Manchmal ist es ja auch von Vorteil, wenn man Klassiker erst im vorgerückten Alter für sich entdeckt. Dann kann man gleich davon profitieren, dass die erste vollständige Ausgabe dieses als Schulbuch gedachten Werkes erst jetzt auf Deutsch vorliegt.
Es war einmal ein Junge. Er war vielleicht vierzehn Jahre alt, lang und schlaksig und flachshaarig. Viel taugte er nicht: Am liebsten schlief oder aß er, und am zweitliebsten trieb er Unfug. Jetzt war es Sonntagmorgen, und die Eltern des Jungen waren dabei, sich zurechtzumachen, um zur Kirche zu gehen. Der Junge aber saß im Hemd auf der Tischkante und dachte, wie gut es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen. So könne er ein paar Stunden machen, was er wollte. ‚Dann kann ich Vaters Gewehr herunterholen und ein bißchen schießen, und es redet mir keiner hinein‘, sagte er zu sich selbst.
So beginnt also die vollständige deutsche Fassung des schwedischen Nationalklassikers von Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden (OA 1906; neu übersetzt von Thomas Steinfeld 2014; Sonderausgabe der Anderen Bibliothek) von Selma Lagerlöf.
Zum Inhalt
Der Inhalt dürfte den meisten bekannt sein: Der faule, widerborstige und grobe vierzehnjährige Gänsehirte, der den Eltern nur Verdruss bereitet und die Tiere auf dem heimischen Hof in Südschweden quält, wird zur Strafe von einem Wichtel auf Wichtelgröße geschrumpft. Immerhin kann Nils sich ab sofort mit jedem Tier unterhalten.
Just als er den zahmen Gänserich Marten daran hindern will, sich den in den Norden ziehenden Wildgänsen anzuschließen, und ihn versucht festzuhalten, fliegt Marten los. Und so beginnt das große Abenteuer, das die Gänseschar und ihren kleinen, zunächst unfreiwilligen Begleiter durch ganz Schweden und in eine Reihe gefährlicher Situationen bringt, in denen sie sich in mancherlei Hinsicht bewähren müssen.
Da gibt es Smirre, den Fuchs, der den Gänsen tödliche Rache geschworen hat, oder den erbarmungslosen Kampf der Grauratten gegen die Schwarzratten, in dem ihre Hilfe benötigt wird. Dann wieder haben sie Nils verloren oder einer der ihren muss von Nils gerettet werden.
Die Reisegefährten erfahren, wie die Riesen verschiedene Landschaften geformt haben, schlichten Händel, retten bedrohte Wesen und nehmen Teil am jährlich stattfindenden Tanz der Kraniche auf dem Kullaberg.
Und dann kamen die grauen Vögel, in die Farben der Abenddämmerung gekleidet, mit Federbüschen an den Flügeln und rotem Federschmuck im Nacken. Die großen Vögel […] kamen den Hügel hinuntergeglitten in geheimnisvollen Schwindel. Während sie vorwärtsglitten, drehten sie sich, halb fliegend, halb tanzend. […] Es war etwas Wunderbares und Fremdes an ihrem Tanz. Es war, als ob graue Schatten ein Spiel darboten, dem das Auge kaum zu folgen vermochte. Es war, als ob sie es von den Nebeln gelernt hätten, die über den einsamen Mooren schweben. Es lag ein Zauber darin. […] Es lag Wildheit darin, und trotzdem war das Gefühl, das er weckte, eine milde Sehnsucht. Niemand dachte mehr ans Kämpfen. Statt dessen wollten alle, die Geflügelten und die, die keine Flügel hatten, sich ins Unendliche erheben, über die Wolken hinaufsteigen, herausfinden, was jenseits davon lag, den Körper verlassen, der sie beschwerte und zur Erde hinabzog, und fortschweben, dem Überirdischen entgegen. (S. 95)
Nils durchläuft dabei wesentliche Stationen auf dem Weg in ein verantwortliches Erwachsenenleben. Er lernt, was Freundschaft, Treue und Hilfsbereitschaft bedeuten, und häufig kommt er in Situationen, in denen er zusammen mit dem Leser, z. B. durch belauschte Gespräche, unendlich viel über sein Heimatland, dessen Geographie und wirtschaftliche Grundlagen, dessen Bräuche, Feste und Landschaften erfährt. Wir beobachten die Arbeiten in Holzfällerlagern, in Bergwerken, auf den Feldern und gehen mit Fischern auf See. Wir fliegen über Moore, Felder, Wälder und ruhen abends in niedrigen Wassern aus, in sicherer Entfernung zu den Feinden.
Und immer wieder werden uns Sagen und Legenden erzählt, die zu bestimmten Gegenden gehören.
Schließlich steht Nils vor der größten Herausforderung der langen Reise: Der Wichtel, der ihn verzaubert hatte, hat verfügt, dass er nur dann in einen Menschen zurückverwandelt werde, wenn er Marten wohlbehalten zurück auf den elterlichen Hof bringt. Doch das ist leider nur ein Teil der Bedingung.
Fazit
1901 fragte der Lehrerverband bei Lagerlöf an, ob sie sich vorstellen könne, auf ca. 200 Seiten ein „an die veränderten Vorstellungen von Pädagogik angepasstes Lesebuch für Geografie und Naturkunde“ (S. 680) zu schreiben.
Doch erst 1906 erschien der erste Band, denn zunächst fand Lagerlöf keine Möglichkeit, all die Geschichten, Themen und Märchen zu einem zusammenhängendem Text zu verbinden. Erst mit der Idee, Nils mit den Wildgänsen durch und über Schweden fliegen zu lassen, fügte sich alles zu einem organischen und wunderbar anschaulichen Ganzen zusammen.
Ich war überrascht über die deutlichen Aufforderungen zu Tier- und Umweltschutz:
Doch es ist ungewiß, wie lange sie (die Vögel) die Herrschaft über Rohrdickicht und morastige Ufer behalten können, denn die Menschen können nicht vergessen, daß der See sich über eine große Fläche guter und fruchtbarer Erde ausbreitet, und immer wieder kommen unter ihnen Vorschläge auf, daß man ihn trockenlegen sollte. Würden diese Vorschläge verwirklicht, wären viele Tausende von Wasservögeln gezwungen, die Gegend zu verlassen. (S. 223)
Und so begannen sie (die Menschen), Bauholz und Bretter aus dem Wals zu holen und an die Bewohner des flachen Landes zu verkaufen, die ihren eigenen Wald schon aufgebraucht hatten. Sie merkten bald, daß sie ihr Brot mit dem Wald verdienen konnten, wie sie es zuvor mit dem Acker und der Grube getan hatten, nur daß sie vernünftig damit umgehen mußten. Und da fingen sie an, den Wald auf eine andere Weise zu betrachten als früher. Sie lernten, ihn zu pflegen und zu lieben. (S. 254)
Überrascht hat mich auch, dass Tod, Auswanderung, Krankheit und Armut so ganz en passant und doch in aller Deutlichkeit geschildert werden. Nichts wird in Frage gestellt, das Gemeinwesen ist geordnet, die wichtigen Momente im Leben werden von der Kirche begleitet und alles wird von einem Grundton positiver Fortschrittserwartung getragen, deshalb wird auch immer wieder das Loblied der Bildung gesungen.
Es gab vieles, was einem verlorenging, wenn man für immer mit den Tieren leben sollte. Menschen waren doch ganz außerordentliche und tüchtige Wesen. (S. 100)
Doch das hat meiner Freude am Buch keinen Abbruch getan und die 699 Seiten (einschließlich vieler Illustrationen und eines höchst informativen Nachworts) vergingen „wie im Flug“. Ja, das Ende kam fast ein wenig abrupt. Hätte ich als Kind so ein Buch gelesen, wären meine Geografiekenntnisse vielleicht auch nicht so kümmerlich… Und was für eine schöne Idee, ein Land sozusagen von oben, mit dem ganz weiten Blick, zu entdecken, und das Anfang des 20. Jahrhunderts.
Letztlich war es wie ein an allen Ecken und Enden überbordendes Märchen, bei dem man tiefe Charakterschilderungen vergeblich sucht, das aber nie seinen roten Faden verloren hat.
Dass sich schon bald Lehrer darüber beklagten, dass sie das Buch nicht in der vorgesehenen Unterrichtszeit bewältigen würden, wundert mich allerdings nicht.
Hier geht es lang zu einer begeisterten Besprechung in der ZEIT und das sagt die WELT.
Und auf HERLAND gibt es einen superinformativen Beitrag der renommierten Übersetzerin Gabriele Haefs zur Autorin und ihrer Rolle als Frau in einer Männerwelt.