Rabih Alameddine: An Unnecessary Woman (2013)

You could say I was thinking of other things when I shampooed my hair blue, and two glasses of red wine didn’t help my concentration. Let me explain. First, you should know this about me: I have but one mirror in my home, a smudged one at that. I’m a conscientious cleaner, you might even say compulsive – the sink is immaculately white, its bronze faucets sparkle – but I rarely remember to wipe the mirror clean. I don’t think we need to consult Freud or one of his many minions to know that there’s an issue here.

So beginnt der aufregend gute Roman An Unnecessary Women (2013) des libanesisch-amerikanischen Autors Rabih Alameddine. Die deutsche Übersetzung von Marion Hertle erschien im Louisoder Verlag unter dem Titel Eine Überflüssige Frau.

Zum Inhalt

Die 72-jährige Aaliya Saleh, kinderlos und seit 52 Jahren ledig, lebt allein in ihrer Wohnung in Beirut. Bis vor wenigen Jahren hat sie in einem Buchladen gearbeitet. Die meiste Zeit hat sie dort vermutlich gelesen, denn es gab nur wenige Kunden, die das anspruchsvolle Programm des Ladens zu würdigen wussten. Mal ganz abgesehen davon, dass sie oft neben den Büchern für das Geschäft oft noch ein Zweitexemplar für daheim geordert hat. Sie hat das immer in Ordnung gefunden, da ihr Lohn ohnehin zu gering gewesen war.

I long ago abandoned myself to a blind lust for the written word. Literature is my sandbox. In it I play, build my forts and castles, spend glorious time. It is the world outside that box that gives me trouble. […] Transmuting that metaphor, if literature is my sandbox, then the real world is my hourglass – an hourglass that drains grain by grain. Literature gives me life, and life kills me. Well, life kills everyone. (S. 5)

Nun aber macht sich allmählich das Alter bemerkbar und unliebsame Gedanken und Erinnerungen kommen zu Besuch, gerade jetzt, gegen Jahresende. An ihre Kindheit, ihre Mutter – die noch lebt -, ihre ausgesprochen freudlose Ehe, die zu ihrer Erleichterung nur vier Jahre dauerte, ihre einzige Freundin und vor allem an die Bücher, die sie in ihrer Freizeit übersetzt hat.

Da sie neben Arabisch nur Englisch und Französisch beherrscht, hat sie das System entwickelt, nur Bücher ins Arabische zu übersetzen, die vorher ins Englische und Französische übersetzt worden waren. Anhand dieser zwei Übersetzungen hat sie dann sozusagen eine Übersetzung der Übersetzung angefertigt. Das hat ihr immer wieder Momente des Glücks gegeben und ihre Tage strukturiert. Außer ihr hat niemand diese Übersetzungen je zu Gesicht bekommen. Doch diesmal fällt ihr die Entscheidung schwerer als sonst, welches Buch soll sie im neuen Jahr übersetzen?

Diese belesene, ein bisschen schrullige und misanthropische Frau, die ihr ganzes Leben in Beirut verbracht hat, will in Ruhe gelassen werden, auch den Kontakt mit den Mitbewohnerinnen ihres Mietblocks möchte sie weiterhin auf ein Minimum beschränken, doch das erweist sich zunehmend als schwierig.

Fazit

Hier spricht eine Ich-Erzählerin mit einer so dichten, bissigen, auch selbst-ironischen Stimme, die dann wieder so anrührend einsam daherkommt, dass ich mir immer klarmachen musste, dass hier eine fiktive Figur spricht. Und überhaupt der Schauplatz: Beirut, auch so eine Stadt in einem geschundenen Land. Aaliya hat das Grauen und den Schrecken des Bürgerkrieges miterlebt.

Ein Buch, in dem Autoren (von Pessoa über Bruno Schulz bis Sebald) und Titel und kluge Gedanken sich die Klinke in die Hand geben, ohne dass das ein versnobtes oder fassadenhaftes Namedropping wäre; jedes Zitat sitzt, wird von der Erzählerin organisch in ihren Gedankenfluss integriert. Hier sitzen die Schriftsteller sozusagen mit am Tisch, auch dann, als sich Aaliya überlegt, was wohl mal auf ihrem Grabstein stehen wird. Dabei erinnert sie sich beispielsweise an die Grabinschrift von Malcolm Lowry oder an eine römische Grabinschrift:

Non fui, fui, non sum, non curo.

I was not, I was, I am not, I don’t care. (S. 172)

Vielleicht wird deshalb in vielen Rezensionen das Buch als ein Lobgesang auf die Literatur beschrieben. Das greift zu kurz bzw. ist viel zu süßlich. Der Roman ist das Intelligenteste, was ich bisher über das Lesen in Romanform gelesen habe. Und zwar nicht nur über die Frage, wozu wir überhaupt lesen und was Literatur vermag, sondern auch über die Gefahren, die Weltflucht und die Illusionen, die wir uns übers Bücherlesen machen.

Und gleichzeitig ein wunderbares Porträt einer nur von außen unscheinbaren alten Frau.

Und wenn wir dann denken, dass nun die Handlung gemählich und leise dem Ende entgegenplätschert, macht uns der Autor eine lange Nase und ich halte vor lauter Spannung für einen Moment die Luft an.

Anmerkungen

2014 war das Buch auf der Shortlist für den National Book Award.

Aminatta Forna schreibt im Independent:

An Unnecessary Woman is a story of innumerable things. It is a tale of blue hair and  the war of attrition that comes with age, of loneliness and grief, most of all of resilience, of the courage it takes to survive, stay sane and continue to see beauty. Read it once, read it twice, read other books for a decade or so, and then pick it up and read it anew. This one’s a keeper.

Blogstöckchen

Oha, da kam ein Blogstöckchen geflogen, Claudia vom Grauen Sofa konnte ja nicht wissen, wie schlecht ich Bälle, Stöckchen und überhaupt alles, was mir zugeworfen wird, fange, aber es ist gerade noch einmal gut gegangen.

  • Welches Buch liest Du momentan?

Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich so, wie es nie war?
Meike Winnemuth: Das große Los

  • Warum liest Du das Buch? Was magst Du daran?

Meyerhoff lese ich, weil ich von Alle Toten fliegen hoch so begeistert war.
Winnemuth lese ich, weil Das graue Sofa das Buch empfohlen hatte und weil ich sehen wollte, wie  Winnemuth, die nach ihrem Gewinn bei Günther Jauch jeweils einen Monat in einer anderen Weltstadt verbracht hat, ihr Reisen erlebt hat, ob es sie verändert hat. Vielleicht auch, weil es mich an mein Sabbatjahr vor einigen Jahren erinnerte …

  • Wurde Dir als Kind vorgelesen? Kannst Du Dich an eine der Geschichten erinnern?

Ich weiß es gar nicht mehr, ich halte es für unwahrscheinlich, werde aber mal nachforschen…

  • Gibt es einen Protagonisten oder eine Protagonistin, in den / die die Du mal regelrecht verliebt warst?

Du liebe Zeit, nö, aber Heathcliff aus Wuthering Heights und Philip Marlowe von Chandler waren natürlich schon toll 🙂

  • In welchem Buch würdest Du gern leben wollen?

Der Gedanke ist mir nie gekommen, aber wenn ich so darüber nachdenke, würde ich vermutlich etwas Unspektakuläres bevorzugen, ein Buch ohne Katastrophen, möglicher Schauplatz in Yorkshire oder Schottland, der Landschaft wegen, und dann sollten Menschenfreundlichkeit und Humor wichtige Bestandteile sein. Da käme dann wohl eine Mischung aus James Herriot und Alexander McCall Smith bei heraus. Aber wir lesen ja gerade, um nicht nur auf ein Buch und eine Welt reduziert zu sein.

  • Welche drei Bücher würdest Du nicht mehr hergeben wollen?

Keines meiner Bücher würde ich gern hergeben, denn in den Regalen stehen nur die, die ich noch nicht gelesen habe, und die, die ich gern wiederlesen würde. Aber man sollte das auch nicht überbewerten, Bücher kann man ersetzen.

  • Ein Lieblingssatz aus einem Buch?

… the pull of the stories, always the stories, the thousands of stories, the millions of stories, and yet one never tires of them, there is always room in the brain for another story, another book, another film. (Paul Auster: Sunset Park, S. 198, mit einem Dankeschön an Philea von Philea’s Blog)

Nun kann das Stöckchen ja weitergereicht werden. Wie wäre es mit dem Kaffeehaussitzer und Birthe? Aber, und das ist wichtig, man muss Stöckchen nicht auffangen. Man kann sie auch am Wegesrand liegen lassen.

Und wo kam das Stöckchen überhaupt her?

Ich bekam es vom Grauen Sofa, das von Sätze&Schätze beworfen wurde, daran war Philea’s Blog nicht ganz unschuldig. Petra bekam das Stöckchen von Mrs Coffee. Das lag an Norman Weiß von den Notizheften, der es von JunaimNetz aufgefangen hat. Die wiederum wurde aktiviert von Martin Ingenhoven, der das Stöckchen von Dagmar von den Kölner Im(i)pressionen  zugespielt bekam. Dagmar hat es bei Blog4Search gefunden, die das gute Stück von Heike Baller vom Blog Kölner Leselust bekommen haben. Daran war Andrea Groh schuld, die den Blog querbeet gelesen betreibt und von Alice Scheerer auf ihrem Blog SlowLifeLab gebeten wurde, mitzutun. Das lag an Britta Freith und ihrem Blog Bessere Inhalte. Britta hat sich bei Wibke Ladwig von Sinn und Verstand bedient, dort hat dieses Stöckchen seinen Ursprung. Weitergereicht von Wibke wurde es damals – August 2013 – noch an Anne Schüßler.

Ein netter Blogbummel, den man auf diese Weise machen kann.  Eine lohnenswerte Neuentdeckung war für mich beispielsweise die Kölner Leselust.

Fundstück von Joseph Freiherr von Eichendorff

Und das sind die rechten Leser, die mit und über dem Buche dichten. Denn kein Dichter gibt einen fertigen Himmel; er stellt nur die Himmelsleiter auf von der schönen Erde. Wer, zu träge und unlustig, nicht den Mut verspürt, die goldenen, losen Sprossen zu besteigen, dem bleibt der geheimnisvolle Buchstab ewig tot, und er täte besser, zu graben oder zu pflügen, als so mit unnützem Lesen müßig zu gehn.

aus: Joseph Freiherr von Eichendorff: Ahnung und  Gegenwart

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Sam Savage: Firmin – ein Rattenleben (OA 2006)

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Lebenserinnerungen, wenn ich sie jemals niederschreiben sollte, mit einem großartigen ersten Satz anfangen müssten: mit etwas Lyrischem wie Nabokovs ‚Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden‘ oder, falls das Lyrische mir nicht so läge, vielleicht mit etwas Philosophischem wie Tolstois ‚Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich‘. An solche Sätze erinnert man sich, wenn man alles andere in diesen Romanen schon längst vergessen hat. Der beste aller Anfangssätze ist meiner Meinung nach jedoch die Zeile, mit der Ford Madox Ford seinen berühmtesten Roman beginnt: ‚Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe.‘ Das habe ich bestimmt schon Dutzende von Malen gelesen, und es haut mich immer wieder um. Ford Madox Ford war ein ganz Großer.

So beginnt das zweite Buch des 1940 geborenen Autors Sam Savage, das im Original unter dem Titel Firmin. Adventures of a Metropolitan Lowlife (2006) erschienen ist.

Der Inhalt ließe sich in einem Satz zusammenfassen: Eine belesene Ratte schreibt ihre Lebenserinnerungen nieder. Doch nun etwas genauer:

Geboren von einer alkoholsüchtigen Mutter, gestraft mit zwölf durchsetzungsfreudigen Geschwistern, wächst das Rattenkind Firmin im Keller einer Bostoner Buchhandlung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf.

Firmin muss zusehen, dass er genug zu fressen bekommt, da er schwächlicher als seine Geschwister ist. Also knabbert und nagt er sich durch die Bücher in den Regalen, bis er feststellt, dass er dabei lesen gelernt hat. Diese Fähigkeit macht ihn zu einem eigenbrötlerischen Außenseiter und er findet sein Glück darin, sich heimlich durch die ganzen Werke in der Buchhandlung zu ackern und sich dabei einen beachtlichen Wissensschatz anzueignen.

Darüber hinaus ist er – selbst für eine Ratte – außerordentlich hässlich:

Kopflastig und schwachgliedrig, gewöhnte ich mir eine schwerfällige Gangart an, und während ich mir später einbildete, sie verleihe mir eine Aura von Seriosität und Würde, ließ sie mich anfangs nur noch verrückter aussehen. Ich konnte nichts dagegen machen, beim Gehen oder Traben schwang mein überdimensionaler Kopf hin und her, was an einen Ochsen denken ließ. Meine Frontlastigkeit hatte außerdem zur Folge, dass ich oft auf die Nase fiel, was die anderen natürlich unendlich lustig fanden. (S. 44)

Dennoch neigt Firmin ein wenig zur Eitelkeit. Als er wegen eines Beinbruchs humpelt, findet er das ganz schick.

Wenn überhaupt, dann fand ich, dass es mir ein distinguiertes Aussehen verlieh. Gern hätte ich einen kleinen Stock und eine Sonnenbrille hinzugefügt. Ausdrücken wie panache und debonair habe ich mich immer nah gefühlt. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich mir auch noch einen kleinen schwarzen Spitzbart wachsen lassen. (S. 136)

Er kann aber nicht nur lesen, sondern darüber hinaus auch die Sprache der Menschen verstehen. Sein großer Kummer ist, dass er sich ihnen nicht verständlich machen kann, obwohl er alles probiert. Sogar Zeichensprache studiert er, doch alles was er damit zum Ausdruck bringen kann, ist: „Auf Wiedersehen, Reißverschluss.“ Was ihn allerdings wieder vor das Problem stellt, wo er einen Taubstummen findet, der den Satz überhaupt verstehen könnte.

Seine Versuche, sich mit dem Buchhändler Norman anzufreunden, enden damit, dass Norman ihn mit kleinen rosa Kügelchen umbringen will. Doch ein anderer Hausbewohner, der Trinker und Science Fiction-Autor Jerry Magoon, findet das verletzte Kerlchen und gewährt ihm Asyl. Firmin und Jerry kommen eigentlich gut miteinander aus, auch wenn es ihn traurig macht, von seinem Retter nur als putziges Haustier missverstanden zu werden. Doch auch dieses Zuhause ist bedroht: Jerry erleidet einen Schlaganfall und zudem soll das ganze heruntergekommene Stadtviertel abgerissen und saniert werden.

Fazit

Vielleicht hätte ich Firmin auf Englisch lesen sollen. Es hat mich gestört, dass schon der dritte Satz des Eingangszitats nur unvollständig wiedergegeben wurde. Im Original heißt es: „When it comes to openers, though, the best in my view has to be the beginning of Ford Madox Ford’s The Good Soldier: ‚This is the saddest story that I have ever heard.'“

Und Ratten sind für mich – auch nach der Lektüre – noch immer keine Sympathieträger, zumal Firmin manchmal ziemlich geschwätzig daherkommt, dennoch ist das Buch eine bezaubernde Liebeserklärung an die Literatur. Und Firmin verdankt den Büchern ja buchstäblich sein Überleben.

Und in Afrika essen darbende Kinder bei Hungersnöten Erde. Wenn man hungrig genug ist, steckt man sich alles in den Mund. Das Kauen und Runterschlucken von irgendetwas ist an sich, auch wenn es keinerlei Nährwert hat, Nahrung fürs Träumen. Und Träume von Nahrung sind genau wie andere Träume – man kann davon leben, bis man stirbt. (S. 27)

Allzu viel erfahren wir dabei zwar nicht über die Bücher, die er liest, Savage bleibt da meist – wie das Eingangszitat zeigt – beim Namedropping bekannter Werke. Dennoch: Die Literatur macht hier ein Außenseiterleben erträglich, ja verleiht ihm Weite und Glanz, auch wenn es nur in Firmins Tagträumen ist.

Wenn ich einen Satz träume, wie zum Beispiel ‚die Musik verklang, und in der Stille ruhten alle Augen auf Firmin, der reserviert und gelassen am Eingang zum Ballsaal stand‘, dann sehe ich nie eine zu kleine, kinnlose Ratte am Eingang des Ballsaals. Die Wirkung wäre eine ganz andere. Nein, ich erblicke immer jemanden, der Fred Astaire sehr ähnlich sieht: schmale Taille, lange Beine und ein Kinn wie eine Stiefelspitze. Manchmal kleide ich mich auch wie Fred Astaire. In dieser speziellen Szene  trage ich Frack und Gamaschen und Zylinder. Die Beine in Höhe der Fußgelenke gekreuzt, stütze ich mich lässig auf einen Stock mit silbernem Knauf. (S. 104)

Oder ist es eher so, dass hier jemand durch die Literatur zum Außenseiter wird? Sie verstärkt die Einsamkeit Firmins, der sich und seine literarischen Reisen und Einsichten niemandem mitteilen kann.

Als promovierter Philosoph lasst Savage seinen kleinen grauen Helden auch über den Sinn des Lebens nachsinnen.

Sollte ich, ungeachtet meines absonderlichen Aussehens, zu etwas Großem berufen sein? Zu einem Schicksal, meine ich, wie es die Figuren in Geschichten haben, wo alle Ereignisse eines Lebens, mag es darin auch noch so brodeln und wirbeln, in all dem Brodeln und Wirbeln am Ende ein sinnvolles  Muster erkennen lassen? In Geschichten hat ein Leben immer eine Richtung und eine Bedeutung. (S. 56)

Doch am Laufe eines Rattenlebens – geboren zu werden, die Kindheit zu überstehen, eine gute Zeit zu haben, um dann schließlich alt, gebrechlich und einsam zu sein – ändert auch die Literatur nichts.

Ich glaube immer, alles währt ewig, doch das ist nie der Fall. Tatsächlich existiert alles nur einen Augenblick, außer den Dingen, die wir im Gedächtnis behalten. Ich versuche stets, alles festzuhalten – ich würde lieber sterben, als zu vergessen. (S. 176)

Anmerkungen

Im Telegraph gibt es einen interessanten Artikel über den Autor, der ja erst sehr spät zu literarischem Ruhm gekommen ist und ein eher unstetes Leben geführt hat. Auf die Frage, weshalb er so lange mit seinem ersten Roman gewartet habe, erklärt er u. a.:

I couldn’t have written it at any other time. But also, Firmin’s essential experience is of failure – failure to write, failure to complete – and I’d had that experience. You can’t have that at 30, because you think it’s going to happen: you have to reach a certain age before you realise that it isn’t.

Gern verweise ich auf die Besprechungen auf dem Grauen Sofa, bei dem ich zum ersten Mal auf das Buch aufmerksam wurde, und dem Blog Biblionomicon.

Harold Bloom: How to read and why (2000)

Reading well is one of the great pleasures that solitude can afford you, because it is, at least in my experience, the most healing of pleasures. It returns you to otherness, whether in yourself or in friends, or in those who may become friends. Imaginative literature is otherness, and as such alleviates loneliness. We read not only because we cannot know enough people, but because friendship is so vulnerable, so likely to diminish or disappear, overcome by space, time, imperfect sympathies, and all the sorrows of familial and passional life.

Mit diesen Worten beginnt die Einladung zum Lesen des vermutlich einflussreichsten, wenn auch nicht unumstrittenen Literaturprofessors und Literaturkritikers in den USA, Harold Bloom (1930 – 2019), dessen Werke in über 40 Sprachen übersetzt wurden.

Zunächst einige Hinweise zum Standpunkt des Autors

Er sagt:

It matters, if individuals are to retain any capacity to form their own judgements and opinions, that they continue to read for themselves. (S. 21)

Wenn man sich die Fähigkeit, eigene Urteile und Meinungen zu bilden, erhalten will, ist es wichtig, dass man weiter für sich selbst liest. (S. 15 in der deutschen Übersetzung)

Seiner Meinung nach lesen wir nicht nur, um zu begründeten Standpunkten zu kommen, sondern auch, um uns zu wappnen:

One of the uses of reading is to prepare ourselves for change, and the final change alas is universal. (S. 21)

Ein Nutzen des Lesens liegt darin, uns selbst auf Veränderungen vorzubereiten, und die letzte Veränderung wird leider allumfassend sein. (S. 15)

Diese existentielle Bedeutung des Lesens nimmt nicht wunder bei jemandem, der sich schon als Kind jüdischer Einwanderer in einer Bibliothek in der Bronx in New York in englische Gedichte verliebt und dieser Liebe stets treu geblieben ist. Zunächst einmal ist mir dieser Mann überaus sympathisch, weil sein Faible für Shakespeare, seine Kritiken, sein Eintreten für einen Literaturkanon, auch seine Ablehnung marxistischer, feministischer oder anderer politisch motivierter Literaturtheorien von seiner Liebe zur Literatur getragen werden, seiner Grundüberzeugung, dass Literatur wichtig sei für unser Leben.

So erklärt sich auch sein erbitterter Verriss, als Stephen King 2003 mit der Medal for Distinguished Contribution to American Letters für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde:

THE DECISION to give the National Book Foundation’s annual award for „distinguished contribution“ to Stephen King is extraordinary, another low in the shocking process of dumbing down our cultural life. I’ve described King in the past as a writer of penny dreadfuls, but perhaps even that is too kind. He shares nothing with Edgar Allan Poe. What he is is an immensely inadequate […] By awarding it to King they recognize nothing but the commercial value of his books, which sell in the millions but do little more for humanity than keep the publishing world afloat. If this is going to be the criterion in the future, then perhaps next year the committee should give its award for distinguished contribution to Danielle Steel, and surely the Nobel Prize for literature should go to J.K. Rowling. […] Later I read a lavish, loving review of Harry Potter by the same Stephen King. He wrote something to the effect of, „If these kids are reading Harry Potter at 11 or 12, then when they get older they will go on to read Stephen King.“ And he was quite right. He was not being ironic. When you read „Harry Potter“ you are, in fact, trained to read Stephen King.

Zum Inhalt

Das Buch enthält fünf große Kapitel: Short Stories,  Poems, Novels Part I, Plays und Novels Part II. Aus diesen Gattungen greift Bloom jeweils einige Beispiele heraus und versucht zu erklären, warum und wie man diese Werke lesen sollte.

Im Bereich der Short Stories, in der deutschen Ausgabe fälschlicherweise einfach mit Kurzgeschichten übersetzt, geht er ein auf Erzählungen von Turgenjew, Tschechow, de Maupassant, Hemingway, O’Connor, Nabokov, Borges, Landolfi und Calvino. Selbstredend muss dann die Leserin, der Leser diese Geschichten auch lesen, um den eigenen Lektüreeindruck mit den Anmerkungen Blooms abgleichen zu können. Das ist manchmal lehrreich und durchweg anregend und ein bisschen so, als ob man mit dem amerikanischen Literaturpapst in einen Dialog eintritt. Geübte Leser wissen allerdings ohnehin:

Short stories favor the tacit; they compel the reader to be active, and to discern explanations that the writer avoids. The reader […] must slow down, quite deliberately, and start listening with the inner ear. Such listening overhears the characters, as well as hearing them; think of them as your characters, and wonder at what is implied, rather than told about them. […] short story writers refrain from moral judgements. […] You, as reader, are to decide if moral judgement is relevant, and then the judgement  will be yours to make. (S. 66)

Kurzgeschichten bevorzugen das Schweigen; sie zwingen den Leser dazu, aktiv zu sein und sich Erklärungen auszudenken, die der Autor vermieden hat. Der Leser muss […] sich ganz willentlich verlangsamen und mit dem inneren Ohr lauschen. Solches Lauschen hört bei den Figuren mit, es hört ihnen aber auch zu; man stelle sie sich als die eigenen Figuren vor und frage sich, was impliziert ist, und nicht, was über sie erzählt wird. […] enthalten sich die Autoren von Kurzgeschichten eines moralischen Urteils. […] Der Leser soll entscheiden, ob ein moralisches Urteil angebracht ist, und dann ist es an ihm, es zu fällen. (S. 67)

Da beißt sich die Katze dann doch in den Schwanz, denn vielen dürfte der Ratschlag, mit dem inneren Ohr zu hören, doch sehr abgehoben und wenig hilfreich erscheinen. Zum Abschluss dieses Kapitels stellt er die These auf:

It is useful to consider modern short stories as dividing themselves into rival traditions, Chekhovian and Borgesian. (S. 65) We want them for different needs; if the first gratifies our hunger for reality, the second teaches us how ravenous we still are for what is beyond supposed reality. Clearly, we read the two schools differently, questing for truth with Chekhov, or for the turning-inside-out of truth with the Kafkan-Borgesians. (S. 67)

Das Kapitel zur Lyrik finde ich für einen deutschen Muttersprachler dann allerdings extrem mühsam, die Auswahl der Gedichte orientiert sich willkürlich an seinen Vorlieben, hier wären weitere Hintergrundinformationen doch angebracht und hier konnte ich auch die Kritik einer amerikanischen Bloggerin nachvollziehen, die Bloom pompöses Getöne unterstellte. Anders ausgedrückt, hier ist er ein schlechter Lehrer, der zu viel an Kenntnissen voraussetzt, aber den Leser*innen eben nicht ermöglichst, einen Zugang zu finden. An einer Stelle sagt er selbst, dass der normale Leser wohl Unterstützung brauche, wenn er Miltons Paradise Lost lesen wolle, doch von Bloom wird er sie an dieser Stelle nicht bekommen.

I have acknowledged that the common reader now requires mediation to read Paradise Lost with full appreciation, and I fear that relatively few will make the attempt. This is a great sorrow, and true cultural loss. Why read so difficult and so erudite an epic poem? One could make the merely historical plea; Milton is as much the central Protestant poet as Dante is the central poet-prophet of Catholicism. Our culture and sensibility, even our religion, in the United States are in many subtle respects more post-Protestant than Protestant, yet hardly to be comprehended without some clear sense of the Protestant spirit. That spirit achieved its apotheosis in Paradise Lost, and an adventurous reader would be well counseled to brave the difficulties. (S. 120)

In den Kapiteln zum Roman widmet er sich dann den großen Namen de Cervantes, Stendhal, Austen, Dickens, Dostojewskij, James, Proust, Mann, Melville, Faulkner, West, Pynchon, McCarthy, Ellison und Morrison und gibt einige wenige, nicht immer hilfreiche Hinweise, was für ihn das Wesentliche bei deren Werken ist. Und obwohl Shakespeare sein literarischer Leitstern ist, widmet er auch Ibsen und Wilde einige Seiten im Kapitel „Stücke“.

Fazit

Das wird immer unbefriedigender, ja nachgrade sinnlos, denn wenn man wirklich etwas über die Romane erfahren möchte, wird man sich an ausführliche Nachschlagewerke wenden oder einzelne Werkinterpretationen und Lektürehilfen  zu Rate ziehen.

Terry Eagleton, ein wichtiger britischer Literaturtheoretiker, bringt seine Meinung am 20. August 2000 im Observer sehr uncharmant auf den Punkt:

How to Read and Why takes us on a Cook’s tour of some of its author’s favourite poems, plays and novels, boring the reader with plodding plot summaries or ludicrously long quotations and then adding a few amateurish, undemanding comments. Thus, Maupassant is ‚marvellously readable‘, the pleasures of great poetry are ‚many and varied‘, while ‚Shelley and Keats were very different poets, and were not quite friends‘. We are exhorted to chant a particular poem out loud repeatedly, and advised in an arresting flash of moral insight that ‚in Raskolnikov’s Petersburg, as in Macbeth’s bewitched Scotland, we, too, might commit murders‘.

Und boshaft kommentiert Eagleton den oben zitierten Beginn des Buches:

‚We read,‘ he suggests, ’not only because we cannot know enough people, but because friendship is so vulnerable, so likely to diminish or disappear, overcome by space, time, imperfect sympathies and all the sorrows of familial and passional life.‘ It sounds as though Harold is a bit short of mates and reads to make up for it. Perhaps he alienates them by his repeated chanting of excessively long poems.