Was für ein feines Buch!
Maureen Freely, die Die Madonna im Pelzmantel ins Englische übersetzt hat, schreibt 2016 im Guardian, dass der Roman bei seiner Veröffentlichung in Istanbul 1943 keinerlei Aufsehen erregt habe. Doch jetzt, nachdem er Jahrzehnte von der Kritik ignoriert worden sei, habe er sich zum Bestseller entwickelt. Die Washington Post spricht gar von über einer Million verkauften Exemplaren, allein in der Türkei.
… for the past three years, it has topped the bestseller lists in Turkey, outselling Orhan Pamuk. It is read, loved and wept over by men and women of all ages, but most of all by young adults. And no one seems able to explain quite why.
Freely sieht einen wesentlichen Grund für die Wiederentdeckung Alis in dessen Biografie und seinem Beharren auf Meinungs- und Gedankenfreiheit. Geboren 1907 im heutigen Bulgarien, Studienaufenthalt in Berlin, Schriftsteller, Dichter und überzeugter Kommunist, geriet Sabahattin Ali immer wieder mit der türkischen Staatsmacht aneinander. Diverse Gefängnisaufenthalte, irgendwann Verlust der Arbeitserlaubnis als Lehrer, bei dem Versuch, das Land endgültig zu verlassen (ihm wurde ein Pass verweigert), 1948 vermutlich während oder nach einem Verhör im Auftrag des Geheimdienstes umgebracht.
Der Roman, der von Ute Birgi-Knellessen ins Deutsche übersetzt wurde, beginnt mit den Worten:
Unter allen Menschen, die meinen bisherigen Lebensweg kreuzten, hat einer mich ganz besonders beeindruckt. Und obwohl seit unserer ersten Begegnung Monate vergangen sind, hält dieser starke Eindruck unvermindert an. Wann immer ich mit mir allein bin, taucht in aller Lebendigkeit das offene Gesicht des Raif Efendi vor mir auf, mit seinen etwas weltfremd dreinblickenden Augen, die jedoch immer sofort zu einem Lächeln bereit waren, sobald sie auf einen Menschen fielen.
Der seit einigen Monaten arbeitslose Ich-Erzähler, ein junger Mann, noch keine 25 Jahre alt, findet durch die Vermittlung eines Schulfreundes, wieder eine Anstellung in einer Firma in Ankara. Dort muss er sich das Büro mit dem ruhigen und wesentlich älteren Raif Efendi teilen, der Schriftstücke ins Deutsche übersetzt. Schikanen der Vorgesetzen nimmt Efendi ohne Widerspruch hin. Eine bessere Stelle zu suchen kommt ihm nicht in den Sinn.
Dabei war Raif Efendi keineswegs außergewöhnlich, vielmehr gehörte er zu jenen ganz normalen Sterblichen ohne herausragende Eigenschaften, wie sie uns täglich zu Hunderten begegnen und denen wir kaum einen Blick schenken. […] Beim Anblick solcher Zeitgenossen fragen wir uns oft: ‚Wozu leben sie überhaupt? Welches Ziel verfolgen sie in ihrem Dasein? Wo liegt die Logik oder der tiefere Sinn, der ihnen befiehlt, auf dieser Erde zu wandeln?‘ Doch bei derartigen Überlegungen sehen wir eben nur das Äußere jener Menschen. Es kommt uns gar nicht in den Sinn, dass auch sie einen Kopf mit sich herumtragen, in welchem, ob sie wollen oder nicht, ein zum ständigen Funktionieren verurteiltes Hirn liegt, das ihnen ihr ganz eigenes Bewusstsein gibt. Wenn wir, statt diesen für uns undurchschaubaren Individuen jegliches Seelenleben abzusprechen, auch nur ein wenig neugierig wären und ihre verborgene Innenwelt zu erforschen versuchten, würden wir sehr wahrscheinlich auf überraschende Dinge, ja unerwartete Schätze stoßen. (S. 5/6)
Die Neugier des jungen Kollegen wird tatsächlich – wenn auch eher zufällig – geweckt und so versucht er eine Erklärung für das fatalistische Verhalten Efendis zu finden. Allmählich entwickelt sich – vor allem auch durch die Besuche, die der junge Mann Efendi abstattet, wenn dieser wieder erkrankt ist, – eine vorsichtige Annäherung zwischen den beiden. Allerdings muss der Ich-Erzähler erkennen, dass Raif Efendi auch zu Hause ziemlich unter dem Pantoffel zahlreicher Verwandter steht, deren Respektlosigkeiten er kommentarlos hinnimmt.
Als Efendi lebensgefährlich erkrankt, bittet er seinen jungen Freund, ihm alle Papiere aus dem Büro mitzubringen, damit er diese vernichten kann. Doch schließlich erlaubt Efendi seinem Kollegen, ein dichtbeschriebenes Heft mit zu sich nach Hause zu nehmen. Verbrennen könne man dies ja auch noch am nächsten Tag.
Jenes Heft mit alten Aufzeichnungen bildet die eigentliche Handlung des Buches. Und wir erfahren, was es mit dem unscheinbaren Raif Efendi und seiner großen Liebe, der „Madonna im Pelzmantel“, einer emanzipierten Malerin, die er als junger Mann im Berlin der zwanziger Jahre kennengelernt hat, auf sich hat.
Wenn ich doch nur sprechen könnte! Nur einem einzigen Menschen mich anvertrauen! Doch selbst, wenn ich das wirklich wollte, wo sollte ich einen solchen Menschen finden? Ich bin zu müde, um ihn zu suchen. Deshalb habe ich dieses Heft gekauft. […] der Mensch muss sich nun einmal auf irgendeine Weise mitteilen. Ohne das gestrige Erlebnis … […] Doch nun, da ich beschlossen habe, alles aufzuschreiben, muss ich mich erst einmal beruhigen und dann ganz von vorne anfangen. […] Vielleicht hilft mir das Ausmalen banaler Einzelheiten ja ein wenig über die wirklich schlimmen Aspekte der Geschichte hinweg. Vielleicht erleichtert es mich, die Dinge aufzuschreiben, und sie wirken auf dem Papier weniger schrecklich. Vielleicht stelle ich dabei auch fest, dass das alles gar nicht so schlimm war, und muss mich sogar meiner Heftigkeit schämen … Vielleicht … (S. 64)
Durch die ruhige, bedächtig geschilderte Rahmenhandlung werden wir eingestimmt auf einen Charakter, der wie aus der Welt gefallen scheint, ohne Ellenbogenmentalität, ohne beruflichen Ehrgeiz, künstlerisch und literarisch interessiert, empfindsam, mit klarem und unbestechlichen Blick auf seine Mitmenschen, dabei über alle Maßen schüchtern und immer auf der Suche nach dem seelenverwandten Lebensmenschen, mit dem man wahrhaft sprechen kann, vor dem man sein Inneres entblößen kann, vor dem man keine Maske tragen, keine Fassade aufrechterhalten muss.
Doch die junge Frau, Maria Puder, ist in ihrer Ehrlichkeit, ihrem unbedingten Drang, sich keinem Mann zu unterwerfen, ebenfalls eine faszinierende Erscheinung.
Maureen Freely vermutet, dass auch die Tatsache, dass sich weder Maria noch Raif den stereotypen Rollenerwartungen an Mann und Frau beugen, ein Grund für die Wiederentdeckung dieses Romans in der Türkei ist. Sozusagen ein stiller Protest gegen die Hardliner, die den Frauen selbst das Lachen in der Öffentlichkeit untersagen möchten.
Doch für mich waren es weniger politische, sondern literarische Gründe, die mich über das Melodramatische dieser türkischen Romeo und Julia-Geschichte hinwegsehen lassen. Es sind nicht nur der Stil und das psychologisch, ja geradezu seismografisch sensible und stimmige Porträt des Raif Efendi, die von überzeugender Zeitlosigkeit sind. Sondern auch das Plädoyer für Respekt gegenüber dem Mitmenschen, das der Ich-Erzähler verkörpert.
Wie wenig doch die Menschen voneinander wussten! Und ich maßte mir trotzdem an, die innersten Gedanken eines anderen zu erraten und in seine mehr oder wenige komplizierte Seele zu schauen! Wie unergründlich und verworren war doch noch selbst die Seele des einfachsten, armseligsten, ja dümmsten Menschen auf dieser Welt! Wieso wollen wir das nicht begreifen und bilden uns stattdessen ein, dass nichts einfacher sei, als dieses Mensch genannte Wesen zu verstehen und zu beurteilen? Wie kommen wir dazu, in aller Seelenruhe unsere Meinung über jemanden auszusprechen, dem wir gerade zum ersten Mal begegnet sind, während wir zögern, uns über den Charakter eines neu gekosteten Käses auszulassen? (S. 48)