Irène Némirovsky: Der Ball (OA 1930)

Als Madame Kampf das Studierzimmer betrat, zog sie die Tür derart schroff hinter sich zu, daß der Kristallüster im Luftzug klingelte wie reines, leises Glöckchengeläut. Doch Antoinette, die so tief über das Pult gebeugt saß, daß ihr Haar die Buchseite streifte, hatte nicht aufgehört zu lesen. Ihre Mutter sah sie einen Augenblick wortlos an; dann baute sie sich vor ihr auf, die Arme vor der Brust verschränkt.

So beginnt die Erzählung der jüdischen Autorin, die 1942 im KZ Auschwitz ums Leben kam:

Irène Némirovsky: Der Ball (1930) – neu übersetzt von Claudia Kalscheuer (2005)

In der kaum 90 Seiten langen Erzählung werden die Vorbereitungen zu einem Ball geschildert, den das durch eine Börsenspekulation zu plötzlichem Reichtum gekommene Ehepaar Kampf geben will. Der Ball, bei dem über 170 Gäste erwartet werden, soll ihre neue gesellschaftliche Stellung demonstrieren und ihnen Eintritt in bessere Kreise verschaffen. Eine arme Verwandte wird nur deshalb eingeladen, damit diese dann später der ganzen Verwandtschaft von dem glänzenden Ereignis erzählen kann. Denn die familiären Beziehungen sind trübe, hatte sich die Familie doch vor vielen Jahren gegen die Ehe Madame Kampfs mit einem Juden ausgesprochen.

Die boshafte und herrische Madame Kampf fürchtet bei dem Ball die Konkurrenz ihrer vierzehnjährigen Tochter Antoinette, deshalb soll diese auch nicht am Ball teilnehmen, sondern den Abend in der Rumpelkammer verbringen, da man in ihrem Zimmer die Bar einrichten will. Dabei wünscht sich Antoinette, die noch voller Jungmädchenträume ist, nichts so sehr wie wenigstens eine Viertelstunde an dem Ereignis teilnehmen zu dürfen.

Ein Ball … Lieber Gott, lieber Gott, wäre es denn möglich, daß nur ein paar Schritte von ihr entfernt dieses herrliche Ereignis stattfände, das sie sich undeutlich als ein Gewirr von wilder Musik, berauschenden Parfums, prachtvollen Gewändern vorstellte, mit geflüsterten Liebesworten in einem abgelegenen Separee, dunkel und kühl wie ein Alkoven – und daß sie an diesem Abend wie an jedem anderen um neun Uhr im Bett läge, wie ein Baby? (S. 29)

Doch die Beziehung zwischen Tochter und Mutter ist schon seit Jahren zerrüttet, spätestens seitdem die Mutter die Elfjährige auf der Straße geohrfeigt und öffentlich gedemütigt hat. Kein Wunder also, dass das Mädchen ihrer Mutter nichts als Angst und Hass entgegenbringt.

Antoinette findet – zufällig – einen Weg, sich zu rächen und das Kartenhaus ihrer Eltern zum Einsturz zu bringen.

Eine Art Schwindel erfaßte sie, ein wilder Drang, allem zu trotzen und Böses zu tun. (S. 51)

Fazit

Zum Glück ist das Werk so kurz, denn länger hätte ich es wohl kaum mit solch unsympathischen Figuren ausgehalten.

Aber gerade in der Verknappung liegt auch der Reiz der Geschichte, die schon eine Charakterstudie ersten Ranges darstellt. Weder die Eltern noch Antoinette werden in Schwarz-Weiß gezeigt, alle – auch Antoinette – sind geprägt von ihrem Umfeld und fast bekommt man ein bisschen Mitleid mit der Mutter, die einem Ziel hinterherläuft, das sie niemals wird erreichen können. Sie kommt gar nicht auf die Idee, ihre Götzen Reichtum und gesellschaftliche Anerkennung zu hinterfragen. Sie möchte unbedingt etwas darstellen, doch dabei kommt bestenfalls eine Karikatur heraus, beispielsweise wenn sie sich dabei ertappt, so grob und „unfein“ wie früher zu reden. Im Grunde ist sie von Minderwertigkeitsgefühlen zerfressen und sucht die Nähe der Reichen, um selbst jemand zu sein.

Die Irrungen und Wirrungen der heranwachsenden Antoinette werden ebenfalls feinfühlig dargelegt und so ist „Der Ball“ auch eine Geschichte über das Überschreiten der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenen. Dabei ist sie keineswegs nur das Opfer ihrer charakterlosen Mutter, sondern auch – wie sie mit Schrecken feststellen muss – ihr Spiegelbild.

Zur Autorin

Némirovsky, die Tochter eines jüdischen Bankiers, wurde in der Ukraine geboren.

Da ihre Eltern sich nicht sonderlich für sie interessierten, wuchs sie unter der Obhut einer französischen Gouvernante auf, so dass Französisch ihr zur zweiten Muttersprache wurde. Im Verlauf der Russischen Revolution floh die Familie und kam über Finnland und Schweden 1919 nach Paris. In den 1920er Jahren gelangte ihre Familie wieder zu Reichtum und Irène konnte ein behütetes und luxuriöses Leben führen. (Wikipedia)

Sie wurde zu einer gefeierten Schriftstellerin, die sich – trotz ihrer jüdischen Herkunft – immer wieder den Vorwurf einhandelte, selbst antisemitisch zu sein und den Vorurteilen der Nazis noch Munition zu verschaffen, da sie in ihren Werken oft ein unsympathisch geldgieriges jüdisches Milieu schilderte und bis zum bitteren Schluss auch bereit war, für antisemitische Zeitungen zu schreiben (siehe den Artikel von Ruth Franklin, Januar 2008 in The New Republic). 1926 heiratete sie den jüdischen Physikingenieur und späteren Bankier Michel Epstein, auch er wurde deportiert. Die zwei Töchter des Ehepaares, Élisabeth und Denise, überlebten den Holocaust.

Erst als ihre älteste Tochter Denise in den späten neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts plante, einen Koffer mit Notizen ihrer Mutter einem Archiv zu übergeben, nahm sie den Inhalt des Koffers genauer in Augenschein. Dabei wurde 1998 das Romanfragment Suite Francaise entdeckt und nach seiner Veröffentlichung im Jahre 2004 eine literarische Sensation. Némirovsky war die erste, der posthum der französische Literaturpreis Prix Renaudot verliehen wurde.

Daraufhin setzte eine weltweite Neuentdeckung der Schriftstellerin ein. Im Jewish Quarterly erschien im Herbst 2008 ein lesenswerter Artikel von Tadzio Koelb, der sich kritisch mit der begeisterten Rezeption von Suite Francaise in der britischen Presse auseinandersetzt und den Literaturkritikern vorwirft, sich zu wenig mit dem Roman selbst zu beschäftigen und ihn vorschnell als Meisterwerk zu verklären, und zwar hauptsächlich aufgrund des fantastisch vermarktbaren Schicksals der Autorin.

1992 erschien Élisabeth Gilles Biografie ihrer Mutter, die sie nie richtig hatte kennenlernen dürfen: Le Mirador: mémoires rêvés (auf Deutsch: Erträumte Erinnerungen) und 2007 veröffentlichten Olivier Philipponnat und Patrick Lienhardt ihre hochgelobte Biografie zu Némirovsky. Sie weisen die Etikettierung der Schriftstellerin als „antisemitisch“ eindeutig zurück:

Némirovsky rejected the accusations. When a reporter from a Zionist newspaper showed up at her home, she said: “I’m accused of anti-Semitism? Come now, that’s absurd! For I’m Jewish myself and say so to anyone prepared to listen!” But Jewish enemies were making use of her characters, the reporter persisted. “Nevertheless, that’s the way I saw them,” she replied. To Mr. Philipponnat and Mr. Lienhardt critics then and now have given the book a myopic reading. Calling it a depiction of a social milieu, they ask, “Had ‘David Golder’ been written in 2009 by Bernard Madoff’s daughter, who would dream of accusing her of anti-Semitic views? (Patricia Cohen, am 25. April 2010 in der New York Times)

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Klaus Modick: Sunset (2011)

Zwischen Himmel und Meer gähnt der Morgennebel, zieht Strand und Uferstraße in seinen silbergrauen Schlund, scheint aber vor den Palmen zurückzuweichen. Die hageren Stämme recken sich wie Wesen aus mythischen Zeiten, archaische Wächter des Landes, die mit scharf gefiederten Lanzen dem Nebel Einhalt gebieten.

So – in der Bildhaftigkeit ein bisschen bemüht und gekünstelt – beginnt der Roman um einen Tag im Leben des alternden Schriftstellers Lion Feuchtwanger:

Klaus Modick: Sunset (2011)

Kurz zum Hintergrund

Feuchtwanger, 1884 in München geboren und Sohn eines begüterten Margarine-Fabrikanten, fühlte sich schon früh zur Schriftstellerei hingezogen. Er studierte und promovierte, nahm jedoch wegen seiner jüdischen Abstammung Abstand von einer Habilitation.

Mit seinen historischen Romanen wurde er einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits 1918 erkannte er das Talent Brechts, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und Arbeitsbeziehung verbinden sollte, was die beiden jedoch nicht daran hinderte, sich bis zum Tode Brechts zu siezen.

Klaus Modick, Schriftsteller und Übersetzer, hat 1980 mit einer Arbeit zu Lion Feuchtwanger promoviert.

Zum Buch

Das Werk schildert einen einzigen Tag im Leben Feuchtwangers, und zwar im August 1956, als er in seiner amerikanischen Wahlheimat in Los Angeles das Telegramm vom Tode Brechts erhält.

Feuchtwanger ist allein zu Haus, da seine Frau Martha wegen Fragen zur Einbürgerung bei einem Anwalt ist. Die Nachricht vom Tode seines vielleicht einzigen Freundes löst nun eine Flut an Erinnerungen und Reflexionen auch über das eigene Leben und Schreiben aus. Er erinnert sich z. B. an den Tag, als er den jungen Brecht kennengelernte, an ihre nicht immer unkomplizierte Beziehung und ihre Exilantengemeinschaft in Amerika, die keineswegs frei von Tratsch und Spannungen und Eifersüchteleien war.

Zu diesem Kreis gehörten auch Werfels, Heinrich und Thomas Mann und Arnold Zweig. Doch im Laufe der Zeit sterben die ehemaligen Freunde und Weggefährten oder sie kehren nach Europa zurück, während Feuchtwanger unter den Argusaugen der McCarthy-Hysterie versucht, für sich und seine Frau Martha die amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

Im Laufe dieses Tages muss er nicht nur von seinem Freund Abschied nehmen, sondern sich auch Rechenschaft über sein eigenes Werk und Schreiben geben und sich eingestehen, dass er selbst nun alt ist und die Kräfte schwinden. Andauernde Magenschmerzen machen ihm zu schaffen…

Fazit

Interessant ist das Buch, wenn man der Beziehung zwischen Brecht und Feuchtwanger nachgehen möchte. Als Roman selbst hat mich das Buch kalt gelassen. Es wirkt auf mich an vielen Stellen gekünstelt und „nachempfunden“ und ich habe selten vergessen, dass sich da einer eben vorstellt, wie dieser Tag im Leben Feuchtwanger  ausgesehen haben könnte. Das wirkt kenntnisreich und vorzüglich recherchiert und doch arg blutarm.

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