Margaret Powell: Below Stairs (1968)

I was born in 1907 in Hove, the second child of a family of seven. My earliest recollection is that other children seemed to be better off than we were. But our parents cared so much for us. One particular thing that I always remember was that every Sunday morning my father used to bring us a comic and a bag of sweets. […] Sometimes now when I look back at it, I wonder how he managed to do it when he was out of work and there was no money at all coming in.

Mit diesen Sätzen beginnt der autobiografische Rückblick der britischen Autorin Margaret Powell auf ihre Jugend und die anschließende Zeit als „kitchen maid“ in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

In den ersten leider völlig uninspiriert heruntergeschriebenen Kapiteln schildert Powell die Armut und die ständigen Geldsorgen ihrer Familie. Der Vater war als Anstreicher oft arbeitslos, die Mutter arbeitete den ganzen Tag als Putzfrau. Staatliche Unterstützung gab es nicht und dennoch war es der Mutter zuwider, Almosen ihrer Arbeitgeber anzunehmen. Besonders schwierig war die finanzielle Lage während des Ersten Weltkrieges, als Margarets Mutter sämtliche Regale und Teile der Treppe verfeuerte, um wenigstens ein bisschen Wärme zu haben.

Margaret und ihre Geschwister müssen schon früh Aufgaben übernehmen, sind ständig hungrig und doch auch findig, wenn es beispielsweise darum geht, das Geld für eine Stummfilmvorführung aufzutreiben. Sie schildert nicht nur die Spiele der Kinder, den nachhaltigen Eindruck, den ein Zirkusbesuch auf sie machte, sondern auch die Beengtheit der Arbeiterwohnungen, in denen die Eltern immer dann miteinander schliefen, wenn die Kinder in der Sonntagsschule waren.

Als Margaret 13 Jahre alt ist, gewinnt sie ein Stipendium fürs Gymnasium; ihr Traum ist, später Lehrerin zu werden. Doch ihr ist völlig klar, dass sie trotzdem die Schule verlassen muss, um ihren Eltern nicht länger finanziell zur Last zu fallen. Zwei Jahre arbeitet sie in einer Wäscherei, bevor sie dann mit 15 ihre erste Stelle als „kitchen maid“ antritt.

Ab diesem Moment liegt die geschichtliche Bedeutsamkeit dieser Memoiren auf der Hand. Die Arbeitsbedingungen, unter denen Margaret nun viele Jahren arbeiten muss, sind atemberaubend grässlich. Und wer schon einmal eines der prächtigen Herrenhäuser in Großbritannien besichtigt und sich gewundert hat, wieso man bei derlei Besichtigungen so wenig über das Heer der Hausangestellten erfährt, weiß spätestens nach diesem Buch den Grund dafür. Sie waren für die meisten Herrschaften buchstäblich unsichtbar, einfach extrem billige Arbeitskräfte, denen man jegliche „gehobenen“ Bedürfnisse nach Bildung, Büchern oder schlicht einem nett eingerichteten Zimmer absprach.

Als „kitchen maid“ ist Margaret in der Hierarchie der Hausangestellten auf der untersten Stufe angesiedelt. Sie wird den anderen nicht einmal vorgestellt:

… don’t think I was introduced to them. No one bothers to introduce a kitchen maid. You’re just looked at as if you’re something the cat brought in. (S. 46 der Taschenbuchausgabe)

Moderne Hilfsmittel wie effektive Reinigungsmittel, Staubsauger, Handschuhe etc. gibt es nicht, die Arbeitszeiten sind katastrophal. Während des Frühjahrsputzes arbeitet sie von morgens kurz nach fünf Uhr bis abends um acht. Die Haushalte der gehobenen Schicht oder des Adels waren groß, täglich mussten Treppenstufen, Türen, Schränke, Geschirr und eine Unzahl an Töpfen gereinigt werden, oft waren ihre Hände aufgesprungen oder blutig. Freie Tage waren selten und man hatte kaum Gelegenheit, andere junge Menschen oder gar Männer kennenzulernen. Selbst wenn die Arbeit erledigt war, durfte man abends nicht mehr das Haus verlassen.

Die Ausbeutung, denen die Hausangestellten ausgesetzt waren, erinnert teilweise an Leibeigenschaft. Im Winter friert das Waschwasser in Margarets spartanisch eingerichtetem Zimmer ein, das sie sich mit einer weiteren Hausangestellten teilen muss. An ihrer ersten Stelle muss sie beispielsweise die Schnürsenkel in sämtlichen Schuhen bügeln, während der Enkelin des Hauses, die nur zwei Jahre jünger ist als Margaret, sogar die Zahncreme auf die Zahnbürste aufgetragen wird. Gleichzeitig wird den Dienstboten immer wieder suggeriert, dass sie auf einer völlig anderen Stufe stehen und dies auch fraglos, ja dankbar hinzunehmen hätten.

Eines Morgens will sie gerade die Zeitungen auf den Tisch in der Eingangshalle legen, als ihre Arbeitgeberin die Treppe hinunterkommt.

I went to hand her the papers. She looked at me as if I were something subhuman. She didn’t speak a word, she just stood there looking at me as though she could hardly believe that someone like me could be walking and breathing. […] I couldn’t think what was wrong. Then at last she spoke. She said, ‚Langley, never, never on any occasion ever hand anything to me in your bare hands, always use a silver salver. Surely you know better than that. Your mother was in service, didn’t she teach you anything?‘ (S. 74)

Die Demütigungen, die harte und schmutzige Arbeit, die Heuchelei ihrer Arbeitgeber und die Kränkung, ihre Schullaufbahn nicht fortsetzen zu können, führen zu Aggressionen und Minderwertigkeitsgefühlen, die ihr noch Jahrzehnte später, als sie gar nicht mehr als Hausangestellte arbeitet, schwer zu schaffen machen.

Diese Verbitterung spiegelt sich auch in ihren Erinnerungen. Es kostet sie sichtlich Mühe, allen Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Oft findet sich ein Schwarzweiß-Denken, ‚die da oben‘ sind automatisch die Feinde. Ihr Schreibstil ist weder subtil noch an psychologischen Nuancen interessiert, aber vielleicht erklärt gerade das die Wucht ihrer Schilderungen.

We always called them ‚Them‘. ‚Them‘ was the enemy. ‚Them‘ overworked us, and ‚Them‘ underpaid us, and to ‚Them‘ servants were a race apart, a necessary evil. (S. 94)

Wer allerdings könnte ihr ihren Zorn über die Heuchelei verdenken, den sie doch hinunterschlucken muss, wenn sie immer wieder beobachtet, wie ihre Arbeitgeber so besorgt um das Seelenheil und die moralische Integrität ihrer Bediensteten sind, sich aber einen feuchten Kehricht darum scheren, ob die Arbeits- und Schlafbedingungen eigentlich zumutbar oder gar dem Wohlbefinden förderlich sind.

Auch vor Nachstellungen und sexuellen Belästigungen sind die Hausangestellten nie hundertprozentig sicher. Die vornehmen Damen hingegen engagieren sich mit Begeisterung in diversen Wohltätigkeitsvereinen, z. B. für „fallen women“, doch sobald ein eigenes Zimmermädchen schwanger wird, wird ihm sofort gekündigt. Die Doppelmoral der herrschenden Schicht zeigt sich auch in den ‚love nests‘, die viele der vornehmen Herren irgendwo für ihre Geliebte eingerichtet haben.

Irgendwann erreicht sie ihr Ziel: Durch die Heirat kann sie dem ungeliebten Beruf enfliehen. Sie und ihr Mann Albert bekommen drei Söhne, für deren Schulbildung sie alles tut. Diesem Lebensabschnitt widmet sie gegen Ende des Buches nur wenige Seiten. Nach dem Zeiten Weltkrieg fängt Margaret an, Kurse zu besuchen und dem lange unterdrückten Wunsch nach Bildung Raum zu geben. Mit 58 besteht sie ihre ‚O-levels‘ und 1969 legt sie in Englisch ihre ‚A-levels‘ ab, was dem Buch dann noch eine versöhnlichere Note verleiht.

Und nach dem Erfolg ihres Buches geht es dann noch einmal richtig los:

… older people were clearly disturbed by the book’s anger. In the follow-up volume, published the next year, Powell explains how her memoir had prompted a storm of hurt letters from readers who had grown up in well-heeled households. They wrote to tell Powell that they knew for a fact that their parents had always tried hard to treat their servants as human beings. Some even went into detail about the bedrooms in which their maids had slept, anxious to prove how much effort had gone in to providing a comfortable home from home for the working-class girls in their care. Powell, though, was having none of it: while acknowledging that individual employers could be kind, the fundamental point remained that ’servants were not real people with minds and feelings. They were possessions.‘ (Kathryn Hughes, The Guardian, 19. August 2011)

Sie schrieb einige Romane und weitere Bücher über ihre Erfahrungen als „domestic worker“, z. B. Climbing the Stairs (1970).  Powell wurde ein gern gesehener Gast im Fernsehen. Bei ihrem Tod 1984 hinterließ sie ein Vermögen von 77.000 Pfund und ihre Bücher haben Serienklassiker wie „Das Haus am Eaton Place“ (auf Englisch „Upstairs, Downstairs“) inspiriert.

Also eine überaus interessante Lektüre, weil sie einen Einblick in eine Welt bietet, die spätestens im Zweiten Weltkrieg weitgehend untergegangen ist. Außerdem veranschaulicht das Buch sehr deutlich das Fazit, das Powell in der Einleitung zu ihrem zweiten Buch gezogen hat: Diese grenzenlose Ausbeutung war genau so lange möglich, wie den Heerscharen schlecht ausgebildeter Mädchen andere Verdienstmöglichkeiten gar nicht offen standen.

Hier geht’s lang zu einem (architektonischen) Blick auf die Arbeitsbedingungen der britischen Hausangestellten im 19. Jahrhundert.

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Agatha Christie: An Autobiography (1977)

Agatha Christie (1890 – 1976) beginnt ihren wunderbaren Lebensrückblick mit der Schilderung des Ortes, an dem sie beginnt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben:

Nimrud, Iraq, 2 April 1950. Nimrud is the modern name of the ancient city of Calah, the military capital of the Assyrians. Our Expedition House is built of mud-brick. It sprawls out on the east side of the mound, and has a kitchen, a living- and dining-room, a small office, a workroom, a drawing office, a large store and pottery room, and a minute darkroom (we all sleep in tents). But this year one more room has been added to the Expedition House, a room that measures about three square metres. […] There is a picture on the wall by a young Iraqi artist, of two donkeys going through the Souk, all done in a maze of brightly coloured cubes. There is a window looking out east towards the snow-topped mountains of Kurdistan.

Zur Entstehungsgeschichte

Ihr zweiter Mann, der Archäologe Max Mallowan, leitet zu dieser Zeit in Nimrud die Ausgrabungen, die u. a. zu der Entdeckung von Tausenden von Elfenbeinschnitzereien  führen. Christie kann nur wenig Zeit für ihre Erinnerungen erübrigen, da der Großteil ihrer Zeit vom Schreiben ihrer Krimis und der aktiven Unterstützung ihres Mannes bei den Ausgrabungsexpeditionen in Anspruch genommen wird, und so dauert es schließlich 15 Jahre, bis ihre Autobiografie – und mit ca. 500 Seiten ihr längstes, und wie ich finde, auch ihr bestes Buch überhaupt –  beendet ist.

On second thoughts, autobiography is much too grand a word. It suggests a purposeful study of one’s life. It implies names, dates and places in tidy chronological order. What I want is to plunge my hand into a lucky dip and come up with a handful of assorted memories. (S. 1)

Zum Inhalt

Die schnöden Fakten kann man ja überall nachlesen, doch die allein erklären nicht den Reiz des Buches. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, wie Christie hier vorgeht: Sie vermengt in fröhlichen Zeitsprüngen konkrete Kindheitserlebnisse, Selbstironie und ihren trockenen Humor mit Reflexionen über das Wesen der Erinnerung. Das liest sich vergnüglich, spannend und anregend.

This is one of the compensations that age brings, and certainly a very enjoyable one – to remember. (S. 12)

I think, myself, that one’s memories represent those moments which, insignificant as they may seem, nevertheless represent the inner self and oneself as most really oneself. […] So what I plan to do is to enjoy the pleasures of memory – not hurrying myself – writing a few pages from time to time. It is a task that will probably go on for years. But why do I call it a task? It is an indulgence. I once saw an old Chinese scroll that I loved. It featured an old man sitting under a tree playing cat’s cradle. It was called ‚Old Man enjoying the pleasures of Idleness.‘ I’ve never forgotten it. (S. 13)

Vor allem aber ist dieses Buch wirklich ein Fenster, und zwar in mehrfacher Hinsicht.

Ein Fenster in ein buntes und erfülltes Leben

Hier gibt es keine krisenhafte Kindheit, wie bei so vielen anderen Schriftstellern, ganz im Gegenteil:

One of the luckiest things that can happen to you in life is to have a happy childhood. I had a very happy childhood. I had a home and a garden that I loved; a wise and patient Nanny; as father and mother two people who loved each other dearly and made a success of their marriage and of parenthood. (S. 15)

Christie erzählt von  ihrer Mutter, die den Schreck verkraften musste, dass Agatha schon als Fünfjährige lesen konnte, obwohl sie das erst für Achtjährige als wünschenswert deklariert hatte, und ihrem so liebenswerten, wenn auch nicht übermäßig intelligenten Vater. Er stirbt, als Agatha elf Jahre alt ist.

Als Vierjährige verliebt sie sich in einen Freund ihres Bruders:

It was a shattering and wonderful experience. […] When I think of it now, how supremely satisfying early love can be. It demands nothing – not a look nor a word. It is pure adoration. Sustained by it, one walks on air, creating in one’s own mind heroic occasions on which one will be of service to the beloved one. Going into a plague camp to nurse him. Saving him from fire. Shielding him from a fatal bullet. (S. 38)

Wir erfahren, wie der Privatunterricht zu Hause abläuft, und wenn sie die Großmutter in Ealing (London) besucht, gehen sie mindestens einmal die Woche ins Theater. Doch auch an das schier unfassbare Glück, als sie zu ihrem fünften Geburtstag einen Hund geschenkt bekommt, erinnert sie sich:

When I read that well-known cliche ’so and so was struck dumb‘ I realize that it can be a simple statement of fact. I was struck dumb – I couldn’t even say thank-you. I could hardly look at my beautiful dog. Instead I turned away from him. I needed, urgently, to be alone and come to terms with this incredible happiness […] I think it was the lavatory to which I retired – a perfect place for quiet meditation, where no one could possibly pursue you. (S. 33-34)

So anschaulich, liebevoll und detailliert beschreibt Christie die Spiele und Katastrophen ihrer Kindheit, geerdet mit freundlichem Humor, dass man den Eindruck gewinnt, sie wird einem erzählt, während man gemütlich auf dem Sofa sitzt und hofft, die Geschichte geht immer weiter.

Um ihre musikalischen Begabung zu fördern, erhält sie Gesangs- und Klavierunterricht und längere Auslandsaufenthalte, z. B. in Paris, sollen ihr den letzten gesellschaftlichen Schliff verleihen.

Da sich inzwischen die finanzielle Situation der Familie so weit verschlechtert hat, dass man der 17-jährigen Agatha keine traditionelle Coming-Out-Saison in London ermöglichen kann, beschließt Mrs Miller, der ein wärmeres Klima gesundheitlich helfen soll, mit ihrer Tochter nach Kairo zu reisen:

Cairo, from the point of view of a girl, was a dream of delight. We spent three months there, and I went to five dances every week. They were given in each of the big hotels in turn. There were three or four regiments stationed in Cairo; there was polo every day; and at the cost of living in a moderately expensive hotel all this was at your disposal (S. 168)

Nach ihrer Rückkehr nach England lernt sie bei einer Tanzveranstaltung ihren späteren Mann Archibald Christie kennen, für den sie sich von ihrem Verlobten trennt. 1914 heiraten die beiden.

Während des Weltkrieges arbeitet Agatha als  Hilfskrankenschwester und schließlich als Apothekenhelferin, eine Tätigkeit, der sie ihre Kenntnisse diverser Gifte verdankt.

From the beginning I enjoyed nursing. I took to it easily, and found it, and have always found it, one of the most rewarding professions that anyone can follow. I think, if I had not married, that after the war I should have trained as a real hospital nurse. (S. 230)

In dieser Zeit kommt ihr erstmals die Idee, eine Detektivgeschichte zu schreiben. Später bereut sie sehr, Poirot in seinem ersten Fall nicht jünger gemacht zu haben, da sie natürlich nie damit gerechnet hatte, dass dieser kleine belgische Detektiv sie noch jahrzehntelang verfolgen wird. Zwei Jahre später wird The Mysterious Affair at Styles von einem Verlag angenommen. Ihre Unerfahrenheit wird von The Bodley Head schamlos ausgenutzt und die finanziellen Konditionen sind miserabel, doch zunächst ist sie einfach überglücklich, dass tatsächlich ein Buch von ihr veröffentlicht werden soll.

Archie dient während des Krieges in der britischen Luftwaffe. Einmal liegen zwei Jahre zwischen ihren Wiedersehen.

It seems odd that I don’t remember being at all worried about Archie’s safety. Flying was dangerous – but then so was hunting, and I was used to people breaking their necks in the hunting field. It was just one of the hazards of life. There was no great insistence on safety then. […] To be concerned with this new form of locomotion, flying, was glamorous. Archie was one of the first pilots to fly – his pilot’s number was, I think, just over the hundred: 105 or 106. I was enormously proud of him. (S. 221)

Interessant auch, wie sie den Tag erlebt, als der Krieg zu Ende ist.

I went out in the streets quite dazed. There I came upon one of the most curious sights I had ever seen – indeed I still remember it, almost, I think with a sense of fear. Everywhere there were women dancing in the street. English women are not given to dancing in public […] But there they were, laughing, shouting, shuffling, leaping even, in a sort of wild orgy of pleasure: an almost brutal enjoyment. It was frightening. One felt that if there had been any Germans around the women would have advanced upon them and torn them to pieces. (S. 264)

1919 kommt das einzige Kind der beiden, Tochter Rosalind, zur Welt.

1926 stirbt Agathas Mutter, an der sie sehr gehangen hat. Archie ist ihr keine Unterstützung und zu allem Überfluss eröffnet er ihr, dass er sich scheiden lassen will, um seine Geliebte heiraten zu können. Agatha erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Auf ihr zehntägiges Verschwinden, das es bis auf die Titelseite der New York Times schaffte, geht sie in ihrer Autobiografie nicht ein (siehe dazu den Spiegel-Artikel von Daniel Kringiel).

Doch ihr Abscheu vor Journalisten geht auf diese Zeit zurück und erklärt, weshalb sie ihren zweiten Mann, den Archäologen Max Mallowan, 1930 heimlich, still und leise in Edinburgh heiratet. Besonders gefallen hat mir, in welcher Situation Max das erste Mal gedacht hat, dass Agatha die richtige Frau für ihn sein könnte. Die Ehe mit dem 14 Jahre jüngeren Mann, den sie mehrere Monate pro Jahr auf seinen Expeditionen im Irak und in Syrien begleitet, war glücklich und hielt bis zu ihrem Tod.

Nothing could be further apart than our work. I am a lowbrow and he is a highbrow, yet we complement each other, I think, and have both helped each other. (S. 523)

Ein Fenster in eine vergangene Zeit

Doch es ist auch ein Buch, das einen Blick in eine vergangene Zeit erlaubt, in der der keinem Beruf nachgehende Vater dem Dahinschmelzen des geerbten Vermögens nur planlos zuschauen kann und die Töchter dieser Schicht oft noch zu Hause unterrichtet wurden. So hat Agatha ihr Elternhaus Ashfield in Torquay auch nicht als „reich“ in Erinnerung, schließlich hatten sie nur drei Bedienstete und gehörten auch nicht zu den Familien, die sich ein Automobil leisten konnten; dafür entsprachen die Mahlzeiten, wenn man Gäste hatte – gemessen an heutigen Standards – wohl dem Niveau gehobener Restaurants. Überhaupt zählte man Henry James und Kipling zu den Gästen, die bewirtet wurden.

Servants, of course, were not a particular luxury – it was not a case of only the rich having them; the only difference was that the rich had more. […] Our various servants are far more real to me than my mother’s friends and my distant relations. I have only to close my eyes to see Jane moving majestically in her kitchen… (S. 30)

Servants did an incredible amount of work. Jane cooked five-course dinners for seven or eight people as a matter of daily routine. For grand dinner parties of twelve or more, each course contained alternatives – two soups, two fish courses, etc. The housemaid cleaned about forty silver photograph frames and toilet silver ad lib, took in and emptied a ‚hip bath‘ […] brought hot water to bedrooms four times a day, lit bedroom fires in winter, and mended linen etc. every afternoon. […] In spite of these arduous duties, servants were, I think, actively happy, mainly because they knew they were appreciated – as experts, doing expert work. As such, they had that mysterious thing, prestige; they looked down with scorn on shop assistants and their like. (S. 29)

Agathas Schwester Madge hatte vor dem Zweiten Weltkrieg noch 16 Angestellte, die das große Haus mit 14 Schlafzimmern in Schuss hielten. Und Männer wie ihr Bruder Monty, die nirgendwo richtig sesshaft wurden, konnten sich wenigstens noch im Burenkrieg auszeichnen.

Gesellschaftliche Gegebenheiten, wie die sexuelle Doppelmoral oder das Empire, wurden nicht hinterfragt und überglücklich nahmen Agatha und ihr erster Mann 1922 das Angebot Ernest Belchers an, mit ihm zehn Monate um die Welt zu reisen, um Werbung für die geplante British Empire Exhibition von 1924 zu machen.

I still think New Zealand the most beautiful country I have ever seen. Its scenery is extraordinary. […] Everywhere the beauty of the countryside was astonishing. I vowed then that I would come back one day, in the spring […] and see the rata in flower: all golden and red. I have never done so. For most of my life New Zealand has been so far away. Now, with the coming of air travel, it is only two or three days‘ journey, but my travelling days are over. (S. 289)

Ein Fenster in die Arbeit archäologischer Expeditionen

Agatha Christie ist schon bei ihrem ersten Aufenthalt in Ur, wo sie als VIP-Gast den Ausgrabungen der Woolleys zuschauen darf,  begeistert von Land, Leuten und Kultur.

I fell in love with Ur, with its beauty in the evenings, the ziggurrat standing up, faintly shadowed, and that wide sea of sand with its lovely pale colours of apricot, rose, blue and mauve changing every minute. I enjoyed the workmen, the foremen, the little basket-boys, the pickmen – the whole technique and life. The lure of the past came up to grab me. To see a dagger slowly appearing, with its gold glint, through the sand was romantic. The carefulness of lifting pots and objects from the soil filled me with a longing to be an archaeologist myself. (S. 377)

Für viele Jahre begleitet sie dann ihren zweiten Mann bei dessen Ausgrabungen, u. a. in Nimrud, wo sie beim Säubern der gefundenen Elfenbeinschnitzereien hilft, z. B. mit feinen Stricknadeln oder ihrer Gesichtscreme, oder die Kostbarkeiten fotografiert.

Später wird Max ihr sogar bescheinigen, vermutlich mehr über „pre-historic pottery“ zu wissen als jede andere Frau in England.

Ein Fenster in das Leben einer der erfolgreichsten Autorinnen überhaupt

Ihre ersten Geschichten schreibt sie, als sie krank im Bett liegt und sich langweilt. Im Laufe der Zeit entwickelt sich das zu einer Freizeitbeschäftigung wie vorher das Besticken von Kissenhüllen.

Eher nebenbei erfahren wir, wann und wo ihr Ideen für ihre Bücher gekommen sind und unter welchen Umständen diese dann entstanden. Und bei Murder at the Vicarage (1930), dem ersten Buch mit Miss Marple, weiß Christie selbst nicht mehr, wo, wann und warum sie es geschrieben hat.

Christie war keine Intellektuelle (in ihrer Familie galt sie immer als „slow“) und sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Bücher und Theaterstücke geschrieben hat, um Geld damit zu verdienen, und das, wie man weiß, überaus erfolgreich. So konnte sie beispielsweise ihrer Leidenschaft frönen, heruntergekommene Häuser zu kaufen, zu renovieren und sie anschließend weiterzuverkaufen:

… there was indeed a moment in my life, not long before the outbreak of the second war, when I was the proud owner of eight houses. (S. 426)

Als richtigen Beruf hat sie ihre Tätigkeit lange gar nicht ernst genommen.

How much more interesting it would be if I could say that I always longed to be a writer, and was determined that someday I would succeed, but, honestly, such an idea never came into my head. […] In fact I only contemplated one thing – a happy marriage. (S. 127-128)

Auf Formularen trug sie bei „Beschäftigung“ immer „married woman“ ein.

I never approached my writing by dubbing it with the grand name of ‚career‘. I would have thought it ridiculous. (S. 430)

Meine gute alte Zeit?

Da Christie verfügt hatte, dass ihre Autobiografie erst nach ihrem Tod erscheinen dürfe, wurde sie erstmals 1977 veröffentlicht.

Auf Deutsch erschien diese 1977 unter dem albernen und irreführenden Titel „Meine gute alte Zeit“. Das klingt, als ob hier jemand bloß einer glorifizierten Vergangenheit nachtrauert und die harschen Seiten des Lebens und der Geschichte ausblendet. Nichts könnte falscher sein.

Man denke nur an das Scheitern ihrer ersten Ehe, den Tod ihres ersten Schwiegersohnes oder die grässlichen Jahre während des Zweiten Weltkrieges:

So time went on, now not so much like a nightmare as something that had been always going on, had always been there. It had become, in fact, natural to expect that you yourself might be killed soon, that the people you loved best might be killed, that you would hear of deaths of friends. Broken windows, bombs, land-mines, and in due course flying-bombs and rockets – all these things would go on, not as something extraordinary, but as perfectly natural. (S. 489)

Eher schon findet sich eine gewisse Nostalgie, wenn sie z. B. von Orten schreibt, an denen sie glücklich war und die sie danach nie wieder besucht hat, wie beispielsweise den Schrein des Sheikh Adi in Nordirak.

The peacefulness of it comes back – the flagged courtyard, the black snake carved on the wall of the shrine. Then the step carefully over, not on the threshold, into the small dark sanctuary. There we sat in the courtyard under a gently rustling tree. […] We sat there a long time. Nobody forced information on us. […] When the sun began to get low, we left. It had been utter peace. Now I believe, they run tours to it. The ‚Spring Festival‘ is quite a tourist attraction. But I knew it in its day of innocence. I shall not forget it. (S. 81)

Und Christie veranschaulicht mit ihren Lebenserinnerungen den Wertewandel, den wir in vielen Bereichen in den letzten hundert Jahren erfahren haben, vor allem, was die Rolle von Mann und Frau anbelangt, auch wenn sie dabei ihre von Anfang an privilegierte Position ein bisschen aus den Augen verliert. Dem Gedanken an Gleichberechtigung könnte sie wohl wenig abgewinnen.

The real excitement of being a girl […] was that life was such a wonderful gamble. You didn’t know what was going to happen to you. That was what made being a woman so exciting. No worry about what you should be or do – Biology would decide. You were waiting for The Man, and when the man came, he would change your entire life. You can say what you like, that is an exciting point of view to hold at the threshold of life. What will happen? ‚Perhaps I shall marry someone in the Diplomatic Service… I think I should like that; to go abroad and see all sorts of places…‘ (S. 128)

Fazit

Das Buch ist in seiner Fülle von Geschichten unterhaltsam, warmherzig und erhellend, dabei kein bisschen trivial oder sentimental. Kurzum, ein Buch, das mir beim Wiederlesen genauso viel Freude wie beim ersten Lesen bereitet hat (wenn man mal von den wirren zwei Seiten absieht, auf denen sie die Todesstrafe befürwortet).

Was mir diesmal besonders auffiel, war Christies Faszination und vorbehaltlose Freude an Orten, ihrer Schönheit, ihrer Gastfreundlichkeit und ihrer Kultur, die wir zur Zeit nur mit Menschenrechtsverletzungen, Krieg oder Terror in Verbindung bringen, sei es im Iran, Irak oder in Syrien.

Neben dem sanften, auch selbstironischen Humor sind übrigens, genau wie in ihren Kriminalromanen, die Dialoge einer der Stärken des Buches. Diese dürften ja selten genau so verlaufen sein, wie sie hier niedergeschrieben sind; aber sie klingen völlig natürlich, wie gerade stattgefunden.

Auch der Epilog, in dem sie sich gelassen und ein bisschen spöttisch mit ihrem Altern und dem Tod auseinandersetzt: lesenswert!

An Autobiography, für mich das Beste, was Christie je geschrieben hat. Und wer wissen will, was damals der große Nachteil am Reisen mit dem Orient-Express war, wo sie ihren zweiten Mann kennengelernt hat und weshalb man sie zum zehnjährigen Bühnenjubiläum von The Mousetrap im Savoy zunächst nicht in den für die Party reservierten Raum hineinlassen wollte und welche zwei Dinge Agatha Christie in ihrem Leben am aufregendsten fand, der muss das Buch jetzt doch noch selbst lesen.

I like living. I have sometimes been wildly despairing, acutely miserable, racked with sorrow, but through it all I still know quite certainly that just to be alive is a grand thing. (S. 13)

I have remembered, I suppose, what I wanted to remember; many ridiculous things for no reason that makes sense. That is the way we human beings are made. (S. 529)

Zur Frage, was von der deutschen Übersetzung zu halten ist, geht es hier lang.

Jakob Wassermann: Mein Weg als Deutscher und Jude (1921)

Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und Figuren zu bewegen, will ich mir – gedrängt von innerer Not der Zeit – Rechenschaft ablegen über den problematischsten Teil meines Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft, nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe, die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Mißverständnissen, Tragik, Widersprüchen, Hader und Leiden eröffnen.

Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.

So beginnt das aufschlussreiche und beeindruckende Buch des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann, das 1921 erschien. Wassermann beschränkt sich in diesem Lebensrückblick, wie der Titel schon sagt, tatsächlich auf das Thema seiner deutsch-jüdischen Identität. Andere wichtige Bereiche seines Lebens, wie beispielsweise seine desaströse Ehe mit Julie Speyer, werden ausgeklammert und stattdessen in anderen Werken verarbeitet (siehe die Besprechung zu My first Wife auf dem Blog A Common Reader).

Wassermann, 1873 in Fürth geboren und 1934 in Altaussee (Österreich) gestorben, beginnt seine Bestandsaufnahme mit der Schilderung seiner freudlosen Kindheit: Die Mutter stirbt, als er neun Jahre alt ist; der Vater, ein erfolgloser Kaufmann, versucht die Familie mehr schlecht als recht als Versicherungsagent durchzubringen.

Der Junge lernt schon früh antisemitische Hänseleien kennen, die ihm aber zunächst nicht so sehr zu schaffen machen, da er spürt, dass sie weniger ihm als Individuum gelten, sondern eher der jüdischen Gemeinschaft. Es ist beklemmend zu lesen, wie klar Wassermann schon 1921 die Dämlichkeiten der Antisemiten entlarvt:

Aber ich merkte, daß meine Person, sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewußt wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv Nichtjuden in der der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, daß der Rassenhaß, den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten Äußerlichkeiten genährt wird, und daß sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren darin die Stumpfesten. (S. 12 – 13)

Der aufmerksame Junge nimmt von Anfang an die Ambivalenz seiner jüdischen Existenz wahr. Auf der einen Seite gehen er und seine Geschwister in den kleinen christlichen Handwerkerbetrieben der Nachbarschaft ein und aus und selbst Heiligabend dürfen sie dort zu Gast sein und werden ebenfalls beschenkt.

Aber Wachsamkeit und Fremdheit blieben. Ich war Gast, und sie feierten Feste, an denen ich keinen Teil hatte. (S. 18)

Damit ist sein Grundproblem umrissen:

Nun war aber das Bestreben meiner Natur gerade darauf gerichtet, nicht Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht, als aus Mitleid und Gutmütigkeit geduldeter noch weniger, als einer, der aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren sich entschließt, erst recht nicht. Angeboren war mir das Verlangen, in einer gewissen Fülle des mich umgebenden Menschlichen aufzugehen. (S. 19)

Da genau dieses Verlangen nicht gestillt werden konnte, sieht Wassermann in Literatur und Landschaft seine Retter, die ihn vor dem Verlust der eigenen Identität bewahrt haben. Schon als Elfjähriger lernt er die Macht des Wortes kennen, als er, um seinen fünf Jahre jüngeren Bruder am Petzen zu hindern, diesem jeden Abend eine verwickelte Fortsetzungsgeschichte erzählt, die aber nur bei Wohlverhalten des Bruders weitergeführt wird. Es dauert nicht lange, bis er diese Geschichten nachts heimlich aufzuschreiben versucht, immer bedroht von der unfreundlichen Stiefmutter, die alles Geschriebene, was ihr in die Hände fällt, erbarmungslos vernichtet.

Seine Hoffnung, in dieser Richtung auch beruflich tätig werden zu können, scheitert an der Kleinbürgerlichkeit der Familie. Der Vater spekuliert darauf, dass Jakob als Lehrling bei einem reichen Onkel in Wien zur Sanierung der prekären finanziellen Lage beiträgt. Doch dort macht er alles andere als eine gute Figur. Er schlägt sich die Nächte mit Schreiben um die Ohren und ist am Tage zu nichts zu gebrauchen. Schließlich hält er es nicht mehr aus, reist zu einem Freund nach München und beginnt ein Studium, doch schon nach kurzer Zeit wird ihm die ohnehin zu knapp bemessene Unterhaltshilfe des Onkels gestrichen. Er nimmt seinen Militärdienst auf und trifft dort – vor allem unter seinen Kameraden – auf unverhohlenen Antisemitismus:

Zum erstenmal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Haß, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Haß hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne der Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Haß. (S. 39)

Wassermann seziert nicht nur die Bestandteile der Vorurteile und Benachteiligungen, denen er ausgesetzt ist, er ist sich auch im Klaren darüber, dass dies nicht ohne Folgen auf die eigene Psyche bleiben kann, gerade auch, weil selbst Freunde ihn nicht als das anerkennen können, was er ist, ein Deutscher und ein Jude. Er will schon gar nicht von ihnen als löbliche Ausnahme anerkannt werden, da er auch darin tiefverwurzelte Vorurteile am Werke sieht.

Nach kurzen und unerquicklichen Aufenthalten in Nürnberg und Freiburg zieht er – bettelarm – zu einem Freund nach Zürich. Dieser, selbst gerade arbeitslos, nimmt ihn zunächst voller Herzlichkeit auf, doch schon bald geht auch durch diese enge Freundschaft ein Riss. Sie diskutieren sein Deutschtum, sein Judentum, sie kommen dabei zu keinem gemeinsamen Ergebnis, denn der Freund ist nur gewillt, ihn als eine Ausnahmeerscheinung innerhalb des eigentlich verachtenswerten jüdischen Volkes zu sehen. Die Verbindungslinien von solcherlei Einstellung und Verdrehungen zu den späteren Beschwörungen der Nazis sind schon hier mühelos zu ziehen: Die Juden hätten sich nie vollständig mit den Interessen der „Wirtsvölker“ identifiziert, sie seien weder willens noch fähig, sich aus ihrer Isolierung zu lösen.

Es steckt in ihnen ein ungesunder Hochmut der Tradition noch heute. Noch heute pochen sie auf die nur ihnen allein offenbarte Lehre […] Namentlich gegen das Christentum mußte sich ihr unauslöschlicher Haß richten, denn ihm gegenüber empfanden sie wie eine Mutter, die aus ihrem Schoß den Verräter geboren hat, Verräter des Volkes, Verräter der Menschheit, Verräter Gottes. Was kann solchem Haß gleichen? Wodurch könnte er gemildert werden? […] Rache für das Erlittene zu üben, keimt wahrscheinlich als Beschluß seit Geschlechtergedenken in ihrer Seele, wuchert in ihrem Zellgewebe sozusagen; was vermag dagegen der andersgeartete Einzelne? Dergleichen Instinkte wirken unterirdisch fort und sind durch keine Übereinkunft gutmeinender Aufklärer […] aus der Welt zu schaffen. (S. 49)

Der Freund vertritt damit weit vor 1900 eine Auffassung, die – einmal zum Programm erhoben – ein Leben als jüdischer Deutscher im Grunde zu einem Ding der Unmöglichkeit erklärt:

Doch nachdem ihnen die Wege zur Gemeinschaft mit uns geebnet waren, veränderte sich wohl ihr geistiges Antlitz, ihre Spiritualität mit erstaunlicher Schnelligkeit; mit erstaunlicher Schwung- und Spannkraft machten sie unsere Notwendigkeiten zu den ihren, ihre zu den unseren, schmiegten sich den Forderungen des Staatswohls an, der öffentlichen Meinung, der Mode, widmeten ihre wunderbaren Talente der Kunst, der Wissenschaft, der sozialen Entwicklung, aber in ihrem Grund blieben sie Juden. (S. 52)

Selbst eine Konvertierung zum Christentum sei nur im oberflächlichen Sinne möglich, im tiefsten Inneren bleibe ein Jude ein Jude. Auch wenn Wassermann diese Argumentation nicht akzeptieren kann, zwingt ihn sein Freund zu unerbittlicher Selbstanalyse. Er selbst sieht die Tragik im Dasein des Juden darin, dass

er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung. In dem beständigen Anprall, in der Reibung dieser beiden Empfindungsströme muß er leben und sich zurecht finden. […] Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß man Jude ist.“ (S. 54)

Als er dem Freund anfängt, zur Last zu fallen, fährt er – selbst die Fahrkarte müssen ihm Freunde bezahlen – zurück nach München, wo sein Vater inzwischen lebt. Es kommt dort zum Zerwürfnis, und es folgen Monate bitterster Armut und Perspektivlosigkgeit. Als ein befreundeter Schriftsteller ihm ein selbstverfasstes Buch mit freundschaftlicher Widmung schenkt, bringt er dies ohne zu zögern zum Antiquar, um davon seinen Lebensunterhalt für die nächsten Tage zu bestreiten.

Mit 23 Jahren veröffentlicht er den Roman Die Juden von Zirndorf.

Danach überspringt Wassermann elf Jahre seines Lebens und geht direkt zu seinem Werk Caspar Hauser über, dessen Thematik ihn über Jahre beschäftigt hat. Doch auch dieses Werk verschafft ihm nicht die Anerkennung als deutscher Schriftsteller, auf die er gehofft hatte. Wie gegen Glaswände stößt er überall gegen antisemitische Vorbehalte, Vorurteile und Abwiegelei.

Man denke sich einen Arbeiter, der, wenn er seinen Lohn begehrt, niemals voll ausgezahlt wird, obgleich seine Leistung in nichts hinter der der übrigen Arbeiter zurücksteht, und den man auf die Frage nach dem Grund solcher Unbill mit den Worten bescheidet: du kannst den vollen Lohn nicht beanspruchen, weil du blatternarbig bist. Er schaut in den Spiegel: Sein Gesicht ist durchaus ohne Blatternarben; er geht hin: Was wollt ihr? Ich bin ja gar nicht blatternarbig. Man zuckt die Achseln, man erwidert: Du bist als blatternarbig gemeldet, also bist du blatternarbig. In dem Gehirn des Menschen entsteht eine sonderbare Verwirrung: Das Recht wird ihm verkürzt unter dem Vorwand eines äußeres Makels, und in der Beunruhigung, die es ihm erregt, unterläßt er es, mit dem Aufgebot aller Kraft sein Recht durchzusetzen. Eine raffiniert ausgedachte Qual. (S. 84)

1898 zieht er nach Wien und ist überrascht, wie sehr das öffentliche Leben dort von Juden geprägt ist. Doch auch er ist nicht gefeit davor, in Schablonen und Verallgemeinerungen zu denken.

Mein Verhältnis zu ihnen, innerlich wie äußerlich, war von Anfang an ein höchst zwiespältiges. […] Ich schämte mich ihrer Manieren, ich schämte mich ihrer Haltung. Die Scham für den anderen ist ein ungemein quälendes Gefühl, am quälendsten natürlich, wo Blut- und Rasseverwandtschaft im Spiel ist […] Diese Scham steigerte sich manchmal bis zur Verzweiflung und bis zum Ekel. […] Es ging ein Zug von Rationalismus durch all diese Juden, der jede innigere Beziehung trübte. Bei den Niedrigen äußerte es sich und wirkte im Niedrigen, Anbetung des Erfolgs und des Reichtums, Vorteils- und Gewinnsucht, Machtgier und gesellschaftlichem Opportunismus; bei den Höheren war es das Unvermögen zur Idee und Intuition. Die Wissenschaft war ein Götze … (S. 103 – 104)

Wieder überspringt er mehrere Jahre, sagt nichts darüber, wie er seinen Lebensunterhalt bestreitet, wie er lebt, sondern geht gleich zur Veröffentlichung des Buchs Das Gänsemännchen (1915) über, das „sogleich ein herzliches und weittragendes Echo fand.“ (S. 87)

Mit dem aufkommenden Zionismus kann er sich nicht identifizieren, obwohl „der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes.“ (S. 118) Schon seit Jahrhunderten seien sie die bequemen Sündenböcke, der Kanal, in den man Hass, Verbitterung und Ressentiments leiten konnte. Hellsichtig und nahezu hoffnungslos konstatiert er:

Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. […] Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. (S. 122)

Und mit dem Wissen darum, was nur wenige Jahre später in Deutschland passiert, lesen sich seine Schlussworte erschütternd, die an die Worte Bonhoeffers erinnern, mit denen er den Tyrannenmord rechtfertigte:

Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig, Herumstehenden: was soll geschehen? so sage ich ihm: reißt dem Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand. Erwidert mir dann einer: der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh geladen, so sage ich ihm: das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand. Mehr kann Deutschland nach meiner Ansicht gewiß nicht tun. Aber es wäre viel. Es wäre genug. (S. 125)

Fazit

Mein Weg als Deutscher und Jude beeindruckt in seiner psychologischen Klarheit. Es ermöglicht uns trotz so mancher sprachlich verquasten Stelle einen Einblick in das Wesen des Antisemitismus, in rassistische Vorurteile überhaupt und in deren Auswirkungen auf die Psyche des Schriftstellers und zeigt uns Wassermanns Ringen um eine deutsche Identität.

Interessant auch sein Brief an Hedwig und Samuel Fischer aus dem Jahr 1925, in dem er die mangelnde öffentliche Anerkennung und die Zurückhaltung seines Verlegers ebenfalls mit antijüdischen Ressentiments begründet.

Marcel Reich-Ranicki schrieb in der FAZ:

Dieses Buch ist ein erschütterndes Zeitdokument, es ist Bekenntnis und Darstellung, Klage und Anklage in einem. Wassermann bekannte sich zu einer Bahn mit zwei Mittelpunkten: Er sei Deutscher und Jude zugleich – eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen. Damit ist schon gesagt, was Wassermann meinte, als er mehrfach, zumal gegen Ende seines Lebens, erklärte, er sei gescheitert.

John W. Evans: Young Widower (2014)

The year after my wife died, I compulsively watched television. I needed distraction, to be entertained. What I could not stream online or order through the mail I sought out at the local video store. I was living in a suburb of Indianapolis, about a mile from a strip mall where I could rent, in a pinch, midseason discs of The Wire, The Office, Friday Night Lights.

So beginnt der autobiografische Bericht des Dozenten und Schriftstellers John W. Evans über das schlimme Jahr nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2007.

Evans hatte seine Frau in Bangladesch während der Arbeit im Peace Corps kennengelernt. Die beiden leben zwischendurch auch in Amerika, doch dort hält es sie nicht lange. Sie gehen nach Bukarest in Rumänien, seine Frau Katie arbeitet u. a. in einem Anti-AIDS-Programm mit und er unterrichtet Englisch.

Irgendwann unternehmen sie mit Freunden eine zweitägige Wanderung durch die Karpaten. Spät am Nachmittag trennt sich die Gruppe, damit die Schnelleren wie John schon mal eine Unterkunft in einem Hostel organisieren können. Doch als es dunkel wird und man ungeduldig auf die Nachzügler wartet, kommen nur zwei der drei völlig verstört am Hostel an. Die Gruppe war von einem Bären angegriffen worden und nur den beiden ist die Flucht gelungen, Katie ist also allein mit dem Bären irgendwo in der Dunkelheit.

My wife’s death was violent and sensational. She was killed by a wild bear, while we were hiking in the Carpathian Mountains outside of Bucharest, where we had lived and worked for the last year of her life. She was thirty years old. (S. 2)

Der Autor schreibt nun – wie schon viele Witwer und Witwen vor ihm – seine und Katies Geschichte auf. Wir erfahren im Rückblick, wie sie sich kennengelernt haben, sich ihre Liebe entwickelt hat, was für ein Mensch Katie gewesen ist.

Doch vor allem ist das Buch der unerbittliche Versuch, sich selbst Klarheit zu verschaffen über den Ablauf des Trauerprozesses, wobei der Schreibprozess auch ordnen soll, was im Grunde nicht zu ordnen ist. Gerade den genauen Hergang des grauenhaften Unglücks hat er wohl vor der Veröffentlichung nahezu zwanghaft immer wieder und wieder umgeschrieben.

In Wellenbewegungen nähert er sich dabei auch dieser verhängnisvollen Wanderung – und wir erfahren immer weitere Details, wobei es dem Autor nie um Sensationshascherei geht, was für den Leser/die Leserin den Schmerz entsprechender Stellen fast unerträglich macht.

Katie und John hatten sich, als sich die Gruppe getrennt hat, ein wenig gestritten (fast schon ein zu großes Wort für die kleine Missstimmung). Die Nachzügler hatten zwar Bärenspray dabei, doch dies hatten sie in ihren Rucksäcken verstaut, die sie als erstes wegwarfen, in der Hoffnung, so den Bären abzulenken.

John muss außerdem damit zurechtkommen, dass der Hostelbetreiber ihm keine Waffe aushändigen wollte, um keine Scherereien zu bekommen. Als die Bärenjäger aus dem Nachbardorf kommen, ist alles zu spät. So war John allein zurückgegangen, um Katie zu helfen. Doch er kann nur noch wie erstarrt zusehen, wie der Bär Katie den Brustkorb zerquetscht. Danach fühlt er sich schuldig für seinen Überlebenswillen und die Unfähigkeit, Katie zu retten.

Die Prämie der Lebensversicherung ermöglicht ihm, – abgesehen von kleineren Lehrtätigkeiten – erst einmal aus dem Arbeitsleben auszusteigen. Er zieht beim Bruder seiner verstorbenen Frau und dessen Familie ein und wird so etwas wie ein weiteres Familienmitglied, das mal am Familienleben teilnimmt, mal sich völlig zurückzieht, seine Therapiestunden besucht, Medikamente nimmt, Tagebuch schreibt, Freunde trifft, sich an die schönen und schwierigen Alltagsmomente mit Katie erinnert und versucht, das Gedenken an seine Frau, z. B. mit einem Blog, wachzuhalten.

I have three soft-cover notebooks in which I wrote daily accounts of my life during that year. The journal is a matter of will and record. I wanted to survive grief. I feared I would lose, with time, the intensity, of my reactions. A therapist said we were personally and creatively redefining the context of my emotional experience of the world. (S. 3)

Er fühlt sich auch schuldig, weil er sich mit zunehmendem zeitlichen Abstand beispielsweise Katies Lachen nicht mehr vergegenwärtigen kann und Erinnerungen seltsam leblos werden. Diverse Fragen treiben ihn um. Warum fühlt er – gerade am Anfang – den Drang, wirklich jedem seine Geschichte zu erzählen? Wäre es gefährlich, irgendwann die Tabletten gegen die Angst und die Schlafstörungen abzusetzen?

Hätte er seine Frau retten können? Ist er unschuldiger Zeuge eines entsetzlichen Unglücks oder ein Feigling? Wie verändern sich familiäre Beziehungen und Freundschaften in dieser Zeit?

Wie kann man trauern, wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der jeder funktionieren soll und es außer schwarzer Kleidung keine gesellschaftlich anerkannten Rituale für Trauer mehr gibt und kaum jemand damit umgehen kann, wenn ein anderer so aus der Bahn geschleudert wird? Wenn niemand mit der Endlichkeit des Lebens behelligt werden möchte?

Was antwortet man der Therapeutin, als die vorschlägt, nur noch jeden zweiten Abend eine Schlaftablette zu nehmen? Wie lernt man später, seinen Schmerz auch zu schützen?

I had carried grief at first so that everyone would see it, maybe even forced to acknowledge it. Now I had to learn how to step back and protect it, to cover my body and reveal only what I needed someone else to see. (S. 105)

Welches „Bild“ von Katie ist angemessen? Sie war ja mehr als „nur“ seine Frau, sie war Tochter, Tante, Freundin und eben ein ganz eigenständiger Mensch. Wie kann es sein, dass das als selbstverständlich angenommene Zusammensein mit Katie nach ihrem Tod zu einer Reihe unzusammenhängender Einzelerinnerungen zerfällt?

Ab wann werden Trauer und Gedenkrituale zu einem Schauspiel, dem die echten Gefühle abhanden gekommen sind? Ein Schauspiel, das man nur deshalb noch aufführt, um die Anteilnahme der Mitmenschen zu bekommen und um eine Handlungsanweisung zu haben, an der  man sich orientieren kann.

Entscheidend ist bei diesem Buch, dass Evans mit aller Kraft versucht, seine Trauer intellektuell zu verstehen und zu verarbeiten.  Das zeigt sich bei Dingen wie dem im Eingangszitat erwähnten Fernsehkonsum.

I became suspicious of representations of suffering, especially gratuitous violence. What was the point of imagining bloodlust and apocalypse, if not to enjoy it? I preferred alternative logics – superheroes, universes, Texas – and comedies. They rejected finality. I found comfort in their repetitions. What did it matter that I was real and the people I watched were not? I felt present by proxy in constant variations on redemption: charity, sublimation, self-actualization. (S. 11)

Fazit

Eine traurige, tragische und eine große Liebeserklärung an seine Frau. Drei Tage nach dem Unglück, noch in Rumänien, spricht er mit einem Psychologen der Botschaft. Sie reden über dies und das, über die Wirkung der Schlaftabletten usw. Evans schreibt:

I feel safe with Katie is what I should have said. If Katie were with me in the room, I should have told the nurse, then she would tell me what to do next. I wouldn’t need to ask the embassy nurse for pills, or the embassy psychiatrist for help, or anyone why, since Katie’s death, I had felt in such equal parts fear and excitement, even at night, as I fell asleep in a haze of narcosis and panic, uncertain how I might keep myself safe and protected for the seven hours I would not be conscious. Katie kept me safe, I thought, and though I knew this was sentimental, it was also true. (S. 89)

Und die indirekte Kritik am westlichen Gesellschaftssystem, das einem normalerweise keine längere Auszeit nach einer persönlichen Katastrophe zugesteht, würde ich sofort unterschreiben.

Evans schreibt schonungslos ehrlich und ist ein kluger Beobachter, dennoch fehlte mir irgendetwas. Zum einen schreibt hier ein Mensch, der mir in seiner ganzen Lebensart ziemlich fremd wäre, diese Fremdheit ist durch die Lektüre nicht geringer geworden.

Dazu kommt, dass Evans ein Liebhaber von Abstrakta ist. Das machte die Lektüre stellenweise schwierig und es gab Sätze, die ich auch nach mehrmaligem Lesen schlicht nicht verstanden habe.

Obwohl jeder von uns sterben wird, geht jeder anders damit um. Und die literarischen Zeugnisse der Überlebenden, der Trauernden zeigen, dass auch jeder auf ganz individuellem Weg seinen Trost findet – oder eben auch nicht. Vielleicht war es das, was mich hier auf Abstand gehalten hat. Letztlich haben Evans der zeitliche Abstand geholfen, Tabletten, ein Therapeut, eine unterstützende Familie und nicht zuletzt die finanzielle Absicherung, sodass er nach ca. einem Jahr bereit ist, den Absprung zu wagen und bei seinem Schwager auszuziehen.

Und doch bleibt alles so, wie soll ich sagen, unbefriedigend. Ein wirklicher Trost, der das Grauen aushält, ist nicht in Sicht. Letztlich scheint das auch Evans zu spüren.

A therapist said to think of Katie’s death as a story. Name the parts that are too difficult, and then leave them out. Tell the story again and again, until those difficult parts come back.

Is it easier to think of our life together as a collection of facts and events, rather than one complete, exhaustive sequence? I’m not certain that either Katie’s life or our life together had certainty and coherence; that how we lived was exactly the one life described in eulogies and tributes, with its tidy beginning, middle, and end, full of premature accomplishment. (S. 36)

Auch die Tatsache des Schuldigwerdens, des dumme Fehler-Machens, was katastrophale Folgen haben kann, kann hier nur „wegtherapiert“ werden. So bleibt für Evans zunächst nichts als die Erkenntnis:

The healthy body does not grieve forever. It will not stay in bed all day, or refuse to go to work, or drink too much alcohol, or take too many pills. It is a highly adaptable organism. (S. 161)

Anmerkung

Das Buch hat den River Teeth Literary Non-Fiction Prize der Ashland University gewonnen.

Auf der Homepage des Autors, der inzwischen Creative Writing unterrichtet, findet sich ein kurzer biografischer Abriss.

Zum Abschluss ein Zitat von Nicholas Montemarano aus der lesenswerten Besprechung in der Los Angeles Review of Books:

Evans is one in a long line of such messengers, from Lewis to Didion to Deraniyagala. And we need them: it is too easy to forget that what we have, we will lose — that brown bears come in many guises, and that we are all powerless in one way or another. But thanks to honest and sadly beautiful books like Young Widower, we are at the very least helpless together. We can’t go on, we’ll go on.

Montemarano nennt auch weitere Titel, die den Verlust geliebter Menschen zum Thema haben.

Jackie Kay: Red Dust Road (2010)

Die autobiografische Rückschau der schottischen Lyrikerin und Schriftstellerin Jackie Kay beginnt mit den Sätzen:

Nicon Hilton Hotel, Abuja

Jonathan is suddenly there in the hotel corridor leading to the swimming-pool area. He’s sitting on a white plastic chair in a sad cafe. There’s a small counter with a coffee machine and some depressed-looking buns. He’s dressed all in white, a long white African dress, very ornately embroidered, like lace, and white trousers. He’s wearing black shoes. He’s wired up. My heart is racing. ‚Jonathan?‘ I say.

Es ist erstaunlich, wie viele Parallelen ihre Lebensgeschichte zu der von Jeanette Winterson aufweist. Auch Kay wurde als Baby adoptiert, wurde Schriftstellerin, ist lesbisch und begibt sich als Erwachsene auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern und verarbeitet dies in einem autobiografischen Roman.

Doch der Grundtenor ist ein ganz anderer als bei Winterson. Während Winterson um ihr seelisches Überleben in einem freudlosen Haushalt kämpfen muss, bei dem die Religion als Krücke und Schild gegen echte Gefühle herhalten muss, wächst Kay bei einem schottischen Kommunistenpaar auf, das keine Bedenken hat, 1959 und 1962 zwei Kinder zu adoptieren, die farbig sind.

Ihre leibliche Mutter Elizabeth, eine schottische Krankenschwester, lernt in Aberdeen einen postgraduate-Studenten aus Nigeria kennen, der dann später als Professor Karriere machen wird. Eine allein erziehende Mutter Anfang der sechziger Jahre in Schottland mit einem farbigen Kind – undenkbar, also wird das Baby zur Adoption freigegeben. Und Jackie, auf deren Geburtsurkunde eigentlich der Name Joy steht, kommt zu Eltern, die man sich nicht liebevoller, lebenslustiger und engagierter denken kann. Jackie Kays Geschichte veranschaulicht auf sehr warmherzige und humorvolle Art, wie viel Widerstandskraft und Kraft einem eine Familie geben kann, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann, in der gern gesungen wird, in der das Materielle nicht an erster Stelle steht, in der viel gelacht wird, in der die Eltern sich auch nach 50 Jahren Ehe noch liebhaben und in der ein Fundament an Geborgenheit gelegt worden ist,  das Jackie auch in schwierigen Zeiten einen enormen Rückhalt bietet.

Ihr Buch ist nicht so theoretisch grundiert wie das von Winterson, sie ist gefühlsorientierter und steht dazu. Sie versteht selbst nicht genau, weshalb es ihr so wichtig ist, ihre leiblichen Eltern zu finden, da sie bei ihren Adoptiveltern wirklich zu Hause ist und nie etwas vermisst hat. Doch ihre Umwelt signalisiert ihr aufgrund ihrer Hautfarbe ja immer wieder, „that she doesn’t belong“. So ist diese Suche sicherlich auch eine Suche nach einem wichtigen Teil der eigenen Identität, der äußere Anlass ist hingegen ihre eigene Schwangerschaft.

Auf einer Reise durch Nigeria, auf der Fahrt in ihr väterliches Heimatdorf, wo sie sich niemandem zu erkennen gibt, wirkt sie zunächst fast ein wenig naiv und nimmt die alltäglichen Bedrohungen und Gefahren des dortigen Alltags nur sehr allmählich war.

Die Suche nach den leiblichen Eltern und die Bemühungen, anschließend so etwas wie einen Kontakt zu diesen völlig fremden Menschen aufzubauen, bilden den roten Faden des Buches. Besonders begeistert sind allerdings weder die Mutter noch der Vater in Nigeria, von ihrer leiblichen Tochter ausfindig gemacht zu werden. Beide haben ihren späteren Familien verschwiegen, dass es da noch eine erstgeborene Tochter gibt.

Und eine der Stellen, an denen es den Leser dann schüttelt, ist, als Jackie bei der einzigen Begegnung mit ihrem Vater Jonathan – sie ist da bereits 42 – ihm eine Frage stellt:

I ask him if he had ever thought about me at all over the years. ‚No,‘ he says. ‚No, of course not, not once. Why would I? It was a long time ago. It was in the past.‘ (S. 98)

Ihr Vater gehört inzwischen einer der zahlreichen fundamentalistischen evangelikalen Gruppierungen an, die es in Nigeria gibt, und die Begrüßung seiner erwachsenen Tochter im Hotel besteht darin, zwei Stunden über ihr zu beten, sie anzupredigen und anschließend von ihr zu erwarten, dass sie sich sofort bekehrt. Natürlich könne er niemandem von ihr erzählen, seine Gemeindemitglieder würden dann ihren Glauben verlieren.

Mit dem ihr eigenen sehr liebevollen Humor schreibt Kay, dass sie gar nicht gewusst habe, welche Macht sie besitze. Sie verurteilt ihren leiblichen Vater nicht, sondern schreibt:

Meeting  a birth parent stirs up such a strange mix of emotions; I wanted to fling my arms round Jonathan and run away from him at top speed. (S. 99)

Auch ihre leibliche Mutter hat Zuflucht in der Religion gesucht. Sie gehört inzwischen einer mormonischen Glaubensgemeinschaft an und ist überzeugt, dass Babys schon im Mutterleib danach riefen, adoptiert zu werden. Doch sind die wenigen Begegnungen mit ihr vor allem bedrückend. Sie leidet an Alzheimer und es ist traurig, wie die alte Dame eines Sonntags noch nicht einmal mehr den Weg zu ihrer Kirche findet und sowohl einen Friseur als auch einen Polizisten nach dem Weg fragt.

Fazit

Für den Aufbau des Buches sind die ständigen Wechsel der Zeitebenen typisch, die mir ziemlich auf die Nerven gingen. Und ich habe dann mühsam genug versucht, eine Chronologie der Ereignisse herzustellen. Allerdings hat dieses Mosaikstein-Prinzip zur Folge, dass sich das Thema Rassismus eben nicht kontinuierlich durch das Buch zieht, sondern seinen klar zugewiesenen Platz bekommt.

Das wiederum finde ich sehr souverän. Kay hat da einiges, schon als Kind, durchmachen müssen. Die für sie schlimmste Erfahrung war, als sie als junge Studentin in London zum ersten Mal von ihren schottischen Freunden besucht wurde und sie abends an einer U-Bahn-Station warteten und von einer Gruppe jugendlicher Idioten  angepöbelt und angegriffen wurden:

Rowena, my friend, and the youngest of us, only sixteen, intervenes, and one of them smashes her face. Her face is pouring with blood. I shout to the people on the platform. ‚Isn’t anyone going to help us?‘ A businessman, well dressed in a smart raincoat and with a leather case, standing next to another businessman, turns to me calmly and says: ‚No, we support them.‘ And his calm sentence is more chilling than the yobs breaking bottles on the platform. (S. 189)

Glücklicherweise kommen ihnen dann doch vier Männer zur Hilfe, die Schlimmeres verhindern. Bis die Polizei eintrifft, können die Täter jedoch unerkannt entkommen.

Das Buch hat ein wunderbares Ende, ein geradezu furios-fröhliches Ende. Doch was mich am meisten beeindruckt hat, ist, wie sie die Beziehung zu ihren alten Adoptiveltern feiert, egal ob sie mit ihnen durch das völlig verregnete Glen Coe fährt, mit ihnen in alten Urlaubserinnerungen schwelgt oder ihnen einfach nur zuhört. Ein Tochter-Eltern-Verhältnis, das sich kaum schöner denken und schon ein bisschen Panik durchscheinen lässt, weil sie sich irgendwann von ihnen wird verabschieden müssen.

I love hearing these stories, partly because they are familiar to me, and partly because I love the way they tell them in tandem, and both remember slightly different things. I envy the rare thing that my parents have, that they have shared over 50 years together and can keep each other’s memories; tend to them, like a lovely garden with freshly blooming broom. (S. 117)

Jackie Kay sagt selbst in einem Interview im Telegraph am 5. Juni 2010:

Red Dust Road, she says, ‚is a love letter to my parents‘.

Anmerkung

The Scotsman bringt es am 5. Juni 2010 auf den Punkt:

… the key to Kay is empathy. A story about an adopted person’s quest to find their birth parents could, I guess, easily veer into uninvolving self-obsession: in Red Dust Road, the opposite happens. It’s engrossing. Whether she’s dealing with her parents‘ easy comic banter as they remember past holidays with their children, or the desperately sad unravelling of Elizabeth’s mind, Kay follows the classic writer’s „show, don’t tell“ mantra to near-perfection. Red Dust Road may read as intimately as a friend talking to you in a cafe, but that’s only because, as one of Scotland’s finest short story writers, she knows exactly how to tell a tale to make it so involving in the first place.

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Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich so, wie es nie war (2013)

Mein erster Toter war ein Rentner. Lange bevor in meiner Familie ein Unfall, eine Krankheit und Altersschwäche die nächsten geliebten Menschen verschwinden ließen, lange bevor ich hinnehmen musste, dass der eigene Bruder, der zu junge Vater, die Großeltern, ja selbst der Kindheits-Hund nicht unsterblich waren, und lange bevor ich in ein zwanghaftes Dauergespräch mit meinen Gestorbenen geriet – so heiter, so verzweifelt -, fand ich eines Morgens einen toten Rentner.

Mit diesem Satz beginnt der zweite Erinnerungsband des Schauspielers Joachim Meyerhoff, in dem er aus seiner Kindheit erzählt. Sein Vater war der ehemalige Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig.

Die Erinnerungen beginnen kurz nach seinem siebten Geburtstag und enden, als er ca. Mitte zwanzig ist. Dabei kreisen viele der Geschichten um den schwer übergewichtigen Vater, der so gerne abnehmen möchte und Bücher und Zeitschriften und Zeitungen in sich hineinstopft und sich danach an alles erinnern kann, was er gelesen hat.

Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so wahllos hochgebildet war wie mein Vater. Er konnte sich für die Deutsche Hitparade genauso begeistern wie für die Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Er studierte die täglichen Werbeprospekte mit derselben innigen Begeisterung wie Hölderlin-Gedichte. Nichts war ihm zu entlegen, dass es nicht wert gewesen wäre, es zu wissen. (S. 171)

Der Vater geht in seiner Arbeit mit den Kranken völlig auf und fühlt sich unter ihnen wohler als unter Gesunden. Zu seinen Geburtstagen kommen nicht etwa Freunde oder Verwandte zu Besuch, sondern eine kleine Schar von Psychiatriepatienten, z. B. Ludwig.

Ludwig trug ausnahmslos Latzhosen und hakte, wenn er nicht gerade tastend seine blassen Nosferatu-Finger über den Tisch krabbeln ließ, seine Daumen unter die Verschlüsse der Träger. Er hatte Todesangst vor unserem Hund, wünschte sich aber nichts sehnlicher, als ihn zu streicheln. (S. 69)

Vater Meyerhoff wird nicht müde, seine Söhne zu Toleranz zu erziehen, und wenn sich einer der Jungen weigert, bei der Geburtstagsfeier des Vaters neben einem übergewichtigen Mädchen mit  deformiertem Kopf zu sitzen, dann ist er es, der auf die verborgene Schönheit eines jeden Menschen aufmerksam macht.

Eindringlich sprach er darüber, wie verwundert er oft sei, wenn er die Patienten nachts in ihren Betten sehe: ‚Da denke ich, ich kenne ein Mädchen seit Jahren, und plötzlich sehe ich sie schlafen. Entspannt, ruhig atmend, mit einem völlig anderen Gesicht. Und dieses arme Mädchen, das den ganzen Tag Fratzen schneiden muss und sich die Hand an den Kopf schlägt, das liegt dann da und ist wunderschön. (S. 71)

Doch dieser Seelenfachmann macht als Vater nicht immer die beste Figur. Der älteste Sohn taucht ab in sein muffiges Zimmer, das nur notdürftig von mehreren 100-Liter-Aquarien erhellt wird, der mittlere Sohn bekommt 20 Pfennig zugesteckt, wenn er es schafft, einen Tag lang mal nicht zu weinen. Und der jüngste, Joachim, wird von seinen Brüdern pausenlos gepiesakt. Sie erzählen ihm beispielsweise, dass er eigentlich ein adoptiertes Kind aus der Psychiatrie sei.

Joachim schließlich neigt zu Tobsuchts- und Jähzornanfällen, vor denen nichts und niemand sicher ist, hat Mühe, Lesen und Schreiben zu lernen und wird von der Grundschule suspendiert – heute würde mal wohl ADHS diagnostizieren.

Er kommt, nachdem er Winnetou gesehen hat, auch auf die etwas abseitige Idee, den von ihm geliebten Familienhund zum Blutsbruder zu machen. Nach dieser Aktion ist der Hund nie mehr gemeinsam mit ihm in den Keller gegangen.

Joachim liebt die Momente, in denen er seinen Vater in dessen Behandlungszimmer besuchen darf und von ihm fachgerecht abgeklopft und untersucht wird.

Mein Vater untersuchte mich mit wirklicher Hingabe, und ich genoss die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mir widmete. (S. 152)

Die Mutter steht weniger im Zentrum, hat aber auch nicht immer ein glückliches Händchen in der Erziehung. Als sie beispielsweise von einem ihrer Kinder ein selbstgemaltes Bild geschenkt bekommt, hängt sie es auf – im Zimmer eben dieses Sohnes.

Je älter der Ich-Erzähler wird, umso stärker wird die Zeit gerafft. Der Amerika-Aufenthalt, um den es schwerpunktmäßig in Meyerhoffs erstem Buch ging, wird auf wenigen Seiten zusammengefasst.

Schließlich erkrankt der Vater schwer. Die Mutter kehrt aus Italien zurück, um sich um ihren Mann zu kümmern. Und da kommt es zu einem innigen Moment zwischen Sohn, Mutter und Vater – für mich eine der rührendsten Szenen des Buches.

Diesmal ist mein Leseeindruck zwiespältig.

Beeindruckend ist auch hier die Unbefangenheit im Umgang mit den Psychiatriepatienten, den Menschen, die einfach anders sind, was Joachim und seine Brüder allerdings nicht daran hindert, sich auch derbe über die Kranken lustig zu machen.

Über tausend Patienten lebten damals auf dem Klinikgelände und das Haus der Direktorenfamilie lag mittendrin. Jahrelang glaubte Joachim, dass die Außenmauern und Tore zum Schutz vor Eindringlingen von außen gedacht seien. Die Meyerhoff-Söhne spielen mit den gleichaltrigen Kranken. Es ist eben normal, dass nicht alle „normal“ sind, was sich auch beim alljährlichen Spektakel des Krippenspiels zeigt.

Natürlich war die Spielweise je nach Station völlig verschieden. Da der Psychiatriegottesdienst gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie gefeiert wurde, gab es auch Krippenspiele mit für immer eingesperrten Sexualstraftätern, sogar mit Mördern, bei denen hinter jedem Hirten sprungbereit ein riesiger Pfleger stand. Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in der Zwangsjacke habe ich gesehen. (S. 141)

Wie auch bei Alle Toten fliegen hoch findet Meyerhoff oft wunderbar treffende Bilder:

Ich habe Frauen oder Mädchen gesehen, die hingen an ihren Zigaretten wie an einem seidenen Faden aus Rauch über einem schwarzen Abgrund. Geredet wurde kaum. (S. 31)

Und auch der trockene Witz machen wieder Spaß. Es ist schwierig, bei manchen Stellen nicht laut loszuprusten, z. B. bei der Beschreibung der Wikingertage, die alljährlich in Schleswig stattfinden, oder bei der Schilderung, wie der damalige Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg zur Einweihung eines neuen Klinikgebäudes kam und am Ende von seinen Leibwächtern …

Meyerhoff kann erzählen, Pointen setzen und Dialoge schreiben, in denen alle Protagonisten ihre ganz eigene Stimme haben. Er erzeugt eine Unmittelbarkeit, dass man meint, man sitze bei Meyerhoffs mit am Tisch. Man ist gerührt, entsetzt, betrübt und amüsiert. Und seine ungewöhnliche Kindheit bietet dafür Stoff in Überfülle (die Frage, wie viel davon wahr ist, umgeht Meyerhoff in Interviews dabei immer ganz luftig mit dem Hinweis, dass Erfinden immer Erinnern bedeute).

Dennoch:

Das Anekdotenhafte, die Beschreibung der Vorgänge aus der Außensicht,  verhindert – vor allem im letzten Drittel – hin und wieder den Blick auf das Innenleben der Figuren. Was mich aber vor allem gestört hat, war im letzten Teil das Fehlen einer Struktur, immer wahlloser wurden Anekdoten aneinandergereiht, bis ich den Eindruck hatte, jemand habe einen großen Kasten bunter Legosteine ausgeschüttet, aus denen ich jetzt etwas bauen soll. Die Steinchen sind bunt und vielversprechend, doch die Frage, was da gebaut werden soll, scheint im Vorfeld nicht so richtig geklärt worden zu sein.

Zwar überlegt Meyerhoff selbst, was denn nun der rote Faden sein solle, doch ein bisschen mehr Stringenz in der Auswahl der Erinnerungspäckchen hätte mir gut gefallen.

Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?

Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? […] Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich  mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten. (S. 348)

Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens (2009)

Damals, in meinen frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit hoch gezogenen Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt, und schaute hinunter auf den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus. Ein Vogelschwarm kreiste weit oben in gleichmäßigen Runden, senkte sich langsam und stieg dann wieder ins letzte, verblassende Licht. Unten auf dem Platz spielten noch einige Kinder, müde geworden und lustlos. Ich wartete auf Vater, der bald kommen würde, ich wusste genau, wo er auftauchte, denn er erschien meist in einer schmalen Straßenöffnung zwischen den hohen Häusern schräg gegenüber, in einem langen Mantel, die Aktentasche unter dem Arm.

Mit diesen Sätzen beginnt die leicht verfremdete Rückschau des Schriftstellers und Hochschullehrers Hans-Josef Ortheil, der 1951 in Köln geboren wurde, auf seine ersten 27 Lebensjahre:

Das Buch, vom Erzähler selbst als Geschichte bezeichnet, ist in fünf große Abschnitte eingeteilt, die sich chronologisch von der frühen Kindheit des Johannes Catt – dem Alter Ego des Autors – bis hin zu dessen ersten schriftstellerischen Gehversuchen bewegen, obwohl für Johannes doch lange Zeit alles auf eine Karriere als Konzertpianist hinauszulaufen schien.

Dazwischen springt der Erzähler immer wieder in die Erzählgegenwart des reifen Mannes, der als über Fünfzigjähriger wieder nach Rom gekommen ist, um dort in der geliebten Stadt und doch fern genug von den Orten der Kindheit seine Geschichte aufzuschreiben. Dabei lernt er seine Wohnungsnachbarin und deren Tochter kennen, deren Klavierunterricht er schließlich unter seine Fittiche nimmt.

Mich haben vor allem die ersten beiden großen Teile Das stumme Kind und Lesen und Schreiben fasziniert.

Johannes stellt mit ca. drei Jahren das Sprechen ein und beginnt eine ungesunde Symbiose mit seiner traumatisierten Mutter zu leben, die ebenfalls nicht mehr spricht und ihre Tage vor allem lesend in der Kölner Wohnung verbringt. Wenn sie mit ihm am Rheinufer ist, müssen sie sich immer auf dieselbe Bank setzen und er darf sich dann immer nur wenige Meter von ihr entfernen. Deshalb ist es meist das Einfachste für ihn, sich neben sie zu setzen und völlig ruhig und bewegungslos zu sein.

Ich starrte auf einen winzigen Ausschnitt der Umgebung und beobachtete ihn so lange, bis es rings um diesen Ausschnitt zu schwanken und zu flirren begann. Manchmal wurde mir dann etwas heiß, und ich musste die Augen rasch schließen, ja es kam sogar vor, dass mir in solchen Augenblicken richtig übel und schwindlig wurde, dann hatte ich zu lange auf einen Punkt gestarrt und musste mich bemühen, den Blick wieder von diesem Punkt wegzubekommen. (S. 26)

Die Mutter kommuniziert mit Hilfe unzähliger kleiner Zettel, die dann abends der von seiner Arbeit als Vermessungsingenieur heimkommende Vater am Küchentisch vorliest.

Er schildert eine stumme, von Ängsten und Zwängen beherrschte Kindheit, die Fixierung auf seine Mutter, die er beschützen wollte, wenn er auch nicht wissen konnte, wovor eigentlich die Mutter beschützt werden musste. Auch der Vater stellt dieses stumme Familienleben nicht in Frage und lässt zu, dass sein Sohn weder Kontakt zu anderen Kindern noch kindgerechte Erfahrungen machen kann. In diese Erinnerungen schiebt sich dann die Gegenwart und noch der erwachsene Erzähler staunt:

Niemand, der mich heutzutage über diese römische Piazza gehen sieht und bemerkt, wie ich hier und da stehen bleibe, einen Anwohner grüße und mich unterhalte, wird vermuten, dass derselbe Mensch als Kind kein einziges Wort gesprochen und vor jedem Gang ins Freie erhebliche Angst ausgestanden hat. (S. 33)

Die Isolation und die fehlenden Anregungen in der Kindheit führen dazu, dass Johannes sich immer mehr in sich zurückzieht, stundenlang Dinge sortiert, diverse Spleens entwickelt, in die Gegend starrt und genau auf die Geräusche der vorbeifahrenden Autos achtet – später stellt sich heraus, dass er das absolute Gehör hat.

Er wird auf dem Spielplatz gehänselt und muss sich zusammen mit seiner Mutter herablassende oder mitleidige Kommentare anhören, wenn die Mutter in den Einkaufsläden nur rasch einen Zettel reicht, auf dem steht, was für sie zusammengepackt werden soll, sodass sie es dann später abholen kann.

Er ist einsam und wünscht sich doch so sehr einen Freund:

Da ich aber weder Freunde, geschweige denn einen richtigen, guten Freund hatte, dachte ich mir ab und zu einen aus. Mein Freund hieß Georg, Georg war stark und freundlich und etwas größer als ich, leider war er nicht immer da, wenn ich mich auf dem Kinderspielplatz aufhielt, doch wenn ich ihn dringend brauchte, kam er meist rasch vorbei und setzte sich neben mich, und dann spielten wir zu zweit oder unterhielten uns über die Zeitschriften, die wir uns gegenseitig ausgeliehen hatten. (S. 60)

Wohl fühlt er sich bei den Gottesdiensten im Kölner Dom, dort ist er kein Außenseiter, wird nicht kritisiert und nicht angesprochen:

Überhaupt war es schön, dass die Menschen während eines Gottesdienstes so viel gemeinsam und meist auch noch dasselbe taten, endlich redeten sie nicht ununterbrochen, sondern nur dann, wenn sie darum gebeten wurden, und endlich bewegten sie sich auch nicht laufend von einer Stelle zur andern, sondern hielten es eine Zeit lang singend und betend auf einem einzigen Platz aus. […] Die einzige Störung des Gottesdienstes, die jedes Mal nur schwer zu ertragen war, war die Predigt. (S. 69/70)

Bei seiner Mutter lernt er Klavierspielen, das er nun mit Hingabe praktiziert. Doch das fragile System des Alltags bricht zusammen, als Johannes in die Schule kommt. Es dauert nicht lange, bis Mitschüler und Lehrer ihn schikanieren. Er kann dem Unterricht nicht folgen. Die Hoffnung des Vaters, dass sein Sohn zwar stumm ist, aber mühelos lesen und schreiben lernen werde, erweist sich als Illusion.

Es kommt ein gehässiger Brief des Lehrers, der den Eltern empfiehlt, ihrem Kind mit seinen „verminderten und verwirrten Fähigkeiten“ eine andere „Aufbewahrungsanstalt“ zu suchen. Das ist der Moment, an dem der Vater erkennt, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss. Er nimmt auf unbestimmte Zeit Urlaub und fährt allein mit dem Sohn, d. h. ohne die Mutter, auf den großelterlichen Hof im Westerwald, wo die beiden Teil einer großen Hofgemeinschaft werden.

Was dann folgt, ist so schön zu lesen, dass ich das hier nicht vorwegnehmen möchte.

Fazit

Die ungewöhnliche Kindheits- und Jugendgeschichte des Schriftstellers, die auch übel hätte enden können, wird so einfühlsam und mit so vielen Details vergegenwärtigt, dass man glaubt, ebenfalls in dieser stillen Kölner Wohnung zu sein. Und dem Weg des Kindes ins Leben und in die Sprache bin ich fasziniert und mit Anteilnahme gefolgt.

Der Stil ist unaufgeregt, geradezu gemächlich, dabei überaus anschaulich und angelehnt an den klassischen Bildungsroman. Hier spürt einer dem eigenen, oft genug schmerzhaften Werdegang nach und schreibt:

All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin. Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben. Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht gelungen … (S. 470)

Vielleicht trug dieses Buch für den Erzähler dazu bei, sich nicht länger zu einem anderen Menschen machen zu wollen, indem sich da einer zu seiner Geschichte bekennt. Nichts ist mehr zu spüren von Verbitterung oder Anklage.

Für den Spannungsbogen sorgt dabei u. a. natürlich die Frage, wieso es überhaupt zu diesem Stummsein in der Familie gekommen ist.

Für mich hätte das Buch nach dem zweiten Teil aufhören können. Zwar geht der Erzähler immer wieder auch der Frage nach, wie er von seiner Kindheit geprägt worden ist, was durchaus interessant ist. Aber sein Leben in Rom als Student am Konservatorium und sein Alltag in Rom als ca. Fünfzigjähriger, während er seine Erinnerungen aufschreibt, waren für mich eher blass und längst nicht so mitreißend und außergewöhnlich, wie es die beiden ersten Teile dieser Annäherung an die eigene Biografie waren. Manches wirkte da durchaus ein wenig konstruiert.

Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums (2013)

Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.

Mit diesem Ausruf beginnt also die Lebensrückschau des vielfach ausgezeichneten Autors Urs Widmer, die es 2013 bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Widmer (1938 – 2014), einer der bekanntesten Schweizer Autoren, erzählt hier seine ersten dreißig Jahre, die quasi den Nährboden seines späteren schriftstellerischen Schaffens bilden.

Die Leser*innen freuen sich und leiden und staunen mit ihm, wenn Widmer wie aus einer Wundertüte seine Geschichten hervorzaubert, z. B. als er darüber fabuliert, wie sich das wohl angefühlt haben mag, als er als Kleinkind laufen und sprechen gelernt und dadurch neue Welten erobert hat.

Wie viele Dinge gab es in dieser Welt, deren Namen ich noch nicht einmal kannte! Ist es nicht ein Wunder, wie locker ich inzwischen ‚Fensterfront‘, ‚Schrank‘ und ‚Welt‘ sage und noch viel mehr – alle Wörter dieses Buchs -, als sei das selbstverständlich? (S. 22)

Überhaupt stellt sich im Rückblick das Glück der frühen Kindheit als ein Schatz dar:

So etwas wie ein Notvorrat, der in einem tiefen Stollen in mir aufbewahrt liegt. Lebendig immer noch, warm, leuchtend. Natürlich habe ich inzwischen nicht nur Glück erfahren. Wem widerführe dies. Dennoch aber: Was für ein, ja, Massel: ein Leben lang kein Krieg, keine Fluchten, kein Hunger. Kein jähes Exil an einem fremden Ort, nach einem hastigen Aufbruch mitten in der Nacht. Keine gewaltsamen Tode um mich herum. Das, was ich heute bin, kommt bruchlos aus dem, was war. Glück. (S. 37)

Wir erfahren von – keineswegs immer ungefährlichen – Jungenstreichen, Familienurlauben, Verwandten, dem eher ungeliebten Schulbesuch und diversen Umzügen der Familie. Schön auch das Denkmal, das er seinem ersten Freund mit dem Spitznamen Migger setzt:

Er nahm mich in die weite Welt mit, in die hineinzugehen ich bis dahin nie erwogen hatte. Die fernen Häuser, die Wälder, die Wiesen, die Gärten: Dass ich da hingehen könnte, ich, selber, allein und einfach so, das war ein undenkbarer Gedanke gewesen. Mit Migger schlich ich durch alle Gärten, ging über die Felder, in den Furchen zwischen den Kartoffeln und zwischen Löwenzahnblüten oder Mohn durch die Wiesen, bestieg den Kirschbaum neben dem Hundezwinger […] und auch die bezwingbaren Äste des Nussbaums. (S. 81)

Die Kindergarten- und Schulzeit steht allerdings von Anfang an unter keinem guten Stern. Schon am allerersten Tag muss ihn die Mutter buchstäblich hinzerren, alles Toben und Brüllen hilft ihm nichts.

Durchs Fenster sah ich, wie meine Mama davonging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie trug ihren brauen Mantel, der aus Kamelhaaren gemacht war. Das war das. Ich wusste, dass ich von nun an mit Fräulein Vögeli und diesen völlig fremden Kindern durchkommen musste. (S. 88)

Doch je älter der Junge wird, umso klarer wird, dass sein Elternhaus nicht nur eine Quelle des Glücks ist. Ich kann es kaum glauben, wie der Autor es noch als erwachsener Mann rechtfertigt, dass ihm sein Vater die Bilder von Auschwitz zeigt, als Urs vielleicht gerade einmal acht Jahre alt ist.

Heute weiß ich, dass ich sie gerade zur rechten Zeit sah, zu ihrer Zeit, denn ein solches Entsetzen auch nur eine Minute lang zu verschweigen wäre unmöglich gewesen und hätte unsere Welt verstummen lassen. (S. 77)

Als Erwachsener ist er „unendlich erleichtert“, wenn die Weihnachtszeit vorbei ist:

Wie sehr gaben sich meine Eltern Mühe, uns Kinder glücklich zu sehen – und selber glücklich zu sein -, und wie sehr misslang ihnen das. (S. 171)

Widmer, der Student, wäre wohl heutzutage der Schrecken all der stromlinienförmigen Schnellstudierer und Kostenevaluierer. Über den Beginn seines Studienaufenthaltes in Montpellier heißt es nur:

Es gab tatsächlich eine Uni, die aber ein so düsteres Gebäude war, dass ich sie ein einziges Mal betrat – ich meldete mich an -, und dann nie mehr. Wieso sollte ich in dieses staubige Gefängnis gehen, wenn ringsum eine Welt strahlte, die mir das Paradies zu sein schien? Die einzige universitäre Einrichtung, die ich in den nächsten Monaten benutzte, war die Mensa. (S. 199)

Wir begegnen skurrilen Verwandten, seinen Professoren, diversen Liebschaften und inzwischen verstorbenen Freunden. Dabei schreibt Widmer mit so viel Schwung, dass viele der Szenen und Geschichten ganz gegenwärtig wirken, selbst wenn sie über 70 Jahre zurückliegen, und diese launige Erzählfreude ist ansteckend. Die Sprache ist dabei ganz oft tatsächlich die des Erzählens, der Übertreibung, der Ironie, der feinen Beobachtung, der Andeutung. Fällt ihm ein Name nicht ein, lässt er das so stehen und reicht das ein paar Absätze später nach.

Dabei bettet er in mehreren großen Kapiteln die Geschichte seiner ersten 30 Jahre in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext ein, indem er in groben Zügen die Schweizer Zeitgeschichte rekapituliert. Die allerdings tragen nicht so riesig viel zum Verständnis bei.

Die NZZ, die ansonsten von einem großartigen Lesevergnügen spricht, grämt sich denn auch:

Man versteht, wie Urs Widmer auf die Idee verfallen konnte: Neben dem Intimen und biografisch Zufälligen mochten ihm Zeitkolorit und Weltgeschehen zu kurz gekommen sein. Und doch ist es ein Jammer, dass niemand im Verlag Tapferkeit vor dem Freund bewies und ihm diese paar Seiten aus dem Manuskript strich. Denn die Intermezzi sind so unbeholfen wie überflüssig […]. Aber sei’s drum, es sind nur ein paar Seiten. Am besten, man beachtet sie nicht.

Doch trotz der vermeintlichen Offenherzigkeit, was Liebesgeschichten, die Entdeckung Frankreichs und Italiens auf diversen Reisen, die Begeisterung über die erste Vespa, das erste Auto etc. angeht, ist dies an vielen Stellen eine erstaunlich diskrete Autobiografie.

Widmer erzählt zwar von wesentlichen Stationen seines Lebens, manches wird dabei aber gnadenlos gerafft. Seine universitären Leistungen werden heruntergespielt, sodass ich ganz verblüfft war, als er plötzlich mit seiner Promotion um die Ecke kam. (Auch wenn es viel Spaß macht zu lesen, wie seine Notizen zur Dissertation in einem französischen Wolkenbruch unterzugehen drohen.) Wichtiger scheint die befremdliche Reaktion des Vaters gewesen zu sein:

Ich öffnete die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters, steckte meinen Kopf durch den Türspalt und sagte, ich hätte eben die Doktorprüfung bestanden. Mein Vater hielt mit dem Schreiben inne, schaute mich an und sagte: ‚Na prima!‘ Dann tippte er weiter, und ich schloss die Tür. (S. 318)

Doch wie sich derlei Elterngebaren – die Depressionen der Mutter, die ständigen lautstarken Auseinandersetzungen der Eltern, das Schweigen des Vaters, der in der Wahrnehmung des Sohnes sein Leben komplett im Arbeitszimmer verbracht hat – auf die Psyche des Sohnes ausgewirkt haben, darüber schweigt sich der Autor aus. Er erzählt zwar, wie er als Kind davon überzeugt war, nur er könne die Familie zusammenhalten, nur er könne die Mutter vom Selbstmord abhalten. Die Innenseite, die Gefühlsseite lässt er den Leser nur erahnen, indem er von seinen Panikattacken, diversen Ticks und dem Asthma spricht, das er sich als psychosomatisch erklärt.

Gern hätte ich mehr darüber gelesen, wie Widmer selbst sich von seinen Eltern, seiner Herkunft geprägt weiß. Nicht nur, weil in seinem Leben – genau wie in dem seines Vaters – die Literatur eine so große Rolle gespielt hat.

Auch über die über Ehe mit der Psychoanalytikerin May, mit der er schließlich über 50 Jahre zusammen sein sollte, – was für eine Riesenseltenheit heutzutage – hätte ich gern mehr erfahren als nur die Frage, wie sie sich kennengelernt haben.

Durch das Nicht-Ausloten der inneren Vorgänge wurde das Buch stellenweise zu einer Anekdoten- und Geschichtensammlung, von der ich mir, egal wie lesbar das war, doch mehr Tiefgang oder zumindest Anteil an einer gewissen fröhlichen Altersweisheit erhofft hatte.

Vermutlich deshalb haben mir besonders die eher nachdenklichen Passagen gefallen, die aus der Sicht des reifen Mannes geschrieben sind, z. B. die ganz zu Beginn, in denen der Erzähler darüber nachsinnt, warum er nun eigentlich eine Autobiografie schreibt, obwohl „jedes Erinnern, auch das Genaueste, ein Erfinden ist.“ (S. 7)

Vermutlich aber gehorche ich nur einem banalen Gesetz der Menschen: Erst träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn diese gelebte Zukunft vergangen ist, erzählen wir sie uns noch einmal. (S. 7)

Anmerkungen

Diejenigen, die schon mehr von Widmer gelesen haben, wissen, dass er 2009 den Roman Herr Adamson veröffentlicht hat. Dieser Name taucht auch in Widmers Erinnerungen auf, und zwar als Titel eines der ersten von ihm gelesenen Bücher:

Adamson war ein einsamer älterer Herr mit drei einzelnen Haaren auf dem Kopf und einer Oberlippe, die sehr der meines Vaters glich. Auch er war ein lieber Tollpatsch. (S. 179)

Ein lesenswertes Interview mit Widmer findet sich in der Welt vom 21. Mai 2013 und Claudia vom Grauen Sofa hat mich mit ihrer Besprechung überhaupt erst neugierig auf den Roman gemacht.

Ansonsten empfehle ich noch den Artikel von Ursula März in der ZEIT.

Irrelevante Fußnote

Während ich dies schreibe, habe ich 50 Oberstufenarbeiten um mich herum drapiert, die dafür sorgen, dass mir die Herbstferien nicht zu unbeschwert geraten, und nur deshalb möchte ich noch folgendes Zitat aus Widmers Erinnerungen an seine Schulzeit ergänzen:

Herrn Schindler, der – leider, leider nicht während er uns unterrichtete – mitten in einer stinknormalen Schulstunde, als ein Schüler schon wieder das Passé simple mit dem Imperfekt verwechselte, sich langsam hinter seinem Pult erhob, ‚Jetzt reicht’s mir aber‘ murmelte, die Schule verließ und sie nie mehr betrat. Ein Schüler musste ihm seinen Hut nach Hause bringen, den er im Lehrerzimmer liegengelassen hatte. (S. 116)