Andauernd rief eine Frau meinen Namen, aber ich war nicht gemeint. So gemein. Ich hab sie nicht mal gesehen, zu viele Leute überall; alle schrien durcheinander, mir wurde schon ganz schwindlig. Wegschauen konnt ich nicht; jedes Mal, wenn ich den Kopf drehte, lag da meine Mutter; alles war still. Sogar der Willy hat keinen Ton von sich gegeben; der hockte auf seinem Käfig, aufgeplustert und starr wie ausgestopft.
Mit diesen Sätzen beginnt der Kriminalroman Der namenlose Tag (2015) um den seit zwei Monaten pensionierten Kriminalhauptkommissar Jakob Franck von Friedrich Ani.
Die Grundidee fand ich zunächst reizvoll: Der pensionierte Ermittler Franck wird nicht nur von den Geistern Ermordeter besucht, denen er dann Kekse anbietet, sondern auch vom inzwischen ziemlich auf den Hund gekommenen Vater einer jungen Frau, die sich vor zwanzig Jahren im Park erhängt hat. Fremdverschulden wurde ausgeschlossen. Franck war damals derjenige, der der Mutter die Todesnachricht überbracht hatte. Ein Jahr später nahm sich die Mutter auf die gleiche Weise das Leben.
Nun, Jahrzehnte später, plagen den Vater die Geister der Vergangenheit und er hat sich in die Idee hineingesteigert, dass seine Tochter in Wahrheit einem Mörder zum Opfer gefallen ist. Den Täter meint er in einem ehemaligen Nachbarn ausgemacht zu haben, der bekannt dafür war, Affären mit Minderjährigen zu unterhalten.
Auch Franck hat dieser Fall nie losgelassen. Er ist fassungslos, wie schlampig damals ermittelt wurde, wie wenig man den Eltern, den Mitschülern, den Nachbarn auf die Pelle gerückt ist, dabei gab es sogar Gerüchte um einen Missbrauch durch den eigenen Vater. Und so marschiert Franck los, befragt die Überlebenden von damals, und schwuppdiwupp, erfährt er Dinge, die damals niemand wissen wollte.
Ich habe eine ganze Reihe der Tabor Süden-Romane von Ani sehr gern gelesen, fand es großartig, die Suche nach Vermissten und den Unsichtbaren unserer Gesellschaft in das Zentrum zu rücken, ganz ohne Thrill und Gemetzel. Das Ganze mit einer dazu passenden, manchmal sogar poetischen Sprache. Doch jetzt?
Diesmal kam die Sprache an manchen Stellen dem Kitsch gefährlich nahe:
… einen Moment lang erinnerte ihn ihr Blick an Adriana Waldt, deren Suche nach einem Anker im eisigen Gedankenmeer sie immer wieder erfrieren ließ. (S. 181)
In diesem Roman scheinen mir nur noch einzelne Bestandteile eines ehemals gelungenen Rezepts verrührt: Gescheiterte Existenzen, die mich diesmal nicht interessieren, großstädtische Anonymität, familiäre Sprachlosigkeit, wohin man schaut, und Unwahrscheinlichkeiten – plötzlich erinnern sich die Zeugen von damals an Dinge, die sie vor zwanzig Jahren nicht zu Protokoll gegeben haben.
Ach, und dass er im Flughafencafé eine Frau trifft, die am ersten Todestag ihrer Schwester vermutlich plant, sich umzubringen, doch Franck sie zum Reden bringt – geschenkt.
Dass der Kommissar mit seinen Fragen und seiner Art des Zuhörens jeden zum Reden bringt, fand ich in diesem Roman nicht immer glaubwürdig. Der wundersame Effekt seiner Kommunikation wird eher beschworen als anschaulich nachvollziehbar gemacht. Natürlich ist auch dieser Ermittler melancholisch bis ins Mark, doch auch dies wird einfach behauptet, ohne dass es für mich zu leben beginnt:
… während Jakob um seinen vierzigsten Geburtstag herum die Freude am Frühjahr verloren hatte. Wenn er nicht arbeitete, versank er in Büchern; wenn Freunde zu Besuch kamen, überließ er seiner Frau die Unterhaltung; Frank hatte begonnen, abseits der Jahreszeiten und der einfachen Dinge zu leben… (S. 65)
Und dann der existenzielle Schauder, der ihn bei dem Glockengeläut einer Kirche überkommt:
Franck erschrak; er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal erschrocken war; er zitterte fast; ihn überfiel ein Schauder wie seit seiner Kindheit nicht mehr; sein Herz schlug über ihn hinaus; die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie sprechende Schneeflocken; in seinem Bauch hockte ein brennender Trommler; die Luft, die er atmete, schmeckte würziger als frisches Brot. (S. 93)
Er gehörte nicht mehr dazu, dachte er ständig, er verbummelte die Zeit, die ihm noch blieb, und ernährte sich von trockenen Erinnerungen, die er schon viel zu lange wiederkäute; ihm war das Verlangen abhandengekommen, hungrig zu sein. (S. 112)
Und – vielleicht das Ärgerlichste für mich – die Auflösung, die mich nicht überzeugen konnte. Sollte Herr Franck also weiterhin in seinem Ruhestand ermitteln, wird er das leider ohne mich tun.
Zum Abschluss noch ein interessantes Zitat von Ani, das die Grundtristesse in seinen Romanen, die mir in den Süden-Romanen durchaus noch schlüssig erschien, vielleicht ein wenig erhellt:
Ohne Scheitern ist ja ein reales Leben gar nicht möglich. Das Leben an sich ist ja ein Scheitern. In dem Moment, in dem wir begreifen, dass wir irgendwann sterben werden, wissen wir, dass wir scheitern am Leben. Wir versuchen halt uns was einzureden. Wir versuchen uns einzureden, dass wir überleben können, dass wir weiterkommen. Aber wir sind natürlich im großen Ganzen schon dazu verurteilt mit unserem Leben zu scheitern.
Hier geht es lang zu meiner Besprechung seines Romans Süden von 2011.
Und hier noch ein Interview mit dem Autor aus der Abendzeitung. Anis Vater kam aus Syrien und Ani selbst bezieht immer wieder Stellung in der Flüchtlingsfrage. Sein Fazit: Unsere demokratische Lebensform braucht Empathie.