Man hatte mich in meine Heimatstadt geladen, damit ich einen Vortrag über einen deutschen Dichter halte, der zweihundert Jahre früher, an einem Tag im November, am Wannsee in Berlin eine Mulde gesucht und danach seiner Freundin Henriette Vogel ins Herz und schließlich sich selbst eine Kugel in den Rachen geschossen hatte.
Mit diesem Satz beginnt das Buch des bekannten Schweizer Dramatikers, das 2014 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand. Ein großes Dankeschön an Claudia vom Grauen Sofa und an den Wallstein Verlag, die mir ein Exemplar zur Verfügung stellten.
Der Inhalt ist rasch umrissen: Ungefähr sechs Monate nach der Lesung in seiner Heimatstadt erhält der Ich-Erzähler die Nachricht, dass sich sein Halbbruder umgebracht habe. Zu Lebzeiten des Bruders war der Kontakt zwischen den Brüdern – beide längst erwachsene Männer – bestenfalls sporadisch.
Wir hatten selten Gelegenheit, uns zu sehen; mein Bruder bewegte sich kaum aus jener Stadt heraus, die ich dreiundzwanzig Jahre früher nicht ganz freiwillig verlassen und seither gemieden hatte. Wir führten verschiedene Leben, außer der Mutter und einigen nicht ausschließlich angenehmen Kindheits- und Jugenderinnerungen teilten wir wenig, und gewöhnlich reichten uns zwei Stunden, um der still empfundenen Verpflichtung, sich als Brüder nicht ganz aus den Augen zu verlieren, Genüge zu tun. (S. 6)
Durch den Selbstmord – mit einer Überdosis Heroin – wird der Bruder auf einmal zum Thema im Leben des Erzählers, wie er es vorher wohl nie gewesen war. Das ist zunächst auch ein Ärgernis.
Man wurde mit einem Selbstmörder nicht fertig, niemals. Daran entzündete sich mein Zorn, ich war wütend, dass ich mich nicht mit den Kindern an den Gämsen erfreuen konnte, die hoch oben von Fels zu Fels sprangen, sondern stets von neuem in den Mahlgang der Gedanken gezwungen wurde. (S. 25)
Der Ich-Erzähler hofft, mit anderen ins Gespräch zu kommen, die auf ähnliche Weise einen Menschen verloren haben, dabei trifft er allerdings eher auf betretenes Schweigen. Auch der Blick in die Literatur hilft ihm bei der Suche nach den Gründen nicht weiter. Er kann im Suizid seines Bruders keinen heroischen Akt erkennen, in dem sich der freie Wille ausdrücke, sondern sieht darin zunächst eine Niederlage, ein Scheitern auf ganzer Linie.
Also begibt er sich selbst auf eine Art Spurensuche, die führt jedoch nicht, wie man vielleicht zunächst vermuten könnte, über Gespräche mit Freunden oder Familienmitgliedern des Verstorbenen oder über dessen frühere Heroinsucht, sondern über die Annäherung an den Spitznamen des Bruders, sein Totem, das ihm als Kind während einer – zumindest imaginiert der Ich-Erzähler das so – Angst einflößenden Initiationszeremonie bei den Pfadfindern zugesprochen wurde, dem Koala.
Und so spielen über 70 der insgesamt 182 Seiten gar nicht in der Schweiz. Stattdessen erleben wir im Zeitraffer die Unabhängigkeitsbestrebungen Amerikas, die Kolonialisierung Australiens und seine brutalen und energischen Anfänge als Sträflingskolonie mit, bis der Koala von den Weißen entdeckt und schließlich fast ausgerottet wird.
Ich mochte die klare, präzise Sprache, allerdings weniger den Manierismus, Orte und Menschen nicht zu benennen. Der Bruder bleibt namenlos, genauso wie Thun, die Heimatstadt der Brüder, der Dichter Kleist oder die Band, deren Lied bei der Trauerfeier gespielt wird.
Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich zerfällt das Buch. Der erste Teil, der sich mit den nur spärlich erläuterten Lebensumständen des Bruders und den Reaktionen, Erinnerungen und Deutungsversuchen des Erzählers beschäftigt, wirkt unterkühlt, fast teilnahmslos, berichtartig. Zwar heißt es, dass schon der Besuch in der alten Heimat dazu führe, dass die Sätze verklumpen und man alles vermeide, „was geschmeidig, anmutig oder gebildet erscheinen könnte.“ (S. 18) Doch warum muss der Leser das ausbaden?
Der rasante Ritt durch die bitteren Anfänge der Besiedlung Australiens durch die Engländer, bei dem wir in vielerlei Schicksale kurz, aber intensiv hineinblicken, hingegen war mitreißend prägnant formuliert. Selbst kurze Szenen wirkten lebendiger als die in der Gegenwart angesiedelte Handlungs- bzw. Reflexionsebene. Bärfuss hat für diesen geschichtlichen Part gründlich recherchiert und z. B. Tagebuchaufzeichnungen des Ralph Clark verwendet.
Doch die inhaltlichen Fäden, die diese beiden Teile miteinander verband, die fand ich zu dünn, nicht belastbar genug. Der Ich-Erzähler bleibt für mich den Nachweis schuldig, dass der Selbstmord seines Bruders sich mit der Metapher des Beuteltieres erklären lässt. Trotz der Parallelen, die er meint gefunden zu haben, z. B. in der Provokation, die die Verkörperung der Faulheit und die Abwesenheit jeglichen Ehrgeizes für den normalen Menschen darstelle.
Es leuchtet ein, wie wenig dieses Tier sich bewegen kann und dass es seinem Baum verbunden bleiben muss, weil das Material, mit dem es seinen Organismus in Gang zu halten versucht, Dreck ist. Mit dieser Nahrung lassen sich keine großen Sprünge machen, das Tier muss sesshaft und ruhig bleiben, den Metabolismus bis an die Grenzen des Stupors drosseln. (S. 158)
Der Tod des Halbbruders wird mit einer Bedeutung aufgeladen, die er vielleicht gar nicht hatte. Sie wird einfach behauptet. Kein Wort dazu, warum der Bruder früher heroinabhängig war oder seit wann er clean war. Die Brüder-Beziehung war problematisch. Die Schuld daran gibt der Erzähler vor allem seinem Bruder, der eben schwierig gewesen sei. Letztlich konnte er dessen Lebensentwurf – so denn von einem gesprochen werden kann – nie akzeptieren und regt sich noch nach dessen Tod auf, dass er von ihm einen wertlosen Haufen alter Comics geerbt hat.
Seinen Geschmack hielt er für unfehlbar, er gab vor, sich stets für das Beste zu entscheiden, was lächerlich und peinlich war, weil er sich nicht einmal das Zweit- oder Drittbeste leisten konnte. Seine Comics pflegte er mit einer Sorgfalt, als wären es nicht Billighefte vom Bahnhofskiosk, sondern Inkunabeln. […] Ausgerechnet die hatte er mir vermacht, eine schwere Kiste alberner Bildergeschichten, die einen höchstens schlichten Geschmack bewiesen. (S. 40)
Ich fand es unbefriedigend, dass der Erzähler die Möglichkeit, andere dem Bruder nahestehenden Menschen zuzuhören, so rasch verworfen hat. Da hat er sich die Spurensuche vielleicht doch ein bisschen einfach gemacht.
Natürlich hätte ich mich an seine Freunde, seine Familie wenden können, aber warum sollten sie sich nicht auch in den Anekdoten verlieren und beschönigende Erinnerungen kolportieren […] Ich hielt es nicht für möglich, dass jemand ehrlich mit sich war, aber ich machte niemandem einen Vorwurf. Jeder versuchte, sich von der Schuld zu entlasten, um weiterleben zu können. (S. 54)
War der Erzähler zunächst der Meinung, dass keine Moral aus dem Selbstmord des Bruders zu ziehen sei, so ändert sich das im Laufe der Geschichte. Ein bisschen verquast heißt es dann:
Ich fand einen Begriff für jenes Gefühl, das mich seit dem Tod des Bruders gefangen hielt, und ich nannte das Gefühl Einsamkeit. Ich fand sie bald in allem, nicht nur im Leben des Bruders, in jedem Leben, in meinem eigenen, in den Leben, die ich teilte und betrachtete. Ich erkannte in der Einsamkeit den Preis und die Strafe, ich sah, wie diese Einsamkeit zunahm unter meinen Freunden. Ich erkannte darin die Krankheit meiner Zeit, die Ursache des Unglücks, das jeder, der ein offenes Herz hatte, empfinden musste. Am Ende war jeder allein, das spürte ich, und ein Ende gab es alle Tage. (S. 37)
Später betrachtet der Erzähler den Selbstmord von einer gesellschaftskritischen Warte:
Die gängigen Tugenden, nach denen auch ich lebte, Fleiß, Strebsamkeit, Ehrgeiz, bewahrten jedenfalls nicht vor dem Unausweichlichen. […] wenn ich mir die Welt ansah, die durch diese Taten geformt war, dann fand ich nicht viele Argumente, die für den Ehrgeiz und den Fleiß sprachen, und ich konnte nicht ausschließen, dass diese Welt friedlicher gewesen wäre, wenn sich mehr Menschen an die Prinzipien meines Bruders gehalten hätten. Wenn sie sich berauscht und ohne Ambition ihre Tage hätten verstreichen lassen, für sich nur das Nötigste in Anspruch genommen hätten, einen Besitz, dessen Auflistung auf anderthalb Seiten Platz fand und in einer guten Stunde unter den Freunden verteilt war. (S. 55)
Ja, am Schluss wächst sich das Buch zu einer Deutung dessen aus, weshalb Arbeit in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert genießt. Doch am Ende weiß ich immer noch zu wenig über den namenlosen Bruder, der hier weniger als eigenständige Person wichtig ist, sondern eher als Grund herhalten muss, über den gesellschaftlichen Zusammenhang von Angst, Arbeit, Fleiß und Faulheit nachzudenken. Und allen Selbstmördern wird die Aufgabe der Gesellschaftskritik quasi im Nachhinein auferlegt.
Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß. […] Die Arbeit war keine Strafe mehr, sie war zur einzigen Tätigkeit geworden. Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder. […] Der Mensch hatte die Welt zu einem Arbeitsplatz gemacht. (S. 168)
Der Erzähler hingegen hat seine Antwort auf die Frage gefunden, „weshalb man es scheute, über den Selbstmord zu reden.“ Aber auch diese Antwort wird einfach behauptet, geglaubt habe ich ihr nicht.
Anmerkungen
Hier geht’s lang zur Besprechung von Sophie auf ihrem Blog Literaturen und das sagt Birgit von Sätze&Schätze.
Roman Bucheli formulierte in seiner Besprechung in der NZZ einen eher zwiespältigen Eindruck, während Ina Hartwig ihrem Unmut in der ZEIT freien Lauf ließ: „Zwischendrin verliert der englische König den Verstand – und der Leser den Überblick.“
Jens Bisky bemängelt in der Süddeutschen Zeitung vom 24. April besonders den dritten Teil des Werks, das er ohnehin nicht als Roman anerkennt:
Eine kulturkritische Sonntagspredigt zerstört das schöne Schweben zwischen Natur- und Zivilisationsgeschichte, bietet ein paar verrostete Schlüssel, um den Sinn der Episoden zu erschließen, obwohl der Autor doch weiß, dass all die Augenblicke keinen Sinn, keine Moral bereithalten.