Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn. Verrückterweise bin ich sogar versucht mir einzubilden, er schleiche in diesem Augenblick ums Haus – mit oder ohne Dolch. Dabei ist er ja abgereist, heißt es, und ich höre nur Grillen und aus der Ferne nächtliches Hundegebell. Da fährt man über Pfingsten ins Tessin, um sich in Ruhe zu vertiefen in die Geschichte des Scheidungsrechts, und dann kommt einem dieser Unbekannte in die Quere, dieser Loos, und bringt es fertig, mich so aufzuwühlen, daß alle Sammlung hin ist.
So beginnt der Roman des Schweizer Schriftstellers
Markus Werner: Am Hang (2004)
Zum Inhalt
Der 35-jährige, ledige Scheidungsanwalt Clarin will im Tessin ein Arbeitswochenende einlegen. Dabei lernt er auf der Ausflugsterrasse eines Hotels einen älteren Mann kennen. Die beiden kommen während des Essens ins Gespräch, finden sich nicht unsympathisch, trinken und reden, auch über immer persönlichere Themen, und sie beschließen, das Gespräch am nächsten Abend fortzusetzen.
Und so besteht das Buch über weite Strecken aus der Wiedergabe dieser Gespräche, die sich allmählich zu einem Duell der Lebensanschauungen ausweiten.
Clarin ist ein eher oberflächlicher – man könne auch sagen – beziehungsunfähiger Zeitgenosse, der nicht an Liebe glaubt, die Ehe für eine Unmöglichkeit hält und alle Freundinnen abserviert, sobald diese anfangen zu „klammern“ oder beginnen, sich eine gemeinsame Zukunft auszumalen.
Er rühmt sich seiner Freiheit und muss doch erstaunlich oft an Valerie denken, der er vor einem Jahr den Laufpass gegeben hatte, und zwar hier im Tessin, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie ihm lästig wurde mit ihren Versuchen, all seinen Wünschen zu entsprechen.
Loos hingegen sagt über seine zwölf Jahre dauernde Ehe mit Bettina:
Mir ist sie Heimat gewesen. (S. 14)
Seit einem Jahr sei er Witwer und eigentlich habe er den Verlust noch nicht verwunden. Etwas, das Clarin gar nicht nachvollziehen kann.
Daneben werden viele andere Themen gestreift, doch die Frage nach der „richtigen“ Definition von Paarbeziehung durchzieht das ganze Buch. Loos ist derjenige, der gegen den Zeitgeist aufbegehrt, ob er sich in gerade angesagten „Dreiviertelleggings mit Raubkatzendruck“, dem Handy, dem hippen Singlesein äußert oder in der Orientierungslosigkeit der vielen, die nicht mehr wissen, welche Werte denn nun für ihr Leben gelten sollen.
Wer soll noch wittern, was vorgeht, wenn die Jungen vor lauter fahriger Betriebsamkeit, das heißt vor Apathie verblöden und die Alten vor lauter Nachsicht? (S. 26)
In dem Moment, wo eine Tendenz sich durchsetzt, mag sie auch noch so irre Züge tragen, ist sie auch schon im Recht. Was viele tun und billigen, kann gar nicht falsch sein: das ist die Logik, nicht wahr, die Logik des Blödsinns, die jeden Kritiker für blöd erklärt, nicht wahr, ich verliere den Faden. (S. 29)
Wissen Sie, was ich mir dann und wann ausmale, wenn ich auf meinem Sofa liege? Die Welt nach dem planetarischen Stromausfall! Und alle Aggregate am Ende, die Akkus leer, die Batterien ausgelaufen – das globale Gerassel verstummt. Stillstand und aschgraue Monitore. Belämmerte Menschen, getrennt von den Geräten, mit denen sie verwachsen waren, herausgerissen aus ihrer viereckigen Schattenwelt und geblendet vom Glanz der anderen. Hören Sie überhaupt zu? (S. 41)
Loos ermuntert Clarin, auch etwas von sich preiszugeben, und so wird Clarins egozentrische Sicht, mit der er sich alle Fragen nach Verantwortung oder den Folgen seines Tuns bisher vom Leibe gehalten hat, immer offensichtlicher.
Für Clarin – und vielleicht auch für Loos – endet die Begegnung äußert verstörend, und um wieder Klarheit zu gewinnen, schreibt Clarin die Geschichte auf:
Nun gut und so oder so, ich werde diesen Mann nicht los, indem ich mir befehle, nicht mehr an ihn zu denken. So würde er sich nur noch breiter machen und mein Bewußtsein noch irritierender verengen. Ich kenne das Phänomen, seit mich Andrea, es ist fünfzehn Jahre her und ich war zwanzig, wie einen Schirm hat stehenlassen. Inzwischen weiß ich eigentlich, wie man den Mechanismus unterläuft und wie mit einem Durcheinander von verfilzten Fäden methodisch zu verfahren wäre. Den Anfang suchen. Den Knäuel sorgsam entknoten, entwirren. Das Garn abwickeln, ohne Hast, und zugleich ordentlich und straff aufwickeln auf eine Spule. (S. 6 der Taschenbuchausgabe)
Doch ich bezweifle, dass Clarin lernfähig ist, Stille ist ihm höchstens als Ruhe zum Arbeiten angenehm, ansonsten flieht er sie:
Als mein Wein kam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich dem Fremden erneut zu nähern – ich bin ein kontaktfreudiger Mensch und finde es unnatürlich, zu zweit an einem Tisch zu sitzen und zu schweigen-, ich hob mein Glas und sagte: Zum Wohl, mein Name ist Clarin. (S. 9-10)
Fazit
Irgendwann ging mir der Konjunktiv der wiedergegebenen Gespräche gehörig auf die Nerven.
Am Schluss kam zwar noch einmal kurzzeitig Spannung auf, aber genau dieses Ende warf logische Fragen auf, die mir den ganzen Roman als nicht stimmig und als zu konstruiert erscheinen ließen. Ein Problem ist sicherlich auch, dass der Leser Valerie und Bettina nur aus Sicht der Männer erlebt, dadurch sind die Frauenfiguren nicht vor männlichem Wunschgefasel gefeit und bleiben seltsam leblos.
Der 1944 geborene Schweizer Autor hatte mich mit Bis bald sehr für sich eingenommen, doch abgesehen von einigen Passagen, in denen er wieder eine wunderbar klare und präzise Sprache findet, dass es eine Freude ist, hat mich Am Hang unbetroffen und ein wenig gelangweilt zurückgelassen.
Mir war die Anlage des Romans zu statisch, zu konstruiert, zu gewollt.
In diesem Fall bietet der Wikipedia-Artikel zum Roman eine lesenswerte kleine Einführung in die Rezeption des Werkes.