Jakob Wassermann: Caspar Hauser (1908)

In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab. Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren. Niemand wußte, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen …

So beginnt der in weiten Teilen auf historischen Tatsachen und Quellen beruhende Roman Wassermanns um den berühmten und rätselhaften „Findling“ Caspar Hauser.

Zum Inhalt

Die Bürger Nürnbergs stehen dem jungen Menschen, der da so plötzlich unter ihnen auftaucht, skeptisch, neugierig, gaffend, mitleidig oder sensationslüstern gegenüber. Der schon bald vom Bürgermeister veröffentlichte Erlass, durch den man sich Informationen zur Auflösung seiner ungeklärten Herkunft erhofft, sorgt für einen Rummel ohnegleichen. Der junge Gymnasialprofessor Daumer erhält schließlich die Erlaubnis, ihn zu sich zu nehmen. Er bringt Caspar das Sprechen bei und erfährt, dass Caspar jahrelang in einem dunklen Raum bei Wasser und Brot eingesperrt gewesen sei. Er habe seinen Wärter nie gesehen, man habe ihn betäubt, wenn man ihm die Haare und Nägel schnitt, ihn wusch und neues Stroh auf sein Lager gab.

So muss er erst wieder Laufen lernen, das Sonnenlicht tut ihm weh, von Fleisch wird ihm übel. Aber in die menschenfreundliche Zuwendung Daumers mischen sich schon rasch Herablassung und Besitzerdünkel. Auf der einen Seite sieht Daumer in ihm einen ersten Adam, unschuldig und schützenswert:

Es gab eine Stunde, wo Daumer eines paradiesischen Bildes gewahr wurde: Caspar im Garten, auf der Bank sitzend, ein Buch in der Hand; Schwalben ziehen ihre Zickzackkreise um ihn, Tauben picken vor seinen Füßen, ein Schmetterling ruht auf seiner Schulter, die Hauskatze schnurrt an seinem Arm. In ihm ist die Menschheit frei von Sünde, sagte sich Daumer bei diesem Anblick, und was wäre sonst zu leisten, als einen solchen Zustand zu erhalten. Was wäre hier noch zu enträtseln, was zu verkünden? (S. 56)

Doch gleichzeitig will Daumer diesen Menschen studieren und im Tiefsten ergründen. Denn Caspar sei noch

unverpflichtete Kreatur vom ersten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Instinkt, ausgerüstet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforschung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ist. (S. 62)

Daumer nutzt ihn zu Experimenten und Kunststückchen aus, als sei er ein Zirkustier. Er ist völlig irritiert, als Caspar sich über die Bedeutung des Wörtchens „ich“ klar wird und beginnt, ihm auch ein „Nein“ entgegenzusetzen. Als er hört, dass Caspar bei einer Notlüge ertappt wurde, beschließt er durch ein „Gottesurteil“ herauszufinden, ob sich Caspars Seele noch dem „Geisterhauch“ öffne oder ob er schon zu den „Gewöhnlichen“ gehöre. Er will Caspar mittels Gedankenübertragung zu einer festgelegten Stunde dazu bringen, ihm sein Tagebuch zu bringen. Das Experiment scheitert:

Ruhig blieb Daumer sitzen und stierte vor sich hin wie einer, der aus dem Rausch erwacht. Vorüber, die Frist war verstrichen. Er schämte sich sowohl seiner Niederlage als auch seines vermessenen Unterfangens, denn er war ja ein gescheiter Kopf und hatte Selbstbesinnung genug, um die spielerische Willkür dessen, was er gewollt, ernüchtert zu empfinden. Trotzdem ergriff ihn eine finstere Gleichgültigkeit. Der Hoffnungen zu gedenken, die sich noch vor kurzem an den Namen Caspar geknüpft, verursachte ihm einen schalen Geschmack auf der Zunge. (S. 112)

Den Ränken der Umwelt, der Sensationsgier, der Neugier und fehlenden Empathie ist Caspar nahezu hilflos ausgeliefert. Täglich wird er von Dutzenden bestaunt, begafft und angefasst. Jeder hat seine Pläne und Absichten mit ihm, sei es, dass er weitgereisten Herrschaften zur Abendunterhaltung dienen, der Kirche als verlorene Seele zugeführt werden oder als Daumers Versuchsobjekt für allerlei medizinische Experimente oder neue Diäten herhalten soll. Frau Behold schließlich versucht ihn zu verführen und verfolgt ihn anschließend mit üblen Verleumdungen, weil er voller Entsetzen vor ihr zurückweicht.

Staatsrat Feuerbach will der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und vertritt in einem geheimen Brief an den König die Ansicht, dass es sich bei Caspar um einen totgeschwiegenen Nachkommen einer bestimmten Herrscherfamilie handeln müsse.

An dieser Stelle des Berichts stockte die Hand des Präsidenten – tagelang, wochenlang. Nicht aus Schwäche noch aus Wankelmut, sondern mit dem schmerzlichen Zagen eines Feldherrn, der des Unheils und Verderbens sicher ist, wie immer die Schlacht auch enden möge. Die Krone von einem Fürstenhaupt zu reißen und mit Fingern auf das befleckte Diadem deuten, hieß das nicht,  die Majestät auch des eigenen Königs beleidigen, geheiligte Überlieferungen mit Füßen treten, die unmündigen Völker zum Widerpart stacheln? Doch wie nie zuvor empfand er die zeugende Gewalt des Wortes, und wie Wahrheit aus Wahrheit fließt und drängt. Er nannte das Haus mit Namen. (S. 125)

Als ein Mordanschlag auf Caspar geschieht, bei dem dieser schwer verletzt wird, mag ihn Daumer endgültig nicht mehr im Hause haben und so beginnt Caspars Odyssee durch mehrere Nürnberger und Ansbacher Haushalte. Diese verschiedenen Stationen nutzt Wassermann, um ein beklemmendes Sittenbild der Gesellschaft zu zeichnen. Dabei zeigt sich sein geradezu sezierender Blick auf die verstecktesten Motive des Herzens. Als Daumer erfährt, dass schon einflussreiche Bürger Caspar beschuldigen, sich selbst die Verletzungen beigebracht zu haben, geht ihm Folgendes durch den Kopf:

Das ist also die Welt, das sind ihre Stimmen! dachte er bestürzt; das zu denken ist möglich, es auszusprechen steht jedem Mund frei! Und dieser Abgrund von Unsinn und Bosheit soll dich verschlingen, armer Caspar! […] sie werden dir die Flügel brechen. Vergebens wird die Schuldlosigkeit aus deinem Inneren strahlen, sie werden es nicht sehen, vergebens wirst du vor ihnen weinen und vergebens lächeln, du wirst ihre Hand fassen und vor Kälte schaudern, du wirst sie anblicken, und sie werden stumm sein […] Man ist Prophet und hat ein mitleidiges Gemüt, man kennt die Menschen, man weiß, daß das Feuer brennt, daß die Nadel sticht […] man kennt die Folgen dessen, was man tut, nicht wahr, Herr Daumer? Aber ist dies etwa ein Grund, den Geschehnissen wie einem Feind, der das Schwert erhoben hat, in die Arme zu fallen und den Schlag abzuwenden? Nein, es ist kein Grund. […] Darin haben die Idealisten und Seelenforscher nichts voraus vor Dieben und Wucherern. Man geht nach Hause, philosophierend geht man nach Hause, legt sich schlafen, und am nächsten Morgen sieht die Welt weit annehmbarer aus als am gestrigen, reichlich verstimmten Abend. (S. 133)

Sogar der englische Lord Philip Henry Stanhope scheint Anteil am Geschick Caspar   Hausers zu nehmen und gibt große Summen aus, um die Herkunft Caspars zu klären. Auch er sieht in Caspar ein geradezu überirdisches Wesen, vor dem ersten Treffen mit ihm war dem Lord „bange, freudig bang wie einem Kind vor dem Weihnachtsabend.“ (S. 169) Und schon einen Tag später ist es für den Adligen keine Frage mehr, dass er bald gemeinsam mit Caspar durch südliche Gefilde reisen wird. Doch er spielt ein falsches Spiel. Sein Gewissen ist korrumpiert, und bereits vor der ersten Begegnung hat er sich von den Feinden Caspars anheuern lassen, um ihn aus dem Wege zu schaffen oder unschädlich zu machen. Die unschuldige Liebe und das grenzenlose Vertrauen, dass der Jüngling in ihn und seine Versprechungen setzt, können ihn nicht mehr zurück auf den Weg der Redlichkeit führen.

Der wahre Gönner Caspars, der Staatsrat Feuerbach, stirbt unter mysteriösen Umständen, als er sich allein mit dem schmierig-gefährlichen Polizeileutnant Hickel auf einer Reise befindet, die Caspars Schicksal klären soll.

Fazit

Golo Mann hat Caspar Hauser angeblich einmal als den schönsten Kriminalroman bezeichnet, der je geschrieben wurde. Ich allerdings habe die Lektüre dieses Klassikers als ein mühseliges Geschäft empfunden, und das lag nicht am Umfang von 459 Seiten.

An vielen Stellen ist der Stil Wassermanns unerträglich pathetisch. Auf der zufällig gewählten Seite 20 der Taschenbuchausgabe finden sich die Wörter: „geheimnisvoll, unschuldig leuchtende Augen, Übeltat, Schande, verborgen, schmerzlich, lüstern, begehrten, erhellende Dämmerung, in beruhigter Brust nach dem Gewesenen tastete, ein Gewesenes fühlte, im Tiefsten schaudernd, mit durstigen Sinnen, sein flehentlicher Blick grub es heraus aus dem sprechenden Mund der Menschen“. Das liest sich mühsam und all die hohen Worte nutzen sich ab in einer ständigen Wiederholungsschleife. Die schier nicht enden wollende Zähflüssigkeit hat mich mehr als einmal beinahe dazu gebracht, das Buch in die Ecke zu feuern.

Auch Spannung kam nur bedingt auf, weil rasch klar war, dass die beklemmende Atmosphäre, die Intrigen, die Passivität der Caspar Wohlgesonnenen und die Boshaftigkeit seiner Umwelt, die teilweise geradezu fratzenhafte Züge annimmt, die Oberhand behalten werden. Ausnahmslos alle – bis auf den Präsidenten Feuerbach – erliegen der „Trägheit des Herzens“: Entweder setzen sie sich gegen die Unschuld Caspars geradezu zur Wehr, haben ohnehin kein Gewissen mehr oder sie sind von ihren Vorurteilen nicht mehr abzubringen. Andere wiederum gewichten Geld oder Macht höher als Menschlichkeit oder aber sie lassen ihrer Einsicht keine Taten folgen. Als Trägheit des Herzens (acedia) wird übrigens nach theologischer Lehre auch eines der sieben Hauptlaster bezeichnet.

Marcel Reich-Ranicki hat es in der FAZ 2010 so nett auf den Punkt gebracht, als er schrieb:

Wassermann „wurde vom Publikum geliebt, weil er ihm nichts vorenthielt. Anspielungen und Andeutungen gibt es in seiner Prosa kaum, das Indirekte kennt seine Erzählweise nicht, auf die Ironie verzichtet er fast immer. Was er dem Leser mitzuteilen hat, teilt er in der Regel mehrfach mit. Wer will, kann ihm vorwerfen, dass er unentwegt mit dem Nürnberger Trichter hantiert. Mag sein, nur dass seine Bücher auf eine beachtliche Phantasie schließen lassen. Und der Leser hat es mit fraglos intelligenter Prosa zu tun.“

Doch was trotz allem Schwulst und Pathos und außer Rand und Band geratenen Metaphern beeindruckt, ist der scharfe Blick in menschliche Abgründe. Der Typus des Heuchlers lässt sich doch kaum besser darstellen, als es Wassermann mit der Figur des Lehrers Quandt gelungen ist. Bei ihm muss Caspar sein letztes Quartier beziehen:

Es war nämlich mit diesem Manne derart beschaffen, daß er in einer merkwürdigen Zweiheit existierte. Der eine Teil war die öffentliche Person, der Bürger, der Steuerzahler, der Kollege, das Familienoberhaupt, der Patriot, der andre Teil war sozusagen der Quandt an sich. Jener war ein Heros der Tugend, eine wahre Mustersammlung von Tugenden, dieser lag versteckt in einer stillen Ecke und belauerte die liebe Gotteswelt. Die öffentliche Person, der Bürger, der Patriot nahm herzlichen Anteil an den allgemeinen Angelegenheiten, wohingegen der Quandt an sich vergnügt die Hände rieb, wenn irgendwo irgendwas passierte: sei es nun ein unerwarteter Todesfall oder nur ein Beinbruch oder die Kaltstellung eines verdienten Beamten oder ein Diebstahl bei einer Vereinskasse oder ein Radschaden an der Postkutsche oder eine Feuersbrunst beim reichen Bauern Soundso oder die skandalöse Heirat der Gräfin Ypsilon mit ihrem Stallburschen. So unverbrüchlich der Steuerzahler, das Familienoberhaupt, der Kollege seinen Pflichten nachkam, der Quandt an sich hatte etwas von einem Revolutionär und war immer auf dem Posten, um der Weltregierung auf ihre Finger zu schauen, und stets besorgt, daß keinem mehr Ehre geschah, als er nach genauer Bilanz über seine Verdienste und Mängel, seine Vorzüge und Laster füglich beanspruchen durfte. Der öffentliche Quandt schien zufrieden mit seinem Los, der geheime fand sich allerorten und zu jeder Zeit zurückgesetzt, beleidigt, vor den Kopf gestoßen und in seinen vornehmsten Rechten gekränkt. Nun sollte man denken, mit zwei so verschieden gesinnten Kostgängern unter einem Dach sei schwer zu wirtschaften. Nichtsdestoweniger kamen die beiden Quandts trefflich nebeneinander aus. Freilich, der Neid ist ein boshaftes Tier, er durchlöcherte manchmal die Scheidewand zwischen den beiden Seelen, und wie oft der stärkste Damm nicht genügt, um eine verheerende Überschwemmung  zu verhindern, so brach eben dieser Neid bisweilen ein in die reinlichen, fruchtbaren und wohlbestellten Gefilde des Gottes- und Menschenfreundes Quandts. (S. 281)

So kommt auch die Autorin und Journalistin Petra van Cronenburg zu dem Ergebnis: „Wassermann schafft es, in einer Geschichte, die zuweilen krimihafte Züge hat und mit Sensationslust spielt, über das Wesen des Menschen nachzudenken. Caspar ist nicht nur der geheimnisvolle Fremde, der die Bürgerlichen zwingt, mit Fremdheit und Anderssein umzugehen – er ist auch die menschliche Unschuld, nach der sich die anderen Protagonisten sehnen, die ihnen Angst macht, die sie bekämpfen oder zu erhalten suchen. Das ist ein großer Roman über die Conditio humana.“

Anmerkung

Wassermann hat sich jahrelang an diesen Stoff herangetastet. Sein Großvater hatte Caspar Hauser noch gesehen und Wassermann kannte die Stätten, die für Hausers Schicksal bedeutsam wurden und er sagt in seinem Rückblick „Mein Weg als Deutscher und Jude“ von 1921:

Abermals und abermals wagte ich den Anfang, zog weiten Kreis, zog engen Kreis um das Thema, fand nicht das Fundament, fand nicht die Ruhe, nicht die Kraft, nicht die Erleuchtung, wurde mutlos und ließ wieder ab. Doch bei all dem Probieren und Verzagen, Graben und Verzweifeln wuchs mir die Figur des Nürnberger Findlings unerwartet hoch empor, und sein Schicksal ward mir zum Schicksal des menschlichen Herzens überhaupt. Das Menschenherz gegen die Welt; als ich diese Formel gefunden hatte, hoben sich die Schleier, und wenngleich noch viele Mühsal zu bezwingen war, so blieb doch der Weg im Licht. (S. 77)

Zum Abschluss noch ein Zitat aus diesem Buch, das auch heute noch, über 100 Jahre später in einem Land, in dem wieder Flüchtlingsheime angezündet werden, gültig ist:

Wahrhaftig, die Menschen sind träge, stumpfe, dumme Tiere, sonst wäre mehr Empörung in der Welt. (S. 369)

Wer Interesse an den zeitgenössischen Berichten hat, sei auf das Buch Kaspar Hauser Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse von Hermann Pies, veröffentlicht im Gutenberg-Projekt, verwiesen. Auch der Wikipedia-Artikel ist hier, was den historischen Hintergrund und die Quellenlage angeht, zu empfehlen. Die Theorie, der ja auch Wassermann anhing, dass es sich bei Hauser um das Opfer einer von Gräfin Luise Karoline von Hochberg initiierten Kindesvertauschung handele, gilt heute als widerlegt.

BRD 034