Sam Selvon: The Lonely Londoners (1956)

Einundsechzig Jahre hat es gedauert, bis nun endlich The Lonely Londoners – der britische Klassiker um Immigranten in London, erschienen 1956 – ins Deutsche übersetzt wurde.  Das englische Original von nur 139 Seiten beginnt mit den Worten:

One grim winter evening, when it had a kind of unrealness about London, with a fog sleeping restlessly over the city and the lights showing in the blur as if is not London at all but some strange place on another planet, Moses Aloetta hop on a number 46 bus at the corner of Chepstow Road and Westbourne Grove to go to Waterloo to meet a fellar who was coming from Trinidad on the boat-train.

Selvon (1923 – 1994) verarbeitet darin eigene Erfahrungen, auch er wanderte in den 1950er Jahren aus Trinidad nach Großbritannien ein, als es für die Einwohner der ehemaligen Kolonien des Empire noch keine Einwanderungsbeschränkungen gab.

Zusammengehalten wird das Werk durch die Figur des Moses Aleotta, ebenfalls aus Trinidad, der schon seit zehn Jahren in London lebt und sich als widerwillig-hilfsbereiter Genosse zeigt, wenn es darum geht, den immer zahlreicher werdenden Neuankömmlingen mit Informationen zur Seite zu stehen. So begleitet er auch Henry, den er am Bahnhof abgeholt hat, zum Ministry of Labour.

It ain’t have no place in the world that exactly like a place where a lot of men get together to look for work and draw money from the Welfare State while they ain’t working. Is a kind of place where hate and disgust and avarice and malice and sympathy and sorrow and pity all mix up. Is a place where everyone is your enemy and your friend. (S. 27)

Jeden Sonntagmorgen treffen sich in Moses‘ kleinem schäbigen Zimmer – zu mehr hat er es in all den Jahren nicht gebracht – seine Freunde und Bekannten und tauschen Neuigkeiten über Arbeit, Zimmersuche, Frauen und die Heimat aus.

Moses ist auch derjenige, der sich keinen Illusionen mehr hingibt, er weiß um den Rassismus, der ihnen unvermutet überall entgegenspringen kann, auch wenn er sich höflicher tarnt als der in Amerika. Er weiß, welche Probleme es gibt, wenn ein Einwanderer ein weißes Mädchen heiraten will: Entweder wird er vom Vater des Mädchens aus dem Haus geworfen oder, wenn das Mädchen standhaft ist, werden die Kinder des Paares später als Darkies beschimpft.

Moses ist ein interessanter Charakter, der seine Situation in ihrer Widersprüchlichkeit reflektiert, z. B. wenn er versucht, sich darüber Rechenschaft zu geben, warum er nie zurückgegangen ist, obwohl sich die Träume auf Wohlstand und Anerkennung nicht erfüllt haben.

‚Sometimes I look back on all the years I spend in Brit’n,‘ Moses say, ‚and I surprise that so many years gone by. Looking at things in general life really hard for the boys in London. This is a lonely miserable city, if it was that we didn’t get together now and then to talk about things back home, we would suffer like hell. Here is not like home where you have friends all about. … (S. 126)

Er fungiert gleichsam als Klammer für viele andere Geschichten und Schicksale, von denen er hört, die er miterlebt und kommentiert. Dabei nimmt er geradezu stoisch zur Kenntnis, dass einzelne kiffende Faulpelze und Sozialleistungen-Schnorrer die Vorurteile gegenüber allen Farbigen befördern und dass harte Arbeit kein Garant fürs Vorwärtskommen ist.

Oft genug ist Moses die Stimme der Vernunft, doch er hat sich damit abgefunden, dass kaum jemand auf ihn hört. Und Henry Oliver, den er am Bahnhof abholen soll, wird von ihm nur „Galahad“ genannt, weil der sich weigert, die Dinge so nüchtern-abgeklärt wie Moses zu sehen.

Things does have a way of fixing themselves, whether you worry or not. If you hustle, it will happen, if you don’t hustle, it will still happen. Everybody living to dead, no matter what they doing while they living, in the end everybody dead. (S. 52)

Wir erfahren nicht nur von Lewis, der seine Frau so lange verprügelt, bis sie ihn verlässt, sondern auch von der hinreißenden Tanty, die zu stolz ist, zuzugeben, wie viel Angst ihr U-Bahn und Busfahren machen. Wir erfahren von Einwanderern, die so hungrig sind, dass sie eine Taube im Park fangen und dann als Monster beschimpft werden.

Und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit eröffnen Einwanderer die ersten Geschäfte, z. B. mit bestimmten Lebensmitteln, und tragen so zu einer bunteren britischen Gesellschaft bei. Das liest sich unglaublich spannend, so als säße jemand bei uns im Zimmer und würde uns erzählen, wie das damals war, auch wenn zwischenzeitlich mal der rote Faden ein bisschen verloren geht und man von einer Episode zur nächsten hüpft.

The Lonely Londoners handelt aber nicht nur von Tristesse, Armut und Problemen, es ist auch eine Liebeserklärung an London, eine Stadt, die auf viele Einwanderer wie ein Zauber, ein Versprechen wirkt, dem sie sich selbst nach Jahren nicht entziehen können. Irgendwann wird die Fremde quasi notgedrungen zur – wenn auch nicht unbedingt geliebten – Heimat.

The changing of the seasons, the cold slicing winds, the falling leaves, sunlight on green grass, snow on the land, London particular. Oh what it is and where it is and why it is, no one knows, but to have said: ‚I walked on Waterloo Bridge,‘ ‚I rendezvoused at Charing Cross,‘ ‚Piccadilly Circus is my playground,‘ to say these things, to have lived these things, to have lived in the great city of London, centre of the world. […] Why is it, that although they grumble about it all the time, curse the people, curse the government, say all kind of thing about this and that, why is it, that in the end, everyone cagey about saying outright that if the chance come they will go back to them green islands in the sun? (S. 133 – 134)

Und das Buch zeigt eine unbändige Lebensfreude, der kleinste Anlass wird genutzt, um zu feiern, zu trinken, zu tanzen, sich schöne Anzüge schneidern zu lassen, hübsche Frauen abzuschleppen, sich wie verrückt auf den Sommer zu freuen, wenn man wieder in die Parks geht und sich mit seiner Freundin verabredet, zu einer Party, einem Theater- oder Kinobesuch. Doch manchmal schimmert hinter all den Vergnügungen auch die Verzweiflung auf, nicht wirklich zur englischen Gesellschaft zu gehören.

Am Ende öffnet der Autor in den Überlegungen Moses das Buch sogar auf eine ganz andere Dimension hin:

Under the kiff-kaff laughter, behind the ballad and the episode, the what-happening, the summer-is-hearts, he could see a great aimlessness, a great restless, swaying movement that leaving you standing in the same spot. (S. 139)

Zur literaturgeschichtlichen Bedeutung und Sprache des Romans

Das Buch ist in zweierlei Hinsicht etwas Besonderes:

Its publication marked the first literary work focusing on poor, working-class blacks in the beat writer tradition following the enactment of the British Nationality Act 1948. (Wikipedia)

Zum anderen hat Selvon hier eine Sprache gefunden, die seinen Protagonisten entspricht: ein Dialekt, der den Redegewohnheiten der Einwanderer abgelauscht ist und damit authentisch und ganz lebendig klingt. Selvon hat dazu in einem Interview Folgendes gesagt:

When I wrote the novel that became The Lonely Londoners, I tried to recapture a certain quality in West Indian everyday life. I had in store a number of wonderful anecdotes and could put them into focus, but I had difficulty starting the novel in straight English. The people I wanted to describe were entertaining people indeed, but I could not really move. At that stage, I had written the narrative in English and most of the dialogues in dialect. Then I started both narrative and dialogue in dialect and the novel just shot along. (Michel Fabre, „Samuel Selvon: Interviews and Conversations“, in Susheila Nasta, ed., Critical Perspectives on Sam Selvon, Washington, Three Continents Press, 1988; p. 66, zitiert nach der englischen Wikipedia)

Für den deutschen Leser erschließen sich unbekannte Ausdrücke aber fast immer durch den Kontext. Allerdings gibt es auch eine Stelle, da geht ein Satz über mehrere (!) Seiten, und zwar ohne ein einziges Komma. Das ist beim Lesen schon reichlich mühsam, fängt aber möglicherweise das Gefühl des traumartigen, ungeordneten und manchmal haltlosen Lebens ganz gut ein.

Das Buch ist nun über 60 Jahre alt und doch zeitlos, denn für Einwanderer, Flüchtlinge und Asylsuchende gilt – egal wo – sicherlich noch immer:

When Moses did arrive fresh in London, he look around for a place where he wouldn’t have to spend much money, where he could get plenty food, and where he could meet the boys and coast a old talk to pass the time away – for this city powerfully lonely when you on your own. (S. 29)

Wer ein paar kurze Informationen zum geschichtlichen Hintergrund sucht, wird hier fündig und hier geht’s lang zu einer treffenden Rezension von Helon Habila aus dem Guardian vom 17. März 2007. Die Folgebände heißen Moses Ascending (1975) und Moses Migrating (1983).

Und hier noch ein Gespräch mit der Übersetzerin Miriam Mandelkow.

Ungelöst bleibt allerdings noch die Frage, wie und warum aus den „lonely Londoners“ des Originaltitels plötzlich die harmlosen oder nichtsnutzigen „Taugenichtse“ wurden …

Harper Lee: To Kill a Mockingbird (1960)

When he was nearly thirteen my brother Jem got his arm badly broken at the elbow. When it healed, and Jem’s fears of never being able to play football were assuaged, he was seldom self-conscious about his injury. His left arm was somewhat shorter than his right; when he stood or walked, the back of his hand was at right-angles to his body, his thumb parallel to his thigh. He couldn’t have cared less, so long as he could pass and punt.

When enough years had gone by to enable us to look back on them, we sometimes discussed the events leading to his accident. I maintain that the Ewells started it all, but Jem, who was four years my senior, said it started long before that. He said it began the summer Dill came to us, when Dill first gave us the idea of making Boo Radley come out.

Mit diesen Zeilen beginnt eines der bekanntesten amerikanischen Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts:

Nelle Harper Lee: To Kill a Mockingbird (1960); auf Deutsch: Wer die Nachtigall stört

Ein Erfolg sondergleichen

Von Anfang an war das Buch ein phänomenaler Erfolg. Sowohl Reader’s Digest als auch der 1927 gegründete Buchclub „Literary Guild“ nahmen Lee’s Buch in ihre Programme auf und 1961 gewann sie den renommierten Pulitzer Prize for Fiction. Doch der Erfolg fühlte sich für Harper Lee zunächst überhaupt nicht gut an, wie eines der letzten Interviews zeigt, die sie gegeben hat, bevor sie sich aus der Öffentlichkeit zurückzog:

It was like being hit over the head and knocked cold. You see, I never expected any sort of success with Mockingbird. I didn’t expect the book to sell in the first place. I was hoping for a quick and merciful death at the hands of reviewers, but at the same time I sort of hoped that maybe someone would like it enough to give me encouragement. Public encouragement. I hoped for a little, as I said, but I got rather a whole lot, and in some ways this was just about as frightening as the quick, merciful death I’d expected. (hier das Interview zum Nachhören)

Und noch 2006 wählten britische Bibliothekare das Buch auf Platz eins, als es um die Frage ging, welches Buch jeder Erwachsene in seinem Leben gelesen haben sollte.

Zum Inhalt

Der Roman, der vielen – zumindest durch die Verfilmung mit Gregory Peck in der Hauptrolle (1962) – bekannt sein dürfte, spielt in den dreißiger Jahren zur Zeit der Weltwirtschaftskrise des letzten Jahrhunderts in der fiktiven Kleinstadt Maycomb in Alabama. Jean Louise, die Tochter des Anwalts Atticus Finch, die von allen nur Scout genannt wird, erzählt uns im Rückblick ihre Kindheit und im weitesten Sinne, wie es zu dem gebrochenen Arm ihres Bruders kam. Zu Beginn der Handlung ist sie knapp sechs Jahre alt und lebt mit ihrem Bruder Jem, ihrem Vater und der schwarzen Hausangestellten Calpurnia in einer scheinbar unbeschwerten Kindheitsidylle.

Sie genießt viele Freiheiten, tobt (und prügelt sich) wie ein Junge durch Schule und Nachbarschaft, wird von ihrem Bruder beschützt und muss sich mit einer verständnislosen Lehrerin herumärgern, die nicht akzeptieren will, dass Scout schon bei ihrer Einschulung lesen kann. Daraufhin verkündet sie ihrem Vater, dass sie gedenkt, den Schulbesuch sofort wieder einzustellen.

Die Sommerferien sind der Höhepunkt des Jahres, denn dann reist Dill, der Neffe der Nachbarin, zu Besuch an und zu dritt machen die Kinder die Gegend unsicher oder versuchen, den geheimnisumwitterten, nie gesehenen Nachbarn Arthur Radley aus dem Haus zu locken. Doch irgendwann bekommt Scouts Vater den Auftrag, den Schwarzen Tom Robinson vor Gericht zu verteidigen, der angeklagt ist, eine Weiße vergewaltigt zu haben. Atticus wird daraufhin von vielen als „nigger lover“ beschimpft und er befürchtet zu Recht, dass auch seine Kinder die Vorurteile zu spüren bekommen:

I hope and pray I can get Jem and Scout through it without bitterness, and most of all, without catching Maycomb’s usual disease. Why reasonable people go stark raving mad when anything involving a Negro comes up, is something I don’t pretend to understand. (S. 98 der hässlichen Ausgabe der Mandarin Paperbacks)

Fazit

Das Buch entwickelt eine ganz außergewöhnliche Wucht.

Es ist nicht nur eine bissige Anklage gegen die christlich verbrämte Heuchelei in einem rassistischen System: Bei den Damenkränzchen werden irgendwelche Missionare in Afrika verehrt und gleichzeitig drohen sie ihren schwarzen Hausangestellten mit Rauswurf, als diese nach dem Prozess nur bedrückt und mürrisch ihre Arbeiten verrichten.

‚Gertrude, I tell you, there’s nothing more distracting than a sulky darky. Their mouths go down to here. Just ruins your day to have one of ‚em in the kitchen. You know what I said to my Sophy, Gertrude? I said, ‚Sophy,‘ I said, ‚you simply are not being Christian today. Jesus Christ never went around grumbling and complaining.‘ And you know it did her good […] I tell you, Gertrude, you never ought to let an opportunity go by to witness for the Lord.‘ (S. 256)

Auch der Spannungsaufbau ist gelungen, und zwar nicht nur, weil man wissen will, wie der Prozess ausgeht. Darüber hinaus hat Lee auch eine so überzeugende Erzählerstimme für Scout gefunden, dass die Distanz zwischen Leser und Erzählerin fast verschwindet.

Atticus was feeble: he was nearly fifty. When Jem and I asked him why he was so old, he said he got started late, which we felt reflected upon his abilities and manliness. […] Our father didn’t do anything. He worked in an office, not in a drug-store. Atticus did not drive a dump-truck for the county, he was not the sheriff, he did not farm, work in a garage, or do anything that could possibly arouse the admiration of anyone. (S. 99)

Selbst wenn Kritiker gern darauf hinweisen, dass bei den ironischen Brechungen und dem Wortschatz immer wieder mal in die Perspektive der Erwachsenen gewechselt wird:

It might be that Lee floundered when she was trying to settle on a point of view. She rewrote the novel three times: the original draft was in the third person, then she changed to the first person and later rewrote the final draft, which blended the two narrators, Janus-like, looking forward and back at the same time. (Charles J. Shields, S. 128)

Zwar ist Lee die Vaterfigur unrealistisch ideal geraten, doch stört das kaum. Atticus erzieht seine Kinder zu Menschen, denen Äußerlichkeiten nicht sehr wichtig sind, die selber denken, die Verantwortung für ihr Tun und ihre Fehler übernehmen müssen und die die humanen Werte ihres Vaters wie Anstand und den Glauben an Gerechtigkeit vor dem Gesetz übernehmen. Sie werden letztendlich zu Hoffnungsträgern, dass Rassismus und nahezu grenzenlose Heuchelei nicht das letzte Wort haben werden.

Der Titel

Die Übersetzung des Titels ins Deutsche ist in seiner Süßlichkeit irreführend. Ein ‚mockingbird‘ ist eine amerikanische Spottdrossel. Als Atticus seinen Kindern Luftgewehre schenkt, stellt er ihnen nur eine einzige Bedingung:

‚Shoot all the bluejays you want, if you can hit ‚em, but remember it’s a sin to kill a mockingbird.‘ (S. 99).

Die Nachbarin Miss Maudie erklärt den Kindern, weshalb:

‚Mockingbirds don’t do one thing but make music for us to enjoy. They don’t eat up people’s gardens, don’t nest in corncribs, they don’t do one thing but sing their hearts out for us. That’s why it’s a sin to kill a mockingbird.‘

Die Humanität des Einzelnen und der Gesellschaft erweist sich auch im Umgang mit den menschlichen „Mockingbirds“, auf die im Buch noch mehrmals angespielt wird.

Die Biografie von Shields

Charles J. Shields hat in seiner überaus sorgfältig und bis ins kleinste Detail recherchierten Biografie Mockingbird: A Portrait of Harper Lee (2006), bei der er keinerlei Unterstützung von Harper Lee oder ihren Familienangehörigen bekam, viele der autobiografischen Bezüge und Anverwandlungen nachgewiesen. Im Buch heißt es beispielsweise: „Our mother died when I was two, so I never felt her absence“ (S. 6). Shields erklärt die Tatsache, dass Scout und Jem ohne Mutter aufwachsen müssen, damit, dass Lees Mutter psychisch krank war und emotional gar keine Beziehung zu ihren Kindern aufbauen konnte.

Die Figur des Nachbarjungen Dill geht auf das reale Vorbild von Truman Streckfus Persons zurück, der tatsächlich die Ferien im Nachbarhaus verbracht hat und der später unter dem Namen seines Stiefvaters Capote ebenfalls Weltruhm erlangen sollte. Auch den geheimnisvollen Nachbarn hat es gegeben und ihr Vater hat 1919 zwei Schwarze verteidigt. Als diese trotzdem zum Tode verurteilt wurden, hat er seine Arbeit als Anwalt aufgegeben.

Allerdings war Amasa Coleman Lee, ganz im Gegensatz zu Atticus,  zunächst alles andere als ein Gegner der Rassentrennung. Er war federführend bei der Entlassung des methodistischen Reverend Ray Whatley, der seiner Meinung nach zu viel über ’social justice‘ und zu wenig über das Evangelium sprach. Whatley wurde dann später enger Mitarbeiter von Martin Luther King. Doch spätestens ab den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich Lees Vater für die Rechte der Schwarzen und für ein gerechteres Wahlsystem ein. Zur Frage, welche Gerichtsprozesse als Vorlage und Inspiration für den Prozess gegen Tom Robinson dienten, siehe den als exzellent bewerteten Artikel in der englischen Wikipedia.

Kritik an Lees Buch

Aus heutiger Sicht wirkt der Verriss von Phoebe Lou Adams im Atlantic Magazine vom August 1960 eher komisch, man fragt sich, welches Buch Adams da wohl gelesen hat.

Lees Buch ist inzwischen eines der erfolgreichsten Werke der Literatur (über 30 Millionen verkaufte Exemplare weltweit) und erst 2010 erschien Scout, Atticus, and Boo: A Celebration of ‚To Kill a Mockingbird‘ von Mary McDonagh-Murphy, in dem Künstler, Weggefährten und namhafte Schriftsteller der Gegenwart ihre Begeisterung für To Kill a Mockingbird erklären.

Lees Anteil an der Überwindung der Rassentrennung wird allerdings als eher gering eingeschätzt. Spektakuläre Aktionen wie die der Freedom Riders hat sie abgelehnt, da diese nur die Gewalt beförderten.

Doch überholt war und ist ihr Roman keineswegs – trotz seiner Verankerung in der Vergangenheit. Anfang der Sechziger riskierten schwarze Studentinnen und Studenten wie z. B. James Meredith ihr Leben, wenn sie ihr seit 1954 verbrieftes Recht auf ungehinderten Zugang zu ehemals nur Weißen vorbehaltenen öffentlichen Bildungseinrichtungen wahrnehmen wollten (siehe den Prozess Brown versus Board of Education).

Und die Einstellung der Menschen ändert sich nur langsam – wenn überhaupt. Senator E. O. Eddins hat 1959 massiven Druck auf die Bibliothekarin Emily Wheelock Reed ausgeübt, als die sich weigerte, das Kinderbuch The Rabbits‘ Wedding von Garth Williams aus dem Verkehr zu ziehen. Im Buch heiraten ein schwarzes und ein weißes Kaninchen.

Jener Senator wollte auch eine Ehrung Harper Lees verhindern, hat dann seinen Protest aber zurückgezogen, um zu verhindern, dass man sie als Märtyrer verkläre. Und eine regionale Schulbehörde in Virginia wollte noch 1966 ihren Roman komplett aus den Schulbüchereien verbannen, weil das Buch so unmoralisch sei. Lee antwortete mit einem sehr hübschen Brief:

Recently I have received echoes down this way of the Hanover County School Board’s activities, and what I’ve heard makes me wonder if any of its members can read. Surely it is plain to the simplest intelligence that “To Kill a Mockingbird” spells out in words of seldom more than two syllables a code of honor and conduct, Christian in its ethic, that is the heritage of all Southerners. To hear that the novel is „immoral“ has made me count the years between now and 1984, for I have yet to come across a better example of doublethink. I feel, however, that the problem is one of illiteracy, not Marxism.

Deshalb schließt sie den Brief mit der Ankündigung einer Spende, die doch bitte dafür verwendet werden möge, „to enroll the Hanover County School Board in any first grade of its choice.“

In Cold Blood

Harper Lee hat übrigens noch an einem weiteren Klassiker der amerikanischen Literatur mitgewirkt. Auch wenn Truman Capote das nie öffentlich honoriert hat: Sie war nicht nur als sein „assistant researchist“ über Monate bei den Vorarbeiten und Interviews zu In Cold Blood wesentlich beteiligt – meist fertigte sie die Mitschriften an und bahnte Kontakte zu wichtigen Interviewpartnern an, die Truman Capote zunächst äußerst misstrauisch beäugten -, sondern war auch immer wieder zur Stelle, wenn Capote weitere Lokaltermine anberaumte oder sie bat, sein Manuskript zu begutachten.

Capote sagte selbst:

Without her deep probing of the people of that little town, I could never have done the job I did with it.“ (zitiert nach Shields, S. 253).

Doch als es darum ging, Lees Beitrag auch öffentlich anzuerkennen, spielte er ihre Rolle so weit herunter, dass ihre Jahrzehnte dauernde Freundschaft einen ernsthaften Riss bekam.

So when, in January 1966, she opened the first edition of In Cold Blood, she was shocked to find the book dedicated to her, a patronizing gesture in light of her contribution – „With Love and Gratitude,“ it said. And, out of the blue, she found she had to share Capote’s thanks with his longtime lover, Jack Dunphy. (Shields, S. 253)

Das lange Schweigen der Autorin

To Kill a Mockingbird ist geradezu durchtränkt von Anleihen aus der Kindheit Harper Lees und das ist möglicherweise einer der Gründe, weshalb Lee danach – außer vier Artikeln und einem Brief an Oprah Winfrey – nie wieder etwas veröffentlicht hat. Sie hat aus persönlichem Erleben ein Stück Weltliteratur geformt. Was sollte dem noch hinzugefügt werden? Dieser stark autobiografische Bezug erklärt vielleicht auch, dass sie – auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung – die Zeit um ca. 30 Jahre zurückdreht und Schwarze in ihrem Buch ausschließlich als arme Feldarbeiter oder als Angestellte in weißen Haushalten vorkommen. Die meisten Mitglieder der schwarzen Gemeinde im Buch sind Analphabeten.

Ein zweiter Grund, weshalb Lee danach nie wieder etwas veröffentlicht hat, könnte sein, dass die Arbeit an dem Roman nur sehr mühsam vonstatten ging. In dreieinhalb Jahren wurde das Manuskript dreimal grundlegend überarbeitet und umgestellt. Ohne die Geduld und die Hinweise ihrer Verlegerin Hohoff, die überhaupt erst dafür sorgte, dass das Ganze zu einem Roman mit einem klaren Handlungsaufbau statt zu einer unausgewogenen Anekdotensammlung wurde, wäre das Buch nie veröffentlicht worden.

Das ist auch der Grund, weshalb an mir die medial inszenierte Aufregung an dem 2015 veröffentlichen Go Set a Watchman komplett vorbeiging, das inzwischen ohnehin als erster Entwurf für To Kill a Mockingbird gilt (siehe hierzu den aufschlussreichen Artikel The Invisible Hand Behind Harper Lee’s ‘To Kill a Mockingbird’ von Jonathan Mahler aus der New York Times, Juli 2015)

Shields weist außerdem darauf hin, dass die Zeitschrift Esquire 1961 die Veröffentlichung eines Textes von Lee ablehnte. Sie hatte zugesagt, einen Sachtext über den Süden einzureichen, doch was sie stattdessen ablieferte, war To Kill a Mockingbird im Miniaturformat:

The fact that she had submitted a piece of fiction with To Kill a Mockingbird overtones again, when a nonfiction piece was requested suggests a certain lack of versatility. (Shields, S. 217)

In einem Gespräch mit Harper Lee hat ein enger Vertrauter, Dr. Butts, einmal folgende Theorie zu ihrem Jahrzehnte langen Schweigen aufgestellt:

I espoused two or three ideas. I said maybe you didn’t want to compete with yourself. She said, ‚Bullshit. Two reasons: one, I wouldn’t go through the pressure and publicity I went through with To Kill A Mockingbird for any amount of money. Second, I have said what I wanted to say and I will not say it again‘. (zitiert nach dem unaufgeregt-lesenswerten Artikel von Paul Toohey: Miss Nelle in Monroeville, im australischen Sunday Telegraph vom 31. Juli 2010)

Andrew Gumbel hat 2006 ebenfalls Shields Biografie gelesen auf der Suche nach der Antwort, weshalb Lee nach ihrem Welterfolg nie wieder etwas veröffentlicht hat.

Don Lee Keith, dem sie eines der letzten Interviews gewährte, das dann im Frühjahr 1966 in der Zeitschrift Delta Review unter dem Titel „An Afternoon with Harper Lee“ erschien, war übrigens derjenige, der sie als erster – wenn auch unabsichtlich – in Zusammenhang mit dem Etikett „recluse“ (Einsiedler) brachte:

Harper Lee is no recluse. She is no McCullers or Salinger whose veneer of notoriety cannot be punctured to reveal, after all, another individual. She is real and down-to-earth as is the woman next door who puts up fig preserves in the spring and covers her chrysanthemums in winter. (zitiert nach Shields, S. 248)

Wenn man bedenkt, welchen schier unglaublichen Presserummel die Autorin, die einfach nur ihre Ruhe haben wollte, über sich ergehen lassen musste und dass sie selbst bis ins hohe Alter nicht vor Journalisten sicher war, die oft genug rücksichtslos einfach an ihre Tür klopften und Einlass begehrten, ist ihr Schweigen vielleicht gar nicht so unverständlich.

In einer Zeit allerdings, in der so viele – egal, wie unbegabt, dämlich oder belanglos – ein „Star“ sein möchten und andere glauben, ein Recht auf Einblick in das Privatleben anderer zu haben, ist Lees Schweigen auch eine Provokation.

It takes a kind of courage that almost nobody has in this country, where celebrity has replaced religion for a lot of people, to turn away from the church of publicity and say, ‘I’m not going to pray there, I’m not going to appear there’ (Mark Childress, in Scout, Atticus, and Boo: A Celebration of ‚To Kill a Mockingbird‘ )

Und dabei es ist doch mehr als genug, wenn man über eine Autorin die schönen Worte sagen kann:

Sometimes novels are considered ‚important‘ in the way medicine is – they taste terrible and are difficult to get down your throat, but are good for you. The best novels are those that are important without being like medicine; they have something to say, are expansive and intelligent but never forget to be entertaining and to have character and emotion at their centre. Harper Lee’s triumph is one of those. (Chimamanda Ngozi Adichie, 10. Juli 2010 im Guardian)

Sabine von Binge Reading & More verdanke ich den Hinweis auf einen Artikel im The Economist, der leider mehr als deutlich macht, dass die beste Medizin nichts nützt, wenn man sie nicht wirken lässt.

Schließen möchte ich mit zwei Zitaten von Atticus:

You never really understand a person until you consider things from his point of view – until you climb into his skin and walk around in it.

… but before I can live with other folks I’ve got to live with myself. The one thing that doesn’t abide by majority rule is a person’s conscience.

b-nz 189

Emily St. John Mandel: Station Eleven (2014)

The king stood in a pool of blue light, unmoored. This was act 4 of King Lear, a winter night at the Elgon Theatre in Toronto. Earlier in the evening, three little girls had played a clapping game onstage as the audience entered, childhood versions of Lear’s daughters, and now they’d returned as hallucinations in the mad scene. The king stumbled and reached for them as they flitted here and there in the shadows. His name was Arthur Leander.

So beginnt der Endzeitroman der kanadischen Autorin

Emily St. John Mandel: Station Eleven (2014)

Das Buch wurde von Wibke Kuhn ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel Das Licht der letzten Tage.

Ein dickes Dankeschön an Deep Read, ohne deren verlockende Besprechung das Buch hier nicht eingezogen wäre.

Zum Inhalt

Bei einer Theateraufführung in Toronto erleidet der Hauptdarsteller Arthur Leander einen Herzinfarkt. Auch die sofort eingeleiteten Erste-Hilfe-Maßnahmen können ihn nicht retten. Später unterhalten sich noch einige Kollegen an der Theaterbar über Arthur und überlegen, wer nun benachrichtigt werden muss.

Of all of them there at the bar that night, the bartender was the one who survived the longest. He died three weeks later on the road out of the city. (S. 15)

Es ist der letzte Abend, an dem unsere Welt noch so ist, wie wir sie kennen. Flugzeugpassagiere aus Georgien haben eine tödliche Seuche mit nach Kanada gebracht. Schon im Laufe des Nachmittags sterben die ersten Opfer in den Krankenhäusern, die Inkubationszeit ist so kurz, dass am Abend alle Krankenhäuser der Stadt überfüllt sind.

Jeevan Chaudhary, der noch versucht hatte, den Schauspieler auf der Bühne wiederzubeleben, verbarrikadiert sich mit seinem Bruder in dessen Wohnung. Dort verfolgen sie das Geschehen im Fernsehen, bis ein Sender nach dem anderen die Arbeit einstellt. Das Undenkbare ist passiert. Die Zivilisation ist am Ende. Man geht davon aus, dass maximal ein Prozent der Menschheit überlebt hat. Als einige Wochen später die Vorräte zur Neige gehen, beschließt Jeevan, die Wohnung zu verlassen und herauszufinden, ob er weitere Überlebende findet.

Neben dieser Zeitebene, die während des Zusammenbruchs spielt, gibt es die Ebene ca. zwanzig Jahre später. Wir folgen der Travelling Symphony, einer Wandertruppe, die mit von Pferden gezogenen Wagen die weit auseinanderliegenden kleinen Siedlungen ansteuert und dort klassische Konzerte gibt und außerdem Shakespeare-Stücke im Repertoire hat.

Dieter was learning the part of Lear, although he wasn’t really old enough. Dieter walked a little ahead of the other actors, murmuring to his favourite horse. The horse, Bernstein, was missing half his tail, because the first cello had just restrung his bow last week. (S. 36)

Auf den langen Wanderungen treffen die ca. 20 Mitglieder der Truppe auf Überreste der ehemaligen Welt, z. B. auf Tankstellen und auf Autowracks, in denen noch die Skelette sitzen. In längst schon geplünderten Häusern finden sie manchmal etwas Brauchbares, noch etwas Kleidung oder eine alte Zeitschrift.

Schließlich haben zwei Mitglieder der Travelling Symphony nicht, wie vereinbart, an einem bestimmten Ort auf die anderen gewartet. Stattdessen treffen sie auf einen offensichtlich durchgeknallten Sektenführer, der diesen Ort vollständig unter Kontrolle hat. Und dann verschwinden während einer Nachtwache plötzlich noch zwei weitere Mitglieder der Truppe.

Immer wieder wechseln die Zeitebenen. Mal sind wir in der Vergangenheit, wo wir u. a. die Ehefrauen von Arthur Leander kennenlernen und erfahren, was es mit einem Comic mit dem Titel „Station Eleven“ auf sich hat. Dann wiederum bewegen wir uns in der Ebene, während der die Welt, wie wir sie kennen, zusammenbricht.

Schließlich gibt es noch die gefährliche und immer auch gefährdete Gegenwart, in der täglich neu verhandelt werden muss, welche Werte gelten sollen. Für was lohnt sich zu leben, wenn das Motto der Travelling Symphony, das sie einer Star Trek-Episode entlehnt haben, gelten soll: Survival is insufficient.

Fazit

Wir haben hier keine feinen Charakterzeichnungen a la Tolstoi, das Grauen, der Schock, die Trauer, sind sicherlich nicht immer in denkbarer Tiefe dargestellt, aber um ehrlich zu sein, das war mir irgendwann völlig egal. Ich bin schon lange nicht mehr in einem Buch so abgetaucht.

Und normalerweise habe ich nicht so viel für Zeitsprünge und Wechsel der Erzählerstimmen übrig, weil ich dann rasch den Verdacht habe, dass der Autor damit über fehlende Substanz hinwegtäuschen will. Doch hier habe ich allen Wechseln und Sprüngen vertraut, wollte immer wissen, wie es weitergeht, und war fasziniert, wie sich Motive und Linien immer weiter ineinander verschränken. Ich fand diese ausgedachte Welt unglaublich und sie verfolgt mich geradezu visuell. Kein Wunder, dass die Verfilmung bereits beschlossene Sache ist.

Die Autorin setzt – im Gegensatz zu Cormac Mc Carthy beispielsweise – weder auf die explizite Schilderung von Horror und Gewalttaten noch auf die Frage des reinen Überlebenskampfes, sondern eher darauf, unsere Weltsicht ins Wanken zu bringen. Wie sähe eine Welt aus, in der das, was wir überhaupt nicht mehr als etwas Besonderes wahrnehmen, wie Elektrizität, Autos, Flugzeuge, Internet, ausfällt? Wenn plötzlich 99 Prozent der Bevölkerung nicht mehr da wären – und damit auch ihr Know-How fehlen würde? Was gibt, auch nach dem „Ende der Welt“ dem Leben Bedeutung? Welche Rolle kommt der Kultur, dem Theater, der Musik, einem Buch, noch zu?

Unglaublich tolles Buch, und spannend sowieso. Ein Schmöker im besten Sinne. Deep Read hat es so schön auf den Punkt gebracht: „Und so klappt man diesen Roman nach 400 Seiten zu und ist unglaublich einverstanden, zuversichtlich, getröstet. Und dass, obwohl gerade die alte Welt untergegangen ist.“

Ach, und Shakespeare möchte man danach auch gleich wieder lesen.

An incomplete list:

No more diving into pools of chlorinated water lit green from below. No more ball games played out under floodlights. No more porch lights with moths fluttering on summer nights. No more trains running under the surface of cities on the dazzling power of the electric third rail. No more cities. No more films […] No more screens shining in the half-light as people raise their phones above the crowd to take photographs of concert stages. Nor more concert stages lit by candy-coloured halogens, no more electronica, punk, electric guitars.
No more pharmaceuticals. No more certainty of surviving a scratch on one’s hand, a cut on a finger while chopping vegetables for dinner, a dog bite.
No more flight. No more towns glimpsed from the sky through airplane windows, points of glimmering light; no more looking down from thirty thousand feet and imagining the lives lit up by those lights at that moment. […]
No more countries, all borders unmanned. No more fire departments, no more police. No more road maintenance or garbage pickup. […]
No more Internet. No more social media, no more scrolling through litanies of dreams and nervous hopes and photographs of lunches, cries for help and expressions of contentment and relationship-status updates with heart icons whole or broken, plans to meet up later, pleas, complaints, desires, pictures of babies dressed as bears or peppers for Halloween. No more reading and commenting on the lives of others, and in doing so, feeling slightly less alone in the room. No more avatars. (S. 36/37)

Anmerkungen

Inzwischen habe ich noch folgendes Zitat von Agatha Christie in ihrer Autobiografie (1977) gefunden, das hier erstaunlich gut passt:

What will it all end in? Further triumphs? Or possibly the destruction of man by his own ambition? I think not. Man will survive, though possibly only in pockets here and there. There may be some great catastrophe – but not all mankind will perish. Some primitive community, rooted in simplicity, knowing of past doings only by hearsay, will slowly build up a civilisation once more. (S. 222)

Auch wenn St. Mandel nicht müde wird zu betonen, dass Station Eleven kein Science Fiction Roman sei, hat sie 2015 für ihr Buch den Arthur C. Clarke Award verliehen bekommen.

Außerdem schaffte sie es 2014 auf die Shortlist des National Book Award, 2015 auf die Shortlist des PEN/Faulkner Award for Fiction und sie gewann den Toronto Book Award.

Ein Interview mit der Autorin gibt es auf Literary Hub.

Hier geht’s lang zu einigen Rezensionen.

Und Justine Jordan schreibt im Guardian:

Mandel isn’t interested in how apocalypse might act upon art: this is very much a novel about individual rather than collective destiny. The glacial calm of her prose extends to the characters, so that while the book is visually stunning, dreamily atmospheric and impressively gripping, we never feel the urgency and panic of global disaster, let alone its moral weight.

But perhaps that is beside the point. Station Eleven is not so much about apocalypse as about memory and loss, nostalgia and yearning; the effort of art to deepen our fleeting impressions of the world and bolster our solitude. Mandel evokes the weary feeling of life slipping away, for Arthur as an individual and then writ large upon the entire world. In Year Twenty, Kirsten, who was eight when the flu hit, is interviewed about her memories, and says that the new reality is hardest to bear for those old enough to remember how the world was before. „The more you remember, the more you’ve lost,“ she explains – a sentiment that could apply to any of us, here and now.

Jakob Wassermann: Caspar Hauser (1908)

In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab. Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen …

So beginnt der in weiten Teilen auf historischen Tatsachen und Quellen beruhende Roman Wassermanns um den berühmten und rätselhaften „Findling“ Caspar Hauser.

Zum Inhalt

Die Bürger Nürnbergs stehen dem jungen Menschen, der da so plötzlich unter ihnen auftaucht, skeptisch, neugierig, gaffend, mitleidig oder sensationslüstern gegenüber. Der schon bald vom Bürgermeister veröffentlichte Erlass, durch den man sich Informationen zur Auflösung seiner ungeklärten Herkunft erhofft, sorgt für einen Rummel ohnegleichen. Der junge Gymnasialprofessor Daumer erhält schließlich die Erlaubnis, ihn zu sich zu nehmen. Er bringt Caspar das Sprechen bei und erfährt, dass Caspar jahrelang in einem dunklen Raum bei Wasser und Brot eingesperrt gewesen sei. Er habe seinen Wärter nie gesehen, man habe ihn betäubt, wenn man ihm die Haare und Nägel schnitt, ihn wusch und neues Stroh auf sein Lager gab.

So muss er erst wieder Laufen lernen, das Sonnenlicht tut ihm weh, von Fleisch wird ihm übel. Aber in die menschenfreundliche Zuwendung Daumers mischen sich schon rasch Herablassung und Besitzerdünkel. Auf der einen Seite sieht Daumer in ihm einen ersten Adam, unschuldig und schützenswert:

Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradiesischen Bildes gewahr wurde: Caspar im Garten, auf der Bank sitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn, Tauben picken vor seinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter, die Hauskatze schnurrt an seinem Arm. In ihm ist die Menschheit frei von Sünde, sagte sich Daumer bei diesem Anblick, und was wäre sonst zu leisten, als einen solchen Zustand zu erhalten. Was wäre hier noch zu enträtseln, was zu verkünden? (S. 56)

Doch gleichzeitig will Daumer diesen Menschen studieren und im Tiefsten ergründen. Denn Caspar sei noch

unverpflichtete Kreatur vom ersten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Instinkt, ausgerüstet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforschung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ist. (S. 62)

Daumer nutzt ihn zu Experimenten und Kunststückchen aus, als sei er ein Zirkustier. Er ist völlig irritiert, als Caspar sich über die Bedeutung des Wörtchens „ich“ klar wird und beginnt, ihm auch ein „Nein“ entgegenzusetzen. Als er hört, dass Caspar bei einer Notlüge ertappt wurde, beschließt er durch ein „Gottesurteil“ herauszufinden, ob sich Caspars Seele noch dem „Geisterhauch“ öffne oder ob er schon zu den „Gewöhnlichen“ gehöre. Er will Caspar mittels Gedankenübertragung zu einer festgelegten Stunde dazu bringen, ihm sein Tagebuch zu bringen. Das Experiment scheitert:

Ruhig blieb Daumer sitzen und stierte vor sich hin wie einer, der aus dem Rausch erwacht. Vorüber, die Frist war verstrichen. Er schämte sich sowohl seiner Niederlage als auch seines vermessenen Unterfangens, denn er war ja ein gescheiter Kopf und hatte Selbstbesinnung genug, um die spielerische Willkür dessen, was er gewollt, ernüchtert zu empfinden. Trotzdem ergriff ihn eine finstere Gleichgültigkeit. Der Hoffnungen zu gedenken, die sich noch vor kurzem an den Namen Caspar geknüpft, verursachte ihm einen schalen Geschmack auf der Zunge. (S. 112)

Den Ränken der Umwelt, der Sensationsgier, der Neugier und fehlenden Empathie ist Caspar nahezu hilflos ausgeliefert. Täglich wird er von Dutzenden bestaunt, begafft und angefasst. Jeder hat seine Pläne und Absichten mit ihm, sei es, dass er weitgereisten Herrschaften zur Abendunterhaltung dienen, der Kirche als verlorene Seele zugeführt werden oder als Daumers Versuchsobjekt für allerlei medizinische Experimente oder neue Diäten herhalten soll. Frau Behold schließlich versucht ihn zu verführen und verfolgt ihn anschließend mit üblen Verleumdungen, weil er voller Entsetzen vor ihr zurückweicht.

Staatsrat Feuerbach will der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und vertritt in einem geheimen Brief an den König die Ansicht, dass es sich bei Caspar um einen totgeschwiegenen Nachkommen einer bestimmten Herrscherfamilie handeln müsse.

An dieser Stelle des Berichts stockte die Hand des Präsidenten – tagelang, wochenlang. Nicht aus Schwäche noch aus Wankelmut, sondern mit dem schmerzlichen Zagen eines Feldherrn, der des Unheils und Verderbens sicher ist, wie immer die Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem Fürstenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das befleckte Diadem deuten, hieß das nicht,  die Majestät auch des eigenen Königs beleidigen, geheiligte Überlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen Völker zum Widerpart stacheln? Doch wie nie zuvor empfand er die zeugende Gewalt des Wortes, und wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt. Er nannte das Haus mit Namen. (S. 125)

Als ein Mordanschlag auf Caspar geschieht, bei dem dieser schwer verletzt wird, mag ihn Daumer endgültig nicht mehr im Hause haben und so beginnt Caspars Odyssee durch mehrere Nürnberger und Ansbacher Haushalte. Diese verschiedenen Stationen nutzt Wassermann, um ein beklemmendes Sittenbild der Gesellschaft zu zeichnen. Dabei zeigt sich sein geradezu sezierender Blick auf die verstecktesten Motive des Herzens. Als Daumer erfährt, dass schon einflussreiche Bürger Caspar beschuldigen, sich selbst die Verletzungen beigebracht zu haben, geht ihm Folgendes durch den Kopf:

Das ist also die Welt, das sind ihre Stimmen! dachte er bestürzt; das zu denken ist möglich, es auszusprechen steht jedem Mund frei! Und dieser Abgrund von Unsinn und Bosheit soll dich verschlingen, armer Caspar! […] sie werden dir die Flügel brechen. Vergebens wird die Schuldlosigkeit aus deinem Inneren strahlen, sie werden es nicht sehen, vergebens wirst du vor ihnen weinen und vergebens lächeln, du wirst ihre Hand fassen und vor Kälte schaudern, du wirst sie anblicken, und sie werden stumm sein […] Man ist Prophet und hat ein mitleidiges Gemüt, man kennt die Menschen, man weiß, daß das Feuer brennt, daß die Nadel sticht […] man kennt die Folgen dessen, was man tut, nicht wahr, Herr Daumer? Aber ist dies etwa ein Grund, den Geschehnissen wie einem Feind, der das Schwert erhoben hat, in die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden? Nein, es ist kein Grund. […] Darin haben die Idealisten und Seelenforscher nichts voraus vor Dieben und Wucherern. Man geht nach Hause, philosophierend geht man nach Hause, legt sich schlafen, und am nächsten Morgen sieht die Welt weit annehmbarer aus als am gestrigen, reichlich verstimmten Abend. (S. 133)

Sogar der englische Lord Philip Henry Stanhope scheint Anteil am Geschick Caspar   Hausers zu nehmen und gibt große Summen aus, um die Herkunft Caspars zu klären. Auch er sieht in Caspar ein geradezu überirdisches Wesen, vor dem ersten Treffen mit ihm war dem Lord „bange, freudig bang wie einem Kind vor dem Weihnachtsabend.“ (S. 169) Und schon einen Tag später ist es für den Adligen keine Frage mehr, dass er bald gemeinsam mit Caspar durch südliche Gefilde reisen wird. Doch er spielt ein falsches Spiel. Sein Gewissen ist korrumpiert, und bereits vor der ersten Begegnung hat er sich von den Feinden Caspars anheuern lassen, um ihn aus dem Wege zu schaffen oder unschädlich zu machen. Die unschuldige Liebe und das grenzenlose Vertrauen, dass der Jüngling in ihn und seine Versprechungen setzt, können ihn nicht mehr zurück auf den Weg der Redlichkeit führen.

Der wahre Gönner Caspars, der Staatsrat Feuerbach, stirbt unter mysteriösen Umständen, als er sich allein mit dem schmierig-gefährlichen Polizeileutnant Hickel auf einer Reise befindet, die Caspars Schicksal klären soll.

Fazit

Golo Mann hat Caspar Hauser angeblich einmal als den schönsten Kriminalroman bezeichnet, der je geschrieben wurde. Ich allerdings habe die Lektüre dieses Klassikers als ein mühseliges Geschäft empfunden, und das lag nicht am Umfang von 459 Seiten.

An vielen Stellen ist der Stil Wassermanns unerträglich pathetisch. Auf der zufällig gewählten Seite 20 der Taschenbuchausgabe finden sich die Wörter: „geheimnisvoll, unschuldig leuchtende Augen, Übeltat, Schande, verborgen, schmerzlich, lüstern, begehrten, erhellende Dämmerung, in beruhigter Brust nach dem Gewesenen tastete, ein Gewesenes fühlte, im Tiefsten schaudernd, mit durstigen Sinnen, sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem sprechenden Mund der Menschen“. Das liest sich mühsam und all die hohen Worte nutzen sich ab in einer ständigen Wiederholungsschleife. Die schier nicht enden wollende Zähflüssigkeit hat mich mehr als einmal beinahe dazu gebracht, das Buch in die Ecke zu feuern.

Auch Spannung kam nur bedingt auf, weil rasch klar war, dass die beklemmende Atmosphäre, die Intrigen, die Passivität der Caspar Wohlgesonnenen und die Boshaftigkeit seiner Umwelt, die teilweise geradezu fratzenhafte Züge annimmt, die Oberhand behalten werden. Ausnahmslos alle – bis auf den Präsidenten Feuerbach – erliegen der „Trägheit des Herzens“: Entweder setzen sie sich gegen die Unschuld Caspars geradezu zur Wehr, haben ohnehin kein Gewissen mehr oder sie sind von ihren Vorurteilen nicht mehr abzubringen. Andere wiederum gewichten Geld oder Macht höher als Menschlichkeit oder aber sie lassen ihrer Einsicht keine Taten folgen. Als Trägheit des Herzens (acedia) wird übrigens nach theologischer Lehre auch eines der sieben Hauptlaster bezeichnet.

Marcel Reich-Ranicki hat es in der FAZ 2010 so nett auf den Punkt gebracht, als er schrieb:

Wassermann „wurde vom Publikum geliebt, weil er ihm nichts vorenthielt. Anspielungen und Andeutungen gibt es in seiner Prosa kaum, das Indirekte kennt seine Erzählweise nicht, auf die Ironie verzichtet er fast immer. Was er dem Leser mitzuteilen hat, teilt er in der Regel mehrfach mit. Wer will, kann ihm vorwerfen, dass er unentwegt mit dem Nürnberger Trichter hantiert. Mag sein, nur dass seine Bücher auf eine beachtliche Phantasie schließen lassen. Und der Leser hat es mit fraglos intelligenter Prosa zu tun.“

Doch was trotz allem Schwulst und Pathos und außer Rand und Band geratenen Metaphern beeindruckt, ist der scharfe Blick in menschliche Abgründe. Der Typus des Heuchlers lässt sich doch kaum besser darstellen, als es Wassermann mit der Figur des Lehrers Quandt gelungen ist. Bei ihm muss Caspar sein letztes Quartier beziehen:

Es war nämlich mit diesem Manne derart beschaffen, daß er in einer merkwürdigen Zweiheit existierte. Der eine Teil war die öffentliche Person, der Bürger, der Steuerzahler, der Kollege, das Familienoberhaupt, der Patriot, der andre Teil war sozusagen der Quandt an sich. Jener war ein Heros der Tugend, eine wahre Mustersammlung von Tugenden, dieser lag versteckt in einer stillen Ecke und belauerte die liebe Gotteswelt. Die öffentliche Person, der Bürger, der Patriot nahm herzlichen Anteil an den allgemeinen Angelegenheiten, wohingegen der Quandt an sich vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo irgendwas passierte: sei es nun ein unerwarteter Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kaltstellung eines verdienten Beamten oder ein Diebstahl bei einer Vereinskasse oder ein Radschaden an der Postkutsche oder eine Feuersbrunst beim reichen Bauern Soundso oder die skandalöse Heirat der Gräfin Ypsilon mit ihrem Stallburschen. So unverbrüchlich der Steuerzahler, das Familienoberhaupt, der Kollege seinen Pflichten nachkam, der Quandt an sich hatte etwas von einem Revolutionär und war immer auf dem Posten, um der Weltregierung auf ihre Finger zu schauen, und stets besorgt, daß keinem mehr Ehre geschah, als er nach genauer Bilanz über seine Verdienste und Mängel, seine Vorzüge und Laster füglich beanspruchen durfte. Der öffentliche Quandt schien zufrieden mit seinem Los, der geheime fand sich allerorten und zu jeder Zeit zurückgesetzt, beleidigt, vor den Kopf gestoßen und in seinen vornehmsten Rechten gekränkt. Nun sollte man denken, mit zwei so verschieden gesinnten Kostgängern unter einem Dach sei schwer zu wirtschaften. Nichtsdestoweniger kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander aus. Freilich, der Neid ist ein boshaftes Tier, er durchlöcherte manchmal die Scheidewand zwischen den beiden Seelen, und wie oft der stärkste Damm nicht genügt, um eine verheerende Überschwemmung  zu verhindern, so brach eben dieser Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und wohlbestellten Gefilde des Gottes- und Menschenfreundes Quandts. (S. 281)

So kommt auch die Autorin und Journalistin Petra van Cronenburg zu dem Ergebnis: „Wassermann schafft es, in einer Geschichte, die zuweilen krimihafte Züge hat und mit Sensationslust spielt, über das Wesen des Menschen nachzudenken. Caspar ist nicht nur der geheimnisvolle Fremde, der die Bürgerlichen zwingt, mit Fremdheit und Anderssein umzugehen – er ist auch die menschliche Unschuld, nach der sich die anderen Protagonisten sehnen, die ihnen Angst macht, die sie bekämpfen oder zu erhalten suchen. Das ist ein großer Roman über die Conditio humana.“

Anmerkung

Wassermann hat sich jahrelang an diesen Stoff herangetastet. Sein Großvater hatte Caspar Hauser noch gesehen und Wassermann kannte die Stätten, die für Hausers Schicksal bedeutsam wurden und er sagt in seinem Rückblick „Mein Weg als Deutscher und Jude“ von 1921:

Abermals und abermals wagte ich den Anfang, zog weiten Kreis, zog engen Kreis um das Thema, fand nicht das Fundament, fand nicht die Ruhe, nicht die Kraft, nicht die Erleuchtung, wurde mutlos und ließ wieder ab. Doch bei all dem Probieren und Verzagen, Graben und Verzweifeln wuchs mir die Figur des Nürnberger Findlings unerwartet hoch empor, und sein Schicksal ward mir zum Schicksal des menschlichen Herzens überhaupt. Das Menschenherz gegen die Welt; als ich diese Formel gefunden hatte, hoben sich die Schleier, und wenngleich noch viele Mühsal zu bezwingen war, so blieb doch der Weg im Licht. (S. 77)

Zum Abschluss noch ein Zitat aus diesem Buch, das auch heute noch, über 100 Jahre später in einem Land, in dem wieder Flüchtlingsheime angezündet werden, gültig ist:

Wahrhaftig, die Menschen sind träge, stumpfe, dumme Tiere, sonst wäre mehr Empörung in der Welt. (S. 369)

Wer Interesse an den zeitgenössischen Berichten hat, sei auf das Buch Kaspar Hauser Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse von Hermann Pies, veröffentlicht im Gutenberg-Projekt, verwiesen. Auch der Wikipedia-Artikel ist hier, was den historischen Hintergrund und die Quellenlage angeht, zu empfehlen. Die Theorie, der ja auch Wassermann anhing, dass es sich bei Hauser um das Opfer einer von Gräfin Luise Karoline von Hochberg initiierten Kindesvertauschung handele, gilt heute als widerlegt.

BRD 034

Graham Swift: Last Orders (1996)

It aint like your regular sort of day. Bernie pulls me a pint and puts it in front of me. He looks at me, puzzled, with his loose, doggy face but he can tell I don’t want no chit-chat. That’s why I’m here, five minutes after opening, for a little silent pow-wow with a pint glass. He can see the black tie, though it’s four days since the funeral.

Mit diesen Sätzen beginnt der fantastische 1996 mit dem Booker Prize ausgezeichnete Roman Last Orders des Briten Graham Swift. Das Buch wurde von Barbara Rojahn-Deyk ins Deutsche übersetzt und erschien unter dem Titel Letzte Runde.

Jack Dodd, Metzger in London, ist also vor vier Tagen beerdigt worden. Im Alter von 68 ist er an Magenkrebs gestorben, und das kurz bevor er seinen Plan, in Rente zu gehen und mit seiner Frau Amy einen Bungalow in Margate am Meer zu kaufen, verwirklichen kann.

Neben seiner Witwe Amy hinterlässt er eine 50-jährige Tocher namens June und einen im Zweiten Weltkrieg adoptierten Stiefsohn namens Vince. Vince ist inzwischen auch schon 40 und hat sich als Autohändler selbstständig gemacht statt die Metzgerei zu übernehmen.

Jacks letzter Wunsch ist es nun, dass seine Asche im Meer bei Margate verstreut wird. Aus Gründen, die der Leser später erfahren wird, möchte Amy, seine Frau, nicht dabei sein. Stattdessen erklären sich Vince und Jacks Freunde aus Kriegszeiten und jahrzehntelange Trinkkumpane bereit, den Wunsch des Verstorbenen umzusetzen.

Der ganze Roman spielt an diesem einen Tag. Am Morgen treffen sich Vince und die alten Männer in ihrer Stammkneipe: Ray, dessen Ehe schon vor 25 Jahren gescheitert ist und dessen Tochter genauso lange schon in Australien lebt, Lenny, voll Wut über das, was das Leben ihm und seiner Tochter angetan hat, und Vic. Vic ist der einzige, der mit sich und seinem Beruf – als Bestatter – im Reinen ist.

In vielen Rückblenden aus der Sicht Amys oder einer der Männer setzt sich nun mosaikartig die Lebensgeschichte dieser Männer und ihrer Familien zusammen. Wir erfahren, wie die Familiengeschichten zusammenhängen, welche schuldhaften und z. T. unbewussten Verbindungen es da gibt und natürlich auch, welche Fortschritte die Männer auf ihrer Tour nach Margate machen. Vince hat dazu extra einen eleganten blauen Mercedes aus seinem Geschäft organisiert.

He thought he should give Jack the best. But it’s not so bad for us too, for Vic and Lenny and me, sitting up, alive and breathing. The world looks pretty good when you’re perched on cream leather and looking out at it through tinted electric windows, even the Old Kent Road looks good. (S. 17)

Die Männer bemühen sich um eine dem Anlass angemessene Ernsthaftigkeit. Sie möchten ihrem verstorbenen Freund Jack ein würdiges Geleit geben, ohne dabei so recht zu wissen, wie das gehen könnte, und alte Ressentiments und nie sauber geklärte Konflikte sorgen dafür, dass es keineswegs immer würdig zugeht. Und dabei ist die Frage, ob man nun die Urne mit in die Kneipe nimmt oder nicht, noch das kleinste Problem.

Auf halben Wege kommt es zu einer Prügelei, man kehrt in Kneipen ein und findet sich irgendwann völlig ungeplant – und durch die Prügelei verdreckt und zerschunden – in der Canterbury Cathedral wieder, die noch keiner der Männer zuvor besucht hat.

… and it’s like we’re all thinking we might have lived all our lives and never seen Canterbury Cathedral, it’s something Jack’s put right. (S. 193)

Dabei gelingt es Swift, das Ganze immer in einer tiefen Menschlichkeit zu verankern, die allen Fallen von Sentimentalität oder Klamauk aus dem Weg geht. Als Ray seinen Freund Jack kurz vor dessen Tod noch einmal im Krankenhaus besucht, fällt ihm auf:

He (Jack) ought to look less like himself but he doesn’t, he looks more like himself. It’s as if because his body’s packed up, everything’s gone into his face and though that’s changed, though it’s all hollow with the flesh hanging on it, it only makes the main thing show through better, like someone’s turned on a little light inside. (S. 34)

Natürlich gehen den Männern auf dieser Fahrt auch Gedanken an die eigenen Versäumnisse und großen Lebensfehler durch den Kopf, man ist traurig und wenn keiner der anderen hinschaut, fließen auch ein paar Tränen.

Fazit

Ich habe drei Anläufe gebraucht, um in dieses Buch hineinzukommen. Zunächst fand ich es anstrengend, die Namen und Beziehungen zwischen den Charakteren zu entwirren. Und wechselnden Erzählerstimmen stehe ich normalerweise eher skeptisch gegenüber.

Doch als erst einmal alles sortiert war, konnte ich mehr und mehr nachvollziehen, wieso das Buch viele  begeistert hat. Es ist warmherzig, lebensbejahend, unsentimental, schnoddrig, derb, melancholisch, witzig, ehrlich, fragend und weise. All die Puzzleteile setzen sich schließlich zu einem Puzzle des menschlichen Lebens zusammen. Die Männer können über das Wesentliche nicht oder nur in Andeutungen reden, doch wir, die Leser, dürfen ihre Gedanken belauschen. Und das ist große Literatur.

Anmerkungen

2001 wurde der Roman verfilmt.

Interessanterweise entspann sich ein Jahr nach der Veröffentlichung eine Debatte darüber, ob Swift sich bei seinem Plot in ungebührlicher Weise bei William Faulkners Buch As I lay Dying  (1930) bedient habe. Chris Blackhurst schrieb darüber im Independent.

Dieser Vorwurf wurde letztlich als haltlos verworfen. Wer dazu in die Tiefe gehen möchte, dem empfehle ich diesen Link.

Eine schöne Besprechung von Reiner Luyken gibt es in der ZEIT.

Alfred Hayes: My Face for the World to See (1958)

It was a party that had lasted too long; and tired of the voices, a little too animated, and the liquor, a little too available, and thinking it would be nice to be alone, thinking I’d escape, for a brief interval, those smiles which pinned you against the piano or those questions which trapped you wriggling in a chair, I went out to look at the ocean.

There it was, exactly as advertised, a dark and heavy swell, and far out the lights of some delayed ship moving slowly south, I stared at the water […] while behind me, from the brightly lit room with its bamboo bar and its bamboo furniture, the voices, detailing a triumph or recounting a joke, of those people who were not entirely strangers and not exactly friends, continued. It seemed silly to stay, tired as I was and the party dying; it seemed silly to go, with nothing home but an empty house.

So beginnt der beeindruckend gute Roman des 1985 verstorbenen

Alfred Hayes: My Face for the World to See (1958)

Zum Inhalt

Der Ich-Erzähler, ein desillusionierter und zynischer Drehbuchschreiber, verbringt jeweils vier Monate im Jahr in Hollywood, verdient damit richtig gut Geld und stellt dabei sicher, dass seine Ehefrau in New York ihn so lange in Ruhe lässt. Im Grunde verachtet er das System, von dem er selbst profitiert.

At this very moment, the town was full of people lying in bed thinking with an intense, an inexhaustible, an almost raging passion of becoming famous if they weren’t already famous, and even more famous if they were; or of becoming wealthy if they weren’t already wealthy, or wealthier if they were; or powerful if they weren’t powerful now, and more powerful if they already were. There were times when the intensity with which they wanted these things impressed me. There was even, at times, a certain legitimacy to their desires. But it seemed to me […] there was something finally ludicrous, finally unimpressive about even the people who had all the things so coveted by all the people who did not have them.  (S. 11/12)

Auf einer der Partys, auf die man halt so geht, wenn man im weitesten Sinne dazugehört, rettet er einer jungen Frau das Leben, die versucht hatte, sich – noch mit dem Martini-Glas in der Hand – im Meer umzubringen.

Ein paar Tage später ruft sie ihn an, bedankt sich, man verabredet sich zum Essen. Dabei wird ihm rasch klar, dass ihn die unterschwellig negative Ausstrahlung der eigentlich hübschen Frau abstößt, zumal sie kein Geheimnis daraus macht, dass sie wegen ihrer (Alkohol-)Probleme regelmäßig einen Therapeuten aufsucht. Dass er verheiratet ist, ist für sie kein nennenswertes Hindernis.

Die Frau ist einer der zahllosen jungen Frauen, die – vom Land kommend – überzeugt sind, dass sich in Hollywood ihr Traum, eine berühmte Schauspielerin zu werden, erfüllen wird. Doch die Jobangebote sind rarer als gedacht, die finanzielle Existenz immer gefährdet.

Er hingegen verdient gut, auch wenn er feststellen muss, dass er sich dadurch kein bisschen besser oder sicherer fühlt.

The fact that the money was made so easily, and in such impressive amounts, gave me the feeling that I’d been a sort of fool in the past about money, and made the long struggle to earn a respectable living slightly grotesque. But there was something odd about the money one made here. (S. 32)

Der Ich-Erzähler erzählt mit brutaler Ehrlichkeit, fast wie ein Wissenschaftler beobachtet er sein und ihr Treiben. Einmal lädt er sie ein, einen Stierkampf anzuschauen. Sie ist voller Vorfreude, macht sich hübsch und kann einen Moment lang ihren Traum leben, eine attraktive junge Frau im geselligen Treiben zu sein, doch als der Stierkampf beginnt und sie die Grausamkeit des Schauspiels nicht länger ausblenden kann, wird ihr schlecht. Doch statt zu gehen, will sie es aushalten, sich daran gewöhnen. Schließlich finden es alle anderen um sie herum spannend und jubeln und amüsieren sich wie auf einem Volksfest.

She wanted so much to be able to sit elegantly and attractively there in the stands, in her nice summer frock and the large straw hat she wore, and she wanted to be like a sort of minor, a diminutive queen among them, enjoying a popular spectacle, and she just couldn’t watch it. She felt wretched. (S. 72)

Die beiden lassen sich treiben, sie zieht bei ihm ein. Man tut, als habe man alles im Griff. Man ist ja erwachsen.

Dann kommt unerwartet ein Anruf seiner Frau. Ihr Vater ist gestorben. Am nächsten Montag möge er sie am Flughafen abholen.

Fazit

In nur 131 Seiten sehen wir die dunkle Seite Hollywoods oder anders gesagt unserer modernen Gesellschaft, in der sich ein Großteil der Anstrengungen darauf richtet, aus der Menge der Namenlosen herauszutreten und stattdessen attraktiv, reich und berühmt zu sein. Ganz egal, ob es dem einzelnen gut dabei geht oder ob man sich dabei zugrunde richtet. Gleichgültig auch, wie sehr das Verschwinden der Integrität die Beziehungen zu anderen korrumpiert.

Wow, was für ein Buch. Auf den ersten Seiten fühlte ich mich an die Sprache Chandlers erinnert.

I thought of my wife. She was at a distance. The distance was in itself beneficial. […] She was what she was: I was what I was. That, when you came down to it, was the most intolerable thing of all. If only she weren’t, now and then, what she was, always. If she’d let up a little or knock it off a little or hang it out for a good airing once in a little while. God, marriage. No: it wasn’t marriage. There wasn’t, even on close examination, any other available institution you could substitute. There seemed to be nothing but marriage, when you thought of it, my God, was that all there was? That, and raising a family. That, and earning a living. That, and calling the undertaker. (S. 13)

Ein Zyniker, der alles sieht und doch nicht erkennen kann, wie tief er selbst schon gesunken ist und in welche Katastrophe er da hineinschlittert.

Alfred Hayes hat übrigens selbst als Drehbuchschreiber in Hollywood gearbeitet, u. a. auch mit Marilyn Monroe. Vielleicht auch deshalb fühlt sich diese Geschichte so „dicht dran“ am Leben an.

Und auch wenn die beiden Hauptpersonen unsympathisch im Quadrat sind, fühlt man doch mit ihnen. In ihrer Sinnsuche und ihren Illusionen sind sie zeitlos.

Anmerkungen

Hier geht es lang zu zwei Besprechungen im Guardian:

Im Februar 2015 erscheint im Nagel und Kimche Verlag, der zu Hanser gehört, die Übersetzung von In Love, das ursprünglich 1953 erschien. Aber der ein oder andere wird vielleicht auch im Buchregal der Eltern oder Großeltern fündig, denn in den fünfziger und sechziger Jahren erschienen einige von Hayes Büchern auf Deutsch.

Hugh Walpole: Rogue Herries (1930)

A little boy, David Scott Herries, lay in a huge canopied bed, half awake and half asleep. He must be half awake because he knew where he was – he was in the bedroom of the inn with his sisters, Mary and Deborah; they were in the bed with him, half clothed like himself, fast sleeping. Mary’s plum naked arm lay against his cheek, and Deborah’s body was curled into the hollow of his back and her legs were all confused with his own. He liked that because he loved, nay, worshipped his sister Deborah.

So beginnt der Trumm von einem Buch (736 Seiten), der erste (!) von vier Bänden der opulenten Familiensaga des heute kaum noch gelesenen Schriftstellers

Hugh Walpole: Rogue Herries (1930)

Zum Inhalt

Um das Jahr 1730 bezieht die Familie Herries ein altes, vernachlässigtes Gutshaus im Lake District in der Nähe von Keswick, das sich seit Generationen in Familienbesitz befindet und ebenfalls Herries genannt wird. Da wären zum einen der Vater Francis Herries, ein schöner Mann und unverbesserlicher Frauenheld, ein Eigenbrötler und Tyrann, und seine ihn vergötternde Gattin Margaret, deren Ergebenheit ihm zuwider ist, auch wenn er ihre Mitgift wie selbstverständlich über die Jahre verschleudert.

Die beiden haben drei Kinder, Mary, Deborah und David. Nur zu dem Jungen hat Francis eine gute Beziehung und auch David liebt seinen wilden und unberechenbaren Vater von ganzem Herzen, obwohl sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Im Gefolge der Familie befindet sich aber – abgesehen von zwei Dienstboten – auch noch Alice Press, die aktuelle Geliebte von Francis. Für den äußeren Schein ist sie offiziell das Kindermädchen.

Als Alice anfängt, Francis auf die Nerven zu gehen, weil er so lange schon nicht mehr mit ihr geschlafen hat, verweist er sie kurzerhand des Hauses. Als sie sich weigert, die Familie zu verlassen, und es zu einem Treffen auf einem Jahrmarkt kommt, verkauft er sie – zumindest symbolisch – kurzerhand an den Meistbietenden. Spätestens da ist allen Leuten sowohl in Rosthwaite als auch in Keswick, wo die feineren Verwandten wohnen, klar, dass man Francis und seiner Familie besser aus dem Weg geht. Fortan heißt er nur noch Rogue Herries und ist ein gesellschaftlich Geächteter.

Allerdings könnte nichts ihm gleichgültiger sein. Francis ist sich selbst genug und erkundet die Täler und Berge und jeden Weg in seiner neuen Heimat, er verfällt der einzigartigen Landschaft des Lake District und weiß, dass er nie wieder woanders leben will.

Gleichzeitig prügelt er seinen Pferdeknecht blutig, treibt sich mit seinen Saufkumpanen herum und vernachlässigt seine Familie. Aber er weiß er um seine Natur, seine Verdorbenheit und ein immer wiederkehrender Traum erinnert ihn an seine Sehnsucht nach etwas Höherem, Reinem, nach etwas, dem sich seine starke Natur hingeben kann.

Und genau das passiert. Er sieht irgendwann die Frau, von der er sofort weiß, dass er sie bis zum Tode lieben wird, Miranda Starr. Diese Liebe wird sein Leben auf eine Art und Weise aus den Angeln heben, die weder er noch der Leser für möglich gehalten hätten.

So folgen wir nun den Geschicken der einzelnen Familienmitglieder und einiger Verwandter über viele Jahrzehnte, wobei die Fäden immer wieder zurück zu Francis, der Hauptfigur, führen, über den sein eigener Bruder sagt:

‚There is a wild loneliness in his spirit that no one can reach.‘ (S. 182)

Fazit

Eine für 1930 schon ganz und gar aus der Zeit gefallene Mischung aus Charles Dickens, Wuthering Heights und romantischem Schauer- und Abenteuerroman, der auch die geschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sichtbar macht. Irgendwann sind wir sogar mitten in den Wirren um Charles Edward Stuart (Bonnie Prince Charlie), der mit seinen jakobitischen Anhängern 1745 Carlisle besetzt und versucht, die Krone für die Stuarts zurückzuerobern.

Haarsträubende Wendungen, unmotivierte historische Einsprengsel und Unglaubwürdigkeiten, dazu ein Schreibstil, den selbst ihm wohlgesonnene Kritiker als „sloppy“ bezeichnen. Walpole war bekannt dafür, drauflos zu schreiben und seine Texte nicht mehr zu überarbeiten, weil er viel lieber schon die neuen Geschichten aufschrieb, die ihm im Kopf herumschwirrten.

Und als Leser wünscht man sich dringend, dass er gekürzt, gestrichen, gerafft hätte, es hätte dem Buch und seiner innewohnenden Spannung sicherlich gut getan. Und wie schrieb The Quivering Pen so nett: „and he never turned away an adjective begging to be written.“

Doch wäre das alles, hätte ich wohl kaum die über 700 Seiten durchgehalten. Was also hielt mich bei der  Stange und sorgte letztendlich eben doch für ein großes Lesevergnügen?

Walpole schreibt so herzhaft, dass es eine Freude ist:

With his long protruding chin his face had the shape of a yellowpointed shoe, and his eyebrows looked as though they were made of horsehair and fastenend on with glue. (S. 498)

Und die Beschreibung eines Fußballspiels, bei dem bis zu 200 kampfeslustige Männer aus unterschiedlichen Dörfern gegeneinander antreten, war so anschaulich und aufregend, als wäre Walpole selbst dabei gewesen. Ein Rezensent hat deshalb seine Geschichten als Gute-Nacht-Geschichten für Erwachsene bezeichnet, da Walpole im Grunde ein (mündlicher) Erzähler gewesen sei.

Ich las das Buch während unseres Urlaubs im Lake District. Mit Walpole, der von 1924 bis zu seinem Tod 1941 neben seiner Wohnung in London auch ein Haus sechs Meilen von Keswick entfernt besaß und sich in die Gegend verliebt hatte, fand ich einen Gesinnungsgenossen in der Faszination für diese Landschaft. Mit Rogue Herries ist Walpole eine Hommage an ein Fleckchen Erde gelungen, die diejenigen sofort nachvollziehen können, die ebenfalls von diesem Virus befallen sind.

Der heutige Blick auf die wunderbare Landschaft mit ihren pittoresken Orten wurde durch die im 18. Jahrhundert angesiedelte Handlung nach und nach mit einer weiteren Dimension versehen. Plötzlich sah ich in hinter den – gerade zur Hauptsaison überfüllten und beengten – Marktstädtchen und herausgeputzten Dörfern und den einsam gelegenen Farmen Armut, Menschenleere, Krankheiten, karge und schmutzige Lebensbedingungen hervorschimmern und statt Kino und Bootstouren geisterten mir Hundekämpfe, Wrestling, Hahnenkämpfe und Bullenbeißen durch den Kopf oder Märkte mit allerlei zwielichtigen Gestalten, fahrendem Volk und Aberglaube sowie brutale Klassenschranken.

It was not so much that English society in the middle of the eighteenth century was snobbish, as that the members of it simply felt that those who were not members of it were not human. It was easy enough. A man who was not a gentleman was hanged for stealing a sheep or whipped at the public stocks until the blood ran, or a child would be imprisoned in a jail too filthy for rats for stealing a loaf of bread, or a woman who was not a lady would suffer the grossest of public indignities for no reason other than that she answered her mistress impertinently. (S. 613)

Darüber hinaus ist Walpole tatsächlich ein großartiger Geschichtenerzähler. Er hat selbst gewusst, dass seine Art des Erzählens im Gegensatz zu der zu seiner Zeit modernen Literatur stand, was ihn nicht daran gehindert hat, mit Virginia Woolf, Henry James und anderen gut befreundet zu sein. Trotzdem hat er darauf beharrt, dass eine gute Geschichte eine sei, bei der der Leser unbedingt wissen wolle, wie es weitergeht. Und genau das hat er hier auch geschafft, trotz der Ausuferungen, Melodramatik und mancherlei Unwahrscheinlichkeiten.

Und: Ich glaube ihm seine wilden Geschichten, denn sie werden mir mit so viel Begeisterung erzählt und seine Charaktere sind – in der Welt dieses Romans – trotz allem in sich stimmig.

But the devil was always around the corner with a remarkable knowledge of each individual’s weakness. (S. 644)

Wir verstehen die Unterwürfigkeit Margaretes, der Frau von Herries, und genauso verstehen wir, warum ihn gerade das so abstößt.

It was the most aggravating thing that she could have said. It called up in its train a thousand stupidities, placidities, nervousnesses, follies, that had, in their time, driven him crazy with irritation. Never a mind of her own, always this maddening acquiscence and sentimental fear of him. He drew his hand away. (S. 55)

Walpole schildert Menschen so, wie sie sind, manchmal mit einem freundlichen Schuss Bosheit, aber immer mit viel Anteilnahme. Über Pomfret, einen der Brüder von Francis, heißt es:

He was sixty-seven years of age now, a tun of a man with a floating hulk of a belly, and he was lonely as perhaps were all men of sixty-seven. Only with horses and dogs and a drinking parson and a swearing friend or two, killing, hunting those animals that he yet so dearly loved, only thus might he for a driving hour cheat himself of his loneliness. (S. 263)

Ja, als ich auf Seite 736 angekommen war, war ich froh zu wissen, dass der zweite Ziegelstein aus der Herries-Serie Judith Paris bereits sicher im Urlaubsgepäck verstaut war.

Anmerkung

Hier geht’s lang zu dem Beitrag The Walpole Chronicle von Eric Robson auf BBC 4.

Grevel Lindop bringt es am Ende seiner fairen Besprechung auf den Punkt:

As for Herries, there will be places in these massive blocks of paper where everyone will want to skip. But Walpole’s ham-fisted, messy and eccentric attempt at the Great Lakeland Novel still deserves to be read. The episodes – by turns gracelessly ornate and bleakly brilliant – remain often weirdly enthralling and memorable, their sheer self-indulgence a guilty pleasure for the reader too. In the Herries novels, Walpole confessed, he had allowed himself to be, for the first time in his adult life, ‘what I really am – a little boy telling stories in the dormitory.’

Jackie Kay: Red Dust Road (2010)

Die autobiografische Rückschau der schottischen Lyrikerin und Schriftstellerin Jackie Kay beginnt mit den Sätzen:

Nicon Hilton Hotel, Abuja

Jonathan is suddenly there in the hotel corridor leading to the swimming-pool area. He’s sitting on a white plastic chair in a sad cafe. There’s a small counter with a coffee machine and some depressed-looking buns. He’s dressed all in white, a long white African dress, very ornately embroidered, like lace, and white trousers. He’s wearing black shoes. He’s wired up. My heart is racing. ‚Jonathan?‘ I say.

Es ist erstaunlich, wie viele Parallelen ihre Lebensgeschichte zu der von Jeanette Winterson aufweist. Auch Kay wurde als Baby adoptiert, wurde Schriftstellerin, ist lesbisch und begibt sich als Erwachsene auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern und verarbeitet dies in einem autobiografischen Roman.

Doch der Grundtenor ist ein ganz anderer als bei Winterson. Während Winterson um ihr seelisches Überleben in einem freudlosen Haushalt kämpfen muss, bei dem die Religion als Krücke und Schild gegen echte Gefühle herhalten muss, wächst Kay bei einem schottischen Kommunistenpaar auf, das keine Bedenken hat, 1959 und 1962 zwei Kinder zu adoptieren, die farbig sind.

Ihre leibliche Mutter Elizabeth, eine schottische Krankenschwester, lernt in Aberdeen einen postgraduate-Studenten aus Nigeria kennen, der dann später als Professor Karriere machen wird. Eine allein erziehende Mutter Anfang der sechziger Jahre in Schottland mit einem farbigen Kind – undenkbar, also wird das Baby zur Adoption freigegeben. Und Jackie, auf deren Geburtsurkunde eigentlich der Name Joy steht, kommt zu Eltern, die man sich nicht liebevoller, lebenslustiger und engagierter denken kann. Jackie Kays Geschichte veranschaulicht auf sehr warmherzige und humorvolle Art, wie viel Widerstandskraft und Kraft einem eine Familie geben kann, auf die man sich hundertprozentig verlassen kann, in der gern gesungen wird, in der das Materielle nicht an erster Stelle steht, in der viel gelacht wird, in der die Eltern sich auch nach 50 Jahren Ehe noch liebhaben und in der ein Fundament an Geborgenheit gelegt worden ist,  das Jackie auch in schwierigen Zeiten einen enormen Rückhalt bietet.

Ihr Buch ist nicht so theoretisch grundiert wie das von Winterson, sie ist gefühlsorientierter und steht dazu. Sie versteht selbst nicht genau, weshalb es ihr so wichtig ist, ihre leiblichen Eltern zu finden, da sie bei ihren Adoptiveltern wirklich zu Hause ist und nie etwas vermisst hat. Doch ihre Umwelt signalisiert ihr aufgrund ihrer Hautfarbe ja immer wieder, „that she doesn’t belong“. So ist diese Suche sicherlich auch eine Suche nach einem wichtigen Teil der eigenen Identität, der äußere Anlass ist hingegen ihre eigene Schwangerschaft.

Auf einer Reise durch Nigeria, auf der Fahrt in ihr väterliches Heimatdorf, wo sie sich niemandem zu erkennen gibt, wirkt sie zunächst fast ein wenig naiv und nimmt die alltäglichen Bedrohungen und Gefahren des dortigen Alltags nur sehr allmählich war.

Die Suche nach den leiblichen Eltern und die Bemühungen, anschließend so etwas wie einen Kontakt zu diesen völlig fremden Menschen aufzubauen, bilden den roten Faden des Buches. Besonders begeistert sind allerdings weder die Mutter noch der Vater in Nigeria, von ihrer leiblichen Tochter ausfindig gemacht zu werden. Beide haben ihren späteren Familien verschwiegen, dass es da noch eine erstgeborene Tochter gibt.

Und eine der Stellen, an denen es den Leser dann schüttelt, ist, als Jackie bei der einzigen Begegnung mit ihrem Vater Jonathan – sie ist da bereits 42 – ihm eine Frage stellt:

I ask him if he had ever thought about me at all over the years. ‚No,‘ he says. ‚No, of course not, not once. Why would I? It was a long time ago. It was in the past.‘ (S. 98)

Ihr Vater gehört inzwischen einer der zahlreichen fundamentalistischen evangelikalen Gruppierungen an, die es in Nigeria gibt, und die Begrüßung seiner erwachsenen Tochter im Hotel besteht darin, zwei Stunden über ihr zu beten, sie anzupredigen und anschließend von ihr zu erwarten, dass sie sich sofort bekehrt. Natürlich könne er niemandem von ihr erzählen, seine Gemeindemitglieder würden dann ihren Glauben verlieren.

Mit dem ihr eigenen sehr liebevollen Humor schreibt Kay, dass sie gar nicht gewusst habe, welche Macht sie besitze. Sie verurteilt ihren leiblichen Vater nicht, sondern schreibt:

Meeting  a birth parent stirs up such a strange mix of emotions; I wanted to fling my arms round Jonathan and run away from him at top speed. (S. 99)

Auch ihre leibliche Mutter hat Zuflucht in der Religion gesucht. Sie gehört inzwischen einer mormonischen Glaubensgemeinschaft an und ist überzeugt, dass Babys schon im Mutterleib danach riefen, adoptiert zu werden. Doch sind die wenigen Begegnungen mit ihr vor allem bedrückend. Sie leidet an Alzheimer und es ist traurig, wie die alte Dame eines Sonntags noch nicht einmal mehr den Weg zu ihrer Kirche findet und sowohl einen Friseur als auch einen Polizisten nach dem Weg fragt.

Fazit

Für den Aufbau des Buches sind die ständigen Wechsel der Zeitebenen typisch, die mir ziemlich auf die Nerven gingen. Und ich habe dann mühsam genug versucht, eine Chronologie der Ereignisse herzustellen. Allerdings hat dieses Mosaikstein-Prinzip zur Folge, dass sich das Thema Rassismus eben nicht kontinuierlich durch das Buch zieht, sondern seinen klar zugewiesenen Platz bekommt.

Das wiederum finde ich sehr souverän. Kay hat da einiges, schon als Kind, durchmachen müssen. Die für sie schlimmste Erfahrung war, als sie als junge Studentin in London zum ersten Mal von ihren schottischen Freunden besucht wurde und sie abends an einer U-Bahn-Station warteten und von einer Gruppe jugendlicher Idioten  angepöbelt und angegriffen wurden:

Rowena, my friend, and the youngest of us, only sixteen, intervenes, and one of them smashes her face. Her face is pouring with blood. I shout to the people on the platform. ‚Isn’t anyone going to help us?‘ A businessman, well dressed in a smart raincoat and with a leather case, standing next to another businessman, turns to me calmly and says: ‚No, we support them.‘ And his calm sentence is more chilling than the yobs breaking bottles on the platform. (S. 189)

Glücklicherweise kommen ihnen dann doch vier Männer zur Hilfe, die Schlimmeres verhindern. Bis die Polizei eintrifft, können die Täter jedoch unerkannt entkommen.

Das Buch hat ein wunderbares Ende, ein geradezu furios-fröhliches Ende. Doch was mich am meisten beeindruckt hat, ist, wie sie die Beziehung zu ihren alten Adoptiveltern feiert, egal ob sie mit ihnen durch das völlig verregnete Glen Coe fährt, mit ihnen in alten Urlaubserinnerungen schwelgt oder ihnen einfach nur zuhört. Ein Tochter-Eltern-Verhältnis, das sich kaum schöner denken und schon ein bisschen Panik durchscheinen lässt, weil sie sich irgendwann von ihnen wird verabschieden müssen.

I love hearing these stories, partly because they are familiar to me, and partly because I love the way they tell them in tandem, and both remember slightly different things. I envy the rare thing that my parents have, that they have shared over 50 years together and can keep each other’s memories; tend to them, like a lovely garden with freshly blooming broom. (S. 117)

Jackie Kay sagt selbst in einem Interview im Telegraph am 5. Juni 2010:

Red Dust Road, she says, ‚is a love letter to my parents‘.

Anmerkung

The Scotsman bringt es am 5. Juni 2010 auf den Punkt:

… the key to Kay is empathy. A story about an adopted person’s quest to find their birth parents could, I guess, easily veer into uninvolving self-obsession: in Red Dust Road, the opposite happens. It’s engrossing. Whether she’s dealing with her parents‘ easy comic banter as they remember past holidays with their children, or the desperately sad unravelling of Elizabeth’s mind, Kay follows the classic writer’s „show, don’t tell“ mantra to near-perfection. Red Dust Road may read as intimately as a friend talking to you in a cafe, but that’s only because, as one of Scotland’s finest short story writers, she knows exactly how to tell a tale to make it so involving in the first place.

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Helene und Wolfgang Beltracchi: Selbstporträt (2014)

‚Du musst das verstehen: Sonst haben wir hier bald mehr Katzen als Ratten, und wer soll dann die Katzen jagen?‘ So wollte meine Mutter es mir erklären. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: ‚Außerdem haben die Bauern bei uns das schon immer so gemacht.‘

Ich war fünf Jahre alt, und sommers wie winters saß ich vor dem Katzenloch im Deelentor unseres Vierständerhofes, meinem Beobachtungsposten. Von hier aus hatte ich einen geschützten Blick auf meine Welt: ein winziges Dorf im Weserbergland am Rande des Teutoburger Waldes. Den Rücken gegen das warme raue Holz gelehnt, wartete ich auf meine Katze Minke, die jeden Moment durch die Klappe kommen konnte, schaute auf den lehmigen Weg, der vom Wald in den Ort hinaufführte, und auf den Dorfanger. Dort also wurden all die kleinen Kätzchen ertränkt.

Mit dieser Kindheitserinnerung beginnt die fast 600 Seiten starke Autobiografie Selbstporträt des wohl bekanntesten Kunstfälschers Wolfgang Fischer, der später den Namen seiner Frau angenommen hat: Wolfgang Beltracchi.

Beltracchi (*1951) schildert seinen Weg, der in eher ärmlichen und provinziellen Verhältnissen begann – der Vater war Kirchenmaler, die Mutter Lehrerin – über Marokko bis nach Frankreich, wo er als reicher Mann und glücklicher Familienvater heimlich seiner kriminellen Tätigkeit nachgeht.

Seine ersten Zeichnungen sind Aktzeichnungen, die er aus den Büchern des Vaters kopiert und anschließend seinen Kameraden verkauft. Mit 15 gaukelt er den Eltern vor, er wolle zu Beginn der Sommerferien ein paar Tage mit seinen Freunden verbringen, in Wahrheit trampt er nach Barcelona – war doch Picasso dort kurze Zeit Schüler an der Kunstschule gewesen – und verdient sich zwischendurch mit Pflastermalerei das nötige Kleingeld. Erst zweieinhalb Monate später kehrt er zurück. Danach kann er dem Leben in Geilenkirchen nun gar nichts mehr abgewinnen.

1967 versucht ein alkoholkranker Cousin, den die Mutter aufgenommen hatte, ihn umzubringen. 1968 fliegt er vom Gymnasium. Er bewirbt sich an der Aachener Werkkunstschule, die ihn zunächst ablehnt, weil sie glaubt, dass die Bilder, die er zur Aufnahmeprüfung einreicht, nicht von ihm seien. Sie seien zu gut. Erst als ein ehemaliger Kunstlehrer die Echtheit bestätigt, wird er aufgenommen. Doch auch diese Ausbildung bricht er ab.

Es folgen Wanderjahre durch Wohngemeinschaften, zahlreiche Frauenbetten und Länder – oft ziemlich vom Drogenrausch benebelt. Als Hippie testet er die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten immer wieder aus und glaubt, die Regeln und Einschränkungen des Spießerlebens hinter sich gelassen zu haben.

… das Leben war ein großes Experiment. Es wurde diskutiert, gekifft, getanzt und gevögelt. Wir wollten bewusster leben, der Konsum von Drogen […] sollte der Bewusstseinserweiterung dienen. […] Meine Leidenschaften tendierten in jenen Jahren etwa zu dieser Reihenfolge: Frauen, Kiffen, Kunst, Kuchen, Musik, LSD.  (S. 64 und 65)

Nach zehn Monaten im Amsterdamer Drogensumpf kommt er zurück nach Deutschland. Der Kontakt zu seinem wesentlich älteren belgischen Schwager André, einem Zigaretten- und Kaffeeschmuggler, intensiviert sich. Die beiden klappern alle Trödel- und Antikmärkte ab, da Wolfgang offensichtlich Talent darin besitzt, Gemälde zu entdecken, die man mit Gewinn weiterverkaufen kann.

Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, Bilder mit Details aufzuhübschen, die ihren Marktwert steigern. Irgendwann kommen sie auf die Idee, dass Wolfgang auf alt getrimmte Bilder gleich selbst herstellen könne. Er wird keine Kopien malen, sondern Bilder im Stile der Künstler, beispielsweise Bilder, die als verschollen galten. Er selbst gibt die Anzahl der von ihm gefälschten Bilder mit ungefähr 300 an. André wird dann sein erster Hehler, der ihn auch darin unterstützt, eine umfangreiche Kunstbibliothek aufzubauen. Im Vor-Internet-Zeitalter unabdingbar für einen erfolgreichen Kunstfälscher.

Ein Jahr zuvor hatte ich ‚Die Kuh‘ für 5000 Mark nach Berlin an Heinz gegeben. Nun steigerte sich ihr Wert auf über 100.000 Dollar. 1987 wurde sie in München in der Galerie Harald Wolf ausgestellt und im selben Jahr bei Christie’s in London anonym versteigert; erst 2006 wurde sie, abermals bei Christie’s, wieder angeboten; inzwischen kostete sie etwa 650.000 Dollar. (S. 228)

Er konzentriert sich in seiner Tätigkeit vor allem auf Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Campendonk und Max Ernst.

Ohne mit der Wimper zu zucken, rechtfertigt Beltracchi noch im Nachhinein seine Entscheidung, Anfragen von Galeristen, die an echten Beltracchis interessiert waren, abzulehnen, mit seinem moralischen Empfinden:

Die Daseinsform eines werktätigen Malers, die damit verbunden gewesen wäre, stieß mich ab. An öffentlichem Erfolg war ich nicht sonderlich interessiert […] Warum hatte ich all die Jahre gegen gesellschaftliche Normen gelebt? Nur um mich jetzt für ein bisschen Erfolg und Anerkennung dem Mief zu unterwerfen? Ich kannte doch die Erfolgreichen, die bei jeder Vernissage ihre Show abzogen, den ‚Künstler‘ mimten, auf donnernden Applaus hofften; wenn sie einmal mit einer Rolle begonnen hatten, mussten sie sie immer weiterspielen. […] Für mich war es eine Frage der Moral, mich diesen Verlockungen zu widersetzen. Meine Ablehnung gründete auf einen Anarchismus, der vor allem gegen die Kunst-Gesellschaft und ihr Regelwerk gerichtet war. […] Mein Terror zielte darauf, die Aufrichtigkeitsillusion eines Publikums zu zerstören, das die Akteure dieses Kunstmarkt genannten Schmierentheaters würdigt. (S. 142 und 143)

So nimmt eine beispiellose Jahrzehnte lange und finanziell immer einträglichere Fälscher- und Betrügerkarriere ihren Anfang, die erst mit der Entlarvung 2010 und dem Prozess 2011 an ihr Ende kommt.

Daneben ist es der Rückblick eines Hippies, der von sich selbst sagt, dass die Geburt seines Sohnes Manuel alles verändert habe:

Nachdem ich fast zwei Jahrzehnte wie ein psychedelisches Karnickel durch Europa gehoppelt war, reiste ich jetzt seltener, verzichtete auf meine nächtlichen Abenteuer und lebte zurückgezogen auf dem Lande.

Und 1992 trifft er seine große Liebe Helene Beltracchi, die er ein Jahr später heiratet und die, wie auch der Komplize Otto Schulte-Kellinghaus, dafür zuständig war, Gutachten von Sachverständigen zu besorgen, um anschließend die Gemälde in den Kunstmarkt einzuschleusen zu können. In mehreren Kapiteln schildert sie die Geschichte aus ihrer Sicht.

Ich habe schon lange keine Autobiografie mit solchem Interesse gelesen. Stellte sich mir am Anfang noch die Frage, ob denn wenigstens hier alles seine Richtigkeit habe, war mir das überraschend schnell völlig egal. Schon allein die Schilderung der Jugendjahre hätte für mich die Lektüre gelohnt. Die Freude am Schlittschuhlaufen, die Langeweile in der Schule, der Unsinn, den man mit den Freunden macht. Beltracchi ist ein großartiger Erzähler.

Anfang der Sechziger spielt die folgende Szene:

Und es kam noch schlimmer: In diesem Sommer fiel uns auch die Kuh eines Bauern zum Opfer. Mein Freund Rainer hatte uns gesteckt, dass sein Vater eine Handfeuerwaffe besaß. Äußerst fasziniert, überredeten wir ihn, die Pistole zu einem unserer Treffen im Wald mitzubringen. Wir waren zu dritt; jeder wollte einmal auf die am Waldrand aufgestellten Flaschen zielen; in unserem Eifer war uns freilich nicht aufgefallen, dass sich dahinter eine Kuhweide befand. Erst als eine der Kühe laut muhend umfiel, merkten wir, was wir angestellt hatten. Die Kuh lag noch im Sterben, als der Bauer mit seinem Trecker über die Wiesen auf uns zugerast kam. Er hatte die Schüsse gehört. Wir: entgeistert vor der toten Kuh. Er: vom Sattel springend und mit der Mistgabel in der Hand auf uns zurennend. (S. 35/36)

Die Ausbruchversuche aus der Provinz, die Sehnsucht nach der weiten Welt. Die Verbitterung, die Wut, die man als Jugendlicher erlebt, wenn man – weil man in abgetragener Kleidung zum Tanzunterricht kommt – gedemütigt wird.

Mal hier, mal dort zupfte er (der Tanzlehrer) an den Probanden herum. Dann stand er vor mir. Verächtlich, vielleicht sogar leicht angewidert, als müsste er einen Misthaufen begutachten, wanderte sein Blick betont langsam von den zu großen Schuhen über den speckig glänzenden Anzugstoff an mir hoch und blieb schließlich an meinem Schlips hängen. Mit zielgerichtetem Griff riss er ihn nach unten und ließ ihn mir ins Gesicht zurückflitschen. Sekunden später lag er mit blutiger Nase auf dem Rücken, und der Tanzunterricht war für mich beendet. Bis heute kann ich keinen Walzer tanzen, und nie mehr in meinem Leben habe ich einen Schlips getragen. (S. 39)

Es ist ein tolles Buch mit dem Blick für die entscheidenden Szenen, mit natürlich wirkenden Dialogen, witzigen Passagen und vielen, vielen Geschichten; selbstverständlich auch inszeniert, welche Autobiografie wäre das nicht? Außerdem eine anrührende Liebesgeschichte. Er sieht Helene und weiß, diese Frau will er heiraten.

Heute liebe ich ihre grauen Strähnen genauso wie damals ihre blonden Haare, ihre dünner gewordene Haut, die mich ihr Inneres besser sehen lässt, ihre Augen, jetzt etwas müder, aber noch immer voll Liebe für mich, ihre Falten und Fältchen, die mich daran erinnern, dass unsere Liebe im Lauf der Zeit zwar größer geworden ist, die Zeit selbst aber kürzer wird, weil wir im Herbst unseres Lebens angekommen sind. (S. 276)

Da sich der Erzähler als Mensch zu erkennen gibt, zieht er natürlich meine Sympathie auf sich, sei es beim Tod seiner Mutter oder wenn er sich Sorgen um die Gesundheit seiner kleinen Tochter macht oder als er verrückt vor Sorge ist, als seine Frau an Brustkrebs erkrankt.

Genau diese Ich-Perspektive ist aber auch die – reizvolle – Falle, in die man als Leserin hineinzutappen droht. Leicht könnte man der Gefahr erliegen, mit dem Betrüger zu zittern, ob er wohl die Schmuggelware unentdeckt über die Grenze bringt, ob ein geplanter Coup gelingt oder nicht.

So ist das Buch auf altmodische Weise spannend und gleichzeitig lehrreich, sowohl was einzelne Künstler als auch den Kunstmarkt angeht. Ich weiß jetzt nicht nur, was es mit dem Loplop, Manzonis Künstlerscheiße und der Frage, wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, auf sich hat, sondern auch, dass jemand in manchmal nur wenigen Stunden ein Bild malen kann, für das er dann Hunderttausende Euro bekommt. Und dabei völlig ausblendet, dass er seinen gepflegten Lebensstil auf einem Weingut in Frankreich dadurch finanziert, dass er Menschen etwas andreht, was die nie im Leben hätten haben wollen.

Ein kreatives, manchmal dämliches, bis 1985 von Drogen vernebeltes und betrügerisches Leben mit vielen Reisen und Begegnungen. Eine schillernde Hauptfigur, ein Zocker, ein Liebender, außerordentlich begabt, intelligent, auch handwerklich unglaublich geschickt, gleichzeitig auch mit außerordentlich krimineller Energie und einem erstaunlich gering entwickelten Unrechtsbewusstsein ausgestattet.

Als einige Fachleute mehr über die Herkunft einzelner Bilder wissen wollten, beschließt er kurzerhand, der Legende, dass die Bilder aus der Sammlung der Großeltern seiner Frau stammten, Leben einzuhauchen. Sie besorgen sich Fotoapparate, Papier, Kleidung und Möbel aus den dreißiger Jahren und lichten Helene Beltracchi als ihre eigene Großmutter vor gefälschten Bildern ab.

Kein schlechtes Gewissen, sondern nachvollziehbarer Stolz auf die eigene Leistung erfüllte ihn, wenn sogar Angehörige von verstorbenen Malern seine Bilder als echt, ja als das beste Werk des Künstlers lobten. Noch während des Gerichtsprozesses 2011 macht er keinen Hehl daraus, dass sich sein schlechtes Gewissen, die Bilder gemalt zu haben, doch sehr in Grenzen halte. Das Einzige, was ihm vermutlich wirklich in Bezug auf seine Gesetzesübertretungen leid tut, dürfte die Tatsache sein, dass er sich und vor allem seine Frau damit ins Gefängnis gebracht hat.

Er gibt zu, dass er an seiner Fälschertätigkeit den Nervenkitzel genossen habe. Das Abenteuer. Den Reiz des Risikos, der sein Leben in einer dauernden Spannung hielt, die er heute durchaus vermisse. Auch die Gier der Händler hätte – zum Beispiel in den achtziger Jahren – sein Tun doch sehr erleichtert.

Die Händler gierten damals nach frischer Ware. Der Markt boomte. Alles, was ich produzierte, riss man mir praktisch aus den Händen. Die Händler trugen ihre Gemäldewünsche an Otto heran, als ob sie ein unerschöpfliches Reservoir witterten … (S. 229)

Er und seine Frau werden in dem Buch nicht müde, die Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter und zu dem Sohn Wolfgangs aus einer anderen Beziehung zu beschwören – das will ich auch gar nicht in Abrede stellen -, aber gab es nie einen Gedanken daran, was mit den Kindern passieren würde, wenn sie auffliegen? Dass der ganze Luxus, den man ihnen über die Jahre geboten hat, doch auf mehr als tönernen Füßen beruhte?

Also, ich höre schon Hollywood.

Anmerkungen

Liest man Zeitungsartikel zu dem weltweit Aufsehen erregenden Prozess, Interviews mit Beltracchi oder auch Rezensionen zu dieser Autobiografie, dann fällt auf, dass diese oft in Schwarzweiß-Malerei verfallen und überraschend emotional daherkommen. Gorris und Röbel beschimpfen ihn im Spiegel als größenwahnsinnigen Hippie-Arsch, der zur Reue ganz unfähig sei.

Andere werfen ihm vor, dass er immer noch nur seine eigene Vermarktung im Kopf habe – nicht nur die Autobiografie, nein auch noch die Briefe, die er sich mit seiner Frau im Gefängnis geschrieben hat, werfe dieser geschäftstüchtige Gauner nun auf den Markt. Und eine weichgespülte Dokumentation – pikanterweise vom Sohn des Verteidigers – gibt es auch schon.

Manchmal ist da der Neid auf die von den Beltracchis fröhlich genutzten Millionen und den edlen Lebensstil und eine heuchlerische Empörung deutlich herauszuhören. Ich bezweifle, dass sehr viele Menschen standhaft bleiben würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, auf illegale und persönlich befriedigende Weise steinreich zu werden.

Andere wiederum sehen in ihm trotz allem einen langhaarigen Sympathieträger, einen Schlawiner in Jeans, der es den geldgierigen Spekulanten am Kunstmarkt mal so richtig gezeigt habe, indem er die ganzen Sachverständigen, die seine Bilder als echt deklarierten, ziemlich alt aussehen ließ. Was auch erklärt, dass diverse Gutachter und Galeristen keinerlei Interesse daran hatten, im Prozess auszusagen.

Eine dritte Gruppe mäkelt und nörgelt, er sei doch gar kein Künstler und im Grunde völlig unkreativ, er habe nur Stile kopiert und nie etwas Eigenes und Originelles geschaffen. Beltracchi sagt allerdings, dass ihn die „verzweifelte Suche nach Originalität“ nie interessiert habe, er habe alles, was er habe ausdrücken wollen, in seinen Bildern mitteilen können.

Genau diese Widersprüchlichkeiten zeigen, wie facettenreich, begabt, spannend und frech dieser Mann ist. Das ändert nichts daran, dass seine Betrügereien illegal waren und der finanzielle Schaden, den er und seine Komplizen angerichtet haben, enorm ist.

Sicherlich hat Beltracchi auch recht, wenn er süffisant darauf hinweist, dass es wohl kaum sein könne, dass viele seiner Bilder eine von Fachleuten attestierte „Aura“ innehatten, von dieser nach seiner Entlarvung aber plötzlich nichts mehr zu spüren sei. Da habe die Aura wohl doch eher am Preisschild gehangen.

Don Charlwood: All the Green Year (1965)

The year I remember best from those days is 1929. This was the year I turned fourteen and went into the eighth grade; the year too that Grandfather McDonald became peculiar  and we moved to live with him in his house on the cliffs. It has stayed in my memory for various reasons, but chiefly for its fiasco at its end. I feel tempted to claim that each incident played its part in leading to our final disgrace, but this would hardly be true. The matter of riding to school on Perry Brothers‘ camel, for instance, had no link with later happenings at all, nor did Squid’s hypnotism, nor even, I suppose, the preservation of Eileen Johnston’s honour.

Mit diesen Sätzen beginnt das lesenswerte Buch All the Green Year (1965) des Australiers Don Charlwood (1915 – 2012).

Der Ich-Erzähler, der Jugendliche Charlie Reeve, lebt mit seiner Familie und dem Hund Gyp auf der Halbinsel Mornington im Städtchen Kananook südlich von Melbourne. Die Geschichte spielt 1929, dem Jahr, in dem Charlie 14 wird und seine Familie kurzfristig zu seinem Großvater in dessen altes und zugiges Haus auf den Klippen ziehen muss, da der alte Mann allmählich dement wird und nicht länger allein wohnen kann.

Charlie ist weder besonders abenteuerlustig noch rebelliert er. Er ist eher ein Tagträumer und versucht sich so gut wie möglich den Gegebenheiten anzupassen. Doch gerade dadurch gerät er immer wieder in schräge, komische und todtraurige Situationen.

Als „typischer“ Junge ist er auch nicht besonders redselig. Mit seinem Freund Fred Johnston, genannt Johnno, versteht er sich ohne viele Worte, stattdessen verbringen sie wie selbstverständlich die Schulpausen zusammen und gehen gemeinsam schwimmen. Für Mädchen hat Charlie noch nicht viel übrig und so ist er wenig begeistert, als Johnno ihn bittet, ihn auf einen Ball zu begleiten.

‚I’ve got to go to a dance,‘ he told me.
‚Why?‘ It was hard to imagine anything more distasteful.
‚My old man says I have to take Eileen. It’s at the Mechanics‘ next Wednesday.‘
I said, ‚She’s older than you are, why can’t she take herself?‘
‚I don’t know,‘ he said, shaking his head. ‚It’s got to do with her – her honour.‘
‚Her what?‘
‚Her honour.‘
This was something I had never heard mentioned outside poetry books. (S. 40)

Der Ball endet für die beiden in einer handfesten Prügelei und mit einer tief beleidigten Schwester. Und die Szene, in der Charlie sich eher unfreiwillig auf einem Kamel wiederfindet, ist zum Quietschen komisch, jedenfalls für die Leser, für Charlie wohl weniger.

This journey through the town was one of the most depressing events of my childhood. Several tradespeople began pursuing us on foot, and the camel, by some fearful instinct, headed towards the school… (S. 76)

Erst im Rückblick erkennt der gereifte Erzähler, dass dieses Jahr auch seine komischen Momente hatte. Überhaupt ist Charlie ein lakonischer Erzähler, der mit genauem Blick die Tücken des Erwachsenwerdens benennt, sie aber als schicksalsgegeben hinnimmt. Was sollte man sonst auch tun?

I heard my father’s voice droning on. It occured to me that the worst of parents was the misery they caused by worrying about the future. Why were they like this? Why did they have families if it was all worry? I would never get married, that was certain. Imagine being tied to a woman forever, and  for ever worrying about money. (S. 26)

Charlie bekommt mehr mit, als den Erwachsenen lieb sein dürfte. Als eine erbschleicherische Tante ankommt, registriert er genau, wie seine Eltern reagieren.

‚It’s you, Ruby,‘ exclaimed my mother. ‚This is a surprise!‘
I heard my father murmur, ‚It’s a damn‘ shock.‘ (S. 84)

Der Nachbarsjunge mit dem Spitznamen Squid sorgt ebenfalls mit schöner Regelmäßigkeit und Überzeugungskraft dafür, dass Charlie sich in blöden Situationen wiederfindet, für die er auch noch die Schuld bekommt, denn Squid ist viel gerissener als er und außerdem noch der Liebling des Lehrers Moloney.

Überhaupt der Lehrer Moloney. Er gehört zu den grauenhaftesten Lehrergestalten, die mir bisher in der Literatur begegnet sind. Sadistisch, verblendet und voller Begeisterung dabei, wenn er seine Lieblingsopfer demütigen kann.

Er trägt auch die Schuld daran, dass die Geschichte allmählich mehr wird als „nur“ eine herrlich geschriebene Kindheitserinnerung. Er läutet letztlich für Charlie und seinen Freund Johnno das Ende der Kindheit ein, und zwar mit dramatischen Folgen.

I couldn’t answer. In my ears was the crunching of Moloney’s glasses, a sound I can hear yet. To think of it and of the next twenty-four hours is to be a boy again. (S. 207)

Fazit

Grandios, wie hier die Atmosphäre einer Kindheit eingefangen wird. Mit ihren Schönheiten, dem Zusammenhalt echter Freunde, der Natur, den Abenteuern. Mit ihren witzigen und schrägen Augenblicken.

Mit ihren Gefahren, ihrem Schrecken, ihrer Hilflosigkeit und ihrer Einsamkeit, wenn man zwar ein „intaktes“ Elternhaus hat, aber im Grunde einem doch keiner zuhört, wenn es darauf ankäme, ja geradezu lebenswichtig wäre.

Gehört unbedingt übersetzt.

Anmerkungen

Diese Buchvorstellung wäre unvollständig ohne ein großes „Thank you, Kim“.

Kim Forrester hatte auf ihrem Blog Reading Matters den Imprint Text Classics vorgestellt, der sich zum Ziel gesetzt hat, australische Literaturschätze zu bewahren und in einer ansprechenden Taschenbuchausgabe neu auf den Markt zu bringen. Um den Verlag bekannter zu machen, durfte man sich ein Buch auf der Webseite des Verlags aussuchen, das Kim dann für den fröhlichen Gewinner bestellen würde. Und: Wie schön, kurze Zeit später erhielt ich eine nette Mail mit der Gewinnbenachrichtigung. Und was soll ich sagen, aus diesem Verlag sind bereits drei weitere Bücher hier eingezogen und diverse stehen noch auf der Wunschliste.

Hier findet man einen informativen Nachruf auf Don Charlwood von Michael McGirr.

Jane Austen: Emma (1815)

Emma Woodhouse, handsome, clever, and rich, with a comfortable home and happy disposition, seemed to unite some of the best blessings of existence, and had lived nearly twenty-one years in the world with very little to distress or vex her.

So beginnt Emma, einer der bekanntesten Romane der englischen Literaturgeschichte.

Mit der für Austen typischen spitzen Zunge wird uns die Hauptperson gleich zu Beginn als eine junge Frau vorgestellt, die von zwei Gefahren bedroht sei:

The real evils indeed of Emma’s situation were the power of having rather too much her own way, and a disposition to think a little too well of herself; these were the disadvantages which threatened alloy to her many enjoyments. (S. 2 der schönen, in dunkelgrünem Leinen gebundenen Ausgabe der Everyman’s Library)

Emma, eine attraktive junge Frau, von ihrem verwitweten und wohlhabenden Vater verwöhnt, von einer intelligenten, aber vermutlich zu nachgiebigen Gouvernante erzogen, findet es selbstverständlich, bewundert zu werden und stets ihren Willen zu bekommen. In dünkelhafter Überheblichkeit weiß sie genau, was für alle anderen richtig ist. Sie macht nun die Bekanntschaft der 17-jährigen Harriet.

Harriet ist – ein enormer Makel in der damaligen Gesellschaft – unehelich geboren und niemand weiß, wer ihre Eltern sind. Sie ist ein wenig naiv und ihre Schulbildung und ihr Intellekt lassen zu wünschen übrig. Doch sie ist gutherzig, bescheiden und von Herzen dankbar für die Aufmerksamkeit, mit der sie von Emma bedacht wird.

Für Emma ist sonnenklar, dass ihre junge Freundin von einem „gentleman“ abstamme und viel zu gut für den jungen Farmer Robert Martin ist, zu dem sich Harriet hingezogen fühlt. Emma nimmt kein Blatt vor den Mund:

It would be a degradation. (S. 60)

Emma hat keine Skrupel, ihren Einfluss auf Harriet geltend zu machen, und erreicht tatsächlich, dass Harriet den Heiratsantrag Martins ablehnt und sich allmählich Hoffnungen auf den gesellschaftlich höher stehenden Pfarrer Mr. Elton macht. Und so nehmen die Verwicklungen ihren Lauf.

Emma muss dabei erkennen, dass sie – die sich so viel auf ihre Menschenkenntnis eingebildet hatte – nahezu alle ihre Freunde missverstanden und Motive und Verhaltensweisen falsch gedeutet hat. Und besonders Harriet ist die Leidtragende dieser Selbstüberschätzung und der daraus resultierenden Ratschläge.

With insufferable vanity had she believed herself in the secret of everybody’s feelings; with unpardonable arrogance proposed to arrange everybody’s destiny. She was proved to have been universally mistaken; and she had not quite done nothing – for she had done mischief. (S. 423)

Emma durchläuft einen charakterlichen Bildungsprozess, an deren Ende auch sie reif genug ist, zu erkennen, wer der richtige Partner für sie sein wird. Bei der damaligen Rolle der Frau war eine Eheschließung sicherlich von ganz anderer Bedeutung als heute, auch wenn Emma als wohlhabende Erbin unter keinem existenziellem Druck stand, unbedingt heiraten zu müssen.

Fazit: Unbedingt lesenswert

Austen wäre allerdings nicht Austen, wenn wir hier „nur“ einen gut konstruierten Liebesroman mit diversen Verwicklungen und Happy End-Garantie vor uns hätten.

Die Autorin ist eine Meisterin der Figurenzeichnung. Zwei Seiten genügen und man hat den Eindruck, mit den Figuren im selben Raum zu sitzen. Jede der Personen hat ihre eigene unverwechselbare Stimme. Man denke nur an die freundliche, aber einfältig-geschwätzige Miss Bates oder die snobistisch-plumpe Mrs Hawkins. Austens Dialoge, die wie mit einem Rekorder aufgezeichnet wirken, veranschaulichen nicht nur die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern helfen dem Leser die Distanz von 200 Jahren nahezu mühelos zu überspringen.

Austen ist darüber hinaus auch die erste englischsprachige Autorin, die das Mittel der erlebten Rede unglaublich effektvoll einzusetzen verstand. Man hört ihren Protagonistinnen förmlich beim Denken zu.

Außerdem ist Austens Blick auf die menschliche Natur klar, unbestechlich und von manchmal beißender Ironie, auch wenn die grundlegenden Werte der damaligen Gesellschaft, wie die ungleiche Besitzverteilung, im Wesentlichen nicht in Frage gestellt werden. Als sich herausstellt, dass Harriets Vater „nur“ ein Kaufmann ist, muss Emma sich eingestehen:

The stain of illegitimacy, unbleached by nobility or wealth, would have been a stain indeed. (S. 493)

Dann wieder ist Austen überraschend modern: Die „Moral“, dass nur intellektuell ebenbürtige Partner eine glückliche Ehe führen können, war damals sicherlich noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Und in einem Punkt finde ich Austen nicht nur modern, sondern geradezu zeitlos: Ihre Protagonisten plädieren für so etwas wie „elegance of mind“, einen taktvollen, höflichen Umgangston, der von Respekt geprägt ist und sich jeder Distanzlosigkeit verweigert.  Man spielt sich nicht auf und vermeidet alles Prahlen und Protzen. Man stellt einen anderen nicht bloß und macht sich nicht lustig über die, die weniger Geld oder weniger Geist haben. Und da wo es möglich ist, bietet man nachbarschaftliche Hilfe an und unterstützt die Armen, ohne sie zu beschämen.

Anmerkungen

Wer möchte, kann sich hier den Roman vorlesen lassen.

Und die passende Sekundärliteratur gibt es auch: die Biografie von Christian Grawe mit dem hübschen Titel Darling Jane.

R. Goscinny & A. Uderzo: Asterix in Britain

A pirate ship is sailing cautiously along the Mare Britannicum, the channel separating Britain from the continent.

So beginnt der achte Band der berühmten Comic-Reihe um den kleinen Gallier Asterix, die 1959 von Autor Rene Goscinny (1926–1977) und Zeichner Albert Uderzo (*1927) geschaffen wurde. In über 100 Sprachen wurde der Comic bisher übersetzt.

Mein Mann ist seit Jahren darum bemüht, meinen literarischen Horizont zu erweitern, so bekam ich z. B. von ihm Die Elenden von Victor Hugo oder Therese Raquin von Emile Zola geschenkt. Man sieht, nicht unbedingt erheiternde Lektüre. Und dann zum letzten Geburtstag ein weiterer Versuch, mir einen französischen Klassiker nahezubringen: Asterix. Da ich den Monate lang unbeachtet hier liegen ließ, stieß er jetzt eine Drohung aus, auf die ich notgedrungen reagieren musste. Wenn ich nicht endlich diese eklatante Bildungslücke schließe, würde er mir keine Bücher mehr schenken. Also gab ich klein bei und las den ersten Asterix meines Lebens. Der Name „Asterix“ leitet sich übrigens von dem typografischen Zeichen Asterisk ab (griech. für Sternchen) und der Name „Obelix“ möglicherweise von dem typografischen Zeichen für das Kreuz.

Die Veralberung der Briten, ihres nebligen Wetters und ihrer angeblichen Vorlieben für Minze, Rasenpflege und Rugby ist auch für Comic-Analphabeten reizend. Und ich weiß jetzt endlich, wie der Tee wirklich nach England gekommen ist, denn bevor Asterix und Obelix das schmackhafte Kraut auf die Insel brachten, haben die Engländer immer nur „a cup of hot water with a spot of milk“ getrunken. Den ganzen Schlamassel mit den Römern haben sich die Briten auch nur dadurch eingebrockt, dass sie sämtliche Kampfhandlungen um fünf Uhr nachmittags unterbrochen haben.

Und angeregt von Philea’s Blog habe ich schon mal damit begonnen, Lesezeichen zu falten, denn – egal, wie viele Lesezeichen ich schon gekauft habe – immer wenn ich eins brauchte, waren sie allesamt unauffindbar. Damit kann ich doch dem nächsten Geburtstag wieder ganz gelassen entgegensehen.

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Ethel Lina White: The Lady Vanishes (1936)

The day before the disaster, Iris Carr had her first premonition of danger. She was used to the protection of a crowd, whom – with unconscious flattery – she called ‚her friends“. An attractive orphan of independent means, she had been surrounded always with clumps of people. They thought for her – or rather, she accepted their opinions, and they shouted for her – since her voice was rather too low in register for mass social intercourse.

So beginnt ein lesenswerter kleiner Roman (218 Seiten), der mit dem Etikett „Kriminalroman“ nur unzureichend beschrieben wäre:

Ethel Lina White: The Lady Vanishes (1936), ursprünglich unter dem Titel The Wheel Spins veröffentlicht

Das Buch weist einige Parallelen mit Rebecca von Daphne du Maurier auf. Nicht nur sind die beiden Bücher in den dreißiger Jahren erschienen und von Hitchcock verfilmt worden (deshalb der neue Titel), beide weisen auch auf interessante und durchaus beunruhigende Fragestellungen hin.

Iris Carr ist zu Beginn keineswegs eine Protagonistin, die sofort das Herz des Lesers gewinnt. Sie ist Mitläuferin in einer unbekümmerten und finanziell sorglosen Horde junger Briten, die irgendwo auf dem Kontinent in Osteuropa ihren Urlaub verbringen und allen anderen Gästen durch ihre Arroganz und Rücksichtslosigkeit gehörig auf die Nerven fallen. Ein Gruppen-Phänomen, das man bis heute beobachten kann:

The crowd had gloried in its unpopularity, which seemed to it a sign of superiority. It frequently remarked in complacent voices, ‚We’re not popular with these people,‘ or ‚They don’t really like us.‘ Under the influence of its mass-hypnotism, Iris wanted no other label. (S. 22 der Taschenbuchausgabe)

Nach einem Streit mit einigen ihrer ‚Freunde‘ beschließt Iris, die Heimreise erst zwei Tage später als die anderen anzutreten. An ihrem letzten Tag jedoch verläuft sie sich in den Bergen und ist das erste Mal auf sich allein gestellt, eine ganz ungewohnte Erfahrung für sie.

Doch das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was sie auf der ersten Etappe der Heimreise, der langen Zugfahrt bis Triest, durchmachen muss. Geschwächt durch einen Hitzschlag schafft sie es erst in der letzten Minute, überhaupt noch in ein Abteil zu gelangen. Dort herrscht eine frostige Stimmung, nur eine britischen Gouvernante in mittlerem Alter kümmert sich ein bisschen um die junge Frau und gemeinsam gehen sie zum Tee ins Zugrestaurant. Zwar redet Winifred Froy zu viel, doch ist sie dabei hilfsbereit und aufmerksam. Sie gibt Iris ein paar Aspirin gegen ihre Kopfschmerzen und Iris ist froh, ein wenig schlafen zu können.

Doch als Iris aufwacht, sind Miss Froy und ihr Gepäck wie vom Erdboden verschwunden. Iris, das haben die ersten Kapitel ja deutlich gemacht, ist eigentlich niemand, der sich allzu viele Gedanken um andere Menschen macht, doch ihre zunächst nachlässige Suche nach Miss Froy steigert sich allmählich zu ernstlicher Besorgnis, Panik, ja fast Hysterie, und zwar vor allem deshalb, weil außer ihr angeblich niemand die kleine unauffällige Dame im Tweedkostüm gesehen hat.

Und so wird die Sorge um das Verschwinden der Frau eng mit der Frage verknüpft, ob Iris auf ihrer eigenen Wahrnehmung beharrt. Oder soll sie nachgeben und den Einflüsterungen Glauben schenken, die ihr einreden wollen, dass sie durch den Sonnenstich ein bisschen durcheinander sei und phantasiert habe? Hätte sie sich Miss Froy nur eingebildet, könnte sie ihrer eigenen Wahrnehmung nie wieder trauen und müsste Angst haben, verrückt zu werden. (Man denke an die Konformitätsstudien von Solomon Asch.)

Gleichzeitig erfahren wir auch, warum einige der anderen Mitreisenden verneinen, je Miss Froy gesehen zu haben. Was steht uns näher, das Wohl einer völlig Unbekannten oder unsere eigenen Sorgen und die potentiellen Unannehmlichkeiten, wenn man sich in fremde Angelegenheiten mischt?

Hier haben wir es nicht mehr ausschließlich mit einem netten kleinen cozy mystery zu tun, zwar sind die Schurken noch arg holzschnittartig, doch die Untertöne sind zu dunkel, zu ernsthaft und der Leser spürt, es hätte tatsächlich alles auch böse ausgehen können. Das Happy End ist nur noch Zufall.

Von meiner Seite eine klare Empfehlung für eine Autorin, die laut Wikipedia in den dreißiger und vierziger Jahren zu den bekanntesten Crime Writers in Großbritannien und Amerika gehörte. Und wer Interesse an der Hitchcock-Verfilmung hat, bitte hier entlang.

Peter Braun: Von Blechtrommlern und Nestbeschmutzern (2010)

Randbemerkung in einem Schulbuch, eingetragen im Sommer 1934: ‚Leck mich am Arsch, Faschisten-Häuptling.‘ Der Schüler ist sechzehn, der das schreibt. ‚Tod den Braunen.‘ Sein Schulweg ist längst nicht mehr sicher. Jungnazis schlägern in den Straßen von Köln. Sie verprügeln gleichaltrige ‚Gesinnungslumpen‘, besonders gern die kirchennahen, zu denen der Schüler gehört.

So beginnt das erste Kapitel – zu Heinrich Böll – in der lesenswerten Einführung in die deutschsprachige Nachkriegsliteratur von Peter Braun, die wohl vor allem für junge Leser gedacht ist; Von Blechtrommlern und Nestbeschmutzern: Deutsche Literaturgeschichte(n) nach 1945 (2010)

Peter Braun stellt sich auf seiner Homepage folgendermaßen vor: „gelernter Kfz-Mechaniker, arbeitet nach seinem Studium der Zahnmedizin als Publizist und freier Journalist.“ Kennt jemand einen kürzeren Lebenslauf?  Und diese knappe, sofort auf den Punkt kommende Sprache zeichnet auch seine Einladung zum Entdecken der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg aus.

Insgesamt fünfzehn Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden näher beleuchtet, und zwar in enger Verzahnung von Biografie, ihren wichtigsten Werken und der gesellschaftlich-politischen Großwetterlage. Das liest sich flott, durchaus zum Widerspruch anregend. Ich vermisste z. B. Elias Canetti, der immerhin 1981 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die Lyrik wird nur gestreift und Nelly Sachs gar nicht erwähnt (Nobelpreis 1966). Erich Kästner wird nur als Autor von Kinderbüchern und Lyriker vorgestellt. Kein Wort über seine Romane für Erwachsene. Leider werden auch keine Quellen angegeben.

Aber der herrlich unakademische, d. h. überaus lesbare Stil und die Fülle an Informationen machen das wett und vor allem eins: Lust, sofort mindestens zehn der genannten Romane zu lesen oder wiederzulesen.

Mein Neffe ist vier, also doch noch ein wenig zu jung für das Buch, aber egal, ich habe Brauns Band Von Taugenichts bis Steppenwolf schon neben mir liegen.

… viele Bücher der Weltliteratur wurden irgendwo, irgendwann von irgendwem untersagt. Das wohl erstaunlichste Buchverbot: 1998, Kalifornien. Zwei Schulen verwehrten ihren Schülern das Märchen Little Red Riding Hood, das Rotkäppchen der Gebrüder Grimm. Begründung: Im Korb mit Geschenken, den Rotkäppchen zur Großmutter trägt, liegt eine Flasche Wein. Dies würde die Schüler zum Trinken verleiten. (S. 53)

Und noch eine völlig irrelevante Fußnote meinerseits: Im Kapitel über Thomas Bernhard wird Hedwig Stavianicek nicht erwähnt, die der Dichter als seinen „Lebensmenschen“ bezeichnete, dem er buchstäblich alles verdanke. Dieser Begriff geht angeblich auf Goethe zurück, dort noch in der Bedeutung „Mensch des Lebensgenusses“. 2008 dann wurde „Lebensmensch“ in Österreich zum Wort des Jahres. „Dies war eine Folge seines hohen Verbreitungsgrades im Oktober 2008, als Stefan Petzner den kurz zuvor tödlich verunglückten Jörg Haider in den Medien unter Tränen als seinen „Lebensmenschen“ bezeichnet hatte.“ (Wikipedia) Das hat Bernhard nicht verdient …

Peter Braun hat sich in Von Schatzinseln und weißen Walen (2011) auch der klassischen Abenteuerliteratur angenommen.

Vea Kaiser: Blasmusikpop (2012)

Alle Holzfäller schworen, sie hätten jenen Stammrutsch, der Johannes Gerlitzen zu Sommerbeginn 1959 die Schulter ausrenkte und den rechten Arm brach, nicht kommen sehen. Zu Johannes‘ Glück waren es nur fünf gefällte Fichten – Äste und Zweige waren bereits abgeschlagen -, die so schwer auf dem feuchten Waldweg lasteten, dass dieser abrutschte.

So beginnt das aberwitzig-gute Romandebüt Blasmusikpop von Vea Kaiser, die bei Erscheinen des Buches 23 (!) Jahre alt war.

Zum Inhalt

Johannes Gerlitzen wird nun also von den anderen Männern nach Hause gebracht, mit dem ortstypischen Starrsinn lehnt er es ab, einen Arzt aus der Stadt kommen zu lassen. Unter Zuhilfenahme einer kompletten Schnapsflasche wird ihm die Schulter eingerenkt und der Arm geschient. Dabei geraten die Männer in Streit.

Erst als Elisabeth [die Frau Johannes] einen Kübel Brunnenwasser über ihnen ausgoss, ließen sie voneinander ab. Seit sie Kinder waren, ging das so, und Elisabeth hatte, da sie unmittelbar neben den Ötschs wohnten, immer einen Kübel kalten Wassers parat. Am Gartenzaun standen fünf davon. (S. 12)

Johannes ist auf längere Zeit nicht in der Lage, seiner Arbeit als Holzschnitzer nachzugehen und vertieft sich stattdessen in die Bestände der kleinen Gemeindebibliothek in seinem abgelegenen Bergdorf in den Alpen. Diese Lektüre hat ungeahnte Folgen: Er findet seine große Leidenschaft, die Wissenschaft, und beschließt, Frau und Kind zurückzulassen, in die Hauptstadt zu reisen und dort Doktor zu werden.

Für die Dorfbewohner, die ihn davon abhalten wollen, sich in die feindliche Welt der „Hochgeschissnen“ hinauszuwagen, steht fest: Johannes ist verrückt geworden. Doch nichts kann ihn umstimmen, und so marschiert er einfach mal los.

Nun kann eine furiose Familien- und Dorfgeschichte über drei Generationen ihren Lauf nehmen, über die ich gar nichts weiter verraten möchte, weil ich jeden beneide, der diese Fülle an Geschichten, Lebensfreude, Menschenfreundlichkeit, eigenwilligen Figuren und unbekümmerter Situationskomik noch vor sich hat.

Zunächst befürchtete ich, dass das Ganze wie eine hübsche Seifenblase nicht wirklich für fast 500 Seiten reichen und sich in einer launigen Dorfchronik  erschöpfen würde, die über die wenigen traurigen Stellen rasch und nicht wirklich überzeugend hinweg huschte. Auch die quasi-wissenschaftlichen Exkurse des Enkels von Johannes zur Geschichte St. Peters fand ich arg erschöpfend. Dieser hat sich seinen Helden Herodot zum Vorbild genommen, um das Leben der „Bergbarbaren“, wie er seine Mitbürger freundlich-spöttisch nennt, zu erforschen.

Aber dann passiert das Gegenteil: Die lange Vorgeschichte passt am Ende wunderbar zu der Geschichte des Enkels, der seine liebe Not hat, mit seiner Herkunft aus dem Dorf der Barbaren zurande zu kommen; einem Dorf, das sich jedem Kontakt mit höherer Schulbildung, Hochsprache und Zivilisation so weit wie möglich entzieht und seine eigenen Regeln und Gepflogenheiten hat. Und das Ende des Buches ist so köstlich, dass ich selbst als kompletter Fußballmuffel kurz davor war, mein Herz für den Fußball zu entdecken.

Johannes, der Enkel, durchlebt seinen ganz eigenen Bildungsroman und er zeigt, dass wir erst dann sinnvoll in die Zukunft gehen können, wenn wir Frieden mit unserer Herkunft geschlossen haben, vielleicht sogar die Blindheit ablegen können, mit der wir diese bisher betrachtet haben.

Im Gegensatz zu Sigrid Löffler, die dem Buch eine naive Feier des Hinterwäldlertums unterstellt, halte ich den Roman für eine anregende Auseinandersetzung mit der Frage, was Provinz und Heimat für uns bedeuten. Sigrid Löffler schreibt:

Vea Kaiser ist eine opulente Fabuliererin; sie schwelgt in skurrilen Details und kann sich gar nicht genug tun, die Schrullen der kauzigen Dörfler genüsslich und liebevoll auszumalen. Sie ist auch eine begnadete Ausblenderin großer Realitätsbereiche, die ihr nicht ins Harmonisierungskonzept passen. Ihr positives, gänzlich unproblematisches Heimatbild lässt sie sich nicht trüben, auch nicht dadurch, dass ihre Dörfler alle Erscheinungsformen der urbanen Moderne ablehnen. Eine kritische oder auch nur ironische Distanz der Erzählerin zur Zivilisations- und Bildungsfeindlichkeit der Dörfler ist nirgends bemerkbar. Im Gegenteil. Es herrscht ein wohliger Ton heiteren und behaglichen Einverständnisses mit jedem noch so plumpen Zeichen der demonstrativen Rückständigkeit der Dörfler. (Kulturradio vom rbb, 13. August 2012)

Als Beispiel für die Tumbheit der Dorfbewohner führt Löffler ihre angebliche Technikfeindlichkeit an, ihre Ignoranz gegenüber Internet, Facebook und Handys. Sie hat dabei leider übersehen, dass gerade Johannes, der einzige Gymnasiast, der Verehrer Herodots, der Anhänger der „Zivilisation“ in diese Techniken erst durch seine neugewonnenen Freunde im Dorf eingeweiht werden muss.

Überhaupt ist gerade das eine der Stärken des Buches, dass Kaiser Schwarzweiß-Malerei vermeidet. So wenig wie sie das Misstrauen der Dorfbewohner gegenüber der Welt da draußen verschweigt, so offen bleibt am Ende auch, ob die nun denkbare Öffnung z. B. gegenüber dem Tourismus nun wirklich das Gelbe vom Ei sein wird. Und Löfflers Vorwurf der Ironiefreiheit lässt mich zweifeln, ob wir überhaupt das gleiche Buch gelesen haben.

Viel eher könnte man an Kleinigkeiten herummäkeln, am Titel, an sprachlichen Patzern wie „senile Altersbettflucht“ oder Metaphern, die wiederholt werden, oder daran, dass Simona, die im letzten Teil des Romans eine entscheidende Rolle spielt, ein bisschen zusammenkonstruiert wirkt. Aber ehrlich gesagt, das ist völlig unerheblich, ich war nach den 479 Seiten enttäuscht, dass der Roman schon zu Ende war, und wäre auch noch die nächsten dreißig Jahre den Leuten in St. Peter am Anger treu geblieben.

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Alexandre Dumas: Die Kameliendame (OA 1848)

Ich bin der Ansicht, daß man Gestalten erst dann zu erschaffen vermag, wenn man die Menschen eingehend erforscht hat, wie man ja auch eine Sprache erst beherrscht, nachdem man sie von Grund auf erlernt hat. Da ich selbst noch nicht in dem Alter bin, in dem man frei erfinden kann, will ich hier nichts als Tatsachen berichten. Der Leser darf also getrost der Überzeugung sein, daß diese Geschichte sich tatsächlich zugetragen hat und alle Personen, mit Ausnahme der Heldin, noch am Leben sind. Zumal es ein Leichtes wäre, für die meisten der hier geschilderten Begebenheiten in Paris Zeugen zu finden, sollte man mir nicht genug vertrauen.

Mit dieser Herausgeberfiktion beginnt der Roman Die Kameliendame (1848) von Alexandre Dumas, den er in nur vier Wochen schrieb. Ins Deutsche wurde das Buch von Michaela Meßner übersetzt. Die erste deutsche Ausgabe erschien erst 1907.

Ein namenloser junger Mann wird zufällig Zeuge einer Versteigerung, bei der die Einrichtungsgegenstände und Kleider der kürzlich verstorbenen Kurtisane Marguerite Gautier unter den Hammer kommen. Dabei erwirbt er das Buch Manon Lescaut, da eine handschriftliche Eintragung seine Neugier geweckt hat.

Kurz darauf sucht ihn eben jener Armand Duval auf, von dem die Widmung im Buch stammt, und bittet ihn unter Tränen um das Buch. Die beiden jungen Männer freunden sich an und Armand ist irgendwann bereit, dem neugewonnenen Freund die tragische Geschichte seiner Beziehung zu Marguerite zu erzählen.

Armand hatte sich in die überaus schöne Kurtisane Marguerite verliebt und sie aus der Ferne verehrt.

In einem Oval von unbeschreiblicher Anmut stelle man sich zwei schwarze Augen vor, überwölbt von Brauen, deren geschwungener Bogen so rein ist, daß sie wie gemalt erscheinen; die Augen überschleiere man mit langen Wimpern, die beim Senken den rosigen Teint der Wangen überschatten; die Nase zeichne man fein, gerade, geistreich, mit leicht geöffneten Nasenflügeln, die ein heftiges Verlangen nach dem sinnlichen Leben verraten; dann entwerfe man einen regelmäßigen Mund, dessen anmutige Lippen milchweiße Zähne sehen lassen; die Haut koloriere man nach Art samtschimmernder Pfirsiche, die noch von keiner Hand berührt wurden, und das Ganze ergibt dann diesen berückenden Kopf. (S. 14)

Die beiden lernen sich kennen und Armand bringt eine unvermutete Seite in der jungen Frau zum Klingen, denn er will ihre Gesellschaft und ihren Körper nicht – wie sonst all die anderen Männer – kaufen. Er war derjenige, der sich jeden Tag nach ihrem Befinden erkundigt hatte, ohne dabei seinen Namen zu hinterlassen, als sie krank war. Und er hat als einziger Mitleid mit ihr, als sie nach einem Abendessen Blut hustet. Armand erkennt, dass sich die erfolgreiche Kokotte noch „so etwas wie Arglosigkeit“ bewahrt hat.

Man merkte ihr an, daß das Laster bei ihr noch etwas ganz Jungfräuliches war. (S. 77)

Sie verlieben sich ineinander und das Unheil nimmt seinen Lauf, denn eine Frau wie Marguerite führt einen Lebenswandel mit Pferden, Kutsche und teuren Kleidern, Blumen und Theaterbesuchen, den ihr Armand noch nicht einmal ansatzweise finanzieren könnte.

Sie ist trotz ihrer Jugend lebenserfahren, klug und sich über ihre Stellung völlig im Klaren:

Wenn all die Frauen, die unser schändliches Gewerbe ergreifen, von Anbeginn wüßten, was da auf sie zukommt, dann würden sie lieber Dienstmädchen werden. Aber nein! Uns verlockt die Eitelkeit, Kleider, Diamanten und Equipagen zu besitzen […] und dann verschleißt man nach und nach sein Herz, seinen Körper und seine Schönheit. Man wird gefürchtet wie ein wildes Tier, verachtet wie ein Paria und ist von lauter Menschen umgeben, die stets mehr nehmen als sie selbst geben, und eines Tages verreckt man wie ein Hund, nachdem man seine Freunde und auch sich selbst verloren hat. (S. 102)

Freunde haben wir natürlich keine. Wir haben selbstsüchtige Verehrer, die ihr Vermögen nicht für uns vergeuden, wie sie immer behaupten, sondern für die eigene Eitelkeit. Für diese Leute, die selbst an gar nichts glauben, müssen wir fröhlich sein, wenn sie guter Laune sind, Appetit haben, wenn sie essen gehen wollen. Aber Herz dürfen wir auf keinen Fall zeigen, sonst werden wir zur Strafe verhöhnt und verlieren unser Ansehen Wir können nicht mehr frei über unser Leben verfügen. Wir sind keine Menschen mehr, sondern Dinge. (S. 142)

Marguerite ist diejenige, die die Unmöglichkeit ihrer Liebe sieht, denn selbst wenn sie für Armand ihren Lebenswandel ändern würde, wovon sollten sie leben und wie wäre sie abgesichert, wenn Armand, wie zu erwarten ist, in einigen Jahren nichts mehr von ihr wissen will und sie dann keine reichen Gönner mehr hätte? Doch für kurze Zeit verdrängen sie alle Sorgen um die Zukunft. Marguerite prostituiert sich weiterhin, um sich mit dem Geld ihrer Liebhaber ein kleines Haus auf dem Land mieten zu können. Dort verleben die beiden einen glücklichen Sommer, ausschließlich ihrer Liebe lebend.

Aus heutiger Sicht ist es putzig, dass Armand auch nicht ein einziges Mal auf die Idee kommt, sich eine Stellung zu suchen. Seine einzige Idee diesbezüglich ist der Spieltisch.

Doch die Familie Armands will nicht zulassen, dass der Lebenswandel des Sohnes die Familie zu kompromittieren droht. Zwar war das Kurtisanentum ein akzeptierter Teil des gesellschaftlichen Lebens in Paris, und eine attraktive und kostspielige Geliebte war nichts anderes als ein Statussymbol, doch Armand nimmt nach Ansicht des Vaters diese Liebschaft viel zu ernst und bedenkt nicht, dass sie sein weiteres Fortkommen behindern, ja unmöglich machen würde.

Das Buch ist so voller Verve und mitreißendem Pathos und interessantem Zeitkolorit, dass man den beiden Liebenden gerne durch ihre Verirrungen und Seelenqualen folgt, auch wenn die Selbstlosigkeit Marguerites, mit der sie schließlich alles für ihren Liebhaber opfert, schon ein wenig übermenschlich wirkt. Doch sie verkörpert – im Gegensatz zur verlogenen feinen Gesellschaft – einen Liebesbegriff, der wirklich das Wohl des Geliebten im Blick hat.

Armand hingegen ist ein alberner und rührseliger Wicht. Er behauptet, sie schon nach 24 Stunden unendlich und unwiderruflich zu lieben, redet dabei gern davon, dass er sie die folgende Nacht wieder besitzen werde und philosophiert darüber, dass es doch eine ganz andere Heldentat sei, das Herz einer erfolgreichen Kurtisane zu erobern als das eines einfachen und keuschen Mädchens.

Er kümmert sich keinen Deut darum, was später aus Marguerite werden soll, wenn sie mit ihren reichen Liebhabern bricht. Eine Eheschließung kommt ihm nicht einmal in den Sinn. Das würde die Gesellschaft nicht verzeihen. Doch solange er in Marguerite verliebt ist, würde er gern von seiner Umwelt in Ruhe gelassen werden. Selbst auf die Briefe seines Vaters antwortet er nicht mehr.

Er weint gern und viel, ist eifersüchtig und trotz angeblich unsterblicher Liebe sofort bereit, das Schlimmste von seiner Geliebten zu denken. Eigentlich geht es ihm immer nur um sich selbst. Als er – das erfährt der Leser schon ganz früh – kurz nach der Beerdigung Marguerites nach Paris zurückkommt, lässt er sie exhumieren:

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß diese Frau, die so jung und so schön war, als ich wegfuhr, nun tot sein soll. Davon muß ich mich mit eigenen Augen überzeugen. Ich muß sehen, was Gott aus diesem Wesen gemacht hat, das ich so sehr liebte, vielleicht wird mir dann der Ekel vor diesem Anblick die Verzweiflung über die Erinnerung nehmen … (S. 46)

Vielleicht war es gerade dieses Pathos, das die Bühnenfassung des Buches zu einem der erfolgreichsten Theaterstücke des 19. Jahrhunderts machte, die wiederum als Inspiration für die Oper „La Traviata“ gilt.

Interessant ist es auch, sich Armands Vorstellung von Liebe ein bisschen genauer anzuschauen. Ist es wirklich Liebe, wenn Armand eine heiße Liebesnacht mit Marguerite verbringt, obwohl sie hohes Fieber hat?

Ach, was war das für eine seltsame Nacht! Ihr ganzes Leben schien in die Küsse zu strömen, mit denen sie mich bedeckte, und ich liebte sie so sehr, daß ich mir inmitten des fieberhaftes Rausches meiner Liebe die Frage stellte, ob ich sie nicht töten solle, damit sie nie wieder einem anderen gehören könnte. (S. 222)

Der Roman ist auch ein Plädoyer für Barmherzigkeit gegenüber denjenigen, die durch das Raster der Wohlanständigkeit fallen. Aus heutiger Sicht fällt allerdings auf, dass der Erzähler zwar Mitgefühl, Nachsicht und Vergebung für die Prostituierten fordert.

Es genügt nicht, beim Eintritt ins Leben zwei Pfähle aufzustellen, deren einer die Inschrift Weg des Guten und der andere die Warnung: Weg des Bösen trägt, und dann denen, die davorstehen, zu sagen: ‚Trefft eure Wahl!‘; vielmehr muß man wie Christus denen, die sich auf Abwege leiten ließen, die Pfade weisen, die vom zweiten zum ersten hinführen; und vor allem dürfen die ersten Schritte auf diesen Wegen weder allzu schmerzhaft sein noch allzu ungangbar erscheinen. […] Weshalb sollten wir strenger sein wollen als Christus? Weshalb sollten wir, indem wir uns halsstarrig an die Ansichten einer Welt klammern, die sich hart gibt, damit man sie für stark hält, jene blutenden Seelen zurückstoßen, deren Wunden das Übel ihrer Vergangenheit entströmt wie schlechtes Blut einem Kranken und die doch nur warten, daß eine Freundeshand sie pflege und ihrem Herzen Genesung bringe? (S. 25)

Doch die Liebhaber, die dieses System der Ausbeutung erst ermöglichen, scheinen sich dabei nicht mit Schuld zu beladen. Die Doppelmoral und die Regeln der damaligen Gesellschaft werden als gegeben akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, mit dem Tod der Heldin ist die kurzzeitig gefährdete Ordnung wieder gesichert.

… der junge Duval ist auf den Pfad seiner gesellschaftlichen Pflichten zurückgebracht, und es wird keine Mühe gescheut, den schwer Getroffenen in den Schoß der Familie zurückzuholen. Nachdem die Kurtisane dem jungen Herrn von Stand geopfert wurde, endet die Anklage an die Gesellschaft in einem Loblied auf Familie und Rechtschaffenheit. (Michaela Meßner in ihrem Nachwort zur dtv-Ausgabe, S. 258)

Anmerkungen

Beim Autor dieses Werkes handelt es sich übrigens nicht um den Schöpfer von Der Graf von Monte Christo oder des Romans Die drei Musketiere, sondern um dessen unehelichen Sohn, der deshalb auch Dumas der Jüngere genannt wird.

1844 lernt Dumas der Jüngere die ebenfalls zwanzigjährige Marie Duplessis kennen, eine berühmte Kurtisane, mit der er elf Monate liiert war und „deren tragische Lebensgeschichte ihm zu seinem literarischen Durchbruch verhalf“. (Meßner, S. 253)

Viele Handlungsdetails hat Dumas fast unverändert der Realität entnommen. Duplessis stirbt 1847. „Am 10. Februar kehrte er [Alexandre Dumas] nach Paris zurück, genau an dem Tag, an dem ihre Habe versteigert wurde. Dumas selbst erstand Maries goldene Halskette. Den Erlös der Versteigerung, die auch Charles Dickens miterlebte, hatte Marie Duplessis einer Nichte unter der Bedingung vermacht, daß das junge Mädchen nie nach Paris gehen dürfe.“ (Meßner, S. 256)

Irène Némirovsky: Die Familie Hardelot (1947)

Sie waren beisammen, sie waren glücklich. Die wachsame Familie schob sich zwischen sie und trennte sie mit unerbittlicher Sanftmut, aber der junge Mann und das junge Mädchen wußten, daß sie einander nahe waren; alles übrige verblaßte. Es war ein Herbstabend am Ufer des Ärmelkanals, zu Beginn dieses Jahrhunderts. Pierre und Agnes, die Eltern der beiden sowie Pierres Verlobte warteten auf das letzte Feuerwerk der Saison. Auf dem feinen Sand der Dünen bildeten die Bewohner von Wimereux-Plage dunkle, kaum von den Sternen erhellte Gruppen. Rings um sie wehte die feuchte Seeluft. Tiefer Frieden lag über ihnen, über dem Meer und über der Welt.

So beginnt der lesenswerte Roman der Schriftstellerin, die 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ums Leben kam:

Irène Némirovsky: Die Familie Hardelot (1947) – übersetzt von Eva Moldenhauer (2010)

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges scheint noch alles intakt in der Familie Hardelot. Im jährlichen Badeurlaub gelten scheinbar ewige und nicht hinterfragbare Regeln: Nur die Männer dürfen am Strand die Schuhe und Strümpfe ausziehen, die Damen stolpern durch den Sand.

Die Männer gestatteten sich einige Zwanglosigkeiten; sie streckten die Beine aus, stützten sich auf einen Ellbogen. […] Die Frauen blieben mit steifem Oberkörper auf der Erde sitzen wie auf den Stühlen eines Salons, wobei der Rock züchtig die Knöchel bedeckte. Wenn das vom Wind gezauste bleiche Gras ihre Waden streifte, preßten sie mit schamvollen Bewegungen ihre Beine zusammen. Ihre Kleider waren schwarz und lang; gestärkte, auf Fischbeinstäbe gezogene Wäschekragen umschlossen ihren Hals und zwangen sie, den Kopf ruckartig nach links und rechts zu drehen, so wie ein Huhn einen Wurm pickt. (S. 7)

Die Papierfabrik der Hardelots wird vom erfolgreichen, wenn auch tyrannischen Großvater geleitet. Er ist es auch, der die Verlobung zwischen Pierre, seinem Enkel, und Simone, einer wohlhabenden Waise, eingefädelt hat. Und diesem Mann widerspricht man nicht. Doch das Undenkbare passiert. Pierre und Agnes, seine große Liebe, die aber leider nur einer Bierbrauerfamilie entstammt, treffen sich heimlich. Agnes wäre nun für immer kompromittiert, doch Pierre besinnt sich und löst die Verlobung mit Simone und heiratet Agnes. Das junge Paar muss mittellos nach Paris gehen, denn der Großvater verweigert jeden Kontakt. In Simone hat das Paar nun eine erbitterte Feindin, die mehr als einmal versuchen wird, der Familie zu schaden, wo immer es geht.

Allerdings werden diese Sorgen um Standesdünkel, um Familienehre und das Wahren des Scheins bald von ganz anderen Problemen überschattet. Der erste Weltkrieg bricht aus und die einst reiche Familie Hardelot verliert ihre Häuser, ihre Fabrik. Doch Pierre, der eingezogen wird, überlebt und der starrsinnige Großvater lässt alles wieder aufbauen, sogar das Dorf. Man scheint noch einmal davongekommen zu sein. Pierre geht seinem Großvater nun sogar zur Hand, auch wenn Agnes dem Familienpatriarchen weiterhin nicht unter die Augen kommen darf. Agnes und Pierre bekommen zwei Kinder, und auch Simone, die inzwischen einen Nichtsnutz geheiratet hat und sich stark in der Firma engagiert, hat eine Tochter.

Wieder konzentrieren sich alle Freuden, alle Sorgen auf den engsten Familienkreis. Als der Großvater kurzerhand Pierres Urlaub streicht, ist Agnes unglücklich und wirft ihrem Mann Feigheit vor, doch am Ende des Tages heißt es:

Ohne Bedauern überließen sie diesen verflossenen Tag der Vergangenheit, dem Vergessen, diesen Tag, der zu den ruhigsten, köstlichsten, strahlendsten ihres Lebens gehörte. Aber das wußten sie nicht. (S. 113)

Und so bewegt sich die Handlung, von einigen Liebeskatastrophen abgesehen, rasch auf den Zweiten Weltkrieg zu. Kritiker haben in dieser Mischung aus intimen Familienszenen und Gesprächen und großen Zeitsprüngen von mehreren Jahren eine interessante Montagetechnik gesehen, die es ermöglicht, auf 250 Seiten ca. 30 Jahre Familiengeschichte unterzubringen. Allerdings – welche Familiengeschichte wäre nicht interessant, wenn man sie vorrangig anhand der großen geschichtlichen Ereignisse aufrollt?

Man wartete auf den Krieg, wie der Mensch auf den Tod wartet. Er weiß, daß er ihm nicht entrinnen wird; er fleht nur um Aufschub. ‚Einverstanden, du wirst kommen, aber warte noch ein bißchen, warte, bis ich dieses Haus gebaut, diesen Baum gepflanzt, meinen Sohn verheiratet habe, warte, bis ich keine Lust mehr habe zu leben.‘ Vom Krieg erbat man sich nichts anderes Noch ein paar Monate Ruhe, noch ein Jahr, noch eine sorglose Saison … Mehr erhoffte man nicht: morgen wie heute die Suppe auf dem Tisch, die ganze Familie vereint, die Zerstreuungen, die Geschäfte, die Liebe, noch eine Weile, noch einen kleinen Augenblick, dann … So wie auf den alten Gemälden der Tod neben dem pflügenden Bauern einhergeht, aus dem Glas des Reichen trinkt, auf dem Elendslager des Armen schläft, bei den Festgelagen mit den Musikern singt […] so spürten die Menschen von 1938 ständig neben sich den unsichtbaren, doch anwesenden Krieg. (S. 172)

Noch einmal werden die Deutschen alles plattwalzen und Not, Trauer, Tod, Chaos und Zerstörung hinterlassen.

ACHTUNG: Spoiler:

Zwar hat mich das Ende des Romans als Leserin gefreut, doch angesichts der geschichtlichen Situation und der Biografie Némirovskys erscheint es einem auch als naiv. Nur in den Häusern der anderen kommen nicht alle aus dem Krieg zurück. Aber am Hause der Hardelots geht der Tod vorbei. Das Undenkbare konnte nicht geschrieben werden, wie denn auch.

Davon abgesehen fasziniert an diesem Buch die kristallklare Sprache und der kluge und immer auch ein wenig spöttisch-liebevolle Blick der Schriftstellerin auf ihre Figuren. Ein bisschen habe ich mich jedoch daran gestört, dass die Autorin alles ausbuchstabiert. Nichts bleibt zwischen den Zeilen. So heißt es schon ganz am Anfang:

Während des Winters sahen sich die Hardelots und die Florents selten, obwohl sie Nachbarn waren. Die Leute von Saint-Elme besaßen ein wahres Talent, alles zu ignorieren, wovon sie nichts wissen wollten. Wie gut sie es verstanden, sich nach Belieben blind und taub zu stellen! Mit welchem Zartgefühl sie sich alles aus dem Weg räumten, was ihnen mißfiel! Familien konnten zwanzig Jahre lang Tür an Tür wohnen und nie einen einzigen Blick wechseln. (S. 9)

Das Buch schildert nicht nur eine wunderbare Liebesgeschichte, sondern erzählt auch von dem Untergang einer Lebensweise und aller Selbstverständlichkeiten, der hier nicht wie bei den Buddenbrooks durch innerfamiliäre Veränderungen ausgelöst wird,  sondern durch zwei Weltkriege. Dabei schien die große Politik immer weit weg zu sein, um dann doch wie eine undurchschaubare Naturkatastrophe über die Familie hereinzubrechen.

Wenn man dann bedenkt, dass das Buch um 1940/41 entstand, ahnt man, wie nah die Autorin dem Schrecken war. Sandra Kegel schrieb am 23. Dezember 2010 in der FAZ:

Zu diesem Zeitpunkt war sie [gemeint ist die Autorin] selbst bereits auf der Flucht vor den deutschen Besatzern, Frankreich hatte ihr bis zuletzt die französische Staatsbürgerschaft verweigert. Wie schon in früheren Werken bestechen auch in diesem Familienroman die ironisch-beißenden Beschreibungen der französischen Provinz und ihrer Bewohner, die so sehr von dem trügerischen Gefühl der Beständigkeit und der Sicherheit erfüllt sind, dass sie die Zeichen der Katastrophe übersehen.

Von Marion Skalski stammt der folgende Deutungsansatz im 3sat-Hörbuchtipp für Februar 2011:

Irène Némirovsky muss geahnt haben, dass eine Gesellschaft, deren wichtigste Maxime es ist, die Form zu wahren, auch mit den Nazis kollaborieren würde.

Ein kurzer Abriss zur Biografie Némirovskys und der Wiederentdeckung ihres Werkes ca. 60 Jahre nach ihrem Tod findet sich in meiner Besprechung ihrer Erzählung Der Ball.

Elizabeth Strout: Olive Kitteridge (2008)

For many years Henry Kitteridge was a pharmacist in the next town over, driving every morning on snowy roads, or rainy roads, or summertime roads, when the wild raspberries shot their new growth in brambles along the last section of town before he turned off to where the wider road led to the pharmacy. Retired now, he still wakes early and remembers how mornings used to be his favourite, as though the world were his secret, tires rumbling softly beneath him and the light emerging through the early fog, the brief sight of the bay off to his right, then the pines, tall and slender, and almost always he rode with the window partly open because he loved the smell of the pines and the heavy salt air, and in the winter he loved the smell of the cold.

So beginnt das dritte Buch der 1956 geborenen amerikanischen Autorin, für das sie 2009 den Pulitzer Prize for Fiction erhielt.

2010 erschien die deutsche Übersetzung von Sabine Roth unter dem Titel Mit Blick aufs Meer.

Das Werk besteht aus 13 mal mehr, mal weniger miteinander verbundenen Geschichten. Und mit diesem Mittelding – „a novel in stories“ – habe ich mich stellenweise durchaus schwergetan, denn manchmal ist der Zusammenhang zwischen den einzelnen Geschichten schon extrem lose. Wir folgen zwei Personen: Henry – einem ehemaligen Apotheker, der lange in seine Angestellte verliebt war – und später vor allem seiner Frau Olive, einer pensionierten Lehrerin.

Ab und zu verliert der Leser Olive und Henry aber dabei fast völlig aus den Augen. In manchen Erzählungen durchqueren die Kitteridges nur einen Raum oder grüßen ein paar Bekannte, während sie das Lokal verlassen. Auf diese Kapitel hätte ich gut verzichten können.

Louisa Thomas charakterisiert Olive in ihrer Besprechung in der New York Times vom 20. April 2008 kurz und treffend:

She isn’t a nice person. As one of the town’s older women notes, ‚Olive had a way about her that was absolutely without apology.‘ Olive’s son puts it more bluntly. You can make people feel terrible,‘ he tells her. […] After swapping discontents, she says to a friend, ‚Always nice to hear other people’s problems.‘

Die Geschichten spielen überwiegend in dem kleinen Küstenort Crosby in Maine. Wir treffen dabei auf ganz unterschiedliche Menschen, wie z. B. einen ehemaligen Schüler von Olive, der zurückgekehrt ist, um sich umzubringen, oder die alkoholabhängige Angela O’Meara, die in einer Bar Klavier spielt und schließlich ihrem langjährigen Geliebten, einem stadtbekannten Politiker, den Laufpass gibt. Wir begegnen einer magersüchtigen Jugendlichen oder der Mutter eines Mörders sowie dem Sohn der Kitteridges, der erst als erwachsener Mann die Angst vor seiner Mutter überwindet und sich nicht länger von ihr tyrannisieren lässt.

Jede der zahlreichen Figuren wird von der Autorin mit wohlwollender und menschenfreundlicher Anteilnahme bedacht. Niemand wird verurteilt, sondern in seiner Bedürftigkeit sichtbar. Und alle fügen anderen Wunden zu, oft ganz ohne böse Absicht, oder werden durch existenzielle Verluste in ihren Grundfesten erschüttert. Manchmal war mir das ein bisschen zu viel elegische Soße, die da unterschiedslos über alle gekippt wurde. Allerdings sorgte der ein oder andere sarkastische Seitenhieb Olives dann wieder für etwas klarere Luft.

Die letzten Kapitel waren hingegen großartig. Aus Olives Sicht erleben wir ihre Einsamkeit, nachdem Henry einen Schlaganfall erlitten hat. Das wird so harsch erzählt, dass einem auch ganz fröstelig wird, dabei hatten die beiden oft alles andere als eine liebevolle Ehe geführt. Beim Anschauen alter Fotos – Henry ist bereits im Pflegeheim – wird ihr bewusst, was für ein Hauch das menschliche Leben ist:

A picture of Henry as a small child. Huge-eyed and curly-haired, he was looking at the photographer […] You will marry a beast and love her, Olive thought. You will have a son and love him. You will be endlessly kind to townspeople as they come to you for medicine […] You will end your days blind and mute in a wheelchair. That will be your life. (S. 161)

Zwar hatten die beiden auch Geheimnisse voreinander, die dem anderen nicht so verborgen geblieben sind, wie sie das gedacht haben, aber erst als sie ihn verloren hat, wird Olive klar, dass Henry in all den Jahrzehnten ihrer Ehe der Freund war, dem sie – fast immer – alles erzählen konnte.  Und so hat sie – von oberflächlichen Telefonanrufen abgesehen – plötzlich niemanden mehr, dem sie überhaupt etwas erzählen kann und will.

Unter der kantigen und rechthaberischen Schale Olives verbirgt sich aber auch viel menschliche Anteilnahme und oftmals ein klarer Blick in die Nöte ihrer Mitmenschen, die sie jedoch kaum auszudrücken in der Lage ist. Sie würde gern eine alte Bekannte trösten, die während der Begräbnisfeier anlässlich der Beerdigung ihres eigenen Mannes erfährt, dass dieser sie mit ihrer Cousine betrogen hat.

She would like to rest a hand on Marlene’s head, but this is not the kind of thing Olive is especially able to do. (S. 180)

Fast alle scheitern an der Liebe, an den Sehnsüchten, die sie mit sich herumtragen, und sei es, dass man sich wünscht, dass einen der eigene Sohn besucht und man die Enkel aufwachsen sieht.

Sometimes, like now, Olive had a sense of just how desperately hard every person in the world was working to get what they needed. For most, it was a sense of safety, in the sea of terror that life increasingly became. People thought love would do it, and maybe it did. But even if, […] it was never enough, was it? (S. 211)

Eva Menasse hat in der Zeit vom 15. Juli 2010 erklärt, dass sie das Buch sogar ein wenig getröstet aus der Lektüre entlassen habe:

Nein, hier wird uns nichts erspart. Wenn man nur ein bisschen verengt daraufschaut, geht es im Leben doch, sobald die Jugend vorbei ist, nur noch bergab. Mit Blick aufs Meer ist auch ein Buch des Abschieds, von Jugend und Freiheit, von den eigenen Kindern, die sich einem, einmal erwachsen, entfremden, und schließlich vom Leben selbst. Das große Wunder beim Lesen besteht darin, dass man sich mit dieser eigentlich unerträglichen Wahrheit plötzlich abfinden kann und sogar heiter und getröstet ist, weil man den einzelnen, verwirrt hin und her krabbelnden Menschen als Teil eines gleichbleibenden Ganzen begreift. So findet Strout, genau wie damals Sherwood Anderson, gerade über die Zersplitterung wieder zur Ganzheit zurück.

Klaus Modick: Sunset (2011)

Zwischen Himmel und Meer gähnt der Morgennebel, zieht Strand und Uferstraße in seinen silbergrauen Schlund, scheint aber vor den Palmen zurückzuweichen. Die hageren Stämme recken sich wie Wesen aus mythischen Zeiten, archaische Wächter des Landes, die mit scharf gefiederten Lanzen dem Nebel Einhalt gebieten.

So – in der Bildhaftigkeit ein bisschen bemüht und gekünstelt – beginnt der Roman um einen Tag im Leben des alternden Schriftstellers Lion Feuchtwanger:

Klaus Modick: Sunset (2011)

Kurz zum Hintergrund

Feuchtwanger, 1884 in München geboren und Sohn eines begüterten Margarine-Fabrikanten, fühlte sich schon früh zur Schriftstellerei hingezogen. Er studierte und promovierte, nahm jedoch wegen seiner jüdischen Abstammung Abstand von einer Habilitation.

Mit seinen historischen Romanen wurde er einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits 1918 erkannte er das Talent Brechts, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und Arbeitsbeziehung verbinden sollte, was die beiden jedoch nicht daran hinderte, sich bis zum Tode Brechts zu siezen.

Klaus Modick, Schriftsteller und Übersetzer, hat 1980 mit einer Arbeit zu Lion Feuchtwanger promoviert.

Zum Buch

Das Werk schildert einen einzigen Tag im Leben Feuchtwangers, und zwar im August 1956, als er in seiner amerikanischen Wahlheimat in Los Angeles das Telegramm vom Tode Brechts erhält.

Feuchtwanger ist allein zu Haus, da seine Frau Martha wegen Fragen zur Einbürgerung bei einem Anwalt ist. Die Nachricht vom Tode seines vielleicht einzigen Freundes löst nun eine Flut an Erinnerungen und Reflexionen auch über das eigene Leben und Schreiben aus. Er erinnert sich z. B. an den Tag, als er den jungen Brecht kennengelernte, an ihre nicht immer unkomplizierte Beziehung und ihre Exilantengemeinschaft in Amerika, die keineswegs frei von Tratsch und Spannungen und Eifersüchteleien war.

Zu diesem Kreis gehörten auch Werfels, Heinrich und Thomas Mann und Arnold Zweig. Doch im Laufe der Zeit sterben die ehemaligen Freunde und Weggefährten oder sie kehren nach Europa zurück, während Feuchtwanger unter den Argusaugen der McCarthy-Hysterie versucht, für sich und seine Frau Martha die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Im Laufe dieses Tages muss er nicht nur von seinem Freund Abschied nehmen, sondern sich auch Rechenschaft über sein eigenes Werk und Schreiben geben und sich eingestehen, dass er selbst nun alt ist und die Kräfte schwinden. Andauernde Magenschmerzen machen ihm zu schaffen…

Fazit

Interessant ist das Buch, wenn man der Beziehung zwischen Brecht und Feuchtwanger nachgehen möchte. Als Roman selbst hat mich das Buch kalt gelassen. Es wirkt auf mich an vielen Stellen gekünstelt und „nachempfunden“ und ich habe selten vergessen, dass sich da einer eben vorstellt, wie dieser Tag im Leben Feuchtwanger  ausgesehen haben könnte. Das wirkt kenntnisreich und vorzüglich recherchiert und doch arg blutarm.

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