Maria Wellershoff: Von Ort zu Ort – eine Jugend in Pommern (2010)

Meine Aufzeichnungen sollen nicht nur ein kleiner persönlicher Beitrag sein, in dem ich mich bemüht habe, das eigene Schicksal mit der Zeit- und Kriegsgeschichte zu vernetzen, sondern sie sind auch eine Liebeserklärung an die verlorene pommersche Heimat, an Trieglaff und Vahnerow. (S. 11)

Zunächst tat ich mich schwer mit der spröden, oft eher nüchternen Erzählweise der Kunsthistorikerin und Lektorin, die möglicherweise auch daher rührt, dass die Erinnerungen erst sechs Jahrzehnte nach den Geschehnissen festgehalten wurden (auch wenn unzählige Briefe – vor allem an das ehemalige Kindermädchen Inga – und tagebuchartige Einträge in ihren Taschenkalendern als Gedächtnisstütze vorhanden waren).

Es war, als ob sich auch Maria Wellershoff (1922 – 2021; geborene von Thadden) erst an ihre Geschichte hat herantasten müssen, indem sie die Gebäude und Funktion der verschiedenen Räume von Schloss und Gutshof beschreibt, in denen sich ein Großteil ihrer Kindheit abgespielt hat.

Man sollte sich also von den ersten Seiten nicht abschrecken lassen, denn irgendwann springt der Funke über, sind doch die Lebenserinnerungen der Maria Wellershoff an ihre Kindheit und Jugend wie ein Fernrohr in eine gänzlich andere Welt, die durch die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg endgültig verschwunden ist. Ehrlich geschrieben, diskret, manchmal selbstironisch, nie larmoyant, mit einer Reihe Fotos, einem hilfreichen Stammbaum und einer Landkarte zum Nachschlagen der Ortsnamen.

Maria Wellershoff war eines der Kinder von Adolf Gerhard Ludwig von Thadden-Trieglaff (1858 – 1932, alter pommerscher Adel) und seiner zweiten,  Jahrzehnte jüngeren Ehefrau, der Lehrerin Anna Barbara Blank (1895 – 1972).

Maria erzählt von ihrer eher spartanisch-sparsamen Kindheit auf dem Schloss in Trieglaff und später auf dem Gut in Vahnerow. Kleider wurden von Schwester zu Schwester weitergereicht, das Geld war durchaus knapp in der Familie des adligen Landrats. Der Vater spielte schon aufgrund seines Alters keine nennenswerte Rolle im Leben Marias. Er scheint vor allem erpicht darauf gewesen zu sein, dass sich die sechs Kinder aus der „zweiten Serie“ im Haus leise verhielten, damit er nicht von Kinderlärm gestört wurde, schließlich hatte er bereits fünf erwachsene Kinder aus erster Ehe. Diese waren – ebenso wie die weitere Verwandtschaft – nicht besonders glücklich über Tadden-Trieglaffs zweite Eheschließung mit der fast 40 Jahre jüngeren Frau gewesen, war Stiefmutter Barbara doch in ihrem Alter. Und dazu noch eine Bürgerliche.

Wir lesen, dass die Kinder frühestens ab sechs Jahren mit den Eltern zu Mittag essen durften, wenn man davon ausgehen konnte, dass sie über passable Tischmanieren verfügten. Sprechen war nur erlaubt, falls man sie etwas gefragt hatte. Es verwundert nicht, dass später unzählige Briefe Marias eher an das ehemalige Kindermädchen und die spätere Freundin der Familie, Irmgard (Inga) Meyer, gerichtet waren, die 1928 mit 18 Jahren als ausgebildete Kindergärtnerin in die Familie gekommen war.

Man lud zu geselligen literarischen Abenden ein, ging auf die Jagd und Jungen wurden ganz selbstverständlich bevorzugt. Ihr Bruder Adolf bekam mit sieben Jahren ein Reitpferd, wie sich das für den Sohn des Gutsbesitzers gehörte. Doch er war daran gar nicht interessiert. Und nur deshalb kam Maria in den Genuss, ein eigenes Pony zu haben.

Mit den „einfachen“ Arbeitern oder gar deren Kindern im Dorf hatte man keinen Kontakt und Adolf und Maria wurden von der Pfarrersfrau im Pfarrhaus unterrichtet. Eine Schultüte gab es nur für den Bruder. Als Maria den etwas älteren Bruder beim Lernen einholte, wurden sie dennoch weiterhin getrennt unterrichtet, es wäre sonst möglicherweise für den Jungen ein Gesichtsverlust gewesen, wenn die Schwester rascher gelernt hätte.

Kindliche Beschäftigungen, die traumatische Entfernung der Mandeln (die Betäubung hatte nicht ganz ausgereicht), Besuche auf den Nachbargütern, Schwimmen im See, Scharaden, Handarbeiten (ganz wichtig, vor allem wenn die Herren vorlasen), Urlaube an der Ostsee in Kolberger Deep. Der Zusammenhalt der Schwestern.

Es geht mit diversen – eher trostlosen – Schul- und Internatserfahrungen weiter. Nach der Untertertia am Greifenberger Gymnasium der Wechsel in das Internat, das Freiadlige Magdalenenstift in Altenburg in Thüringen, in dem die jüngste Schwester des Vaters von 1908 bis 1932 Pröpstin war. Dort erwirbt Maria den Realschulabschluss.

Der erste Blick in den großen, kahlen Schlafsaal war bestimmt schockierend: ein weiß gekalkter, schmuckloser Raum mit zwölf oder dreizehn schwarzen Eisenbetten, auf denen weißes Bettzeug lag. In einer Ecke war ein Holzverschlag, das sogenannte Kabuff, abgeteilt, olivgrün gestrichen, mit undurchsichtigen Glasfenstern: der karge Schlafplatz für eine Lehrerin, deren Aufgabe es war, für Ruhe zu sorgen, den Mädchen das leise Schwatzen zu verbieten. (S. 158)

Jede Schülerin hatte einen vielleicht eineinhalb Quadratmeter großen Platz, auf dem ein Tischchen mit Schubfach für die Waschutensilien stand, darauf eine Blechschüssel, darunter eine ovale Fußwanne. Einen Schemel hatte man auch. Man konnte, wenn man sich wusch, graue, an Eisenstangen befestigte Vorhänge zuziehen, man tat es aber nicht (außer man hatte „seine Tage“), damit gegenseitige Kontrolle möglich war. Wenn sich ein schamhafter Neuling vor fremden Blicken schützen wollte, wurden die Vorhänge rücksichtslos von älteren Schülerinnen zur Seite gezogen. (S. 159)

Auch wenn in Marias Internatsklasse von den 26 Schülerinnen „nur“ fünf oder sechs im BDM waren: Der Antisemitismus der Nationalsozialisten trat immer deutlicher zutage. Trotz der Hausschneiderin musste hin und wieder auch Kleidung gekauft werden:

Konfektion wurde im Kaufhaus Löwenberg gekauft, dem einzigen größeren Textilgeschäft in Greifenberg. Als vor dem Kaufhaus ein großes Schild stand mit der Aufschrift ‚Kauft nicht beim Juden‘ – das war im April 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nazis – kümmerte sich unsere Mutter nicht darum, sie nahm mich an die Hand und ging mit mir in das Geschäft. Niemand hätte es gewagt, sie, die Frau Landrat, daran zu hindern. (S. 108)

Marias politisch liberal eingestellte Mutter war in ihrer konsequenten Ablehnung des Antisemitismus und ihrer kritischen Haltung gegenüber den Nazis für sie ein Vorbild. 1938 stellt die Mutter das Geld einer ihr aus England zugedachten Erbschaft zwei jüdischen Ärzten und deren Frauen als Bürgschaft zur Verfügung. Ohne diese Bürgschaft hätten die zwei Ehepaare nicht in die USA einreisen dürfen.

Eine wichtige Rolle bei Marias Ablehnung des Nazi-Regimes spielte sicherlich auch ihre Halbschwester Elisabeth von Thadden (1890 – 1944). Diese stand ebenfalls der Bekennenden Kirche nahe, war im Widerstand aktiv und wurde nach regimekritischen Äußerungen von dem Gestapo-Spitzel Paul Reckzeh denunziert, anschließend verhaftet und durch Freisler 1944 zum Tod durch Enthaupten verurteilt. Erst Monate später erfährt Maria, dass nicht die Gefängnisverwaltung ihr ein letztes Treffen mit Elisabeth verboten, sondern Elisabeth selbst ihren Besuch abgelehnt hatte.

Sie wollte nicht, dass ich sie in diesem demütigenden Zustand sähe: mit kurzgeschorenen Haaren, im gestreiften Sträflingskleid, abgemagert, mit eiternden und blutigen, von den Eisenfesseln aufgescheuerten Handgelenken. So sollte ich sie nicht in Erinnerung behalten. Wie hätte ich, einundzwanzig Jahre alt, auf diesen Anblick, auf den ich nicht vorbereitet war, reagiert? (S. 370)

Zwischen den Zeilen klingt dann noch mehr von der komplizierten Familienstruktur an. Wenn es beispielsweise heißt „Ado [Spitzname ihres Bruders Adolf], der wenig ältere Bruder, hat sich dem mütterlichen Einfluss früh entzogen.“ (S. 146), so ist das sicherlich auch eine Anspielung darauf, dass Adolf von Thadden nach dem Krieg in diversen rechtsextremistischen Parteien aktiv war und schließlich Bundesvorsitzender der NPD wurde.

Ihr Halbbruder Reinold von Thadden (1891 – 1976) hingegen trat der Bekennenden Kirche bei und war Gründer des Evangelischen Kirchentages.

Als Kriegsgefangene und später auch Zwangsarbeiter aus der Ukraine auf dem heimischen Gut einquartiert wurden, hat Marias Mutter dieser Aufgabe versucht, gewissenhaft und menschlich nachzukommen. Sie sorgte dafür, dass zwei ukrainische Frauen ihre Babys verstecken konnten anstatt sie bei einer NS-Dienststelle abzugeben.

Beim Einmarsch der russischen Truppen Anfang März 1945 haben sich die Ukrainer schützend vor unsere Mutter, Baba [Schwester Barbara] und das Hauspersonal gestellt. Den unbeliebten Inspektor gaben sie sofort ‚zum Abschuss frei‘. (S. 237)

In Berlin bereitet sich Maria auf ihre Abiturprüfung vor, nimmt Reitstunden und genießt die nach wie vor geöffneten Theater, Kinos und die Oper. Nach dem Abitur beschließt sie Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie zu studieren, zunächst in Freiburg, dann Leipzig, unterbrochen von Arbeitseinsätzen beim Arbeitsdienst.

Noch 1944 genießt man auf den pommerschen Gutshöfen Tanztees und isst Kuchen mit den Soldaten auf Heimaturlaub. Besonders schön, wenn man dabei nicht nur auf das Grammophon angewiesen war, sondern sich ein Pianist fand, der

sich an den Flügel setzte, den es in jedem Gutshaus gab, und die Walzer, Tangos und Foxtrotts spielte, temperamentvoll und laut. (S. 346)

Marias letzter Studienort während des Krieges ist – und ich war ein bisschen verblüfft – Prag, wo die tschechischen StudentInnen schon nicht mehr studieren durften, was sie zwar ungerecht und verwerflich findet, sie aber nicht von Prag abbringen kann, das sie als sicher empfindet.

Bei einem ihrer Ausflüge zusammen mit einer Freundin kommen sie am Konzentrationslager Theresienstadt vorbei.

Am Ortseingang wies ein großes Schild darauf hin, dass die Mindestgeschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern bei der Durchfahrt eingehalten werden muss. Der Grund: Niemand sollte bei langsamem Fahren Gelegenheit haben, sich das KZ genau anzusehen. (S. 359)

Den Zug von traurigen Häftlingen, der ihnen auf der anderen Straßenseite entgegenkommt, hat sie ihr Leben lang nicht vergessen.

Einige der bizarrsten Szenen des Buches, die den Irrsinn und die Verblendung des Nationalsozialismus in dieser Lebensgeschichte wie in einem Brennglas einfangen, spielen in Tschechien. Ein Professor in Prag will seine Studentinnen vor unsinnigen und den Krieg möglicherweise noch verlängernden Einsätzen in der Rüstungsindustrie  bewahren. Dafür bietet er ihnen z. B. zügige Dissertationsmöglichkeiten an. Maria und eine gute Freundin bekommen eine andere Aufgabe: Im Auftrag einer SS-Dienststelle sollen sie in beschlagnahmten und enteigneten tschechischen Schlössern Kunstobjekte, Möbel, kostbares Geschirr, Gemälde und Teppiche, inventarisieren. Auf dass die Enteigneten nicht etwa noch etwas von ihrem Eigentum mitnahmen. Und das alles noch bis ins Jahr 1945 hinein, als der Krieg längst verloren war. In einem der beschlagnahmten Schlösser hatten sich Offiziere und Soldaten wohnlich eingerichtet und übten mit den edlen Pferden des rechtmäßigen Besitzers sogar die „komplizierten Schritte der Wiener Hofreitschule.“ (S. 390)

Als die Front näher rückt, kann ihr Bruder Ado sie gerade noch rechtzeitig unter dem Deckmantel eines angeblichen militärischen Auftrags aus Prag herausholen. Die beiden Geschwister kommen kurzzeitig in amerikanische Gefangenschaft und treffen schließlich einen Großteil der überwiegend ausgebombten Familienmitglieder in Göttingen. Als Ado versucht, Schwester Baba und die Mutter aus Pommern herauszuholen, gerät er in polnische Gefangenschaft, aus der er erst ein Jahr später entkommen kann. Baba und die Mutter werden 1946 aus Pommern ausgewiesen. Deren Hoffnung, die Heimat für ihre Kinder zu erhalten, war damit endgültig gescheitert.

Nach der Ermordung unseres Bruders Gerhard am 2. Oktober 1945 im Wald bei Hannoversch-Münden und dem allmählichen Begreifen, dass die pommersche Heimat endgültig verloren war, habe ich nichts mehr notiert, nie wieder einen Taschenkalender besessen. (S. 19)

Nach Kriegsende setzt Maria von Thadden ihr Studium in Göttingen fort und lernt dort ihren späteren Mann, den Literaturtheoretiker und Schriftsteller Dieter Wellershoff, kennen.

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Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich so, wie es nie war (2013)

Mein erster Toter war ein Rentner. Lange bevor in meiner Familie ein Unfall, eine Krankheit und Altersschwäche die nächsten geliebten Menschen verschwinden ließen, lange bevor ich hinnehmen musste, dass der eigene Bruder, der zu junge Vater, die Großeltern, ja selbst der Kindheits-Hund nicht unsterblich waren, und lange bevor ich in ein zwanghaftes Dauergespräch mit meinen Gestorbenen geriet – so heiter, so verzweifelt -, fand ich eines Morgens einen toten Rentner.

Mit diesem Satz beginnt der zweite Erinnerungsband des Schauspielers Joachim Meyerhoff, in dem er aus seiner Kindheit erzählt. Sein Vater war der ehemalige Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig.

Die Erinnerungen beginnen kurz nach seinem siebten Geburtstag und enden, als er ca. Mitte zwanzig ist. Dabei kreisen viele der Geschichten um den schwer übergewichtigen Vater, der so gerne abnehmen möchte und Bücher und Zeitschriften und Zeitungen in sich hineinstopft und sich danach an alles erinnern kann, was er gelesen hat.

Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so wahllos hochgebildet war wie mein Vater. Er konnte sich für die Deutsche Hitparade genauso begeistern wie für die Kindertotenlieder von Gustav Mahler. Er studierte die täglichen Werbeprospekte mit derselben innigen Begeisterung wie Hölderlin-Gedichte. Nichts war ihm zu entlegen, dass es nicht wert gewesen wäre, es zu wissen. (S. 171)

Der Vater geht in seiner Arbeit mit den Kranken völlig auf und fühlt sich unter ihnen wohler als unter Gesunden. Zu seinen Geburtstagen kommen nicht etwa Freunde oder Verwandte zu Besuch, sondern eine kleine Schar von Psychiatriepatienten, z. B. Ludwig.

Ludwig trug ausnahmslos Latzhosen und hakte, wenn er nicht gerade tastend seine blassen Nosferatu-Finger über den Tisch krabbeln ließ, seine Daumen unter die Verschlüsse der Träger. Er hatte Todesangst vor unserem Hund, wünschte sich aber nichts sehnlicher, als ihn zu streicheln. (S. 69)

Vater Meyerhoff wird nicht müde, seine Söhne zu Toleranz zu erziehen, und wenn sich einer der Jungen weigert, bei der Geburtstagsfeier des Vaters neben einem übergewichtigen Mädchen mit  deformiertem Kopf zu sitzen, dann ist er es, der auf die verborgene Schönheit eines jeden Menschen aufmerksam macht.

Eindringlich sprach er darüber, wie verwundert er oft sei, wenn er die Patienten nachts in ihren Betten sehe: ‚Da denke ich, ich kenne ein Mädchen seit Jahren, und plötzlich sehe ich sie schlafen. Entspannt, ruhig atmend, mit einem völlig anderen Gesicht. Und dieses arme Mädchen, das den ganzen Tag Fratzen schneiden muss und sich die Hand an den Kopf schlägt, das liegt dann da und ist wunderschön. (S. 71)

Doch dieser Seelenfachmann macht als Vater nicht immer die beste Figur. Der älteste Sohn taucht ab in sein muffiges Zimmer, das nur notdürftig von mehreren 100-Liter-Aquarien erhellt wird, der mittlere Sohn bekommt 20 Pfennig zugesteckt, wenn er es schafft, einen Tag lang mal nicht zu weinen. Und der jüngste, Joachim, wird von seinen Brüdern pausenlos gepiesakt. Sie erzählen ihm beispielsweise, dass er eigentlich ein adoptiertes Kind aus der Psychiatrie sei.

Joachim schließlich neigt zu Tobsuchts- und Jähzornanfällen, vor denen nichts und niemand sicher ist, hat Mühe, Lesen und Schreiben zu lernen und wird von der Grundschule suspendiert – heute würde mal wohl ADHS diagnostizieren.

Er kommt, nachdem er Winnetou gesehen hat, auch auf die etwas abseitige Idee, den von ihm geliebten Familienhund zum Blutsbruder zu machen. Nach dieser Aktion ist der Hund nie mehr gemeinsam mit ihm in den Keller gegangen.

Joachim liebt die Momente, in denen er seinen Vater in dessen Behandlungszimmer besuchen darf und von ihm fachgerecht abgeklopft und untersucht wird.

Mein Vater untersuchte mich mit wirklicher Hingabe, und ich genoss die Ernsthaftigkeit, mit der er sich mir widmete. (S. 152)

Die Mutter steht weniger im Zentrum, hat aber auch nicht immer ein glückliches Händchen in der Erziehung. Als sie beispielsweise von einem ihrer Kinder ein selbstgemaltes Bild geschenkt bekommt, hängt sie es auf – im Zimmer eben dieses Sohnes.

Je älter der Ich-Erzähler wird, umso stärker wird die Zeit gerafft. Der Amerika-Aufenthalt, um den es schwerpunktmäßig in Meyerhoffs erstem Buch ging, wird auf wenigen Seiten zusammengefasst.

Schließlich erkrankt der Vater schwer. Die Mutter kehrt aus Italien zurück, um sich um ihren Mann zu kümmern. Und da kommt es zu einem innigen Moment zwischen Sohn, Mutter und Vater – für mich eine der rührendsten Szenen des Buches.

Diesmal ist mein Leseeindruck zwiespältig.

Beeindruckend ist auch hier die Unbefangenheit im Umgang mit den Psychiatriepatienten, den Menschen, die einfach anders sind, was Joachim und seine Brüder allerdings nicht daran hindert, sich auch derbe über die Kranken lustig zu machen.

Über tausend Patienten lebten damals auf dem Klinikgelände und das Haus der Direktorenfamilie lag mittendrin. Jahrelang glaubte Joachim, dass die Außenmauern und Tore zum Schutz vor Eindringlingen von außen gedacht seien. Die Meyerhoff-Söhne spielen mit den gleichaltrigen Kranken. Es ist eben normal, dass nicht alle „normal“ sind, was sich auch beim alljährlichen Spektakel des Krippenspiels zeigt.

Natürlich war die Spielweise je nach Station völlig verschieden. Da der Psychiatriegottesdienst gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie gefeiert wurde, gab es auch Krippenspiele mit für immer eingesperrten Sexualstraftätern, sogar mit Mördern, bei denen hinter jedem Hirten sprungbereit ein riesiger Pfleger stand. Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in der Zwangsjacke habe ich gesehen. (S. 141)

Wie auch bei Alle Toten fliegen hoch findet Meyerhoff oft wunderbar treffende Bilder:

Ich habe Frauen oder Mädchen gesehen, die hingen an ihren Zigaretten wie an einem seidenen Faden aus Rauch über einem schwarzen Abgrund. Geredet wurde kaum. (S. 31)

Und auch der trockene Witz machen wieder Spaß. Es ist schwierig, bei manchen Stellen nicht laut loszuprusten, z. B. bei der Beschreibung der Wikingertage, die alljährlich in Schleswig stattfinden, oder bei der Schilderung, wie der damalige Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg zur Einweihung eines neuen Klinikgebäudes kam und am Ende von seinen Leibwächtern …

Meyerhoff kann erzählen, Pointen setzen und Dialoge schreiben, in denen alle Protagonisten ihre ganz eigene Stimme haben. Er erzeugt eine Unmittelbarkeit, dass man meint, man sitze bei Meyerhoffs mit am Tisch. Man ist gerührt, entsetzt, betrübt und amüsiert. Und seine ungewöhnliche Kindheit bietet dafür Stoff in Überfülle (die Frage, wie viel davon wahr ist, umgeht Meyerhoff in Interviews dabei immer ganz luftig mit dem Hinweis, dass Erfinden immer Erinnern bedeute).

Dennoch:

Das Anekdotenhafte, die Beschreibung der Vorgänge aus der Außensicht,  verhindert – vor allem im letzten Drittel – hin und wieder den Blick auf das Innenleben der Figuren. Was mich aber vor allem gestört hat, war im letzten Teil das Fehlen einer Struktur, immer wahlloser wurden Anekdoten aneinandergereiht, bis ich den Eindruck hatte, jemand habe einen großen Kasten bunter Legosteine ausgeschüttet, aus denen ich jetzt etwas bauen soll. Die Steinchen sind bunt und vielversprechend, doch die Frage, was da gebaut werden soll, scheint im Vorfeld nicht so richtig geklärt worden zu sein.

Zwar überlegt Meyerhoff selbst, was denn nun der rote Faden sein solle, doch ein bisschen mehr Stringenz in der Auswahl der Erinnerungspäckchen hätte mir gut gefallen.

Es kommt mir mehr und mehr so vor, als wäre die Vergangenheit ein noch viel ungesicherterer, weniger verbürgter Ort als die Zukunft. Das, was hinter mir liegt, soll das Gesicherte sein, das Abgeschlossene, das Gewesene, das nur darauf wartet, erzählt zu werden, und das vor mir soll die sogenannte zu gestaltende Zukunft sein?

Was, wenn ich auch meine Vergangenheit gestalten muss? Was, wenn nur aus einer durchdrungenen, gestalteten Vergangenheit so etwas wie eine offene Zukunft entstehen kann? […] Ja, daran glaube ich: Erst wenn ich es geschafft haben werde, all diese abgelegten Erinnerungspäckchen wieder aufzuschnüren und auszupacken, erst wenn ich  mich traue, die scheinbare Verlässlichkeit der Vergangenheit aufzugeben, sie als Chaos anzunehmen, sie als Chaos zu gestalten, sie auszuschmücken, sie zu feiern, erst wenn alle meine Toten wieder lebendig werden, vertraut, aber eben auch viel fremder, eigenständiger, als ich mir das jemals eingestanden habe, erst dann werde ich Entscheidungen treffen können, wird die Zukunft ihr ewiges Versprechen einlösen und ungewiss sein, wird sich die Linie zu einer Fläche weiten. (S. 348)

Astrid Lindgren: Das entschwundene Land (OA 1975; deutsche Ausgabe 1977)

Jetzt will ich eine Liebesgeschichte erzählen, keine, die ich gelesen oder mir ausgedacht, sondern nur eine, die ich gehört habe. Oft gehört habe. Darin ist mehr Liebe als in allen, die ich in Büchern fand, und für mich ist sie rührend und schön. Aber das liegt vielleicht daran, daß sie von zwei Menschen handelt, die meine Eltern werden sollten.

So beginnt das einzige Buch, das die vielleicht berühmteste Kinderbuchautorin der Welt für ein erwachsenes Publikum geschrieben hat. Die deutsche Ausgabe wurde von Anna-Liese Kornitzky übersetzt. Das Original erschien 1975 unter dem viel nüchternen Titel Samuel August från Sevedstorp och Hanna i Hult.

Zum Inhalt

Der nur 126 Seiten schmale Band – überdies in großer Schrift – umfasst sechs Kapitel. Das erste und mit ca. 45 Seiten längste Kapitel schildert die Liebesgeschichte von Samuel August von Sevedstorp und Hanna in Hult, also den Eltern von Astrid Lindgren (1907– 2002). Die Kinderbuchautorin „wurde als zweites Kind des Pfarrhofpächters Samuel August Ericsson (1875–1969) und seiner Ehefrau Hanna Ericsson (1879–1961) geboren. Sie hatte einen älteren Bruder, Gunnar (1906–1974), und zwei jüngere Schwestern, Stina (1911–2002) und Ingegerd (1916–1997).“ (Wikipedia)

In der Liebe dieser Eltern sah Lindgren das Fundament ihrer glücklichen Kindheit.

Es war schön, dort Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit. (S. 44 der dtv-Ausgabe)

Und tatsächlich weht den Leser da noch etwas an von einer anscheinend wahrhaft idyllischen Kindheit:

Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die einander so zugetan waren und stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im übrigen aber frei und unbeschwert auf dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näs unserer Kindheit besaßen, herumtollen ließen. Gewiß wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht. Und wir spielten und spielten und spielten, so daß es das reine Wunder ist, daß wir uns  nicht totgespielt haben. Wir kletterten wie die Affen auf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bretterstapeln und Heuhaufen, daß unsere Eingeweide nur so wimmerten, wir krochen quer durch riesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, unterirdische Gänge entlang, und wir schwammen im Fluß, lange bevor wir überhaupt schwimmen konnten. (S. 44 – 45)

Gehorsam gegenüber den Eltern und Mithilfe sowohl im Haushalt als auch auf dem Feld waren dabei von klein auf selbstverständlich.

Daß wir zur Arbeit angehalten wurden, war die natürlichste Sache von der Welt. Schon mit sechs Jahren mußten wir beim Rübenverziehen und Rupfen der Brennnesseln für die Hühner helfen. Mit dem Heranwachsen wurden wir auch, sofern es nötig war, bei der Erntearbeit eingespannt. […] Was einem aufgetragen war, das hatte man zu tun. Ich glaube, es war eine nützliche Lehre, die einem später im Leben half, auch mit eintöniger Arbeit ohne allzuviel Gestöhne und Gejammer fertig zu werden. (S. 46)

Schön war auch die Beschreibung der Familienfeste. Zu denen musste man oft ja erst stundenlang mit dem Pferdewagen anreisen. Und dann gingen die Erwachsenen sozusagen nahtlos von einer guten Mahlzeit zur anderen über, während die Kinder die Gelegenheit ergriffen, mit all ihren Kusinen und Vettern so viel Unsinn wie möglich zu treiben.

Im nächsten Kapitel erzählt Lindgren dann noch ein wenig mehr aus dem Alltag des elterlichen Pachthofes mit seinen Mägden und Knechten, die ein karges Leben fristeten und kaum etwas ihr Eigen nennen konnten. Aber vor allem gelten ihre Erinnerungen der Natur.

Sie umschloß all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, daß man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann […] In der Natur ringsum war auch all das angesiedelt, was unsere Phantasie zu erfinden vermochte. Alle Sagen und Märchen, alle Abenteuer, die wir uns ausgedacht oder gelesen oder gehört hatten, spielten sich nur  dort ab, ja sogar unsere Lieder und Gebete hatten dort ihren angestammten Platz.  (S. 78)

Und die kleine Astrid war höchst empört, als sie erfuhr, dass ihr Bruder Gunnar das Gebet „Ein reines Herz“ immer mit dem Weg hinterm Kuhstall verknüpfte.

Wie gut hatte es da doch mein „Ein reines Herz“, das so fromm den kleinen Pfad zwischen Faulbaum und Haselstrauch dahinwandern durfte, den Bach entlang, wo im Frühling die Sumpfdotterblumen gelb leuchteten, am Feldrain vorüber mit all den Walderdbeeren und danach an der Quelle, der tiefen und geheimnisvollen, wo in der Sommerhitze die Milch gekühlt wurde, bis hin zu dem uralten Waschhaus, das dort so einsam im Grünen versteckt lag, um schließlich – amen! – am Graben aufzuhören, wo das Goldmilzkraut wuchs. (S. 79)

Im dritten Kapitel erfahren wir, das ihre Leseleidenschaft den Anfang in der Küche einer armen Bauernfamilie nahm. Dort nämlich las die Häuslertochter der kleinen Astrid Märchen vor und von da an war es um Astrid geschehen und als sie selbst lesen konnte und ab und an der Luxus möglich wurde, nicht nur Bücher auszuleihen, sondern sich sogar eines zu kaufen, war die Freude grenzenlos.

Ein Buch ganz für sich allein zu besitzen – daß man vor Glück nicht ohnmächtig wurde! (S. 86)

Zu ihren familiären Pflichten gehörte, ihre kleine Schwester in den Schlaf zu singen, da diese sonst nicht einschlafen wollte. Um trotz der knappen Freizeit Zeit fürs Lesen zu finden, sang Astrid kurzerhand dem Schwesterchen die Bücher vor, die sie gerade las.

Natürlich wird auch – was für ein Zeitsprung – jener Märztag 1944 erwähnt, an dem Lindgren mit verstauchtem Fuß liegen musste und vor Langeweile die Geschichten um Pippi Langstrumpf aufschrieb, die sie sich 1941 für ihre Tochter ausgedacht hatte.

Im vierten Teil des Buches hält sie ein leidenschaftliches Plädoyer fürs Lesen als dem grenzenlosesten aller denkbaren Abenteuer.

Heutzutage wissen ja wohl alle Eltern, daß ihre Kinder Bücher brauchen … oder etwa nicht? Ich weiß zwar nicht, was ihr euch für euer Kind erträumt und erhofft, aber ich weiß, daß es für alle Wechselfälle des Lebens besser gerüstet ist, wenn es lesehungrig ist. (S. 98)

Das vorletzte Kapitel ist überschrieben mit „Kleines Zwiegespräch mit einem künftigen Kinderbuchautor“. Darin finden sich Banalitäten wie die Empfehlung, so zu schreiben, dass die Sprache für die Zielgruppe verständlich sei, und das ironische „Rezept“, mit dem sich Lindgren von modernen Kinder- und Jugendbüchern absetzt.

Nimm eine geschiedene Mutti – möglichst Klempnerin von Beruf, aber eine Atomphysikerin tut es notfalls auch, Hauptsache, sie „näht“ nicht und ist auch nicht „lieb“ – vermische diese Klempnermutti mit ein paar Teilen Dreckwasser und ein paar Teilen Luftverschmutzung, füge ein paar Teile weltweiten Hunger sowie ein paar Teile Elterntyrannei oder Lehrerterror hinzu, ziehe einige Löffel voll Geschlechterdiskriminierung darunter und streue schließlich reichlich Beischlaf und Drogensucht darüber, dann hast du ein deftiges und gepfeffertes Gulasch … (S. 107)

Im letzten Teil geht sie kurz der Frage nach, wo eigentlich ihre ganzen Einfälle herkommen.

Fazit

Dieser Band zerfällt in völlig disparate Teile, wobei der erste Teil der eigentlich lesenswerte war. Die Liebesgeschichte ihrer Eltern hat mir in ihrer Innigkeit und Schlichtheit sehr gefallen. Ein bisschen, als ob die alten Fotos, die wir alle aus irgendwelchen Familienalben kennen und bei denen wir manchmal nicht einmal mehr wissen, wer die Personen waren, plötzlich zum Leben erwachen. Eine märchenhaft schöne und ganz zeitlose Liebesgeschichte, zumal Lindgren noch aus den Briefen ihrer Eltern zitiert, die diese sich während ihrer langen Brautwerbezeit geschrieben haben. Das Ganze garniert mit ein wenig trockenem Humor.

Noch immer kutschierte er den Pfarrer […] und bisweilen auch die Witwe des Propstes, da Hanna in einem Brief besonders betont: ‚ Wenn Du willst, kannst Du am Sonntag auch ohne Pröpstin kommen.‘ Man hat Verständnis dafür, bei einem Stelldichein sind Pröpstinnen bestimmt nur im Wege. (S. 31)

Aber vor allem fand ich es anrührend, weil diese Liebe über all die Jahrzehnte gehalten hat. Selbst als hochbetagter Witwer hat Samuel August noch immer dankbar der großen Liebe seines Lebens gedacht.

… beide alterten, doch das änderte nichts. Ich erinnere mich ihrer, als sie beide schon die Achtzig überschritten hatten und das Leben um sie herum still geworden war, wie er dort saß und ihre Hände hielt und so zärtlich sagte: ‚Meine kleine Inniggeliebte, hier sitzen wir nun, du und ich, und haben’s schön.‘ (S. 48)

Doch die übrigen Kapitel weisen zwei große Mankos auf: Zum einen verrät Lindgren wenig über sich und ihre tatsächliche Biografie, schwierige Zeiten und konkrete Rahmenbedingungen werden ausgeblendet, und zum andern rutscht ihr Stil oft ins unpassend Simple ab. Ihr Rat, dass ein Kinderbuchautor den sprachlichen Horizont seiner Leser berücksichtigen müsse, kehrt sich hier gegen sie selbst. Ein Buch für erwachsene Leser sollte sich auch einer erwachsenen Sprache bedienen und auch die Gedanken dürften den Schwierigkeitsgrad und die Psychologie eines Pippi Langstrumpf-Bandes übersteigen. Ich möchte da nicht in so einer pseudokindlichen tantenhaften Sprache mit Belanglosigkeiten angesprochen werden.

Anmerkungen

Literaturwissenschaftler haben herausgearbeitet, dass Lindgren keine autobiografischen Schriften im herkömmlichen Sinne verfasst habe. Es sei ihr nicht um die chronologisch angeordnete Darstellung bestimmter Entwicklungsschritte gegangen. Eher entwerfe sie ein bestimmtes Bild ihrer Kindheit, das bewusst bestimmte Aspekte und wichtige Fragestellungen ausklammere. So ist das Kind in den autobiografischen Erinnerungen alterslos und wird nirgendwo mit Namen angeredet, die Geschwister werden nur beiläufig erwähnt, der Schulbesuch wird höchstens gestreift. Betont werden stattdessen die Intensität der Naturerfahrung und die Bedeutung von Spiel und Imagination. Manche deuten das als Fortführung des romantischen Kinderbildes, wie es sich in E.T.A. Hoffmanns Märchen Das fremd Kind (1817) verkörpert (vergl. die von Frauke Schade herausgegebene Textsammlung: Astrid Lindgren – ein neuer Blick, 2008, S. 68).

Die Vermeidung konkreter Zeit- und Ortsangaben sorgt dabei für eine gewisse atmosphärische Zeitlosigkeit und gleichzeitig dafür, dass man als Leserin, als Leser doch nun gern der Autorin die ein oder andere Frage stellen würde.

Und in diesen Zusammenhang gehört auch der Titel der deutschen Ausgabe. Lindgren selbst zitiert das Gedicht „Das entschwundene Land“ von Alf Henrikson, das eine Grunderfahrung Lindgrens in Worte fasst. Nicht nur der Verlust der unwiederbringlich verlorenen Kindheit wird besungen, sondern auch der Wandel der Zeit, der sich für Lindgren im Verschwinden der Landstreicher, der Kutschen, der bäuerlichen Hofgemeinschaften und der freien Kinderspiele manifestiert. Nur in der Erinnerung kann das Verlorene noch einmal aufleben. Der dritte Vers des Gedichts lautet:

Weich wie Seide lag der Staub des Weges unter den Kinderfüßen …

In den Worten Astrid Lindgrens klingt das so:

Aber noch habe ich nicht alles vergessen, noch kann ich sehen und den Duft spüren und mich der Seligkeit des Heckenrosenbusches auf der Rinderkoppel erinnern, der mir zum erstenmal gezeigt hat, was Schönheit ist. Noch kann ich an Sommerabenden den Wiesenknarrer im Roggen hören und in den Frühlingsnächten das Rufen der Käuzchen auf dem Eulenbaum, noch spüre ich, wie es ist, aus Schnee und beißender Kälte in einen warmen Kuhstall zu kommen, ich weiß, wie sich eine Kälberzunge auf der Hand anfühlt, wie Kaninchen riechen, wie es im Wagenschuppen duftet und wie es sich anhört, wenn die Milch in den Eimer zischt, und noch kann ich die winzigen Krallen frisch ausgeschlüpfter Küken auf der Hand spüren. Der Erinnerung wert ist dies alles wohl nicht. Das Besondere daran ist die Intensität, mit der man es erlebte, als man noch jung war. Wie lange her das sein muß! Wie hätte sich die Welt sonst so unglaublich verändern können? Konnte das alles wirklich in einem kurzen halben Jahrhundert so anders werden? Meine Kindheit verlebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt, aber wohin ist es entschwunden? (S. 81)

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