Meine Aufzeichnungen sollen nicht nur ein kleiner persönlicher Beitrag sein, in dem ich mich bemüht habe, das eigene Schicksal mit der Zeit- und Kriegsgeschichte zu vernetzen, sondern sie sind auch eine Liebeserklärung an die verlorene pommersche Heimat, an Trieglaff und Vahnerow. (S. 11)
Zunächst tat ich mich schwer mit der spröden, oft eher nüchternen Erzählweise der Kunsthistorikerin und Lektorin, die möglicherweise auch daher rührt, dass die Erinnerungen erst sechs Jahrzehnte nach den Geschehnissen festgehalten wurden (auch wenn unzählige Briefe – vor allem an das ehemalige Kindermädchen Inga – und tagebuchartige Einträge in ihren Taschenkalendern als Gedächtnisstütze vorhanden waren).
Es war, als ob sich auch Maria Wellershoff (1922 – 2021; geborene von Thadden) erst an ihre Geschichte hat herantasten müssen, indem sie die Gebäude und Funktion der verschiedenen Räume von Schloss und Gutshof beschreibt, in denen sich ein Großteil ihrer Kindheit abgespielt hat.
Man sollte sich also von den ersten Seiten nicht abschrecken lassen, denn irgendwann springt der Funke über, sind doch die Lebenserinnerungen der Maria Wellershoff an ihre Kindheit und Jugend wie ein Fernrohr in eine gänzlich andere Welt, die durch die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg endgültig verschwunden ist. Ehrlich geschrieben, diskret, manchmal selbstironisch, nie larmoyant, mit einer Reihe Fotos, einem hilfreichen Stammbaum und einer Landkarte zum Nachschlagen der Ortsnamen.
Maria Wellershoff war eines der Kinder von Adolf Gerhard Ludwig von Thadden-Trieglaff (1858 – 1932, alter pommerscher Adel) und seiner zweiten, Jahrzehnte jüngeren Ehefrau, der Lehrerin Anna Barbara Blank (1895 – 1972).
Maria erzählt von ihrer eher spartanisch-sparsamen Kindheit auf dem Schloss in Trieglaff und später auf dem Gut in Vahnerow. Kleider wurden von Schwester zu Schwester weitergereicht, das Geld war durchaus knapp in der Familie des adligen Landrats. Der Vater spielte schon aufgrund seines Alters keine nennenswerte Rolle im Leben Marias. Er scheint vor allem erpicht darauf gewesen zu sein, dass sich die sechs Kinder aus der „zweiten Serie“ im Haus leise verhielten, damit er nicht von Kinderlärm gestört wurde, schließlich hatte er bereits fünf erwachsene Kinder aus erster Ehe. Diese waren – ebenso wie die weitere Verwandtschaft – nicht besonders glücklich über Tadden-Trieglaffs zweite Eheschließung mit der fast 40 Jahre jüngeren Frau gewesen, war Stiefmutter Barbara doch in ihrem Alter. Und dazu noch eine Bürgerliche.
Wir lesen, dass die Kinder frühestens ab sechs Jahren mit den Eltern zu Mittag essen durften, wenn man davon ausgehen konnte, dass sie über passable Tischmanieren verfügten. Sprechen war nur erlaubt, falls man sie etwas gefragt hatte. Es verwundert nicht, dass später unzählige Briefe Marias eher an das ehemalige Kindermädchen und die spätere Freundin der Familie, Irmgard (Inga) Meyer, gerichtet waren, die 1928 mit 18 Jahren als ausgebildete Kindergärtnerin in die Familie gekommen war.
Man lud zu geselligen literarischen Abenden ein, ging auf die Jagd und Jungen wurden ganz selbstverständlich bevorzugt. Ihr Bruder Adolf bekam mit sieben Jahren ein Reitpferd, wie sich das für den Sohn des Gutsbesitzers gehörte. Doch er war daran gar nicht interessiert. Und nur deshalb kam Maria in den Genuss, ein eigenes Pony zu haben.
Mit den „einfachen“ Arbeitern oder gar deren Kindern im Dorf hatte man keinen Kontakt und Adolf und Maria wurden von der Pfarrersfrau im Pfarrhaus unterrichtet. Eine Schultüte gab es nur für den Bruder. Als Maria den etwas älteren Bruder beim Lernen einholte, wurden sie dennoch weiterhin getrennt unterrichtet, es wäre sonst möglicherweise für den Jungen ein Gesichtsverlust gewesen, wenn die Schwester rascher gelernt hätte.
Kindliche Beschäftigungen, die traumatische Entfernung der Mandeln (die Betäubung hatte nicht ganz ausgereicht), Besuche auf den Nachbargütern, Schwimmen im See, Scharaden, Handarbeiten (ganz wichtig, vor allem wenn die Herren vorlasen), Urlaube an der Ostsee in Kolberger Deep. Der Zusammenhalt der Schwestern.
Es geht mit diversen – eher trostlosen – Schul- und Internatserfahrungen weiter. Nach der Untertertia am Greifenberger Gymnasium der Wechsel in das Internat, das Freiadlige Magdalenenstift in Altenburg in Thüringen, in dem die jüngste Schwester des Vaters von 1908 bis 1932 Pröpstin war. Dort erwirbt Maria den Realschulabschluss.
Der erste Blick in den großen, kahlen Schlafsaal war bestimmt schockierend: ein weiß gekalkter, schmuckloser Raum mit zwölf oder dreizehn schwarzen Eisenbetten, auf denen weißes Bettzeug lag. In einer Ecke war ein Holzverschlag, das sogenannte Kabuff, abgeteilt, olivgrün gestrichen, mit undurchsichtigen Glasfenstern: der karge Schlafplatz für eine Lehrerin, deren Aufgabe es war, für Ruhe zu sorgen, den Mädchen das leise Schwatzen zu verbieten. (S. 158)
Jede Schülerin hatte einen vielleicht eineinhalb Quadratmeter großen Platz, auf dem ein Tischchen mit Schubfach für die Waschutensilien stand, darauf eine Blechschüssel, darunter eine ovale Fußwanne. Einen Schemel hatte man auch. Man konnte, wenn man sich wusch, graue, an Eisenstangen befestigte Vorhänge zuziehen, man tat es aber nicht (außer man hatte „seine Tage“), damit gegenseitige Kontrolle möglich war. Wenn sich ein schamhafter Neuling vor fremden Blicken schützen wollte, wurden die Vorhänge rücksichtslos von älteren Schülerinnen zur Seite gezogen. (S. 159)
Auch wenn in Marias Internatsklasse von den 26 Schülerinnen „nur“ fünf oder sechs im BDM waren: Der Antisemitismus der Nationalsozialisten trat immer deutlicher zutage. Trotz der Hausschneiderin musste hin und wieder auch Kleidung gekauft werden:
Konfektion wurde im Kaufhaus Löwenberg gekauft, dem einzigen größeren Textilgeschäft in Greifenberg. Als vor dem Kaufhaus ein großes Schild stand mit der Aufschrift ‚Kauft nicht beim Juden‘ – das war im April 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nazis – kümmerte sich unsere Mutter nicht darum, sie nahm mich an die Hand und ging mit mir in das Geschäft. Niemand hätte es gewagt, sie, die Frau Landrat, daran zu hindern. (S. 108)
Marias politisch liberal eingestellte Mutter war in ihrer konsequenten Ablehnung des Antisemitismus und ihrer kritischen Haltung gegenüber den Nazis für sie ein Vorbild. 1938 stellt die Mutter das Geld einer ihr aus England zugedachten Erbschaft zwei jüdischen Ärzten und deren Frauen als Bürgschaft zur Verfügung. Ohne diese Bürgschaft hätten die zwei Ehepaare nicht in die USA einreisen dürfen.
Eine wichtige Rolle bei Marias Ablehnung des Nazi-Regimes spielte sicherlich auch ihre Halbschwester Elisabeth von Thadden (1890 – 1944). Diese stand ebenfalls der Bekennenden Kirche nahe, war im Widerstand aktiv und wurde nach regimekritischen Äußerungen von dem Gestapo-Spitzel Paul Reckzeh denunziert, anschließend verhaftet und durch Freisler 1944 zum Tod durch Enthaupten verurteilt. Erst Monate später erfährt Maria, dass nicht die Gefängnisverwaltung ihr ein letztes Treffen mit Elisabeth verboten, sondern Elisabeth selbst ihren Besuch abgelehnt hatte.
Sie wollte nicht, dass ich sie in diesem demütigenden Zustand sähe: mit kurzgeschorenen Haaren, im gestreiften Sträflingskleid, abgemagert, mit eiternden und blutigen, von den Eisenfesseln aufgescheuerten Handgelenken. So sollte ich sie nicht in Erinnerung behalten. Wie hätte ich, einundzwanzig Jahre alt, auf diesen Anblick, auf den ich nicht vorbereitet war, reagiert? (S. 370)
Zwischen den Zeilen klingt dann noch mehr von der komplizierten Familienstruktur an. Wenn es beispielsweise heißt „Ado [Spitzname ihres Bruders Adolf], der wenig ältere Bruder, hat sich dem mütterlichen Einfluss früh entzogen.“ (S. 146), so ist das sicherlich auch eine Anspielung darauf, dass Adolf von Thadden nach dem Krieg in diversen rechtsextremistischen Parteien aktiv war und schließlich Bundesvorsitzender der NPD wurde.
Ihr Halbbruder Reinold von Thadden (1891 – 1976) hingegen trat der Bekennenden Kirche bei und war Gründer des Evangelischen Kirchentages.
Als Kriegsgefangene und später auch Zwangsarbeiter aus der Ukraine auf dem heimischen Gut einquartiert wurden, hat Marias Mutter dieser Aufgabe versucht, gewissenhaft und menschlich nachzukommen. Sie sorgte dafür, dass zwei ukrainische Frauen ihre Babys verstecken konnten anstatt sie bei einer NS-Dienststelle abzugeben.
Beim Einmarsch der russischen Truppen Anfang März 1945 haben sich die Ukrainer schützend vor unsere Mutter, Baba [Schwester Barbara] und das Hauspersonal gestellt. Den unbeliebten Inspektor gaben sie sofort ‚zum Abschuss frei‘. (S. 237)
In Berlin bereitet sich Maria auf ihre Abiturprüfung vor, nimmt Reitstunden und genießt die nach wie vor geöffneten Theater, Kinos und die Oper. Nach dem Abitur beschließt sie Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie zu studieren, zunächst in Freiburg, dann Leipzig, unterbrochen von Arbeitseinsätzen beim Arbeitsdienst.
Noch 1944 genießt man auf den pommerschen Gutshöfen Tanztees und isst Kuchen mit den Soldaten auf Heimaturlaub. Besonders schön, wenn man dabei nicht nur auf das Grammophon angewiesen war, sondern sich ein Pianist fand, der
sich an den Flügel setzte, den es in jedem Gutshaus gab, und die Walzer, Tangos und Foxtrotts spielte, temperamentvoll und laut. (S. 346)
Marias letzter Studienort während des Krieges ist – und ich war ein bisschen verblüfft – Prag, wo die tschechischen StudentInnen schon nicht mehr studieren durften, was sie zwar ungerecht und verwerflich findet, sie aber nicht von Prag abbringen kann, das sie als sicher empfindet.
Bei einem ihrer Ausflüge zusammen mit einer Freundin kommen sie am Konzentrationslager Theresienstadt vorbei.
Am Ortseingang wies ein großes Schild darauf hin, dass die Mindestgeschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern bei der Durchfahrt eingehalten werden muss. Der Grund: Niemand sollte bei langsamem Fahren Gelegenheit haben, sich das KZ genau anzusehen. (S. 359)
Den Zug von traurigen Häftlingen, der ihnen auf der anderen Straßenseite entgegenkommt, hat sie ihr Leben lang nicht vergessen.
Einige der bizarrsten Szenen des Buches, die den Irrsinn und die Verblendung des Nationalsozialismus in dieser Lebensgeschichte wie in einem Brennglas einfangen, spielen in Tschechien. Ein Professor in Prag will seine Studentinnen vor unsinnigen und den Krieg möglicherweise noch verlängernden Einsätzen in der Rüstungsindustrie bewahren. Dafür bietet er ihnen z. B. zügige Dissertationsmöglichkeiten an. Maria und eine gute Freundin bekommen eine andere Aufgabe: Im Auftrag einer SS-Dienststelle sollen sie in beschlagnahmten und enteigneten tschechischen Schlössern Kunstobjekte, Möbel, kostbares Geschirr, Gemälde und Teppiche, inventarisieren. Auf dass die Enteigneten nicht etwa noch etwas von ihrem Eigentum mitnahmen. Und das alles noch bis ins Jahr 1945 hinein, als der Krieg längst verloren war. In einem der beschlagnahmten Schlösser hatten sich Offiziere und Soldaten wohnlich eingerichtet und übten mit den edlen Pferden des rechtmäßigen Besitzers sogar die „komplizierten Schritte der Wiener Hofreitschule.“ (S. 390)
Als die Front näher rückt, kann ihr Bruder Ado sie gerade noch rechtzeitig unter dem Deckmantel eines angeblichen militärischen Auftrags aus Prag herausholen. Die beiden Geschwister kommen kurzzeitig in amerikanische Gefangenschaft und treffen schließlich einen Großteil der überwiegend ausgebombten Familienmitglieder in Göttingen. Als Ado versucht, Schwester Baba und die Mutter aus Pommern herauszuholen, gerät er in polnische Gefangenschaft, aus der er erst ein Jahr später entkommen kann. Baba und die Mutter werden 1946 aus Pommern ausgewiesen. Deren Hoffnung, die Heimat für ihre Kinder zu erhalten, war damit endgültig gescheitert.
Nach der Ermordung unseres Bruders Gerhard am 2. Oktober 1945 im Wald bei Hannoversch-Münden und dem allmählichen Begreifen, dass die pommersche Heimat endgültig verloren war, habe ich nichts mehr notiert, nie wieder einen Taschenkalender besessen. (S. 19)
Nach Kriegsende setzt Maria von Thadden ihr Studium in Göttingen fort und lernt dort ihren späteren Mann, den Literaturtheoretiker und Schriftsteller Dieter Wellershoff, kennen.