Die junge Frau klingelt an der Wohnungstür im Erdgeschoss. Auf dem Schild steht in verschnörkelter Schrift: Frl. Jungnickel. Ein Vogel zwitschert, zwei kurze Triller, dann ist es wieder still. Der Mann neben ihr räuspert sich, auch er drückt den Klingelknopf, ungeduldig und länger anhaltend. Diesmal sind Schritte zu hören, das vergitterte Türfenster wird geöffnet, eine Alte schaut heraus, regungslos, nur ihr eines Lid zittert.
So beginnt der Roman der 1958 geborenen Schriftstellerin, der momentan auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht:
Angelika Klüssendorf: April (2014)
– erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch
Zum Inhalt
2011 erschien Das Mädchen und April lässt sich als Nachfolgeerzählung lesen, ist aber auch unabhängig davon zu verstehen.
Die gerade 18 Jahre alt gewordene April, den Namen hat sie sich selbst gegeben, wird aus der staatlichen Obhut der DDR-Kinderheime entlassen. Ihr wird ein Arbeitsplatz als Bürohilfskraft im Starkstromanlagenbau in Leipzig und ein Zimmer bei der ca. 70-jährigen Fräulein Jungnickel zugewiesen.
Und so kämpft April gegen einen langweiligen Arbeitsplatz, den sie nicht lange behält, gegen ihre Vermieterin und vor allem gegen ihre eigenen Dämonen. Der Vater war ein Trinker und die Mutter eine prügelnde Sadistin, die ihre Kinder tagelang, auch im Keller, eingesperrt hat. Ihre Kindheit hat April zum Großteil in Heimen verbracht.
Sie mag ihren Spitznamen, Rippchen klingt tröstlich; früher hatten die Jungs noch ganz andere Namen für sie: Gerippe, Speiche, Hungerhaken. (S. 15)
April fällt es schwer, sich an Regeln und Verbote zu halten. Als ihre Abteilungsleiterin sie nach Hause schickt, weil sie in Levis und einem Nicki-Pullover zur Arbeit erschienen ist, weigert sie sich, sich umzuziehen und geht stattdessen in den Zoo und vertrödelt die Zeit.
Sie klaut, stromert nächtelang durch die Stadt, fühlt sich einsam und möchte so gern irgendwo dazugehören. Dabei kann sie sich nur schlecht auf Gefühle und Beziehungen einlassen und ist gleichzeitig ein leichtes Opfer für allerlei seltsame und kriminelle Gestalten. Einmal lernt sie ein Pärchen in einer Kneipe kennen, die beiden quartieren sich bei ihr ein und bestehlen die alte Vermieterin. Das ist ihr zwar nicht recht, aber sie ist zu feige, die beiden rauszuwerfen. Da sie Fräulein Jungnickel aber nicht mag, hat sie auch kein wirklich schlechtes Gewissen, noch nicht einmal, als sie aus Unachtsamkeit fast die Wohnung abfackelt.
Sie lernt weitere Männer kennen, doch nichts hilft gegen die Haltlosigkeit. Sie versucht sich umzubringen. Der anschließende Psychiatrie-Aufenthalt hat den Vorteil, dass sie einen anderen Arbeitsplatz im Museum bekommt, wo sie mit kunst- und literaturinteressierten Menschen in Berührung kommt. Doch ihre Probleme bleiben, ihre Wutanfälle, ihr dringendes Bedürfnis, alles kaputt zu machen, gerade dann, wenn alles in ein ruhigeres Fahrwasser zu kommen scheint. Vertrauen ist ihre Sache nicht. Und sollte sie als stabil genug angesehen werden, wäre wieder Schluss mit dem Arbeitsplatz im Museum.
Es beunruhigt sie, dass sich jemand für ihre Gedanken oder Gefühle interessiert. Warum soll sich sich daran erinnern, was ihr in ihrer Kindheit wichtig war? Ja, sie mochte Tiere, mag sie noch immer, doch was sagt das schon aus? Sie fühlt sich dem Arzt überlegen, versucht sogar, die eine oder andere Frage ins Lächerliche zu ziehen. Trotzdem kommen ihr die Tränen, wenn sie daran denkt, wie sie tage- und nächtelang eingesperrt im Keller Brehms Tierleben gelesen hat, sämtliche Bände. Und nur der Glaube, dass, wenn sie erst erwachsen wäre, alles anders sei, hat sie durchhalten lassen.
Sie erzählt dem Arzt nichts von ihrem Trick, der darin besteht, ihr Gegenüber in Gedanken zu sezieren, mit einem schnellen, sauberen Schnitt den Körper in zwei Hälften zu teilen, die Organe freizulegen, das Herz herauszuschneiden, die Lunge. Ihr Gegenüber ist längst tot, von ihr in Stücke zerlegt, ohne es zu wissen. Diese Vorstellung bewahrt sie davor, losheulen zu müssen. (S. 45)
Sie fängt an zu schreiben, lernt einen Mann kennen und bekommt ein Kind mit ihm. Sie ist mit dem Muttersein überfordert und schließlich stellen sie einen Ausreiseantrag.
Fazit
Eigentlich ein unglaublich trostloser Inhalt. Die kaputte Kindheit mit kaputten Eltern wirft noch immer ihre bösen Schatten in die Gegenwart. Ihre Brüder müssen weiterhin in dieser Angsthölle ausharren. Der Staat nimmt seine Bürger nicht ernst, schüchtert sie ein, bespitzelt sie und sperrt sie ein. Eine Protagonistin, die versucht, etwas Halt zu finden und dabei manchmal ungefähr so erfolgreich ist wie ein Korken auf dem Wasser.
Doch gleichzeitig ist da eine ungeheure Energie, wenn auch manchmal destruktiv und gewalttätig. Eine Lebenswut. Und eine lakonische Sprache, immer im Präsens und mit kurzen Hauptsätzen, die genau diese Energie vermittelt. April wird nicht gedeutet, nicht psychologisch ausgeleuchtet, genau das passt zu ihr, denn sie versteht sich selbst oft nicht, genauso wie sie ihren eigenen Gefühlen und Motiven nicht traut. Gänzlich unsentimental wird ihr Weg, ihr Stolpern ins Erwachsenenleben geschildert.
Selbstredend, dass das Buch autobiografische Elemente enthält. Ein großer Erkenntnisgewinn war jetzt für mich mit dem Lesen nicht verbunden, außer dass ich mir mal wieder wünschte, dass alle Eltern wirklich Eltern sein könnten. Aber ich bin beeindruckt von der Wucht der Sprache, der Fähigkeit der Autorin, mir ein Leben ganz nahe zu rücken. Am Ende wünsche ich dem ehemaligen „Rippchen“, dass sie Boden unter die Füße bekommt, die schlimmsten Wunden heilen und sie ihrem Kind nicht all das antun muss, was ihr angetan wurde.
Anmerkungen
Für den Roman hat Klüssendorfer den Herman-Hesse-Literaturpreis verliehen bekommen.
Hier liest die Autorin den Anfang des Buches vor und hier geht’s lang zu einigen Blog-Besprechungen:
Das sagt das Feuilleton:
- ZEIT (Interview)
- Spiegel (Tobias Becker)
- Die WELT (Elmar Krekeler)
- Tagesspiegel (Susanne Kippenberger)
- Tagesspiegel (Christoph Schröder)
Der Standard druckt ein Interview mit Klüssendorf ab.