James Rebanks: Mein Leben als Schäfer (OA 2015)

Unsere ganze Klasse spielte gern ein „Spiel“, bei dem es darum ging, innerhalb einer Unterrichtsstunde schulische Ausstattung von größtmöglichem Wert zu schrotten und das Ganze als „Panne“ zu verkaufen. Bei solchen Aktionen war ich gut. Der Boden war übersät mit kaputten Mikroskopen, Tierpräparaten, zersplitterten Stühlen und zerfetzten Büchern. Eine in Formaldehyd konservierte Froschleiche lag mit gespreizten Gliedern auf dem Boden wie ein Brustschwimmer. Die Gashähne brannten wie eine Bohrinsel, ein Fenster bekam einen Sprung. Die Lehrerin starrte uns nur noch an, in Tränen aufgelöst und völlig am Ende, während ein Techniker versuchte, die Ordnung wiederherzustellen. Eine Mathestunde gewann für mich erst an Reiz, als der Lehrer und ein Mitschüler mit Fäusten aufeinander losgingen. […] Von Zeit zu Zeit versuchte jemand – stets ein Stümper -, die Schule in Brand zu stecken. Ein Junge, den wir schikanierten, brachte sich ein paar Jahre später mit seinem Auto um. (S. 10/11)

Dieser dreizehnjährige Lehrer-Alptraum aus dem Lake District im Norden Englands veröffentlicht also knapp drei Jahrzehnte später seine Autobiografie Mein Leben als Schäfer.

Die deutsche Übersetzung stammt von Maria Andreas.

Zum Inhalt

Nach einer wohl noch halbwegs unfallfrei verlaufenden Grundschulzeit ist die weiterführende Schule für den jungen James (*1974), der aus einer Schäferfamilie stammt, ein einziger Graus. Neben einer verwahrlosten Schulatmosphäre macht er dafür auch die angeblich so bornierten Lehrer und Lehrerinnen verantwortlich:

Dass wir, unsere Väter und Mütter stolze, hart arbeitende und intelligente Menschen sein könnten, die Nützliches, vielleicht sogar Bewundernswertes leisteten, überstieg den geistigen Horizont dieser Frau [gemeint ist seine Lehrerin]. Erfolg definierte sich für sie über Bildung, Ehrgeiz, Unternehmungsgeist und eine glanzvolle Karriere, doch damit konnten wir nicht punkten. Ich glaube nicht, dass an dieser Schule jemals das Wort „Universität“ fiel. Dort hätte auch keiner von uns hingewollt. Denn wer wegging, gehörte nicht mehr dazu. Er veränderte sich, und damit gab es für ihn kein Zurück mehr, was wir instinktiv spürten. Bildung war ein „Ausweg“, ein Weg in die Welt hinaus, aber dorthin wollten wir auch gar nicht, wir hatten unsere Wahl längst getroffen. Später begriff ich, dass man in modernen Industriegesellschaften geradezu davon besessen ist, „weiterzukommen“ und „etwas aus seinem Leben zu machen“. Darin drückt sich eine Abwertung aus, die ich unerträglich finde: Wer bleibt, wo er ist, und körperlich arbeitet, gilt nicht viel. (S. 12)

Im Haus der Großeltern galt Bücherlesen – zumindest, wenn ein Junge dabei erwischt wurde – als Zeichen übelster Faulheit, da auf dem Hof schließlich genügend andere Tätigkeiten dringlicher waren. Und auch wenn sich seine Mutter die Augen ausweint, sein Vater versteckt ihn einfach an den Tagen, an denen er die Schule schwänzt.

Diese miese, abgetakelte Schule hat mir fünf Jahre meines Lebens geraubt. Ich hätte eine Stinkwut deswegen, wenn ich nicht wüsste, dass ich dort mehr über mich selbst gelernt habe als überall sonst. Ich habe dort auch begriffen, wie schlecht das moderne Leben sehr vielen Menschen bekommt. Wie wenig Wahlmöglichkeiten es ihnen bietet. Sie haben eine Zukunft vor sich, die so stumpfsinnig ist, dass sie sich jedes Wochenende um den Verstand saufen müssen. (S. 107)

So wundert es wenig, dass der junge James mit 15 die Schule ohne Abschluss verlässt, um endlich etwas Sinnvolles zu tun, nämlich auf dem väterlichen Hof mitanzupacken.

Mit romantischen Disneybildern süßer Lämmer hat die Arbeit nichts zu tun.

Jeden Sommer wird eine Handvoll Schafe von Fliegenmaden befallen. Die bösartigen, gefräßigen kleinen Kriecher setzen sich auf einem Fleck verschmutzter Wolle fest, dann im Fleisch oder in einem Fuß. […] Ein befallener Fuß ist manchmal nur noch ein Klumpen wimmelnder Maden; Maden am Schwanz oder im Vlies sind schwieriger auszumachen und können sich über den ganzen Körper ausbreiten. Wird das Tier nicht behandelt, kann es daran sterben… (S. 47)

Und so lernen schon die Kinder, dass zum Leben auf dem Bauernhof eben auch gehört, dass man immer wieder mal Blut, Kot oder Schleim abbekommt und dass man nach den Tieren riecht, die man hält.

Was hier zählt, sind Ausdauer und körperliche Kraft.

Dad blickte öfter mitten im Scheren zu mir herüber und fragte spöttisch, ob ich müde sei. Ich hätte ihm am liebsten eine reingesemmelt. Jahrelang konnte ich nicht mit ihm mithalten. (S. 46)

Ganz besonders wichtig für den Heranwachsenden ist sein Großvater, der für ihn lange alle Tugenden und Fähigkeiten verkörpert, die einen guten Mann und Farmer auszeichnen.

Aber er brachte mir auch Werte bei, eine innere Haltung – wie man fair mit den Leuten handelt und sich Respekt verdient, wie man Geschäfte macht und unseren guten Namen schützt. Von frühester Kindheit an wurde uns eingeimpft, dass wir zu einer Familie und einer Gemeinschaft gehören und Werte zu bewahren haben, die wichtiger sind als unsere persönlichen Wünsche und Launen. Der Hof und die Familie kommen stets an erster Stelle. (S. 82)

Doch dann gibt es immer häufiger Streit zwischen James und seinem Vater.  Zunächst flüchtet James in die Welt der Bücher, doch als der Hof trotzdem zu eng für die zwei Männer wird und sie sich mehrmals an die Gurgel gehen, wird ihm klar, er muss da raus.

Saufen. Schlägern. Vögeln. Diese Zukunft sah ich vor mir und hatte keine Lust darauf. Aber ich wusste nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte. Der Optimismus, der mich nach dem Schulabgang beflügelt hatte, war verflogen. (S. 137)

Da trifft er mit 21 seine Herzdame und – man glaubt es kaum – besucht die Abendschule, um seine Hochschulreife zu erwerben. Als der Lehrer ihn irgendwann fragt, ob er nicht studieren wolle, lacht James ihn zunächst aus.

Ich wünschte mir kein einziges Mal, ach, wäre ich doch zur Universität gegangen. Die wenigen Leute aus meinem Bekanntenkreis, die studiert hatten, schienen nach ihrer Rückkehr auch nicht klüger, sondern hatten eher eine Menge Unsinn gespeichert. Und sie gehörten nie mehr richtig dazu. Trotzdem brachte mich die Frage ein wenig aus dem Gleichgewicht. Ich wollte nicht wirklich weg von hier, aber wenn der Lehrer fand, mir liege dieser Bücherkram, dann hieß das vielleicht, dass ich Wahlmöglichkeiten hatte. Und die brauchte ich. Die Bücher und die Abendschule öffneten mir einen Freiraum, über den ich selbst verfügen konnte. Ich erweiterte meinen Horizont und entdeckte, dass man sein eigenes Schicksal in einem viel größeren Umfang gestalten kann, als ich es bisher erlebt hatte. Wer mehr las, härter arbeitete, die Dinge klug durchdachte und besser als andere Leute schrieb oder argumentierte, der war auf der Gewinnerseite. (S. 144)

Anschließend studiert er in Oxford. Genau dieser Ausflug in die intellektuelle Welt ermöglicht ihm heute, freiberuflich als beratender Experte beim UNESCO-Weltkulturerbezentrum in Paris zu arbeiten, eine Tätigkeit, ohne die sein Hof heute wirtschaftlich wesentlich schlechter dastehen würde.

Und so erfahren wir, welche Arbeit vonnöten ist, um die Lammsaison über die Bühne zu  bringen (besonders, wenn im April noch mal Schneestürme toben), wie die Schäfer und Züchter ihre Schafe auf den Märkten verkaufen (und vorher hübsch frisieren, da werden auch schon mal ein paar Haare in der falschen Farbe mit Pinzette ausgezupft) und wann die Schafe auf welchen Weiden gehalten werden und wie sich das anfühlt, wenn einem die ganze Heuernte für den nächsten Winter verregnet.

Aber auch derbe und zarte Familienanekdoten fehlen nicht, die das Ganze erden und dem Buch eine authentische, bodenständige Atmosphäre geben.

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  • Die erste Schäferregel lautet: Es geht nicht um dich, sondern um die  Schafe und das Land.
  • Die zweite Regel: Manchmal hast du keine Chance.
  • Die dritte Regel: Quatsch nicht lang, sondern komm in die Pötte. (S. 202)

Fazit

Es ist ein Buch, das – in der Chronologie hin und her springend und locker den vier Jahreszeiten folgend – nicht nur einen interessanten und mit Informationen überbordenden Einblick in eine mir völlig fern liegende Welt, die Bergschäferei auf den nordenglischen Fells, erlaubt und verdeutlicht, wie viel Knochenarbeit, Sachverstand, Sturheit und regendichte Klamotten dafür vonnöten sind.

Es ist eine hinreißende Liebeserklärung an seine Heimat im Lake District, an seinen Großvater und seine Familie, an seine Herdwick-Schafe und Hütehunde und vor allem an seinen Beruf, den er als Berufung erlebt, ja schon fast mythisch überhöht:

Wir werden geboren, leben unser arbeitsreiches Leben und sterben, vergehen wie die Eichenblätter, die im Winter über unser Land wehen. Wir sind alle ein winziger Teil dessen, was überdauert und was wir als solide, echt und wahrhaftig empfinden. Unser Schäferleben wurzelt tief im Boden dieser Landschaft, tiefer als fünftausend Jahre. (S. 20)

Bei der Arbeit hier oben wird man demütig; sie befreit einen von jeder Illusion, wichtig zu sein; man könnte sagen, sie ist das Gegenteil vom Bezwingen eines Bergs. (S. 280)

Es ist aber auch ein sperriges und stellenweise trotziges Buch, das manchmal so tut, als könnte man die Komplexität der modernen Gesellschaft einfach dadurch auflösen, dass am besten einfach alle da bleiben, wo sie herkommen.

Touristen sind für ihn die lästigen Leute in teurer Funktionskleidung, die achtlos an den Jahrhunderte alten Steinmauern vorbeischlendern und deren Hunde unangeleint auf die Schafe losgehen und sich dann noch aufregen, wenn eine Schafherde die Straße versperrt.

Wobei er die Entwicklung des Lake District zum „malerischen Tummelplatz“ sicherlich nicht ohne Grund mit großer Skepsis betrachtet:

Heute strömen jedes Jahr 16 Millionen Besucher in ein Gebiet mit 43.000 Einwohnern. Sie geben jährlich über eine Milliarde Pfund aus. Mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Region hängen vom Tourismus ab, und viele der Bauern sind darauf angewiesen, ihr Einkommen durch Bed & Breakfast oder andere Angebote aufzubessern. Aber in manchen Tälern sind über zwei Drittel der Häuser Zweitwohnsitze oder Feriendomizile, und viele Einheimische können sich das Wohnen in ihrer eigenen Gemeinde nicht mehr leisten. […] Es gibt Orte, die sich nicht mehr wie unsere eigenen anfühlen, als hätten die Gäste das Gästehaus übernommen. (S. 15)

Den Touristen spricht er das Recht ab, von einer „Liebe“ zum Lake District sprechen zu dürfen:

Es ist sonderbar, wenn man allmählich begreift, dass die eigene Landschaft auch von anderen Menschen geliebt wird. Noch sonderbarer und ein wenig beunruhigend ist es, wenn man nach und nach entdeckt, dass wir Einheimischen bei allem, was diese Menschen mit unserer Landschaft verbinden, eigentlich gar nicht vorkommen. Wenn es schüttet wie aus Kübeln oder im Winter schneit, sind nie Touristen hier, deshalb ist man versucht, ihre Liebe zum Lake District als Schönwetterliebe abzutun. Unsere Beziehung zu dieser Landschaft beruht darauf, dass wir hier alles miterleben. Für mich ist das ein ähnlicher Unterschied wie zwischen der Teenie-Liebe zu einem hübschen Mädchen und der Liebe zur eigenen Frau nach vielen Jahren Ehe. (S. 99)

Aber natürlich ist auch der uralte Beruf des Schäfers an die moderne Marktwirtschaft und unser Konsumverhalten gekoppelt:

Das einzig Traurige an der Scherzeit ist, dass Wolle, eines der großartigsten Produkte der Welt, heute so geringe Preise erzielt. […] Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts brachten Karawanen von Pferden oder Eseln Wollballen über die Berge nach Kendal, einer Stadt, die ganz vom Wollhandel lebte. Die Klöster, die im Mittelalter weite Bereiche des Lake District besaßen, erwarben einen Großteil ihres Reichtums durch Wolle. Heute bezahlen wir einem professionellen Scherer ein Pfund pro Tier. Das Vlies ist nur vierzig Pence wert und bringt damit nur einen Teil der Kosten herein, von einem Gewinn ganz zu schweigen. In manchen Jahren machen wir uns gar nicht die Mühe, die Wolle zu verkaufen, weil der Preis so schlecht ist, und verbrennen sie einfach. (S. 48)

Nach der Lektüre wird man also der nächsten Schafherde ein bisschen nachdenklicher nachblicken, die unvergleichliche und uralte Kulturlandschaft des Lake District mit anderen Augen betrachten als vorher und sich fragen, wo man eigentlich selbst seine Wurzeln, seine Heimat hat.

Alles in allem also empfehlenswerte Pflichtlektüre für alle, die demnächst ihren Urlaub – so als schnöselige Touristen – im Lake District verbringen wollen.

In den alten Scheunen von Gatesgarth, wo ein anderer unserer Freunde seine Schafe züchtet, Willie Richardson, sind die Balken mit Rosetten und Urkunden für Herdwicks geschmückt, die sich im Laufe eines ganzen Jahrhunderts angesammelt haben; manche sind zerfleddert, verblichen und befinden sich in unterschiedlichen Verfallsstadien, andere sind aus den letzten Jahren. […] Orte wie diese alten Steinscheunen enthalten die wahre Geschichte und Kultur des Lake District. Aber nur die Schäfer und Schäferinnen, die dort ihre Tiere herausputzen, haben diese Auszeichnungen je gesehen; Tausende Besucher laufen auf ihren Wanderungen an den Scheunen vorbei und erfahren nie, welche Schätze sie bergen. (S. 273)

Aber es bleibt ein ungelöstes Rätsel, weshalb ein solches Buch so dermaßen kärglich, ja lieblos bebildert ist. Wahrscheinlich soll man gleich dem  Autor auf Twitter folgen.

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 Hier gibt es die Rezension des Bestsellers aus der New York Times.