Man stirbt.
Man steht morgens auf, macht seine Arbeit und stirbt.
Man träumt und stirbt.
Man gießt Blumen, geht einkaufen, schüttelt Decken aus und stirbt.
Man liest. Man liebt. Man stirbt.
Vögel zwitschern, Narzissen springen mit einem leisen Rascheln auf – was folgt ist Sterben.
Ob man es brauchen kann oder nicht, zwecklos sich damit anzulegen, man stirbt.
Man stirbt. Man stirbt.
Diese Worte sind dem Buch der Journalistin Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an vorangestellt.
Die Journalistin und Kolumnistin, die u. a. für die ZEIT, taz und die Frankfurter Rundschau schreibt, bekommt immer wieder Besuch von ihrem Vater, der als ehemaliger Gastarbeiter nun seinen Ruhestand in der Türkei genießen möchte, denn er gehört zu denen, die
… sich nach ihrer Heimat sehnen, sie aber mit einem Bein in Deutschland leben müssen, weil ihre vollen Rentenbezüge verloren gehen, wenn sie länger als sechs Monate nicht in Deutschland waren … (S. 140)
Bei einem seiner Deutschlandaufenthalte, bei denen er seine inzwischen erwachsenen Kinder besucht, geht er ins Krankenhaus, um nur eben einen hartnäckigen Husten abklären zu lassen. Doch die Diagnose lautet Lungenkrebs.
Was folgt, ist zum einen die Beschreibung der Krankenhausodyssee mit all der deutschen Regularienwut, den quälenden und schmerzhaften Behandlungsmethoden, der fehlenden menschlichen Anteilnahme. Möchte Herr Kiyak am liebsten in Ruhe gelassen werden und manches vielleicht gar nicht so genau wissen, so ist seine Tochter das Gegenteil: Sie will kämpfen, kämpfen, kämpfen, ihren Vater aufmuntern, ihm seine Tränen verbieten, bis der Krankenhauspsychologe sie ermahnt, dass sie bitte schön ihren Vater respektieren und ihm nicht noch Energie rauben solle, indem er meint, für sie Gefühle vorspielen oder unterdrücken zu müssen.
Auch das Leben der Tochter gerät aus den Fugen, sie kann nicht mehr so wie bisher arbeiten, fährt täglich ins Krankenhaus, wäscht die Wäsche ihres Vaters, kocht für ihn, stellt sich Ärzten in den Weg, trauert, organisiert und beherbergt zahlreiche Verwandte, die ihren Vater im Krankenhaus besuchen.
Dazwischen streut Mely all die Geschichten, die ihr Vater ihr schon in der Vergangenheit erzählt hat und nun auch im Krankenhaus erzählt, von früher, von Anatolien, den Tanten und dem kriminellen Onkel oder dem Großvater der Autorin, der noch Analphabet war, von Familienfesten und Bräuchen, wie z. B. der Entführung der Geliebten:
Einer „entführten“ Frau kann man keinen Vorwurf machen, im Gegensatz zu einer Frau, die mit ihrem Liebsten durchbrennt. Mein Vater brauchte ein Fluchtfahrzeug. Er bat seinen Cousin Hüseyin, ihm einen Esel für die Geiselnahme zu überlassen. […] Dein Opa setzte seine Oma auf den Esel und lief hinterher. So entführte er sie. Als Gegenleistung für den Esel überließ mein Vater Hüseyin seinen Anteil an den Feldern. Daraufhin hieß es, mein Vater sei vor lauter Liebe verarmt. Was natürlich nicht stimmt. Er war keineswegs arm geworden. Die Liebe macht einen Menschen immer reich. (S. 50)
Da gibt es Geschichten vom Militärdienst des Vaters, bei dem er zum ersten Mal die Benachteiligung der Kurden begriff. Geschichten vom Leben in der Fremde, in Deutschland, von langen 12-Stunden-Nachtschichten und den besprochenen Kassetten, die die Gastarbeiter in die Türkei schickten und die dann von Familienmitgliedern überspielt und wieder besprochen wurden.
Fazit
Ich habe das Buch sehr, sehr gern gelesen. Aus mehreren Gründen. Es ist traurig, schnoddrig, witzig, bedenkenswert und ehrlich, man sieht und spürt die Verzweiflung – und den Lebenstrotz – der Tochter und wird an die eigene Sterblichkeit und die seiner Lieben erinnert:
Es scheint zu stimmen. Der Mensch ist sterblich. Gewusst habe ich es immer, aber nicht begriffen. Ich dachte, Kranksein sei eine Ausnahme. Es scheint vielmehr die Ausnahme zu sein, friedlich im Schaukelstuhl mit einer Kaschmirdecke auf den Knien einzuschlafen. (S. 61)
Man fragt sich doch, worin der Sinn des Lebens besteht, wenn am Ende gestorben wird. Und wie ich mich gefreut hatte auf das Leben. (S. 113)
Natürlich ist es scheußlich, von der Krankenhausmentalität zu lesen, wenn kaum jemand Zeit hat, dem Patienten und den Angehörigen zu erklären, was mit einem passiert, so dass man im Stillen hofft, nie dort sterbenskrank sein zu müssen. Der Mensch an sich wird – aus Zeitmangel, Überarbeitung, Gleichgültigkeit – nicht mehr wahrgenommen und die Tochter muss um ein Arztgespräch betteln, nachdem der Vater mal eben – eher so im Vorübergehen – die Diagnose Krebs erhalten hat. Das Krankenhaus wird so zum Spiegelbild unserer Gesellschaft.
Dem Leser dämmert, dass die Gastarbeiter von damals immer noch nicht als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft wahrgenommen werden, im Krankenhaus so gar nicht auf ihre manchmal so kleinen, aber für das Sich-nicht-völlig-fremd-Fühlen so wichtigen Wünsche reagiert wird, z. B. einen ordentlichen Tee zu bekommen. Der Speiseplan ist komplett auf deutsche Essgewohnheiten abgestellt, gleichzeitig sieht man es ungern, wenn Familienmitglieder Essen mit ins Krankenhaus bringen.
Und wir lesen von einer Vater-Tochter-Beziehung, in der vermutlich jeder wirklich alles für den anderen geben und tun würde. Ich war manchmal schon fast entsetzt über die Respektlosigkeiten, die sie und ihre Geschwister sich ihrem Vater gegenüber als Kinder erlaubt haben, über die Rabiatheit, die die Tochter ihrem Vater gegenüber an den Tag legt, und doch schimmert jetzt hinter allem Liebe und ein unglaublicher Zusammenhalt durch. Als Mely einmal so losweinen muss, dass sie gar nicht mehr aufhören kann,
nützt [er] das als Freibrief und legt dermaßen los und weint mit und das macht mich schlagartig nüchtern, dass ich mich gar nicht erst beruhigen muss, ich bin in solcher Weise klar im Kopf, dass ich ihn anschaue und sage: Papa, bloß weil ich ein Nervenbündel bin, heißt das noch lange nicht, dass du mitmachen darfst! (S. 202)
Herr Miyak ist ein so liebenswürdiger, stiller aber dabei so tapferer Mann, dass er mein Leserinnenherz im Fluge für sich eingenommen hat. Dabei gelingen der Autorin Momentaufnahmen von großer Innigkeit. Und manchmal muss man auch einfach lächeln.
Gern gelesen habe ich auch die Geschichten aus der Türkei, so bunt und fabulierfreudig, ganz das Gegenteil des Krankenhauslebens. Mir wurde bewusst, wie wenig ich eigentlich über die Türkei weiß. Und: Wie viele Geschichten hat Deutschland möglicherweise versäumt?
Wo sind alle diese Kassetten geblieben? Wer archiviert die Erinnerungen? (S. 126)
Meinetwegen hätte das Buch dreimal so dick sein können.
Und das schreibt Mely Kiyak über Literatur:
All die Schmerzensliteratur, die es gibt und die man zitiert nicht erträgt, wenn man sich nicht auf dem gleichen Level der Traurigkeit wie der Zitierte befindet, bekommt im Moment der eigenen Traurigkeitsauflösung eine solche Wucht, eine solch monströse Kraft, man traut sich gar nicht mehr, ins Buchregal zu greifen. (S. 229)
Ein großes Dankeschön an Sabine von Binge Reading, die mich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam gemacht hat.