Rabih Alameddine: An Unnecessary Woman (2013)

You could say I was thinking of other things when I shampooed my hair blue, and two glasses of red wine didn’t help my concentration. Let me explain. First, you should know this about me: I have but one mirror in my home, a smudged one at that. I’m a conscientious cleaner, you might even say compulsive – the sink is immaculately white, its bronze faucets sparkle – but I rarely remember to wipe the mirror clean. I don’t think we need to consult Freud or one of his many minions to know that there’s an issue here.

So beginnt der aufregend gute Roman An Unnecessary Women (2013) des libanesisch-amerikanischen Autors Rabih Alameddine. Die deutsche Übersetzung von Marion Hertle erschien im Louisoder Verlag unter dem Titel Eine Überflüssige Frau.

Zum Inhalt

Die 72-jährige Aaliya Saleh, kinderlos und seit 52 Jahren ledig, lebt allein in ihrer Wohnung in Beirut. Bis vor wenigen Jahren hat sie in einem Buchladen gearbeitet. Die meiste Zeit hat sie dort vermutlich gelesen, denn es gab nur wenige Kunden, die das anspruchsvolle Programm des Ladens zu würdigen wussten. Mal ganz abgesehen davon, dass sie oft neben den Büchern für das Geschäft oft noch ein Zweitexemplar für daheim geordert hat. Sie hat das immer in Ordnung gefunden, da ihr Lohn ohnehin zu gering gewesen war.

I long ago abandoned myself to a blind lust for the written word. Literature is my sandbox. In it I play, build my forts and castles, spend glorious time. It is the world outside that box that gives me trouble. […] Transmuting that metaphor, if literature is my sandbox, then the real world is my hourglass – an hourglass that drains grain by grain. Literature gives me life, and life kills me. Well, life kills everyone. (S. 5)

Nun aber macht sich allmählich das Alter bemerkbar und unliebsame Gedanken und Erinnerungen kommen zu Besuch, gerade jetzt, gegen Jahresende. An ihre Kindheit, ihre Mutter – die noch lebt -, ihre ausgesprochen freudlose Ehe, die zu ihrer Erleichterung nur vier Jahre dauerte, ihre einzige Freundin und vor allem an die Bücher, die sie in ihrer Freizeit übersetzt hat.

Da sie neben Arabisch nur Englisch und Französisch beherrscht, hat sie das System entwickelt, nur Bücher ins Arabische zu übersetzen, die vorher ins Englische und Französische übersetzt worden waren. Anhand dieser zwei Übersetzungen hat sie dann sozusagen eine Übersetzung der Übersetzung angefertigt. Das hat ihr immer wieder Momente des Glücks gegeben und ihre Tage strukturiert. Außer ihr hat niemand diese Übersetzungen je zu Gesicht bekommen. Doch diesmal fällt ihr die Entscheidung schwerer als sonst, welches Buch soll sie im neuen Jahr übersetzen?

Diese belesene, ein bisschen schrullige und misanthropische Frau, die ihr ganzes Leben in Beirut verbracht hat, will in Ruhe gelassen werden, auch den Kontakt mit den Mitbewohnerinnen ihres Mietblocks möchte sie weiterhin auf ein Minimum beschränken, doch das erweist sich zunehmend als schwierig.

Fazit

Hier spricht eine Ich-Erzählerin mit einer so dichten, bissigen, auch selbst-ironischen Stimme, die dann wieder so anrührend einsam daherkommt, dass ich mir immer klarmachen musste, dass hier eine fiktive Figur spricht. Und überhaupt der Schauplatz: Beirut, auch so eine Stadt in einem geschundenen Land. Aaliya hat das Grauen und den Schrecken des Bürgerkrieges miterlebt.

Ein Buch, in dem Autoren (von Pessoa über Bruno Schulz bis Sebald) und Titel und kluge Gedanken sich die Klinke in die Hand geben, ohne dass das ein versnobtes oder fassadenhaftes Namedropping wäre; jedes Zitat sitzt, wird von der Erzählerin organisch in ihren Gedankenfluss integriert. Hier sitzen die Schriftsteller sozusagen mit am Tisch, auch dann, als sich Aaliya überlegt, was wohl mal auf ihrem Grabstein stehen wird. Dabei erinnert sie sich beispielsweise an die Grabinschrift von Malcolm Lowry oder an eine römische Grabinschrift:

Non fui, fui, non sum, non curo.

I was not, I was, I am not, I don’t care. (S. 172)

Vielleicht wird deshalb in vielen Rezensionen das Buch als ein Lobgesang auf die Literatur beschrieben. Das greift zu kurz bzw. ist viel zu süßlich. Der Roman ist das Intelligenteste, was ich bisher über das Lesen in Romanform gelesen habe. Und zwar nicht nur über die Frage, wozu wir überhaupt lesen und was Literatur vermag, sondern auch über die Gefahren, die Weltflucht und die Illusionen, die wir uns übers Bücherlesen machen.

Und gleichzeitig ein wunderbares Porträt einer nur von außen unscheinbaren alten Frau.

Und wenn wir dann denken, dass nun die Handlung gemählich und leise dem Ende entgegenplätschert, macht uns der Autor eine lange Nase und ich halte vor lauter Spannung für einen Moment die Luft an.

Anmerkungen

2014 war das Buch auf der Shortlist für den National Book Award.

Aminatta Forna schreibt im Independent:

An Unnecessary Woman is a story of innumerable things. It is a tale of blue hair and  the war of attrition that comes with age, of loneliness and grief, most of all of resilience, of the courage it takes to survive, stay sane and continue to see beauty. Read it once, read it twice, read other books for a decade or so, and then pick it up and read it anew. This one’s a keeper.

Sam Savage: Firmin – ein Rattenleben (OA 2006)

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Lebenserinnerungen, wenn ich sie jemals niederschreiben sollte, mit einem großartigen ersten Satz anfangen müssten: mit etwas Lyrischem wie Nabokovs ‚Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden‘ oder, falls das Lyrische mir nicht so läge, vielleicht mit etwas Philosophischem wie Tolstois ‚Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich‘. An solche Sätze erinnert man sich, wenn man alles andere in diesen Romanen schon längst vergessen hat. Der beste aller Anfangssätze ist meiner Meinung nach jedoch die Zeile, mit der Ford Madox Ford seinen berühmtesten Roman beginnt: ‚Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe.‘ Das habe ich bestimmt schon Dutzende von Malen gelesen, und es haut mich immer wieder um. Ford Madox Ford war ein ganz Großer.

So beginnt das zweite Buch des 1940 geborenen Autors Sam Savage, das im Original unter dem Titel Firmin. Adventures of a Metropolitan Lowlife (2006) erschienen ist.

Der Inhalt ließe sich in einem Satz zusammenfassen: Eine belesene Ratte schreibt ihre Lebenserinnerungen nieder. Doch nun etwas genauer:

Geboren von einer alkoholsüchtigen Mutter, gestraft mit zwölf durchsetzungsfreudigen Geschwistern, wächst das Rattenkind Firmin im Keller einer Bostoner Buchhandlung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf.

Firmin muss zusehen, dass er genug zu fressen bekommt, da er schwächlicher als seine Geschwister ist. Also knabbert und nagt er sich durch die Bücher in den Regalen, bis er feststellt, dass er dabei lesen gelernt hat. Diese Fähigkeit macht ihn zu einem eigenbrötlerischen Außenseiter und er findet sein Glück darin, sich heimlich durch die ganzen Werke in der Buchhandlung zu ackern und sich dabei einen beachtlichen Wissensschatz anzueignen.

Darüber hinaus ist er – selbst für eine Ratte – außerordentlich hässlich:

Kopflastig und schwachgliedrig, gewöhnte ich mir eine schwerfällige Gangart an, und während ich mir später einbildete, sie verleihe mir eine Aura von Seriosität und Würde, ließ sie mich anfangs nur noch verrückter aussehen. Ich konnte nichts dagegen machen, beim Gehen oder Traben schwang mein überdimensionaler Kopf hin und her, was an einen Ochsen denken ließ. Meine Frontlastigkeit hatte außerdem zur Folge, dass ich oft auf die Nase fiel, was die anderen natürlich unendlich lustig fanden. (S. 44)

Dennoch neigt Firmin ein wenig zur Eitelkeit. Als er wegen eines Beinbruchs humpelt, findet er das ganz schick.

Wenn überhaupt, dann fand ich, dass es mir ein distinguiertes Aussehen verlieh. Gern hätte ich einen kleinen Stock und eine Sonnenbrille hinzugefügt. Ausdrücken wie panache und debonair habe ich mich immer nah gefühlt. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich mir auch noch einen kleinen schwarzen Spitzbart wachsen lassen. (S. 136)

Er kann aber nicht nur lesen, sondern darüber hinaus auch die Sprache der Menschen verstehen. Sein großer Kummer ist, dass er sich ihnen nicht verständlich machen kann, obwohl er alles probiert. Sogar Zeichensprache studiert er, doch alles was er damit zum Ausdruck bringen kann, ist: „Auf Wiedersehen, Reißverschluss.“ Was ihn allerdings wieder vor das Problem stellt, wo er einen Taubstummen findet, der den Satz überhaupt verstehen könnte.

Seine Versuche, sich mit dem Buchhändler Norman anzufreunden, enden damit, dass Norman ihn mit kleinen rosa Kügelchen umbringen will. Doch ein anderer Hausbewohner, der Trinker und Science Fiction-Autor Jerry Magoon, findet das verletzte Kerlchen und gewährt ihm Asyl. Firmin und Jerry kommen eigentlich gut miteinander aus, auch wenn es ihn traurig macht, von seinem Retter nur als putziges Haustier missverstanden zu werden. Doch auch dieses Zuhause ist bedroht: Jerry erleidet einen Schlaganfall und zudem soll das ganze heruntergekommene Stadtviertel abgerissen und saniert werden.

Fazit

Vielleicht hätte ich Firmin auf Englisch lesen sollen. Es hat mich gestört, dass schon der dritte Satz des Eingangszitats nur unvollständig wiedergegeben wurde. Im Original heißt es: „When it comes to openers, though, the best in my view has to be the beginning of Ford Madox Ford’s The Good Soldier: ‚This is the saddest story that I have ever heard.'“

Und Ratten sind für mich – auch nach der Lektüre – noch immer keine Sympathieträger, zumal Firmin manchmal ziemlich geschwätzig daherkommt, dennoch ist das Buch eine bezaubernde Liebeserklärung an die Literatur. Und Firmin verdankt den Büchern ja buchstäblich sein Überleben.

Und in Afrika essen darbende Kinder bei Hungersnöten Erde. Wenn man hungrig genug ist, steckt man sich alles in den Mund. Das Kauen und Runterschlucken von irgendetwas ist an sich, auch wenn es keinerlei Nährwert hat, Nahrung fürs Träumen. Und Träume von Nahrung sind genau wie andere Träume – man kann davon leben, bis man stirbt. (S. 27)

Allzu viel erfahren wir dabei zwar nicht über die Bücher, die er liest, Savage bleibt da meist – wie das Eingangszitat zeigt – beim Namedropping bekannter Werke. Dennoch: Die Literatur macht hier ein Außenseiterleben erträglich, ja verleiht ihm Weite und Glanz, auch wenn es nur in Firmins Tagträumen ist.

Wenn ich einen Satz träume, wie zum Beispiel ‚die Musik verklang, und in der Stille ruhten alle Augen auf Firmin, der reserviert und gelassen am Eingang zum Ballsaal stand‘, dann sehe ich nie eine zu kleine, kinnlose Ratte am Eingang des Ballsaals. Die Wirkung wäre eine ganz andere. Nein, ich erblicke immer jemanden, der Fred Astaire sehr ähnlich sieht: schmale Taille, lange Beine und ein Kinn wie eine Stiefelspitze. Manchmal kleide ich mich auch wie Fred Astaire. In dieser speziellen Szene  trage ich Frack und Gamaschen und Zylinder. Die Beine in Höhe der Fußgelenke gekreuzt, stütze ich mich lässig auf einen Stock mit silbernem Knauf. (S. 104)

Oder ist es eher so, dass hier jemand durch die Literatur zum Außenseiter wird? Sie verstärkt die Einsamkeit Firmins, der sich und seine literarischen Reisen und Einsichten niemandem mitteilen kann.

Als promovierter Philosoph lasst Savage seinen kleinen grauen Helden auch über den Sinn des Lebens nachsinnen.

Sollte ich, ungeachtet meines absonderlichen Aussehens, zu etwas Großem berufen sein? Zu einem Schicksal, meine ich, wie es die Figuren in Geschichten haben, wo alle Ereignisse eines Lebens, mag es darin auch noch so brodeln und wirbeln, in all dem Brodeln und Wirbeln am Ende ein sinnvolles  Muster erkennen lassen? In Geschichten hat ein Leben immer eine Richtung und eine Bedeutung. (S. 56)

Doch am Laufe eines Rattenlebens – geboren zu werden, die Kindheit zu überstehen, eine gute Zeit zu haben, um dann schließlich alt, gebrechlich und einsam zu sein – ändert auch die Literatur nichts.

Ich glaube immer, alles währt ewig, doch das ist nie der Fall. Tatsächlich existiert alles nur einen Augenblick, außer den Dingen, die wir im Gedächtnis behalten. Ich versuche stets, alles festzuhalten – ich würde lieber sterben, als zu vergessen. (S. 176)

Anmerkungen

Im Telegraph gibt es einen interessanten Artikel über den Autor, der ja erst sehr spät zu literarischem Ruhm gekommen ist und ein eher unstetes Leben geführt hat. Auf die Frage, weshalb er so lange mit seinem ersten Roman gewartet habe, erklärt er u. a.:

I couldn’t have written it at any other time. But also, Firmin’s essential experience is of failure – failure to write, failure to complete – and I’d had that experience. You can’t have that at 30, because you think it’s going to happen: you have to reach a certain age before you realise that it isn’t.

Gern verweise ich auf die Besprechungen auf dem Grauen Sofa, bei dem ich zum ersten Mal auf das Buch aufmerksam wurde, und dem Blog Biblionomicon.