platz.  (S. 78)

Und die kleine Astrid war höchst empört, als sie erfuhr, dass ihr Bruder Gunnar das Gebet „Ein reines Herz“ immer mit dem Weg hinterm Kuhstall verknüpfte.

Wie gut hatte es da doch mein „Ein reines Herz“, das so fromm den kleinen Pfad zwischen Faulbaum und Haselstrauch dahinwandern durfte, den Bach entlang, wo im Frühling die Sumpfdotterblumen gelb leuchteten, am Feldrain vorüber mit all den Walderdbeeren und danach an der Quelle, der tiefen und geheimnisvollen, wo in der Sommerhitze die Milch gekühlt wurde, bis hin zu dem uralten Waschhaus, das dort so einsam im Grünen versteckt lag, um schließlich – amen! – am Graben aufzuhören, wo das Goldmilzkraut wuchs. (S. 79)

Im dritten Kapitel erfahren wir, das ihre Leseleidenschaft den Anfang in der Küche einer armen Bauernfamilie nahm. Dort nämlich las die Häuslertochter der kleinen Astrid Märchen vor und von da an war es um Astrid geschehen und als sie selbst lesen konnte und ab und an der Luxus möglich wurde, nicht nur Bücher auszuleihen, sondern sich sogar eines zu kaufen, war die Freude grenzenlos.

Ein Buch ganz für sich allein zu besitzen – daß man vor Glück nicht ohnmächtig wurde! (S. 86)

Zu ihren familiären Pflichten gehörte, ihre kleine Schwester in den Schlaf zu singen, da diese sonst nicht einschlafen wollte. Um trotz der knappen Freizeit Zeit fürs Lesen zu finden, sang Astrid kurzerhand dem Schwesterchen die Bücher vor, die sie gerade las.

Natürlich wird auch – was für ein Zeitsprung – jener Märztag 1944 erwähnt, an dem Lindgren mit verstauchtem Fuß liegen musste und vor Langeweile die Geschichten um Pippi Langstrumpf aufschrieb, die sie sich 1941 für ihre Tochter ausgedacht hatte.

Im vierten Teil des Buches hält sie ein leidenschaftliches Plädoyer fürs Lesen als dem grenzenlosesten aller denkbaren Abenteuer.

Heutzutage wissen ja wohl alle Eltern, daß ihre Kinder Bücher brauchen … oder etwa nicht? Ich weiß zwar nicht, was ihr euch für euer Kind erträumt und erhofft, aber ich weiß, daß es für alle Wechselfälle des Lebens besser gerüstet ist, wenn es lesehungrig ist. (S. 98)

Das vorletzte Kapitel ist überschrieben mit „Kleines Zwiegespräch mit einem künftigen Kinderbuchautor“. Darin finden sich Banalitäten wie die Empfehlung, so zu schreiben, dass die Sprache für die Zielgruppe verständlich sei, und das ironische „Rezept“, mit dem sich Lindgren von modernen Kinder- und Jugendbüchern absetzt.

Nimm eine geschiedene Mutti – möglichst Klempnerin von Beruf, aber eine Atomphysikerin tut es notfalls auch, Hauptsache, sie „näht“ nicht und ist auch nicht „lieb“ – vermische diese Klempnermutti mit ein paar Teilen Dreckwasser und ein paar Teilen Luftverschmutzung, füge ein paar Teile weltweiten Hunger sowie ein paar Teile Elterntyrannei oder Lehrerterror hinzu, ziehe einige Löffel voll Geschlechterdiskriminierung darunter und streue schließlich reichlich Beischlaf und Drogensucht darüber, dann hast du ein deftiges und gepfeffertes Gulasch … (S. 107)

Im letzten Teil geht sie kurz der Frage nach, wo eigentlich ihre ganzen Einfälle herkommen.

Fazit

Dieser Band zerfällt in völlig disparate Teile, wobei der erste Teil der eigentlich lesenswerte war. Die Liebesgeschichte ihrer Eltern hat mir in ihrer Innigkeit und Schlichtheit sehr gefallen. Ein bisschen, als ob die alten Fotos, die wir alle aus irgendwelchen Familienalben kennen und bei denen wir manchmal nicht einmal mehr wissen, wer die Personen waren, plötzlich zum Leben erwachen. Eine märchenhaft schöne und ganz zeitlose Liebesgeschichte, zumal Lindgren noch aus den Briefen ihrer Eltern zitiert, die diese sich während ihrer langen Brautwerbezeit geschrieben haben. Das Ganze garniert mit ein wenig trockenem Humor.

Noch immer kutschierte er den Pfarrer […] und bisweilen auch die Witwe des Propstes, da Hanna in einem Brief besonders betont: ‚ Wenn Du willst, kannst Du am Sonntag auch ohne Pröpstin kommen.‘ Man hat Verständnis dafür, bei einem Stelldichein sind Pröpstinnen bestimmt nur im Wege. (S. 31)

Aber vor allem fand ich es anrührend, weil diese Liebe über all die Jahrzehnte gehalten hat. Selbst als hochbetagter Witwer hat Samuel August noch immer dankbar der großen Liebe seines Lebens gedacht.

… beide alterten, doch das änderte nichts. Ich erinnere mich ihrer, als sie beide schon die Achtzig überschritten hatten und das Leben um sie herum still geworden war, wie er dort saß und ihre Hände hielt und so zärtlich sagte: ‚Meine kleine Inniggeliebte, hier sitzen wir nun, du und ich, und haben’s schön.‘ (S. 48)

Doch die übrigen Kapitel weisen zwei große Mankos auf: Zum einen verrät Lindgren wenig über sich und ihre tatsächliche Biografie, schwierige Zeiten und konkrete Rahmenbedingungen werden ausgeblendet, und zum andern rutscht ihr Stil oft ins unpassend Simple ab. Ihr Rat, dass ein Kinderbuchautor den sprachlichen Horizont seiner Leser berücksichtigen müsse, kehrt sich hier gegen sie selbst. Ein Buch für erwachsene Leser sollte sich auch einer erwachsenen Sprache bedienen und auch die Gedanken dürften den Schwierigkeitsgrad und die Psychologie eines Pippi Langstrumpf-Bandes übersteigen. Ich möchte da nicht in so einer pseudokindlichen tantenhaften Sprache mit Belanglosigkeiten angesprochen werden.

Anmerkungen

Literaturwissenschaftler haben herausgearbeitet, dass Lindgren keine autobiografischen Schriften im herkömmlichen Sinne verfasst habe. Es sei ihr nicht um die chronologisch angeordnete Darstellung bestimmter Entwicklungsschritte gegangen. Eher entwerfe sie ein bestimmtes Bild ihrer Kindheit, das bewusst bestimmte Aspekte und wichtige Fragestellungen ausklammere. So ist das Kind in den autobiografischen Erinnerungen alterslos und wird nirgendwo mit Namen angeredet, die Geschwister werden nur beiläufig erwähnt, der Schulbesuch wird höchstens gestreift. Betont werden stattdessen die Intensität der Naturerfahrung und die Bedeutung von Spiel und Imagination. Manche deuten das als Fortführung des romantischen Kinderbildes, wie es sich in E.T.A. Hoffmanns Märchen Das fremd Kind (1817) verkörpert (vergl. die von Frauke Schade herausgegebene Textsammlung: Astrid Lindgren – ein neuer Blick, 2008, S. 68).

Die Vermeidung konkreter Zeit- und Ortsangaben sorgt dabei für eine gewisse atmosphärische Zeitlosigkeit und gleichzeitig dafür, dass man als Leserin, als Leser doch nun gern der Autorin die ein oder andere Frage stellen würde.

Und in diesen Zusammenhang gehört auch der Titel der deutschen Ausgabe. Lindgren selbst zitiert das Gedicht „Das entschwundene Land“ von Alf Henrikson, das eine Grunderfahrung Lindgrens in Worte fasst. Nicht nur der Verlust der unwiederbringlich verlorenen Kindheit wird besungen, sondern auch der Wandel der Zeit, der sich für Lindgren im Verschwinden der Landstreicher, der Kutschen, der bäuerlichen Hofgemeinschaften und der freien Kinderspiele manifestiert. Nur in der Erinnerung kann das Verlorene noch einmal aufleben. Der dritte Vers des Gedichts lautet:

Weich wie Seide lag der Staub des Weges unter den Kinderfüßen …

In den Worten Astrid Lindgrens klingt das so:

Aber noch habe ich nicht alles vergessen, noch kann ich sehen und den Duft spüren und mich der Seligkeit des Heckenrosenbusches auf der Rinderkoppel erinnern, der mir zum erstenmal gezeigt hat, was Schönheit ist. Noch kann ich an Sommerabenden den Wiesenknarrer im Roggen hören und in den Frühlingsnächten das Rufen der Käuzchen auf dem Eulenbaum, noch spüre ich, wie es ist, aus Schnee und beißender Kälte in einen warmen Kuhstall zu kommen, ich weiß, wie sich eine Kälberzunge auf der Hand anfühlt, wie Kaninchen riechen, wie es im Wagenschuppen duftet und wie es sich anhört, wenn die Milch in den Eimer zischt, und noch kann ich die winzigen Krallen frisch ausgeschlüpfter Küken auf der Hand spüren. Der Erinnerung wert ist dies alles wohl nicht. Das Besondere daran ist die Intensität, mit der man es erlebte, als man noch jung war. Wie lange her das sein muß! Wie hätte sich die Welt sonst so unglaublich verändern können? Konnte das alles wirklich in einem kurzen halben Jahrhundert so anders werden? Meine Kindheit verlebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt, aber wohin ist es entschwunden? (S. 81)

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Elisabeth Rynell: Schneeland (OA 1997; deutsche Ausgabe 2000)

Zuerst eine Erinnerung. Wir wohnten schon viele Jahre in Lappland. In einer kleinen Mulde in der Landschaft, die Wald und Berge offen gelassen hatten. Da warst du, da war ich, und dazu unsere Kinder. Sie waren klein damals.

So beginnt der Roman der schwedischen Lyrikerin und Autorin

Elisabeth Rynell: Schneeland (1997); im Original: Hohaj, ins Deutsche übersetzt von Verena Reichel

Zum Inhalt

Kapitelweise abwechselnd tauchen wir ein in zwei Geschichten. Da ist zum einen eine junge Mutter, die mitten in der Nacht einen Anruf vom Bezirkskrankenhaus bekommt. Nach einer scheinbar planmäßig verlaufenen Operation ist ihr Mann wenige Stunden später gestorben.

Auf einmal stand ich also auf einer endlosen Ebene aus Stille, in vollkommenem Schweigen. Die Stimme, die sagte: … und er starb um zweiundzwanzig Uhr und … Da gefror die Welt. Doch nur für einen Moment. Dann begann sie knackend und berstend in rasender Geschwindigkeit rückwärts zu taumeln, und alles wurde aus seiner Verankerung gerissen und hart ins Rückwärts gedreht, in den Schmerz hinein. Es zerriss, jeder Faden, jede Faser zerriss unter unbezwinglichen, wahnwitzigen Kräften. Rückwärts, rückwärts, gegen den Uhrzeigersinn, gegen den Uhrzeigersinn. (S. 13)

In den weiteren ihr gewidmeten Kapiteln denkt sie über die Geschichte ihrer Beziehung nach und das Wesen der Trauer. Zunächst reißt sie sich, sicherlich auch der Kinder wegen, zusammen:

Ich war stark. Ich war wahnsinnig stark. Doch die Stärke hatte nichts mit mir zu tun. Sie war nicht ich, sie war purer Wille: ein Tier, das ich in mir beherbergte. […] Nichts schwächt einen Menschen so sehr wie seine Stärke. Zum Schluss war ich so stark, dass ich einer ausgesogenen Schale glich. Einer verknöcherten Hülle für den Willen. (S. 52)

Doch die Verzweiflung sitzt zu tief: Irgendwann begibt sie sich – anscheinend ohne Proviant oder Ausrüstung – auf eine Art Pilgerschaft in die Weite der lappländischen Wälder.

Die Berge sind streng. Auf diese Weise gleichen sie der Vergebung. Von wo man sich ihnen auch nähert, sie bleiben stets genauso fern. Und nah. Zuweilen versinken sie vor einem, verschwinden ohne Erklärung. Dann türmen sie sich wieder vor einem auf, größer als je zuvor. Sie kommen nicht, wenn man sie ruft. Sie erhören kein Gebet. Sie sind auf andere Art. Ich bei dabei zu lernen. Nicht rufen, bitten, flehen. Nur still auf Antwort warten. Die Hoffnungslosigkeit betreten, als würde sie tragen. Wunder sind so still. Wie dünnes, dünnes Eis. (S. 30)

Die zweite Geschichte, die irgendwann die erste berührt, spielt ca. 50 Jahre früher, ebenfalls in Lappland. Aron, ein schweigsamer Mann, ist auf der Flucht, man weiß lange nicht, ob vor sich oder vor anderen. Er steht eines Abends hungrig und halb erfroren mit seinem großen Hund auf dem Hof von Helga und Salomon. Die nehmen ihn auf und akzeptieren ihn so, wie er ist. Er hilft bei der Arbeit und später wird er sogar von der Dorfgemeinschaft beauftragt, die Pferde des Ortes auf den Sommerweiden zu hüten. Dabei lernt er dann Inna kennen.

Inna, das erfahren wir schon früh, ist Halbwaise und lebt mit ihrem brutalen Klotz von Vater allein auf einem einsam gelegenen Hof, der von allen gemieden wird. Nach dem Tod ihrer Mutter hat sie all deren Pflichten zu erfüllen, nicht nur in Stall und Küche, sondern auch im Bett. Sie wird geschlagen und regelmäßig von ihrem Vater vergewaltigt.

Diese zwei versehrten Menschen, Inna und Aron, verlieben sich ineinander, ohne viele Worte, aber mit existenzieller Wucht.

Fazit

Mit diesen knapp über 200 Seiten habe ich mich schwergetan. Sie waren eine Mischung tiefer Trauer, poetischen und klugen Sätzen und einer scheußlich melodramatischen Handlungsführung.

Das Buch hat mich von der Stimmung her stark an Per Pettersons Sehnsucht nach Sibirien erinnert.

Rynell legt hier so etwas wie eine Versuchsanordnung über die Liebe vor, die ja immer an die Grenzen unserer Sterblichkeit rührt. Dass eine so tief verletzte Frau wie Inna mal eben die Liebe entdeckt, fand ich unglaubwürdig, die Verschränkung der zwei Geschichten war gekünstelt und das Ende sollte wohl dafür sorgen, dass wir nicht glauben, einen kitschigen Liebesroman vor uns zu haben. Aber, und es ist ein großes Aber:

Manche der Sätze waren weise, wunderschön und ganz offensichtlich selbst durchlitten. Man hörte noch in der Übersetzung die Lyrikerin, und diese Sätze würde ich am liebsten seitenweise zitieren. Sie stammen allesamt aus der Geschichte der jungen Witwe.

Lasset die Kindlein zu mir kommen, hat Jesus doch gesagt. Ich glaube, es ist wegen ihrer Fähigkeit, sich lieben zu lassen, dass den Kindern das Himmelreich gehört. Liebe empfangen zu können, wie man Regen empfängt, der auf einen fällt; sich erlauben, nass zu werden, obwohl man den Hahn nicht selbst geöffnet hat. (S. 210)

Auch der Schmerz braucht eine Heimstatt. Einen Ort, der nur ihm gehört, mit Gesichtern und Häusern, die erkennbar sind. Es muss Plätze für den Schmerz geben, Räume, Schneisen, lange Straßen. Leid ist eine Spur, die einen mitzieht, man muss ihr folgen, weiterkommen: Brücken über Gewässer, Steg über Moore, Wege im Weglosen. Fast wie eine Witterung ist diese Spur. Man muss ihr mit seinem ganzen Wesen folgen, konzentriert, aufmerksam. Nicht wegschleichen, nicht abweichen. Vielfältig sind die Gerüche. Wie wilde Sehnsucht oder wie hauchdünnes, hart gespanntes gräuliches Licht. Oft geht es bergab, hoffnungslos bergab, und das Leid ist verschlungen und sammelt sich in schwarzen Knoten. Aber das kann sich jederzeit ändern, es kann sich wie eine Sturmbö drehen, in einem Rausch. […] Fehlt dem Schmerz ein eigener Ort, ist er überall. Dann verwandelt er sich in einen Luftgeist, und es besteht die Gefahr, dass er aufquillt und über alle Grenzen wuchert. all die verschiedenen Schichten und Muster, aus denen er besteht, vermengen sich und werden ein und dasselbe. Und dasselbe ist ohne Farbe, dasselbe hat keine Schattierungen, keine Merkmale, keine Unterscheidungszeichen. Es ist ein Land, in dem man sich verirrt. (S. 229)

Das Buch wurde 2004 von Hans J. Geißendörfer verfilmt.