Friedrich Ani: Der namenlose Tag (2015)

Andauernd rief eine Frau meinen Namen, aber ich war nicht gemeint. So gemein. Ich hab sie nicht mal gesehen, zu viele Leute überall; alle schrien durcheinander, mir wurde schon ganz schwindlig. Wegschauen konnt ich nicht; jedes Mal, wenn ich den Kopf drehte, lag da meine Mutter; alles war still. Sogar der Willy hat keinen Ton von sich gegeben; der hockte auf seinem Käfig, aufgeplustert und starr wie ausgestopft.

Mit diesen Sätzen beginnt der Kriminalroman Der namenlose Tag (2015) um den seit zwei Monaten pensionierten Kriminalhauptkommissar Jakob Franck von Friedrich Ani.

Die Grundidee fand ich zunächst reizvoll: Der pensionierte Ermittler Franck wird nicht nur von den Geistern Ermordeter besucht, denen er dann Kekse anbietet, sondern auch vom inzwischen ziemlich auf den Hund gekommenen Vater einer jungen Frau, die sich vor zwanzig Jahren im Park erhängt hat. Fremdverschulden wurde ausgeschlossen. Franck war damals derjenige, der der Mutter die Todesnachricht überbracht hatte. Ein Jahr später nahm sich die Mutter auf die gleiche Weise das Leben.

Nun, Jahrzehnte später, plagen den Vater die Geister der Vergangenheit und er hat sich in die Idee hineingesteigert, dass seine Tochter in Wahrheit einem Mörder zum Opfer gefallen ist. Den Täter meint er in einem ehemaligen Nachbarn ausgemacht zu haben, der bekannt dafür war, Affären mit Minderjährigen zu unterhalten.

Auch Franck hat dieser Fall nie losgelassen. Er ist fassungslos, wie schlampig damals ermittelt wurde, wie wenig man den Eltern, den Mitschülern, den Nachbarn auf die Pelle gerückt ist, dabei gab es sogar Gerüchte um einen Missbrauch durch den eigenen Vater. Und so marschiert Franck los, befragt die Überlebenden von damals, und schwuppdiwupp, erfährt er Dinge, die damals niemand wissen wollte.

Ich habe eine ganze Reihe der Tabor Süden-Romane von Ani sehr gern gelesen, fand es großartig, die Suche nach Vermissten und den Unsichtbaren unserer Gesellschaft in das Zentrum zu rücken, ganz ohne Thrill und Gemetzel. Das Ganze mit einer dazu passenden, manchmal sogar poetischen Sprache. Doch jetzt?

Diesmal kam die Sprache an manchen Stellen dem Kitsch gefährlich nahe:

… einen Moment lang erinnerte ihn ihr Blick an Adriana Waldt, deren Suche nach einem Anker im eisigen Gedankenmeer sie immer wieder erfrieren ließ. (S. 181)

In diesem Roman scheinen mir nur noch einzelne Bestandteile eines ehemals gelungenen Rezepts verrührt: Gescheiterte Existenzen, die mich diesmal nicht interessieren, großstädtische Anonymität, familiäre Sprachlosigkeit, wohin man schaut, und Unwahrscheinlichkeiten – plötzlich erinnern sich die Zeugen von damals an Dinge, die sie vor zwanzig Jahren nicht zu Protokoll gegeben haben.

Ach, und dass er im Flughafencafé eine Frau trifft, die am ersten Todestag ihrer Schwester vermutlich plant, sich umzubringen, doch Franck sie zum Reden bringt – geschenkt.

Dass der Kommissar mit seinen Fragen und seiner Art des Zuhörens jeden zum Reden bringt, fand ich in diesem Roman nicht immer glaubwürdig. Der wundersame Effekt seiner Kommunikation wird eher beschworen als anschaulich nachvollziehbar gemacht. Natürlich ist auch dieser Ermittler melancholisch bis ins Mark, doch auch dies wird einfach behauptet, ohne dass es für mich zu leben beginnt:

… während Jakob um seinen vierzigsten Geburtstag herum die Freude am Frühjahr verloren hatte. Wenn er nicht arbeitete, versank er in Büchern; wenn Freunde zu Besuch kamen, überließ er seiner Frau die Unterhaltung; Frank hatte begonnen, abseits der Jahreszeiten und der einfachen Dinge zu leben… (S. 65)

Und dann der existenzielle Schauder, der ihn bei dem Glockengeläut einer Kirche überkommt:

Franck erschrak; er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal erschrocken war; er zitterte fast; ihn überfiel ein Schauder wie seit seiner Kindheit nicht mehr; sein Herz schlug über ihn hinaus; die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf wie sprechende Schneeflocken; in seinem Bauch hockte ein brennender Trommler; die Luft, die er atmete, schmeckte würziger als frisches Brot. (S. 93)

Er gehörte nicht mehr dazu, dachte er ständig, er verbummelte die Zeit, die ihm noch blieb, und ernährte sich von trockenen Erinnerungen, die er schon viel zu lange wiederkäute; ihm war das Verlangen abhandengekommen, hungrig zu sein. (S. 112)

Und – vielleicht das Ärgerlichste für mich – die Auflösung, die mich nicht überzeugen konnte. Sollte Herr Franck also weiterhin in seinem Ruhestand ermitteln, wird er das leider ohne mich tun.

Zum Abschluss noch ein interessantes Zitat von Ani, das die Grundtristesse in seinen Romanen, die mir in den Süden-Romanen durchaus noch schlüssig erschien, vielleicht ein wenig erhellt:

Ohne Scheitern ist ja ein reales Leben gar nicht möglich. Das Leben an sich ist ja ein Scheitern. In dem Moment, in dem wir begreifen, dass wir irgendwann sterben werden, wissen wir, dass wir scheitern am Leben. Wir versuchen halt uns was einzureden. Wir versuchen uns einzureden, dass wir überleben können, dass wir weiterkommen. Aber wir sind natürlich im großen Ganzen schon dazu verurteilt mit unserem Leben zu scheitern.

Hier geht es lang zu meiner Besprechung seines Romans Süden von 2011.

Und hier noch ein Interview mit dem Autor aus der Abendzeitung. Anis Vater kam aus Syrien und Ani selbst bezieht immer wieder Stellung in der Flüchtlingsfrage. Sein Fazit: Unsere demokratische Lebensform braucht Empathie.

Nicolas Freeling: Liebe in Amsterdam (OA 1963; deutsche Erstausgabe 1983)

Er ging in der Zelle auf und ab. Es war eine geräumige und gute Zelle, dachte er, sauber und hell. Immer wieder betrachtete er das Mobiliar mit Sorgfalt und Interesse, ohne dabei recht zu wissen, was ihn daran interessierte. Es kommt daher, daß ich nichts zu tun habe, dachte er; und dann: Nein, das ist es nicht … Er interessierte sich immer für solche Dinge, wo er auch war. „Vernachlässige nichts“, sagte er laut; dann wiederholte er es noch einmal – in Gedanken. Es war nicht gut, wenn man laut vor sich hin sprach. Nicht, daß sich die Wärter darüber geärgert hätten; er hätte den ganzen Tag auf dem Kopf stehen können, ohne daß es sie im geringsten störte, aber so ein verfluchter Psychiater konnte ihnen den Auftrag gegeben haben, alles aufzuschreiben, was er tat, um dann blöde Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.

So beginnt der erste Band um den niederländischen Kriminalinspektor Piet van der Valk:

Nicolas Freeling: Liebe in Amsterdam (OA 1963)

Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Hertha Balling und wurde 1983 veröffentlicht.

Zum Inhalt

Martin, seit mehreren Jahren glücklich mit Sophia verheiratet, steht unter dem dringenden Verdacht, seine ehemalige langjährige Geliebte Elsa in deren Amsterdamer Wohnung erschossen zu haben. Alle Indizien sprechen gegen ihn. Er wurde am Tatort gesehen und bei der Tatwaffe handelt es sich um ein Geschenk von ihm.

Doch Inspektor van der Valk, wenig an Autoritäten und Indizienketten interessiert, vertraut lieber seinem Bauchgefühl und schlägt Martin einen Deal vor.

… nehmen wir mal an, Sie seien schuldig. Es gibt bestimmt allerlei mildernde Umstände und so weiter. Wenn Sie erst einmal unter Anklage stehen, können Sie die Sache mit Hilfe Ihres Anwalts ausfechten und sich weigern, mir zu antworten. … Sie haben die Wahl. Entweder Sie erzählen mir alles so freimütig, wie Sie es eben taten, so, als ob ich einer von diesen albernen Psychoanalytikern wäre, dann komme ich mit einiger Wahrscheinlichkeit hinter die ganze Geschichte und kann Sie entlasten. Oder Sie sagen nichts mehr, und ich erhebe Anklage. Bis es zur Verhandlung kommt, vergehen sechs Monate, und selbst wenn Sie freigesprochen werden, werden die Leute sagen, daß Sie das nur einem geschickten Anwalt zu verdanken haben. Überlegen Sie sich’s gut. Hier, rauchen Sie. (S. 23)

Überhaupt wird in diesen Krimis noch geraucht wie bei Chandler, Zigaretten und Zigarren ohne Ende.

Ja, und so nimmt eine spannende und gut konstruierte Handlung ihren Lauf, bei der es auch nicht stört, dass sich Martin in einem längeren Exkurs an die gemeinsame Vergangenheit mit Elsa erinnert, die er nach Kriegsende in Holland kennengelernt hatte. So gewinnt der Krimi auch gleich an Zeitkolorit.

Fazit

Gern gelesen. Nicht alle der Figuren sind psychologisch feingemeißelte Charakterstudien, aber es gibt einen rundherum soliden Plot, der bis zum Ende spannend bleibt. Keine überflüssigen Brutalitäten. Die 200 Seiten lasen sich flott und unterhaltsam weg.

Auch der zweite Band Van der Valk und die Katzen – als Milieustudie düsterer angelegt – war überzeugend.

Der dritte Band jedoch Van der Valk und der Schmuggler hantierte mir zu heftig mit einer Reihe wild gewordener Zufälle.

Insgesamt gibt es elf Romane um Van der Valk und noch zwei weitere, bei denen seine Witwe die Ermittlungen führt. Anscheinend haben Kommissare irgendetwas an sich, dass bei ihren Schöpfern Mordgelüste weckt…

Der Autor Nicolas Freeling lebte übrigens von 1927 bis 2003 und soll angeblich mit dem Schreiben begonnen haben, nachdem er selbst eine dreiwöchige Haftstrafe wegen Diebstahls zu verbüßen hatte.

Obwohl Freelings Bücher sogar verfilmt wurden und der Autor diverse Preise und Auszeichnungen für seine Bücher bekommen hat, u. a. erhielt er 1967 den Edgar Allen Poe Award für The King of the Rainy Country und den Grand Prix de Littérature Policière für Gun Before Butter, sind seine Werke heute nur noch antiquarisch zu bekommen.

Hier geht’s lang zum Nachruf auf den kosmopolitischen Schriftsteller im Guardian.

Friedrich Ani: Süden (2011)

‚Ich bin Tabor Süden und kein Japaner‘, sagte er unvermittelt, nachdem er zehn Minuten lang von der Tür aus stumm zugehört hatte. Und er unterbrach die Frau am Schreibtisch auch nur, weil sie sich eine Zigarette anzündete und mehrere Züge machte, ohne ihn anzusehen. Der Satz brachte sie zum Lachen. Rauch hüpfte aus ihrem Mund. Süden warf einen Blick zum Fenster, vor dem es dunkel wurde, und als er den Kopf abwandte, hörte Edith Liebergesell auf zu lachen.

Mit diesen Sätzen beginnt der siebzehnte Kriminalroman Süden (2011) um den ehemaligen Hauptkommissar Tabor Süden von Friedrich Ani.

Ausnahmsweise möchte ich ein Zitat mit dem Autor aus der inzwischen eingestellten Interview-Reihe „Die Befragungen“ voranstellen, das gibt nämlich bereits einen guten Eindruck vom Autor und seinem Selbstverständnis. Gleich zu Beginn sagt der 1959 geborene Autor:

Der Kriminalroman zwingt zum Hinschauen in die Gegenwart, das Drama des in seinem Lebenszimmer gefangenen Menschen gelingt mir mit dem Krimi am besten, ohne dass es mir auf Mord und Totschlag und spektakuläre Plots ankäme. In meinen Krimis bestimmen die Langsamkeit und das Schweigen den Handlungsablauf, wobei in gewisses Maß an genreüblicher Spannung unerlässlich bleiben muss. Darüber hinaus lassen sich im Genre Krimi immer wieder neue Türen öffnen. So beschäftige ich mich fast ausschließlich mit Verschwundenen und Vermissten und der Suche nach ihnen.

Und im Buch heißt es:

Fast nie gab es nur einen Grund für das plötzliche Verschwinden eines Menschen, meist entstanden im Lauf von Monaten oder Jahren für andere unsichtbare, immer weiter wachsende Staubknäuel, die den Zimmerling allmählich ersticken ließen. Anfangs wehrte sich dieser noch, riss das Fenster auf, fuchtelte mit den Armen. Da niemand in seiner Umgebung angemessen reagierte, zog er sich in einen noch halbwegs staublosen Winkel zurück, bis er auch dort keine Luft mehr bekam und keine andere Möglichkeit mehr sah, als all dem an Ort und Stelle ein Ende zu bereiten oder das Haus zu verlassen, um anderswo zu sterben. (S. 50)

Jetzt aber zum Inhalt

Tabor Süden, inzwischen 51, kehrt nach mehreren Jahren im selbstauferlegten Exil als Kellner in Köln zurück nach München. Ein Anruf seines Vaters, der sich aus dem Staub gemacht hatte, als Tabor gerade einmal 16 war, hat ihn zurückgelockt. Doch das Telefonat wurde unterbrochen und so sucht er auf tage- und nächtelangen Streifzügen nach einem Mann, der sein Vater sein könnte. Dieses Umkreisen des alten Traumas führt ihn auch in seine berufliche Vergangenheit, hatte er doch in München zuletzt als Kommissar im Münchner Vermisstendezernat gearbeitet, bevor er dann den Dienst quittierte.

Da ihn doch mehr mit der Stadt, den Straßen, Plätzen und Kneipen verbindet, als er gedacht hat, und weil das Geld langsam knapp wird, nimmt er das Jobangebot der Detektei-Chefin Edith Liebergesell an. Sein Auftrag: etwas über den Verbleib des seit zwei Jahren vermissten Wirts Raimund Zacherl herauszufinden. Er geht die alten Akten durch und befragt noch einmal dessen Ehefrau, die ehemaligen Angestellten und zwielichtigen Freunde des Vermissten und fördert, wie könnte es anders sein, dabei Erstaunliches zu Tage.

Fazit

Die Grundidee, die Spannung in einem Kriminalroman eben nicht durch immer mehr Splatter und notdürftig motivierte Brutalität zu erzeugen, sondern durch die  unaufgeregte Suche nach einem Vermissten, hatte mir schon in den anderen Büchern um Tabor Süden total gut gefallen. Und auch hier gelingt ihm das – ich will wissen, was mit Raimund Zacherl geschehen ist, aber es bleibt auch genügend Raum und Aufmerksamkeit für die anderen Figuren und deren Geschichten. Ani denkt die Vergangenheit und die Zukunft seiner Charaktere quasi immer mit, das macht sie selbst in den Nebenrollen unglaublich plastisch.

Auch in seiner Sprache zeigt Ani, dass er Klassen über vielen anderen Krimi-Schriftstellern steht. Manche Kritiker meckerten allerdings, weil er selbst schlichtesten Nebenfiguren so großartige Metaphern in den Mund legt. So erklärt ein Stadtstreicher Süden das Verhalten eines vor sich hin fuchtelnden, innerlich tobenden Mannes:

Der Werner. Hat seine Frau verloren, sie war vierzig, Unterleibskrebs, innerhalb von vier Wochen. Wir waren alle bei der Beerdigung, ich hab gespielt. Ostfriedhof, verstehst? Da wirst irre, wenn deine Frau auf einmal tot ist, und du wachst in der Früh auf und die Erde ist weg und du hängst allein im Weltall. Weil die Erde war die Frau. Verstehst? (S. 23)

Das Zuhören und das Den-Mund-halten-Können sind sicherlich die zwei wichtigsten „Methoden“ des Detektivs. Dabei geben die von ihm Vernommenen fast immer mehr von sich preis, als sie das ursprünglich geplant hatten, denn zum einen halten sie das Schweigen nicht aus und zum anderen ist es so ungewohnt, dass da einer ist, der zuhört.

Doch nicht nur in der Bloßstellung der Worthülsen, mit denen sich die Menschen belügen, porträtiert er unsere Gesellschaft. Quasi im Vorbeigehen werden wir daran erinnert, in welcher Verwahrlosung Kinder hier leben müssen, welche Ängste sie aushalten und welche äußeren und inneren Spuren das in ihrem Leben hinterlassen wird. An den Obdachlosen in seinen Büchern ist manchmal schwieriger vorbeizugehen als an denen, die wir in unseren Innenstädten sehen, denn Ani macht sie sichtbar.

Dennoch, und das ist die Kehrseite dabei, war es mir in diesem Roman ein bisschen zu viel des „lonely cowboy“-Klischees, eben Held, der zu viele Bierchen in zu vielen Kneipen trinkt:

Wie er [Süden] so dastand, schweigend, fremd und doch absolut anwesend, seit er diesen Raum betreten hatte, wäre sie am liebsten zu ihm hingegangen und hätte sich neben ihn gestellt, ins sinkende Licht dieses nachösterlichen Tages. (S. 11)

Es gab gar zu viel Schweigen, Sprachlosigkeit und zu viel Melancholie. Vielleicht schwingt da etwas von Anis Einstellung mit, dass jeder Mensch am Ende scheitere:

Ohne Scheitern ist ja ein reales Leben gar nicht möglich. Das Leben an sich ist ja ein Scheitern. In dem Moment, in dem wir begreifen, dass wir irgendwann sterben werden, wissen wir, dass wir scheitern am Leben. Wir versuchen halt uns was einzureden. Wir versuchen uns einzureden, dass wir überleben können, dass wir weiterkommen. Aber wir sind natürlich im großen Ganzen schon dazu verurteilt mit unserem Leben zu scheitern.

Gescheiterte Beziehungen und Einsamkeit im Buch, egal wohin man schaut. Entweder sind die Menschen unfreiwillig alleinstehend, verwitwet oder in Ehen gefangen, die man nur noch als „betreutes Schnarchen“ bezeichnen kann und wo man den anderen schon seit Jahrzehnten nicht mehr wirklich wahrnimmt, oder man kennt nur noch die schnelle Nummer. Und der Showdown vielleicht auch einen Hauch zu melodramatisch.

Vielleicht täusche ich mich, aber mein Lesegefühl war, dass es im Roman entweder regnete, dunkel war oder beides.

Sein Vater blieb unsichtbar wie die Nymphe Echo, und nur seine Stimme hallte durch Südens Kopf wie durch einen schwarzen Wald. Und er wusste nicht einmal, ob es überhaupt die Stimme seines Vaters war und nicht womöglich die eines Fremden, der im Namen seines Vaters angerufen hatte, aus welch dunklem Grund auch immer. (S. 42)

Anmerkungen

Volker Albers schrieb am 14. März 2011 im Hamburger Abendblatt:

Ani hat ein ungemeines Gespür für seine Charaktere, mögen sie noch so kaputt sein, er erleuchtet ihre Verlassenheit, ihre Einsamkeit von innen heraus, sodass auch sie Licht sind und Schatten werfen. Und er vermag wunderbar anrührend zu erzählen. Seelische Bedrängungen und soziale Milieus – seien es staubig gewordene Lebensräume oder verschwiegene Schlupfwinkel – schildert Friedrich Ani, der neben Romanen auch Drehbücher und Jugendbücher schreibt wie wohl kein zweiter deutscher Kriminalschriftsteller. Und das Lesen der Tabor-Süden-Romane entführt in Welten, die man eigentlich nie betreten wollte. Dort aber angekommen, ist man froh, es getan zu haben. Es öffnet Augen und Sinne.

Und hier geht’s lang zu dem Artikel „Friedrich Ani ist der Simenon von München“ von Elmar Krekeler in der Welt.

Martin Edwards: The Coffin Trail (2004)

‚Forget about the murder‘. It’s history. Daniel tightened his grip on the steering wheel as the Audi jolted over potholes in the winding lane, his palms sweating. Miranda thought he was so cool, so relaxed, but it was an illusion. Might a conjurer feel like this when walking onto the stage? Fearing that his magic wouldn’t work, that when he whipped the cloak away, his audience wouldn’t gasp, but merely yawn? The car eased over the top of the fell and Daniel held his breath. At last Brackdale revealed itself. Unfolding beneath them, luxuriating in the sunshine.

So beginnt der erste im Lake District in Großbritannien spielende Kriminalroman um den Historiker Daniel Kind und DCI Hannah Scarlett von Martin Edwards, der auf Deutsch unter dem Titel Tote schlafen nicht veröffentlicht wurde.

Daniel Kind und seine neue Partnerin Miranda beschließen aus privaten Gründen Oxford den Rücken zu kehren. Bei einem Kurzurlaub im traumhaft schönen Lake District finden sie ein Cottage, das ihnen mit seiner idyllischen Lage an einem kleinen See gefällt, und kaufen es. Daniel kennt das Haus noch aus seiner Kindheit: Während eines Familienurlaubs im Lake District hatte er sich mit dem damals dreizehnjährigen Barrie Gilpin angefreundet, der allein mit seiner Mutter eben in jenem Haus lebte. Barrie war ein bisschen sonderbar, was aber der Kinderfreundschaft keinen Abbruch tat.

Nun ca. 20 Jahre später: Barrie gilt den meisten im Dorf als der Mörder einer jungen, schönen Touristin, deren Leiche man vor sieben Jahren brutal zugerichtet auf einem uralten Stein oberhalb des Dorfes gefunden hatte. Barrie selbst konnte nicht mehr vor Gericht gestellt werden, da er nur wenige hundert Meter vom Fundort der Leiche in eine Felsspalte gestürzt war, aus der er sich nicht mehr hatte befreien können.

Daniel kann den Mord nicht so recht in Einklang bringen mit dem sanften Jungen, den er als Kind kennengelernt hatte, und ist unvorsichtig genug, das überall im Dorf herumzuposaunen.

Zeitgleich wird eine neues Team bei der Polizei zusammengestellt, das sich alten, aber niemals aufgeklärten Verbrechen widmen soll. Aufgrund eines anonymen Anrufs wird die Einsatztruppe unter Leitung von Hannah Scarlett auf genau diesen Touristenmord aufmerksam. Und so werden die Geschichten von Hannah, ihrem Partner und Daniel und Miranda und den anderen Dorfbewohnern immer enger miteinander verknüpft, zumal Hannah früher unter dem Vater Daniels ihr Polizistenhandwerk gelernt hat.

Ein solide gemachter Krimi, der es über weite Strecken schafft, die Gattung des cozy mystery in die Moderne zu bringen. Kein Ausmalen blutiger und unappetitlicher Einzelheiten, ein gemächliches Tempo, es dauert über 100 Seiten, bis Hannah überhaupt am Fall arbeitet. Daniel selbst macht sich vor seiner Einladung bei dem reichen Immobilienhändler Dumelow lustig:

So this is our first toe in the water, so far as integrating with the local community goes? A dinner party with the local squire and his wife. Very traditional. Except that he only keeps a farm as a write-off against tax and she’s a townie who plays at being an artist. (S. 126)

Die Dialoge sind lebhaft und gut geschrieben. Das Setting mit dem Lake District schön gewählt und den uralten sogenannten Coffin Trail gibt es wirklich. Auf ihm wurden die Toten auf Pferden von Rydal Mount nach Grasmere gebracht, da es dort eine Kirche gab. Hier kann man ein bisschen Wanderfernweh schnuppern und nebenbei noch etwas über Wordsworth erfahren.

Allerdings habe ich die Auflösung schon ca. 40 Seiten vor dem Ende geahnt und die Schönheit des Lake District erschloss sich mir eher aufgrund eigener Urlaubserinnerungen, weniger durch sprachlich gelungene Beschreibungen. Auch dass wildfremde Menschen schon gleich bei ihrem ersten Treffen über sehr persönliche Dinge sprechen, war nicht immer so ganz nachvollziehbar und eher dem Vorantreiben der Handlung geschuldet. Bei dieser Art von Kriminalroman hätte ich mir auch ein bisschen mehr Humor vorstellen können.

Also: Kein neuer Chandler, aber solide Krimi-Unterhaltung, nicht mehr, nicht weniger.

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Ethel Lina White: The Lady Vanishes (1936)

The day before the disaster, Iris Carr had her first premonition of danger. She was used to the protection of a crowd, whom – with unconscious flattery – she called ‚her friends“. An attractive orphan of independent means, she had been surrounded always with clumps of people. They thought for her – or rather, she accepted their opinions, and they shouted for her – since her voice was rather too low in register for mass social intercourse.

So beginnt ein lesenswerter kleiner Roman (218 Seiten), der mit dem Etikett „Kriminalroman“ nur unzureichend beschrieben wäre:

Ethel Lina White: The Lady Vanishes (1936), ursprünglich unter dem Titel The Wheel Spins veröffentlicht

Das Buch weist einige Parallelen mit Rebecca von Daphne du Maurier auf. Nicht nur sind die beiden Bücher in den dreißiger Jahren erschienen und von Hitchcock verfilmt worden (deshalb der neue Titel), beide weisen auch auf interessante und durchaus beunruhigende Fragestellungen hin.

Iris Carr ist zu Beginn keineswegs eine Protagonistin, die sofort das Herz des Lesers gewinnt. Sie ist Mitläuferin in einer unbekümmerten und finanziell sorglosen Horde junger Briten, die irgendwo auf dem Kontinent in Osteuropa ihren Urlaub verbringen und allen anderen Gästen durch ihre Arroganz und Rücksichtslosigkeit gehörig auf die Nerven fallen. Ein Gruppen-Phänomen, das man bis heute beobachten kann:

The crowd had gloried in its unpopularity, which seemed to it a sign of superiority. It frequently remarked in complacent voices, ‚We’re not popular with these people,‘ or ‚They don’t really like us.‘ Under the influence of its mass-hypnotism, Iris wanted no other label. (S. 22 der Taschenbuchausgabe)

Nach einem Streit mit einigen ihrer ‚Freunde‘ beschließt Iris, die Heimreise erst zwei Tage später als die anderen anzutreten. An ihrem letzten Tag jedoch verläuft sie sich in den Bergen und ist das erste Mal auf sich allein gestellt, eine ganz ungewohnte Erfahrung für sie.

Doch das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was sie auf der ersten Etappe der Heimreise, der langen Zugfahrt bis Triest, durchmachen muss. Geschwächt durch einen Hitzschlag schafft sie es erst in der letzten Minute, überhaupt noch in ein Abteil zu gelangen. Dort herrscht eine frostige Stimmung, nur eine britischen Gouvernante in mittlerem Alter kümmert sich ein bisschen um die junge Frau und gemeinsam gehen sie zum Tee ins Zugrestaurant. Zwar redet Winifred Froy zu viel, doch ist sie dabei hilfsbereit und aufmerksam. Sie gibt Iris ein paar Aspirin gegen ihre Kopfschmerzen und Iris ist froh, ein wenig schlafen zu können.

Doch als Iris aufwacht, sind Miss Froy und ihr Gepäck wie vom Erdboden verschwunden. Iris, das haben die ersten Kapitel ja deutlich gemacht, ist eigentlich niemand, der sich allzu viele Gedanken um andere Menschen macht, doch ihre zunächst nachlässige Suche nach Miss Froy steigert sich allmählich zu ernstlicher Besorgnis, Panik, ja fast Hysterie, und zwar vor allem deshalb, weil außer ihr angeblich niemand die kleine unauffällige Dame im Tweedkostüm gesehen hat.

Und so wird die Sorge um das Verschwinden der Frau eng mit der Frage verknüpft, ob Iris auf ihrer eigenen Wahrnehmung beharrt. Oder soll sie nachgeben und den Einflüsterungen Glauben schenken, die ihr einreden wollen, dass sie durch den Sonnenstich ein bisschen durcheinander sei und phantasiert habe? Hätte sie sich Miss Froy nur eingebildet, könnte sie ihrer eigenen Wahrnehmung nie wieder trauen und müsste Angst haben, verrückt zu werden. (Man denke an die Konformitätsstudien von Solomon Asch.)

Gleichzeitig erfahren wir auch, warum einige der anderen Mitreisenden verneinen, je Miss Froy gesehen zu haben. Was steht uns näher, das Wohl einer völlig Unbekannten oder unsere eigenen Sorgen und die potentiellen Unannehmlichkeiten, wenn man sich in fremde Angelegenheiten mischt?

Hier haben wir es nicht mehr ausschließlich mit einem netten kleinen cozy mystery zu tun, zwar sind die Schurken noch arg holzschnittartig, doch die Untertöne sind zu dunkel, zu ernsthaft und der Leser spürt, es hätte tatsächlich alles auch böse ausgehen können. Das Happy End ist nur noch Zufall.

Von meiner Seite eine klare Empfehlung für eine Autorin, die laut Wikipedia in den dreißiger und vierziger Jahren zu den bekanntesten Crime Writers in Großbritannien und Amerika gehörte. Und wer Interesse an der Hitchcock-Verfilmung hat, bitte hier entlang.