Merethe Lindstrøm: Days in the History of Silence (2011)

Angesichts der Tatsache, dass dieser Roman der Norwegerin Merethe Lindstrøm nun endlich auch auf Deutsch gelesen werden kann, mal wieder ein Beitrag aus den Tiefen des Blogarchivs. Das Buch beginnt mit den Sätzen:

I was the one who let him in. Later I called him the intruder, but he did not break in. He rang the doorbell as anyone at all might have done, and I opened the door. It unsettles me still when I think about it. Really that could be what bothers me most. He rang the doorbell, and I opened the door. So mundane.

Das Werk aus dem Jahr 2011 erschien 2013 zunächst auf Englisch und seit einem Monat liegt der Roman auch in einer deutschen Übersetzung von Elke Ranzinger unter dem Titel Tage in der Geschichte der Stille vor.

Zum Inhalt

Auf den ersten Blick passiert hier nicht viel. Eva, eine pensionierte Lehrerin, lebt mit ihrem ebenfalls pensionierten Ehemann, einem Arzt, in guter Wohngegend. Man hat drei Töchter und sogar schon Enkel. Der Alltag könnte also gemächlich und kultiviert vonstattengehen. Doch feine Risse tun sich auf.

Der Moment zu Beginn der Geschichte, als ein junger Mann an der Tür klingelt und Eva ihn ins Haus lässt, ist der Zeitpunkt, an dem Eva merkt, dass ihre Wirklichkeit ins Wanken gerät.

The episode that has a hard and inevitable quality when I reflect on it. It is as though it is scored into or through something. A gash, like a tear in thick canvas, in the perfectly normal day, and through that hole something has emerged that should not surface, not become visible. (S. 8)

Der Roman ist ein langer Monolog der Frau, die – ungeübt, tastend, widerwillig – versucht, sich Rechenschaft zu geben über das, was in ihrem Leben, ihrer Ehe missglückt ist, wo sie einzeln und zusammen mit ihrem Mann Simon schuldig geworden ist.

Evas Gedanken kreisen um zwei Geschehnisse, an die sie sich allmählich anzunähern versucht. Wird ihr das Thema zu bedrängend, lässt sie davon ab, um es später wieder aufzugreifen. Zum einen fällt immer wieder der Name ihrer ehemaligen Haushaltshilfe, Marija, einer Frau aus Litauen, mit der sich das Ehepaar regelrecht angefreundet hatte. Marijas Lebensfreude tat ihnen gut. Man unternahm Ausflüge und hatte Spaß zusammen. Doch dann ist etwas vorgefallen, was die Kündigung Marijas zur Folge hat. Den Grund dafür verschweigen Simon und seine Frau sogar vor ihren Töchtern.

Der andere Erinnerungsstrang handelt davon, dass Simon sich immer mehr ins Schweigen zurückzieht.

Some days I almost forget his silence. Then it feels only like a momentary stillness, and that we are going to talk together soon. He is going to say something, and I am going to answer. How I miss it. I want to tell him to stop doing this to me. It feels as though it is something he has made up his mind to do, something he has chosen of his own free will. That he has shut me out, all of us out. (S. 127)

Zwar hatte er  vor Jahrzehnten schon einmal Depressionen, doch diesmal wird aus seinem Verstummen kein Weg mehr herausführen. Alt, dement und von Traumata gezeichnet bleibt nur noch das Schweigen. Er hat als Junge den Holocaust zusammen mit seiner Familie in einem Versteck überlebt. Allerdings wissen seine eigenen Töchter nichts von der Kindheit ihres Vaters. Eva hat alle seine Ansätze, darüber zu sprechen, im Keim erstickt.

He was talking about it again as we drove. I thought there was something tactless about it, as though he were being indiscreet, coarse, as though he were relating something inappropriate. It was not suitable. […] I shushed him. Don’t drag all that darkness in here, I said. (S. 36)

Sein nun einsetzendes Schweigen macht auch Eva unendlich einsam. Wer hört ihr nun noch zu?

I need to tell this to someone, how it feels, how it is so difficult to live with someone who has suddenly become silent. It is not simply the feeling that he is no longer there. It is the feeling that you are not either.

Aber auch Eva, die manchmal – vielleicht aus Hilflosigkeit – seltsam gefühlskalt wirkt, muss sich eingestehen, dass sie über Dinge geschwiegen hat, die deswegen nicht weniger real sind, ja, je älter sie wird, umso bedrängender werden. Doch was tun, wenn man jahrzehntelang an den falschen Stellen geschwiegen hat und letztlich nichts mehr verändert und geändert werden kann?

Again that thought pops up, that underneath everything, the house, the children, all the years of movement and unrest, there has been, this silence. That it has simply risen to the surface, pushed up by external changes. Like a splinter of stone is forced up by the innards of the earth, by disturbances in the soil, and gradually comes to light in the spring. (S. 139)

Dabei ist Evas und Simons Ehe keineswegs kaputt, sie hatten sich lieb und wussten um die Geheimnisse, die der andre mit sich herumtrug, und sie kannten die Abgründe des anderen. Die Autorin sagt selbst in einem Interview, dass es ihr u. a. darum gegangen sei, wie und ob es überhaupt möglich sei, in alltäglichen Gesprächen über erlebte Traumata zu sprechen.

Nun bleibt tatsächlich nur noch der Leser, dem Eva ihre Geschichte erzählen kann, da der geliebte Mensch nicht mehr mit ihr sprechen kann.

I think I have never been close to anyone in that way, been so happy with anyone as I was with him. That it was so intense. And when I waken, my life, or that part of it, my youth, is like a dream I dreamed just a few minutes before I woke. It was over so fast. (S. 63)

Mehr zum Inhalt zu verraten, wäre schade, denn wie die Autorin hier Handlung, Sprache, Erinnerung, Schweigen, Schuld und Schuldigwerden auf den unterschiedlichsten Ebenen, den Holocaust und lebenslange Traumatisierung, aber auch Einsamkeit und unsere alltäglichen Versäumnisse miteinander verbindet, ist große Literatur.  Ein leises, aber sehr berührendes Buch, spannender als jeder Psycho-Thriller.

Zur Autorin

Die norwegische Schriftstellerin Merethe Lindstrøm wurde 1963 geboren und für Days in the History of Silence bekam sie 2012 den hochdotierten Literaturpreis des Nordischen Rates verliehen.

Auch LiteraturReich hat den Roman besprochen.

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Elizabeth Jenkins: The Tortoise and the Hare (1954)

The sunlight of late September filled the pale, formal streets between Portland Place and Manchester Square. The sky was a burning blue yet the air was chill. A gold chestnut fan sailed down from some unseen tree and tinkled on the pavement. In the small antique-dealer’s a strong shaft of sunlight, cloudy with whirling gold-dust, penetrated the collection of red lacquer and tortoiseshell, ormulu and morocco. Imogen Gresham held a mug in her bare hands; it was a pure sky blue, decorated with a pattern of raised wheat ears, and of the kind known in country districts as a „harvester“. Her eye absorbed the colour and her fingers the moulding of the wheat. Her husband however saw that there was a chip at the base of the mug, from which cracks meandered up the inside like rivers on a map.

So beginnt der sechste Roman von

Elizabeth Jenkins: The Tortoise and the Hare (1954)

Zum Inhalt

Manchmal lese ich ein Buch, bei dem ich denke, dass ihm ein paar Worte zum Inhalt nicht gerecht werden können, ja sogar einen falschen Eindruck erwecken. Dies ist so ein Roman. Denn wenn ich schreibe, dass wir hier die Geschichte über den allmählichen Zerfall einer Ehe in der gehobenen britischen Gesellschaftsschicht lesen, die in den fünfziger Jahren spielt, klingt das nicht wirklich aufregend, oder?

Ist es aber.

Also: Imogen, mit 37 immer noch sehr attraktiv, ist die Frau des erfolgreichen Anwalts Evelyn Gresham. Er ist 15 Jahre älter als seine Frau.

When a foolish or inaccurate thing was said in Evelyn’s presence, in court or during a consultation, it was essential that he should correct it at once, as decisively as possible, and the habit of instantly setting right other people’s blunders and mistakes was perhaps carried with him into private life farther than he knew. (S. 27)

Sie leben auf dem Land und haben eine ca. 50-jährige Nachbarin namens Blanche Silcox, die in so ziemlich allen Belangen das Gegenteil Imogens ist. Sie ist unscheinbar, kleidet sich unvorteilhaft, ist aber durch eine Erbschaft wohlhabend und vor allem unglaublich „kompetent“. Sie geht „männlichen“ Beschäftigungen nach, fährt Auto, reitet, angelt, jagt und organisiert mühelos einen großen Haushalt. Sie hat einen Kopf für geschäftliche Dinge, spekuliert an der Börse, dirigiert diverse Wohltätigkeitsvereine und – ist ledig.

Imogen hingegen ist das Produkt eines früheren Frauenbildes: Sie hat keinerlei Berufsausbildung, dafür ist sie schön, elegant, an Kunst und Literatur interessiert, die Bewunderung der Männer für selbstverständlich haltend, hoffnungslos unpraktisch und für ihren Mann ein früher mal geschätztes Dekorationsobjekt, das aber mehr und mehr seine Daseinsberechtigung verliert.

Sie ist aber keineswegs das dumme Frauchen eines wohlhabenden Gatten, nur verlieren ihre liebenswerten Eigenschaften und Fähigkeiten für Evelyn zunehmend an Bedeutung. Sie hat Sinn für Schönheit, ist taktvoll, freundlich und großzügig. Sie möchte, dass es allen in ihrer Umgebung gut geht. An sich selbst denkt sie dabei gar nicht.

There was never a doubt in her mind that to meet his [Evelyn’s] demands was the most absorbing and the most valuable end to which her energies could be used. (S. 31)

Auch der Freund ihres Sohnes, ein vernachlässigter Nachbarjunge, der zu Hause kaum genug zu essen bekommt, wird von ihr ganz selbstverständlich aufgenommen und quasi ein Mitglied der Familie. Und: Sie liebt ihren Mann aus ganzem Herzen.

Das Gefährliche dabei: Sie stellt ihren Mann auf ein Podest, in ihren Augen kann er kein Falsch tun. Nie kann sie sich in einer Auseinandersetzung gegen ihn durchsetzen. Sie gehorcht ihm und hat sich – da sie ihn liebt – in dieser Rolle zwölf Jahre lang wohl und sicher gefühlt. Sobald er sie kritisiert, hat sie ein schlechtes Gewissen: Als ihr ein Buch gefällt und sie ihn zugegebenermaßen etwas naiv bittet, es ebenfalls zu lesen, weil sie ihre Freude mit ihm teilen möchte, heißt es:

‚My dear girl,‘ he said, ‚you must be out of your mind. For heaven’s sake, read something worthwhile, if you must spend all this time reading.‘ The condemnation and disgust in his tone seemed to convince her at the same time of the folly and wickedness of the characters and the incompetence of their author. (S. 36)

Imogen nimmt es als naturgegeben hin, dass er sie in ihrer Rolle als Mutter nicht unterstützt und ihre Autorität untergräbt. Die Verachtung, die Evelyn ihr gegenüber spürt, darf auch der Sohn ungehindert zeigen. Selbst als sie ihre Vorbehalte gegen die zunehmenden Aufmerksamkeiten äußert, die Blanche ihrem Gatten erweist, hat sie Gewissensbisse ob ihrer Geschmacklosigkeit. Dazu kommt ihre gekränkte Eitelkeit, „her touchy pride as a fading beauty“ (Hilary Mantel). Viel zu spät stellt sie ihren Mann – und damit ihren Lebenssinn – in Frage.

Was hätte eine solche Frau der Bedrohung ihrer Ehe entgegenzusetzen?

Fazit

Zwar ist dem Leser schon nach den ersten Absätzen klar, dass hier zwei Menschen verheiratet sind, die einander nicht verstehen und einander nichts zu sagen haben. Und zwischendurch dachte ich: Oh nein, nicht noch ein Beispiel, nicht noch eine Szene, die uns verdeutlicht, dass und wo genau hier eine Ehe im Argen liegt. Doch genau dadurch baut sich allmählich Spannung auf und der Leser lebt mit, fast als ob das alles in einer befreundeten Familie passieren würde.

Die Tragik liegt auch weniger darin, dass die beiden nicht zusammenpassen, sondern dass Evelyn jegliche Wertschätzung und jeder Respekt für seine Frau abhanden kommt. Sie ist anders als er, und jetzt, wo nach über einem Jahrzehnt Ehe der romantische Lack ab ist, wirft er ihr das vor und macht daraus ein Werturteil. Diese Abwertung wiederum entzieht Imogens Selbstsicherheit jeden Boden. Und auch wenn mal alle drei Hauptprotagonisten schütteln möchte, man versteht sie. Keiner ist ohne Schuld und keiner kann anders handeln, als er es tut.

Mit großer Präzision und klarem Blick werden hier Beziehungen analysiert, ja geradezu seziert. Gewinner der gesellschaftlichen Rollenverteilung ist Evelyn. Er nimmt sich, was er haben möchte. Gleichzeitig kann man verstehen, dass das kritiklose, kindliche Anhimmeln seiner Frau sich nach zwölf Jahren vermutlich etwas fad anfühlt, zumal sie nicht einmal kompetent die Rolle der treusorgenden Hausfrau einnehmen kann. Seine bevorzugte Anrede für sie lautet „my dear girl.“

Über Paul, einen Freund der Greshams, der bei der Wahl seiner wesentlich jüngeren Ehefrau auch nicht gerade große Geisteskraft bewiesen hat, heißt es hingegen:

… his choice had been made with a complete and fatal lack of judgement. […] Her refusal to alter or modify her opinions or tastes under his influence seemed a charming instance of integrity. It wore a different air somewhat later, when he found himself bound down beside a being narrow and stubborn, with the strongest disinclination to compromise or learn. (S. 14)

Doch Paul sieht sich ebenfalls in starren Rollenbildern gefangen: Statt seiner dummen jungen Frau, mit der ihn buchstäblich nichts verbindet, den Laufpass zu geben, will er den ehrenhaften Schein wahren und ist ständig darum besorgt, dass es wenigstens ihr gut geht. Das erreicht er dadurch, dass er ihr unbegrenzten Zugriff auf sein Konto erlaubt und sich möglichst nie in ihrer Nähe aufhält.

Jenkins Stil ist elegant, treffend, ironisch. Als Imogen die Nachbarin Mrs Leeper nach deren Schwester fragt, die als Dichterin mit atemberaubendem Aussehen als Femme Fatale bekannt ist, heißt es:

‚She is digesting the Corsican experiences,‘ she answered. Most people would have said that their sister had had a very good holiday in Corsica, but Corinne Leeper thoroughly understood her duties as the relation of an artist. (S. 21)

Dazu kommt eine lyrische Sprache, wenn die Schönheit der Natur in geradezu filmischer Pracht den Wirrungen der Hauptfiguren entgegengestellt wird.

Noch lange nach der Lektüre überlegte ich, wer wie hätte handeln sollen. Das geht mir selten so. Auch kommt man mit dem Roman nicht  dadurch zurande, dass man ihn einfach in die Kiste packt mit der Aufschrift „Beispiel für rückständiges und einengendes Frauenbild“. Natürlich wird Imogen das Verhaftetsein in diesem unerwachsenen Rollenbild zum Verhängnis.

Doch was ist mit dem Egoismus von Blanche und der zunehmenden Kaltschnäuzigkeit ihres Mannes? Kein Grund, sich heute auf dem hohen Roß zu fühlen, zeigen doch die heutigen Scheidungsraten, dass das Patentrezept für eine glückliche und dauerhafte Ehe noch nicht gefunden wurde…

Jenkins schildert Menschen, die von Konventionen und Normen einer vergangenen Zeit geprägt sind. Und das Faszinierende dabei: Der Roman wirkt kein bisschen veraltet, da sie es schafft, den Kern ihrer Protagonisten freizulegen. Die Rahmenbedingungen ändern sich, die Menschen wohl nicht.

Übrigens: Nein, Imogen wirft sich nicht vor den Zug.

Anmerkungen

Hilary Mantel schreibt in ihrem Vorwort ganz treffend:

„I have admired this exquisitely written novel for many years, partly for its focus on a fascinating and lost social milieu, but also because through her close attention to the negotations between men and women, and women and women, Elizabeth Jenkins has provided a thoughtful and astrigent guide to the imperatives of sexual politics – and one which is of more than historical interest.“

Elizabeth Jenkins lebte von 1905 bis 2010. Sie schrieb nicht nur Romane, sondern auch hochgelobte Biografien, u. a. über  Elizabeth I. und Jane Austen. Jenkins war maßgeblich an der Gründung der Jane-Austen-Society und am Erwerb des Hauses in Chawton beteiligt, das später das Jane Austen’s House Museum beherbergen sollte. Sie selbst hat übrigens nie geheiratet.

2004 erschien ihre Autobiografie The View from Downshire Hill.

Hier geht’s lang zum Nachruf im Telegraph.

Angelika Overath: Sie dreht sich um (2014)

Bist du da? Sie saß auf einem ovalen, rückenlosen Plüschmöbel. Es roch nach Staub wie nach altem Puder. An den Türen standen Aufseher in dunkler Uniform. Anna Michaelis sah zu der Wand mit den Bildern, auf die gedehnten Choreographien von Körpern, die sich an ihnen vorbeibewegten. Vom Hotel aus war sie gleich hierher gekommen.

Mit diesen Sätzen beginnt der Roman Sie dreht sich um der 1957 in Karlsruhe geborenen Schriftstellerin Angelika Overath. Er lädt uns ein, genauer hinzusehen, ist geradezu eine Einübung ins Sehen und leider streckenweise auch ein wenig langweilig.

Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch erklärt Annas Ehemann ihr unvermittelt, dass er eine wesentlich jüngere Geliebte habe, die sich ein Kind von ihm wünsche. Doch statt Tränen und Szenen packt

Anna, Journalistin, fünfzig Jahre alt, frischverlassen, sich wie fünf fühlend (S. 19)

ein bisschen Handgepäck zusammen und reist einen Monat umher, denn:

Vieles ist möglich, was man nicht für möglich hält. […] Es ist möglich, verlassen zu werden, nach einem halben Leben. Es ist möglich, sehr schnell ein Handgepäck zusammenzusuchen, in ein Taxi zu steigen, in ein Flugzeug. Es ist möglich, in einer fremden Stadt zu landen, in der man noch nie war. Weil es ein Anfang sein soll. Wenigstens ein Anfang. Was bleibt einem am Ende sonst übrig. (S. 22)

Wie schon in Schul- und Studienzeiten sind auch diesmal Gemäldesammlungen für Anna die wesentlichen Anlaufpunkte in den fremden Städten.

Eine Stadt besichtigen hieß für sie, ihre Bilder zu sehen. Eine Stadt versäumt zu haben war identisch mit dem Versäumen ihrer Gemälde.  (S. 23)

Diesmal haben es ihr vor allem Bilder von Frauen, besonders Rückenansichten, angetan, die anfangen, zu Anna zu sprechen, wenn sie nur ruhig und aufmerksam genug hinhört. Dies überrascht sie nicht wirklich.

Anna fragte sich, warum sie sich nicht mehr wunderte. Aber es ging ja nur ums Aushalten, irgendwie. Bei Geburten etwa produzierte der Körper schmerzstillende Stoffe. Damit die Trennung leichter gelang, betäubte er sich selbst. Vielleicht konnte die Seele das auch. (S. 20)

So gewinnen wir Einblick in verschiedenste Zeiten, Lebens- und Liebesformen und Bilder, die sich Männer – und seltener auch Künstlerinnen – eben von Frauen gemacht haben. Zusammen mit der Erzählerin sind wir in der National Gallery in Edinburgh und betrachten Gauguins Vision nach der Predigt oder Hammershøis Interieur mit junger fegender Frau von 1899, das in Kopenhagen zu sehen ist.

In Boston flaniert sie durch die Stadt und beschäftigt sich mit Gustave Caillebotte und mit Edward Hopper und dessen Ehefrau, die ihm immer wieder Modell gesessen hat. Weitere Stationen sind Bilder des Künstlers Jacobus Vrel oder von Giovanni Segantini, von dem sie eine Ausstellung in der Schweiz besucht, oder Die große Badende von Ingres. Auch den Skagen-Malern stattet sie einen Besuch ab.

Dazwischen nähert sich Anna allmählich dem Schrecken an, den der Treuebruch ihres Mannes für sie bedeutet. Sie begreift, dass sie selbst radikal in Frage gestellt wird.

Ich bin Anna, dachte sie, immer noch. Oder zumindest versuchte sie, so zu denken, als sei ihr Rufname ein Halt. Aber etwas war weggebrochen. Ein im Gedankenlosen eines Ehealltags gar nicht mehr bemerktes Geländer von Gewöhnung und Vertrauen. (S. 50)

Sie denkt über ihre lange Ehe nach, über ihre erwachsenen Kinder, ihren Beruf, der ihr Freude macht. Über die eigene Verführbarkeit.

Ihre Ehe war gescheitert. Aber konnte man wirklich so sagen? Kann man von Scheitern sprechen, wenn eine Gemeinschaft ein Vierteljahrhundert gehalten hat. Wenn zwei lebensbegabte Kinder daraus entwachsen waren. War Gelingen nur lebenslänglich zu haben? Und nur vom Ende her zu sehen? (S. 43)

Fazit

Ein ruhiges Buch mit wenigen Dialogen; eine Einladung zum Sehen, intelligent und manchmal ein wenig ermüdend.

Ich fand, da ich auch so gern Gemäldesammlungen besuche, die Zwiegespräche zwischen Anna und den Bildern schon sehr reizvoll, auch wenn das Hintergrundwissen, das uns die Erzählerin dabei en passant vermittelt, eben nicht spontan aus den imaginierten Ansprachen der gemalten Frauenfiguren entspringen kann. Doch nicht nur die Bilder und ihre Künstler haben hier einen großen Auftritt, auch dem Museumsbesuch wird ein feines Loblied gesungen:

Anna atmete durch wie in Höhenluft. Sie stand in einer der kathedralenhohen Haupthallen und hatte den Orientierungsfaltplan des Museums in der Hand. In unterschiedlichen Farben waren die Abteilungen auf den verzweigten Stockwerken verzeichnet; aber sie lief einfach immer weiter. Helle Flure, offene Treppen, gläserne Fluchten, von denen weitere Galerien abzweigten. Manchmal fragte sie einen der vielen Wärter, wo sie sich befand. Und war dann richtungsblind schon wieder unterwegs auf einem unsinnig seligen Weg. (S. 119)

Ich würde sofort mit Anna oder auch der Autorin in eine Galerie gehen und mich in der Kunst des behutsamen und sorgfältigen Hinschauens üben. Die Annäherung an die Bilder hat mich streckenweise stärker interessiert als die Frage nach Annas Ehe.

Wenn das Zusammenleben noch gut ist, weiß man es nicht. Man nimmt es einfach hin. Und streitet über liegengelassene Socken auf der Treppe oder ein verschwundenes Buch. Oder den Müll. Sitzt abends am Küchentisch, zeitunglesend, vor Korrekturen oder am Notebook. Gewöhnung macht blind. (S. 73)

Der Seitensprung des Ehemanns wird seltsam sachlich konstatiert. Auch das Ende hat mich nicht gänzlich überzeugt. Die Lage der porträtierten Frauen hat wenig mit der Lage Annas zu tun. Die Bilder wirken eher wie Spiegellabyrinth, das zeigt, dass Annas Leben eben nur einer von unzähligen möglichen Lebensentwürfen ist, denen Frauen im Laufe der Zeiten freiwillig oder unfreiwillig gefolgt sind.

Der größte Kritikpunkt ist für mich allerdings, dass ich mich immer dann gar gepflegt gelangweilt habe, wenn uns die Erzählerin seitenlang die Gemälde beschreibt, die ja nicht im Buch abgedruckt sind. Natürlich habe ich die Bilder gegoogelt. Zwar mag es reizvoll sein nachzuvollziehen, inwieweit Worte ein Bild fassen und erfassen können. Dennoch: Sprache hat mir da, egal wie präzise gewählt, nicht gereicht, genau wie mir die Beschreibung eines Musikstückes nicht ausreichen würde. Ich brauche den Anblick. Worte allein wecken hier keinerlei Emotionen – ganz im Gegensatz zum eigentlichen Kunstwerk.

Es gibt das glatte Weiß und das rauhe Weiß und ihre Schatten. Im Innern des Buttertellers ist das Weiß glatt, und auch der Schatten im porzellanenen Tellerrand ist von glattem Weiß. Aber der Teller wirft auch einen Schatten auf die weiße Leinendecke. Dieser Schatten ist rauh. Die Decke hat zwei Falten, die vom Zusammenlegen herrühren. Die linke dieser Liegefalten zeigt eine glänzende Linie der Erhebung gegen rechts und eine dunkle, weiße Schattenlinie gegen links. Die rechte Liegefalte scheint nicht ganz so hoch. Glanz und Schatten sind abgeschwächt. Auch die milchfettweiße Butter wirft eine schmelzende Schattenseite in sich. Wie ein Gebirge. Ein Tafelgebirge sozusagen. (S. 57)

Literarische Nachbarinnen

Es scheint gerade eine gute Zeit für Frauenfiguren in der deutschsprachigen Literatur zu sein, die sich aus unterschiedlichsten Gründen dafür entscheiden, aus allen Lebenszusammenhängen auszusteigen, um mit sich oder einer bestimmten Situation zurechtzukommen.

Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau (OA 2013)

Ich gehe über den Styx und packe ein: eine Tube Zahnpasta (kleiner Scherz am Rande) …

Obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir sehr gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße. Mich zu dieser entwürdigenden Aktion zu erniedrigen ist wahrlich die unangenehmste Konsequenz des ziemlich verrückten Wegs, den ich auf meine alten Tage gewählt habe. Doch ich würde das Pflegepersonal misstrauisch machen, wenn ich mein Nachtzeug unbeschmutzt ließe.

So beginnt der Roman des flämischen Schriftstellers

Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau (2014)

Die Originalversion erschien 2013 und wurde von Rainer Kersten ins Deutsche übersetzt.

Zum Inhalt

Der über siebzigjährige ehemalige Bibliothekar Désiré Cordier erträgt die Vorstellung nicht, Garten und Eigenheim aufzugeben, um mit seiner nervtötenden Gattin in eine kleine und pflegeleichtere Stadtwohnung zu ziehen. Denn dort wäre es noch viel schwieriger, einander aus dem Weg zu gehen.

Ich reagiere schon lange nicht mehr auf die endlosen Tiraden meiner Frau; einer von vielen, möglicherweise Millionen schweigender Männer, die sich gegen die Launen ihrer Gattin mit einem Panzer von Gleichgültigkeit wappnen. Jahrelange Übung hat mich das gekostet. […] Gegen ihre Giftigkeit bot ich meine Gleichgültigkeit auf. Störrisch gruben wir uns in unsere Stellungen ein und wurden zusammen unromantisch alt, überlebten sogar befreundete Paare, die wirklich liebevoll miteinander umgegangen waren. (S. 16/17)

Also erarbeitet er sich zielstrebig die Einweisung in ein Altenpflegeheim. Er macht einen auf dement und hat diebische Freude daran, es mal so richtig krachen zu lassen und sich damit an seiner Frau zu rächen für all ihre Gemeinheiten, Bevormundungen und Taktlosigkeiten. Statt des Kuchens bringt er zum Nachmittagskaffee einen Toaster mit aus der Stadt, beim Einkaufen „vergisst“ er in einer Boutique zu zahlen und wird zur Schmach seiner Frau von der Polizei nach Hause eskortiert. Und er „erkennt“ schließlich weder Frau noch Kinder.

Er erreicht sein Ziel und kann nun Pflegenotstand und Trostlosigkeit im Heim am eigenen Leib erleben. Wie alte Menschen nur noch ein „Sack Knochen“ sind, niemand Zeit für sie hat, mit ihnen wie Kindern geredet wird, ihnen jegliche Persönlichkeit abhanden kommt.

Die Hauptbeschäftigung eines Demenzkranken ist Flüchten. Immer und überall will, muss er davon. Aus diesem Grund hat man im Garten unseres Heims eine Bushaltestelle gebaut. Reiner Schwindel natürlich. Ich meine: Nie wird dort ein Bus abfahren oder anhalten. Doch die Haltestelle ist eine perfekte Kopie, komplett mit Wartehäuschen und Sitzen, aushängendem Fahrplan und Informationen, für die sich übrigens kein Heiminsasse interessiert, die das Ganze aber besonders glaubwürdig machen. […] Seit diese Geisterhaltestelle im Garten von Winterlicht steht, müssen die Pfleger weniger Zeit mit der Suche nach ausgebüchsten Patienten verplempern. (S. 60)

Sogar seine Jugendliebe trifft er dort wieder, doch sie erkennt ohnehin niemanden mehr. Er – geistig noch hellwach und beieinander – erzählt uns nun von seinen Tagen im Heim, seiner Ehe, den Besuchen seiner Tochter. Letztlich ist das natürlich alles die Vorbereitung auf den finalen Abschied, den er sich ebenfalls nicht aus der Hand nehmen lassen will.

Was steht noch auf dem Wagen, dem letzten, der zu uns ins Zimmer gerollt wird? Die berühmten Swash-Tücher natürlich, dazu bestimmt, die sterblichen Überreste zu säubern, ohne die Talgschicht der Haut anzugreifen. Nur der Schambereich wird mit Seife gewaschen, damit die Leichenfeier nicht geruchsbedingt auf einem Fischmarkt stattfinden muss.  (S. 126)

Fazit

Schade, hier gibt es einen Plot, der wirklich nicht für mehr als die 140 Seiten gereicht hätte, die Grundidee hat’s nicht so mit der Logik. Wer würde sich bei halbwegs guter Gesundheit freiwillig den ganzen Tag vor sich hinstierend in einen Rollstuhl setzen und sich vorsätzlich in die Hose machen?

Warum hat er seine Frau nicht vor Jahrzehnten verlassen? Warum hat er pantoffelheldenhaft all ihre Demütigungen ertragen?

Zum Glück habe ich wenigstens schon früher – und ohne Monieks Wissen – testamentarisch festlegen lassen, dass es mir absolut wurst ist, wo meine sterblichen Überreste mal hinkommen, Hauptsache, nicht neben sie. Lange genug haben sie und ich wie zwei Leichen nebeneinander gelegen, dass wir das nicht auch noch im Tod fortsetzen müssen. (S. 89)

Wie schafft er es fast ungerührt, seiner Tochter in die Augen zu schauen, die so traurig über ihren angeblich dementen Vater ist, und ihr weiter dieses Schauspiel vorzumachen? Letztendlich ist Cordier gar nichts wirklich wichtig. Nichts freut ihn oder macht ihn dankbar. Er ist ein Zyniker, der sein Leben als verfehlt ansieht, ohne dem näher auf den Grund zu gehen. Ohne Pause kreist er nur um sich und verschwendet keinen Gedanken daran, dass er auch etwas für andere sein oder tun könnte.

Dennoch hat Verhulst hier einen Ich-Erzähler geschaffen, der so schnoddrig ehrlich von einer völlig verpatzten Ehe erzählt, Missstände des Alterns offenlegt und dem Sterben geradezu pietätlos entgegensieht, dass es immer wieder Stellen gab, die mich zumindest ein bisschen mit dem Buch versöhnt  haben.

Ich musste einen Moment nicht aufgepasst haben – unversehens war ich alt. (S. 65)

Anmerkungen

Hier geht es lang zu den Besprechungen bei der Bücherphilosophin, bei Literatwo,  beim Durchleser und bei der Literaturwelt.