Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau (OA 2013)

Ich gehe über den Styx und packe ein: eine Tube Zahnpasta (kleiner Scherz am Rande) …

Obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir sehr gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße. Mich zu dieser entwürdigenden Aktion zu erniedrigen ist wahrlich die unangenehmste Konsequenz des ziemlich verrückten Wegs, den ich auf meine alten Tage gewählt habe. Doch ich würde das Pflegepersonal misstrauisch machen, wenn ich mein Nachtzeug unbeschmutzt ließe.

So beginnt der Roman des flämischen Schriftstellers

Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau (2014)

Die Originalversion erschien 2013 und wurde von Rainer Kersten ins Deutsche übersetzt.

Zum Inhalt

Der über siebzigjährige ehemalige Bibliothekar Désiré Cordier erträgt die Vorstellung nicht, Garten und Eigenheim aufzugeben, um mit seiner nervtötenden Gattin in eine kleine und pflegeleichtere Stadtwohnung zu ziehen. Denn dort wäre es noch viel schwieriger, einander aus dem Weg zu gehen.

Ich reagiere schon lange nicht mehr auf die endlosen Tiraden meiner Frau; einer von vielen, möglicherweise Millionen schweigender Männer, die sich gegen die Launen ihrer Gattin mit einem Panzer von Gleichgültigkeit wappnen. Jahrelange Übung hat mich das gekostet. […] Gegen ihre Giftigkeit bot ich meine Gleichgültigkeit auf. Störrisch gruben wir uns in unsere Stellungen ein und wurden zusammen unromantisch alt, überlebten sogar befreundete Paare, die wirklich liebevoll miteinander umgegangen waren. (S. 16/17)

Also erarbeitet er sich zielstrebig die Einweisung in ein Altenpflegeheim. Er macht einen auf dement und hat diebische Freude daran, es mal so richtig krachen zu lassen und sich damit an seiner Frau zu rächen für all ihre Gemeinheiten, Bevormundungen und Taktlosigkeiten. Statt des Kuchens bringt er zum Nachmittagskaffee einen Toaster mit aus der Stadt, beim Einkaufen „vergisst“ er in einer Boutique zu zahlen und wird zur Schmach seiner Frau von der Polizei nach Hause eskortiert. Und er „erkennt“ schließlich weder Frau noch Kinder.

Er erreicht sein Ziel und kann nun Pflegenotstand und Trostlosigkeit im Heim am eigenen Leib erleben. Wie alte Menschen nur noch ein „Sack Knochen“ sind, niemand Zeit für sie hat, mit ihnen wie Kindern geredet wird, ihnen jegliche Persönlichkeit abhanden kommt.

Die Hauptbeschäftigung eines Demenzkranken ist Flüchten. Immer und überall will, muss er davon. Aus diesem Grund hat man im Garten unseres Heims eine Bushaltestelle gebaut. Reiner Schwindel natürlich. Ich meine: Nie wird dort ein Bus abfahren oder anhalten. Doch die Haltestelle ist eine perfekte Kopie, komplett mit Wartehäuschen und Sitzen, aushängendem Fahrplan und Informationen, für die sich übrigens kein Heiminsasse interessiert, die das Ganze aber besonders glaubwürdig machen. […] Seit diese Geisterhaltestelle im Garten von Winterlicht steht, müssen die Pfleger weniger Zeit mit der Suche nach ausgebüchsten Patienten verplempern. (S. 60)

Sogar seine Jugendliebe trifft er dort wieder, doch sie erkennt ohnehin niemanden mehr. Er – geistig noch hellwach und beieinander – erzählt uns nun von seinen Tagen im Heim, seiner Ehe, den Besuchen seiner Tochter. Letztlich ist das natürlich alles die Vorbereitung auf den finalen Abschied, den er sich ebenfalls nicht aus der Hand nehmen lassen will.

Was steht noch auf dem Wagen, dem letzten, der zu uns ins Zimmer gerollt wird? Die berühmten Swash-Tücher natürlich, dazu bestimmt, die sterblichen Überreste zu säubern, ohne die Talgschicht der Haut anzugreifen. Nur der Schambereich wird mit Seife gewaschen, damit die Leichenfeier nicht geruchsbedingt auf einem Fischmarkt stattfinden muss.  (S. 126)

Fazit

Schade, hier gibt es einen Plot, der wirklich nicht für mehr als die 140 Seiten gereicht hätte, die Grundidee hat’s nicht so mit der Logik. Wer würde sich bei halbwegs guter Gesundheit freiwillig den ganzen Tag vor sich hinstierend in einen Rollstuhl setzen und sich vorsätzlich in die Hose machen?

Warum hat er seine Frau nicht vor Jahrzehnten verlassen? Warum hat er pantoffelheldenhaft all ihre Demütigungen ertragen?

Zum Glück habe ich wenigstens schon früher – und ohne Monieks Wissen – testamentarisch festlegen lassen, dass es mir absolut wurst ist, wo meine sterblichen Überreste mal hinkommen, Hauptsache, nicht neben sie. Lange genug haben sie und ich wie zwei Leichen nebeneinander gelegen, dass wir das nicht auch noch im Tod fortsetzen müssen. (S. 89)

Wie schafft er es fast ungerührt, seiner Tochter in die Augen zu schauen, die so traurig über ihren angeblich dementen Vater ist, und ihr weiter dieses Schauspiel vorzumachen? Letztendlich ist Cordier gar nichts wirklich wichtig. Nichts freut ihn oder macht ihn dankbar. Er ist ein Zyniker, der sein Leben als verfehlt ansieht, ohne dem näher auf den Grund zu gehen. Ohne Pause kreist er nur um sich und verschwendet keinen Gedanken daran, dass er auch etwas für andere sein oder tun könnte.

Dennoch hat Verhulst hier einen Ich-Erzähler geschaffen, der so schnoddrig ehrlich von einer völlig verpatzten Ehe erzählt, Missstände des Alterns offenlegt und dem Sterben geradezu pietätlos entgegensieht, dass es immer wieder Stellen gab, die mich zumindest ein bisschen mit dem Buch versöhnt  haben.

Ich musste einen Moment nicht aufgepasst haben – unversehens war ich alt. (S. 65)

Anmerkungen

Hier geht es lang zu den Besprechungen bei der Bücherphilosophin, bei Literatwo,  beim Durchleser und bei der Literaturwelt.